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German Pages 920 [924] Year 1987
Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens
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Í Á A J U Á ^
Gedächtnisschrift für WOLFGANG MARTENS
herausgegeben von
Peter Selmer und Ingo von Münch
w DE
G
1987
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - p H 7, neutral)
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens / hrsg. von Peter Selmer u. Ingo von Münch. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. ISBN 3-11-011107-1 N E : Selmer, Peter [Hrsg.]
© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61
Vorwort Die Herausgeber und Autoren gedenken mit dieser Gedächtnisschrift eines Mannes, dessen früher Tod über sein engeres persönliches Umfeld hinaus alle, die ihn kannten, tief getroffen hat. Wolfgang Martens starb am 22. Juli 1985 im 52. Lebensjahr. Die Trauer über diesen Verlust ist nach wie vor gegenwärtig, die Lücke, die er hinterließ, immer noch schmerzlich im Bewußtsein. Wir wollen die Trauer nicht dämpfen und können die Lücke nicht schließen. Wohl aber können wir einen Beitrag dazu leisten, in einer mehr schnellebigen als auf Bewahrung bedachten Zeit das Andenken an Wolfgang Martens wach und lebendig zu halten. Als ein solcher Beitrag, zugleich als eine ehrende Anerkennung und Würdigung eines rechtswissenschaftlichen Werkes, das weithin Beachtung erfahren hat, möchte die hier vorgelegte Gedächtnisschrift verstanden werden. Dabei mögen die Reden, die auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985 gehalten wurden und hier dem übrigen Werk als Geleitworte vorangestellt sind, in besonderer Weise dazu angetan sein, das Bild, das Wolfgang Martens als Mensch und Kollege, als Wissenschaftler und akademischer Lehrer von sich vermittelte, vor dem Auge des Lesers wiederum deutlich werden zu lassen. Die Herausgeber - der eine Wolfgang Martens schon seit gemeinsamer Bochumer Jungprofessorenzeit freundschaftlich verbunden, der andere ihm in den späteren Hamburger Jahren zunehmend menschlich nähergekommen - haben den an der Gedächtnisschrift Beteiligten zu danken. Sie danken den Rednern der Trauerfeier für die Zurverfügungstellung ihrer Worte. Sie danken ferner den Kollegen, die - als langjährige Weggefährten in Fakultät, Fachbereich und Justiz, als verwaltungsrechtliche Mitautoren im Hause de Gruyter oder als Mitberichterstatter vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer - der Einladung der Herausgeber gefolgt sind, mit einem Aufsatz zu der Gedächtnisschrift beizutragen. Für das Zustandekommen dieser Schrift gebührt außerordentlicher Dank insbesondere aber dem Verlag Walter de Gruyter, der in großzügiger Weise die verlegerische Betreuung und Herstellung des Werkes übernommen und umsichtig betrieben hat. Hamburg, im September 1987
Die
Herausgeber
Inhalt Vorwort
V
Geleitworte Hamburg: Wolfgang Martens zum Gedächtnis. - Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985
1
Münster: Wolfgang Martens zum Gedächtnis. - Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985
5
Hamburg: Praktizierte Humanität. — Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985
19
GERHARD FEZER,
H A N S - U W E ERICHSEN,
CHRISTOPH BUSHART,
Deutsches Staatsrecht München: Das normative Ermessen beim Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen
25
Hamburg: Bemerkungen zum parlamentarischen Regierungssystem Hamburgs nach der Verfassung von 1952
39
Hamburg: Bundesstaatliche Probleme des Art. 801 GG
57
Bayreuth/St. Gallen: Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates
73
Marburg/Lahn: Die „kleine Einbürgerung". - Eine staatsrechtliche Möglichkeit zur Integration ausländischer Mitbewohner in der Bundesrepublik Deutschland
85
PETER BADURA,
K A R L AUGUST BETTERMANN,
CARSTEN BRODERSEN,
PETER HÄBERLE,
GERHARD HOFFMANN,
Hamburg: Hamburgs Verfassungsentwicklung im Jahrhundert seiner Juristengesellschaft 1886-1985 111
H A N S PETER IPSEN,
VIII
Inhalt
Hamburg: Verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gesetzesbegriffs in Deutschland 137
ULRICH KARPEN,
Hamburg: Umweltschutz und Verfassung in der DDR. - Zugleich ein Beitrag zur Diskussion über die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz . 153
JÖRG LÜCKE,
Bonn: Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren
FRITZ OSSENBÜHL,
177
Mainz: Meinungs- und Pressefreiheit in der „verwaltungsrechtlichen Sonderverbindung" der Soldaten, Beamten und Richter 199
WALTER RUDOLF,
Köln: Drittwirkung der Grundrechte. - Versuch einer Bilanz
215
Hamburg: Strafgesetzliche Bestimmtheit: Eine rechtsstaatliche Utopie
231
Heidelberg: Zum staatsrechtlichen Prinzip der Selbstverwaltung
249
München: Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes
265
WOLFGANG RÜFNER,
EBERHARD SCHMIDHÄUSER,
EBERHARD SCHMIDT-ASSMANN,
KLAUS V O G E L ,
Deutsches Verwaltungsrecht JAN ALBERS, H a m b u r g :
Prozeßkostenhilfe als Sozialhilfe
283
Göttingen: Sozialrechtsprechungs-Anpassung. - (Unechte) Anpassung von Sozialleistungsbescheiden an nachträglich abweichende revisionsgerichtliche Rechtsprechung (§48 Abs. 2 SGB X) und die allgemeinen Grundsätze der Bestandskraft 297
HARALD BOGS,
Trier: Umweltschutz und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen
RÜDIGER BREUER,
317
Hamburg: Zum Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Informationen im Verwaltungsverfahren 351
C A R L - E U G E N EBERLE,
Inhalt
IX
Hamburg: Aufgabenplanung - Stadtentwicklungsplanung. - Versuch eines Rückblicks am Beispiel Hamburgs 369
DIETHER HAAS,
Hamburg: Arbeitsförderung für Sozialhilfe-Empfänger. - Rechtsfragen zu einem Hamburger Modell 393
PETER IPSEN,
Speyer: Der Verzicht im Verwaltungsrecht und auf Grundrechte
HELMUT QUARITSCH,
407
Hamburg: Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen bei Eingriffsgesetzen 419
J Ü R G E N SCHWABE,
Berlin: „Leichtigkeit des Verkehrs" als Grenze der Demonstrationsfreiheit . . . . 445
G U N T H E R SCHWERDTFEGER,
Passau: Baurecht und Immissionsschutz
O T F R I E D SEEWALD,
461
Hamburg: Gedanken zur polizeirechtlichen Verhaltensverantwortlichkeit. - Zugleich ein Beitrag zur angeblichen Dichotomie Störer/Nichtstörer 483
PETER SELMER,
Hamburg: Probleme der Organtransplantation in Hamburg
505
Hamburg: Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
517
WALTER STIEBELER,
WERNER THIEME,
Hamburg: Rechtsschutz des Arbeitgebers gegenüber den Folgen einer Kurbewilligung im Sinne von § 7 LohnFG. - Gedanken zum Verwaltungsakt mit Drittwirkung 529
ALBRECHT ZEUNER,
Wirtschaftsrecht F. B A U R , Hamburg: Das Verhältnis von verwaltungs- und zivilrechtlichem Rechtsschutz gegenüber Immissionen aus der Sicht eines Zivilisten 545
JÜRGEN
Hamburg: Zwangsvollstreckung und Kirchengut. - Zugleich zu kirchlichem Auftrag, öffentlichen Aufgaben und öffentlichem Interesse 559
HELMUT GOERLICH,
X
Inhalt
Hamburg: Die Bürgerschaft und die Tarife der Versorgungsunternehmen
579
Heidelberg: „Dritte" und Nachbarn im Immissionsschutzrecht
599
GÜNTER H O O G ,
PHILIP KUNIG,
Hamburg: Prinzipien der gemeinschaftlichen Kosten- und Schadenstragung im Seerecht und außergewöhnliche Formen der Haverei im 18. Jahrhundert . . . 619
GÖTZ LANDWEHR,
Hamburg: Kompetenzrechtliche Probleme des Gesamthafenbetriebs
KLAUS-PETER MARTENS,
637
Hamburg: Keine Staatshaftung für die Bankenaufsicht? - Eine Korrektur der Rechtsprechung durch den Gesetzgeber 663
GERT NICOLAYSEN,
Frankfurt: Recht auf Arbeit - Recht auf Arbeitslosenunterstützung
FRANZ RULAND,
679
Hamburg: Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft. - Ordnungsrecht unter der Herrschaft der Insolvenzrechtsdoktrin? 699
KARSTEN SCHMIDT,
Hamburg: Über verbotswidrige Rechtsgeschäfte (§ 134 BGB). - Eine Bestandsaufnahme 719
H A N S HERMANN SEILER,
Hamburg: Stadt und Bürger
R O L F STÖDTER,
733
Internationales Recht Hamburg: Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction in den USA. - Eine Studie aus Anlaß des Asahi-Falles 751
HERBERT BERNSTEIN,
München: Völker-und Europarecht als Alibi für Umweltschutzdefizite?
B R U N - O T T O BRYDE,
769
Regensburg: Die Armenier in der Geschichte des internationalen Flüchtlingsrechts . . . 789
O T T O KIMMINICH,
Hamburg: Seerechtswissenschaft . . ,
RAINER LAGONI,
703
Inhalt
J Ü R G E N SCHWARZE,
XI
Hamburg:
Subventionen im gemeinsamen Markt und der Rechtsschutz des Konkurrenten. - Grundzüge und neuere Entwicklungen 819 KARL-HEINZ ZIEGLER,
Hamburg:
Hugo Grotius als ,Vater des Völkerrechts'
851
Juristenausbildung H A N S - J O A C H I M KURLAND, H a m b u r g :
Die Bedeutung einer staatlichen Prüfungsordnung für Studium, Lehre und Prüfung - dargestellt mit Blick auf Einzelfragen der hamburgischen Juristenausbildungsordnung 861 H E L M U T PLAMBECK,
Hamburg:
Hamburger Juristenausbildung zwischen gestern und morgen
887
Bibliographie Wolfgang Martens
903
Verzeichnis der Autoren
907
Geleitworte
Wolfgang Martens zum Gedächtnis Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985 GERHARD FEZER
Wir versammeln uns heute zum Gedenken an Wolfgang Martens, dessen früher Tod uns alle tief erschüttert hat. Wenn wir in einer Gedächtnisfeier das Leben und Wirken des Kollegen, des Wissenschaftlers und des akademischen Lehrers würdigen, so entspricht dies nicht nur einem akademischen Brauch, sondern ist Ausdruck eines spontanen Bedürfnisses vieler Fachbereichsangehöriger - nicht nur von Kollegen, sondern vor allem auch von Studenten, die ihren Lehrer Wolfgang Martens sehr verehrt haben. An unserem Gedenken nehmen teil: - Kollegen aus vielen rechtswissenschaftlichen Fachbereichen bzw. Fakultäten aus der ganzen Bundesrepublik, ferner der Universität der Bundeswehr, - Gerichtspräsidenten und Richter aus der Hamburger Justiz, in der Wolfgang Martens ebenfalls wirkte, - Honorarprofessoren und Ehrendoktoren unserer Fakultät, - frühere Mitarbeiter und Schüler und persönliche Freunde des Verstorbenen. Ich darf Sie alle im Namen des Fachbereichs herzlich begrüßen. Ihrer aller Anwesenheit bedeutet uns viel; wir empfinden sie als Ausdruck der besonderen persönlichen Achtung und Anerkennung, die Wolfgang Martens überall zuteil wurden. Dies zeigen auch die Briefe derjenigen, die heute nicht hier sein können. Die Anwesenheit des Universitätspräsidenten dokumentiert Rang und Bedeutung, die Wolfgang Martens über den Fachbereich hinaus für die gesamte Universität hatte. Besonders dankbar sind wir aber für die Teilnahme der Familienangehörigen, deren Trauer wir alle teilen. Jeder von uns, die wir zum gemeinsamen Gedenken zusammengekommen sind, hat Wolfgang Martens gekannt und persönlich erlebt, aber jeder doch auf unterschiedliche Weise. Der eine hat ihn auf einer langen Strecke seines Lebensweges begleiten können, der andere hatte
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Gerhard Fezer
nur kurze Begegnungen, oder er kennt seinen wissenschaftlichen Werdegang nur ausschnittweise. Das trifft wohl vor allem für die heute anwesenden Hamburger Studenten zu, die Wolfgang Martens bereits auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn erlebten als einen pädagogisch hochbefähigten, engagierten und beliebten Hochschullehrer. So sei denn - im Sinne einer Gedächtnisfeier - ein kurzer Rückblick erlaubt: 1934 in Wandsbek geboren, hat Wolf gang Martens bis auf wenige Jahre sein ganzes Leben in Hamburg verbracht. Er ging in Hamburg zur Schule, studierte an unserer Fakultät Rechtswissenschaft, wo er auch 1960 - mit einer hervorragenden Dissertation über den „Verfassungsgehalt der Wehrordnung" promovierte. Sein akademischer Lehrer, Hans Peter Ipsen, weilt heute ebenfalls unter uns. Es war folgerichtig, daß die Fakultät einen so hochbegabten Nachwuchswissenschaftler an sich band. Die intensiven Assistentenjahre, die nun in Hamburg folgten, bildeten die Grundlage seiner späteren so erfolgreichen Tätigkeit als Staats- und Verwaltungsrechtler in Forschung und Lehre. 1968 habilitierte sich Wolf gang Martens an der Universität Münster mit der Abhandlung „Öffentlich als Rechtsbegriff". Bereits 1969 wurde er zum ordentlichen Professor für öffentliches Recht an die RuhrUniversität Bochum berufen. Gleichzeitig wurde er zum Richter am Oberverwaltungsgericht Münster ernannt. Diese richterliche Tätigkeit im Nebenamt hat Wolfgang Martens später in Hamburg fortgesetzt, zum großen Nutzen für die Lehre, für die Forschung und auch für die Rechtsprechung, wie ich gerade auch von Richtern weiß. 1973 erfolgte dann der Ruf an unsere Fakultät und damit die Rückkehr in die Heimat. 12 Jahre also hat Wolf gang Martens unserem Fachbereich angehört. Mehr als die Hälfte davon habe ich selbst miterlebt, und so möchte ich denn vor allem des Fakultätskollegen Martens gedenken. Den Staatsund Verwaltungsrechtler zu würdigen, kommt Herrn Kollegen Erichsen als dem Berufeneren zu, und an den akademischen Lehrer und Mentor wird sein langjähriger Mitarbeiter, Herr Bushart, erinnern. Daß Wolfgang Martens die Last der Verwaltung und Selbstverwaltung durch die Übernahme der entsprechenden Ämter mitgetragen hat, war für ihn ganz selbstverständlich. So war er vor allem (vor sechs Jahren) Fachbereichssprecher und mehrmals Geschäftsführender Seminardirektor, dies auch bis zu seinem Tode. Er hat sich aber auch darüber hinaus in die Pflicht nehmen lassen, insbesondere durch die Übernahme des verantwortungsvollen Amtes eines stellvertretenden Vorsitzenden des Justizprüfungsamtes.
Wolfgang Martens zum Gedächtnis
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Daß gerade Wolfgang Martens für das Prüfungsamt und den Fachbereich als besonders glückliche Wahl betrachtet wurde, lag auch daran, daß er als Prüfer in hohem Ansehen stand - übrigens auch bei den Prüflingen. Das rührte nicht etwa daher, daß er zu milde gewesen wäre (er war es wohl nicht), sondern daß er die Kandidaten fair und verständnisvoll behandelte. Die Übernahme dieses Amtes war angesichts der großen Arbeitsbelastung alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nicht nur in diesem Amt, sondern auch in anderen Amtern und Funktionen zeigte sich seine besondere Persönlichkeit: er war nüchternpragmatisch, sachbezogen und hilfsbereit, ohne persönliche Eitelkeiten und Ambitionen, gelegentlich trocken-humorvoll, vor allem aufrichtig und geradlinig. So war er jeweils ein sehr wertvolles Mitglied in K o m missionen und Ausschüssen und im Professorenkollegium. Auch wenn er sich nicht zustimmend äußerte, förderte er mit seinen durchaus kritischen Fragen, Bedenken und Gegenthesen viele Beratungen um der gemeinsamen, sinnvollen Lösung willen. Seine hohen Ansprüche an wissenschaftliche Qualität, vor allem auch als Grundlage der akademischen Lehre, wollte er nie aufgeben. Wer seinen Beruf als Hochschullehrer mit so großem Verantwortungsbewußtsein ausübt, wird von staatlichen Maßnahmen, welche die Gründlichkeit und Effektivität der Lehre in Frage stellen, besonders getroffen. Daher waren bei Wolf gang Martens vor allem in den letzten Semestern Anzeichen von Resignation und des Sichzurückziehens zu spüren. So verzichtete er, der sich sonst keiner Selbstverwaltungsaufgabe entzogen hat, darauf, an der Gestaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Zwischenprüfung mitzuwirken, weil er die Mehrbelastung der Professoren angesichts der ständig fortschreitenden Mittel- und Stellenkürzungen für nicht mehr tragbar hielt. Und als ich ihn in unserem letzten Telefongespräch gegen Ende des Sommersemesters von einer weiteren Stellensperre in seinem Seminarbereich unterrichtete, wollte er nicht mehr kämpfen, sondern lehnte jede Verantwortung wegen der schlimmen Folgen ab. Ich habe diese Haltung bei Wolfgang Martens wie bei keinem anderen respektiert, weil sie Ausdruck seiner Aufrichtigkeit und seiner geradezu idealistischen Berufsauffassung war. Das 12jährige Wirken von Wolfgang Martens war für unseren Fachbereich außerordentlich fruchtbar und hat auch nach außen zum Ansehen der Fakultät beigetragen. Wir haben ihm, dessen besondere Persönlichkeit unvergessen bleiben wird, viel zu verdanken.
Wolfgang Martens zum Gedächtnis Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985 H A N S - U W E ERICHSEN
Wenn man mit der ehrenvollen Aufgabe einer „akademischen Gedächtnisrede" für einen verstorbenen Kollegen betraut wird, dann sieht man sich alsbald einer Vielzahl von Fragen gegenüber, deren erste die nach dem Erwarteten und Gesollten ist. Es gibt keine verbindliche Definition des zwar nicht alltäglichen, aber doch auch nicht selten geübten Brauchs. Es besteht indes wohl die Übung, das Werk des Verstorbenen in seiner Gesamtheit in chronologischer Abfolge, eingefangen in Stichworte, die den Inhalt vergegenwärtigen, noch einmal Revue passieren zu lassen und dies alles mit Wertungen zu garnieren. Andererseits klingen in mir Worte Helmut Schelskys nach, der seines nahen Todes gewiß über seinen Nachfolger an seine, die Münsteraner Fakultät, die Bitte richtete, ihn in keinem Fall einer Gedächtnisfeier „auszusetzen", weil „nie mehr gelogen" werde als dort. Wolfgang Martens hätte es sicherlich auch in einem Schreiben an einen vertrauten Kollegen zurückhaltender formuliert, daß er indes jeder Lobhudelei abhold und auch entsprechend wohltuender hanseatischer Tradition nicht darauf erpicht war, das Rampenlicht breiter Öffentlichkeit auf sich gerichtet zu sehen, wissen alle, die ihn gekannt haben. Ich freue mich gleichwohl, daß der Fachbereich sich entschlossen hat, mit der heutigen Feier Wolfgang Martens' zu gedenken, und ich möchte versuchen, durch meine Ausführungen dazu beizutragen, daß wir ihm, der nachträglicher Schönfärberei gewiß nicht bedarf, gerecht werden. Da ich die Bitte um einen Nachruf an den Kollegen und Freund gerichtet sah, habe ich mich aufgefordert gefühlt, die Einheit von Werk und Person, so wie ich sie erfahren habe, zu vergegenwärtigen. Diese Einheit bestand, brachte doch Wolfgang Martens, wenn er forschte und lehrte, sich selbst immer ganz ein. Wenn er schrieb, schrieb er mit Herzblut, was die Sparsamkeit seiner literarischen Äußerungen und zugleich den ihnen eigenen Reichtum erklärt. Es geht mir aber angesichts der hier heute zu verzeichnenden breiten studentischen Beteiligung, die sein Engagement und seine Beliebtheit als akademischer Lehrer dokumentiert - auch um den Versuch, einige der wesentlichen Einsichten Wolfgang Martens' noch einmal zu vergegenwärtigen.
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Hans-Uwe Erichsen
Der Bogen der von ihm behandelten Themen spannt sich vom Verfassungsrecht über das allgemeine bis hin zum besonderen Verwaltungsrecht. Ist es hier das Polizei- und Ordnungsrecht mit seinem Ableger, dem Gefahrenabwehr und -Vorsorge betreffenden Immissionsschutzrecht, so sind es dort die Grundrechte und inmitten vielerlei Probleme des allgemeinen Verwaltungsrechts, die ihn beschäftigt haben. Auch die Frage der Bindung von Nichtmitgliedern an die Grundsätze der Vereinten Nationen, der Verfassungsstreit um die Bürgerschaftswahl 1978, das Staatshaftungsrecht und der vorläufige Rechtsschutz sind Gegenstand seiner Veröffentlichungen. Mit „Grundgesetz und Wehrverfassung", seiner im Sommer 1959 im wesentlichen abgeschlossenen Dissertation begann es. Sie stellt die erste monographische Untersuchung der nachträglich in das zunächst ganz anders gemeinte Grundgesetz' eingefügten Wehrordnung dar. Mit dem 1962 in der JuS veröffentlichten Beitrag „Zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln" 2 stellte er die Früchte seiner Hausarbeit im Assessorexamen zur Diskussion. Ich weiß nicht, ob das BandsägenUrteil des BVerwG 3 im Zeitpunkt seines 2. Examens schon ergangen und publiziert war. Diese damals von Otto Bacbof als grundsätzlich und weittragend qualifizierte Entscheidung brach mit einer bisher in Rechtsprechung und Lehre, auch in Drews/Wacke5 unangefochtenen Auffassung, derzufolge polizeiliche Untätigkeit zwar unter gewissen Umständen Schadensersatzansprüche Betroffener, nicht jedoch einen Anspruch auf polizeiliches Einschreiten auslösen könne. Bachof äußerte angesichts der Leitsätze und Begründung Zweifel, ob das Gericht sich der Tragweite seiner Entscheidung bewußt gewesen sei, und im Schrifttum meldeten sich alsbald einflußreiche Stimmen zu Wort, daß an der bisherigen gefestigten Lehre und Rechtsprechung trotz der Entscheidung des BVerwG und der zustimmenden Besprechung durch Bachof festzuhalten und ein Anspruch auf polizeiliches Einschreiten auch weiterhin abzulehnen sei6. So gehörte damals sicherlich eine solide Erkenntnisgewißheit gepaart mit Mut dazu, trotz der nahezu geschlossenen gegenteiligen Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum einen Anspruch des einzelnen auf verwaltungsbehördliches Einschreiten in einem stark praxisbezogenen Examen zu bejahen. ' Vgl. Wolf gang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961 S. 67 ff, zusammenfassend S. 88. 2 JuS 1962 S. 245 ff. J B V e r w G E 11 S.95. 4 DVB1. 1961 S. 128. 5 Allgemeines Polizeirecht, 6. Aufl. 1952 S. 75 ff. 6 Vgl. etwa Karl August Bettermann, Gewerberechtliche Nachbarklage?, N J W 1961 S. 1097 (1099).
Wolfgang Martens zum Gedächtnis
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In seinem Beitrag in der J u S stellt Wolf gang Martens zunächst fest, daß die grundsätzlichen Rechtsfragen, die durch das Begehren des einzelnen auf ordnungsbehördliches oder polizeiliches Handeln aufgeworfen werden, „in der bisherigen Judikatur entweder gar nicht oder aber in dogmatisch unbefriedigender Weise behandelt worden sind" 7 . Mit dieser radikalen Eröffnung ist allerdings nun keineswegs Art und Methode der Erörterung jener Grundsatzfragen bestimmt, die es nach seiner Auffassung zu diskutieren galt. Vielmehr wird schon hier ein Charakteristikum Martensscher rechtswissenschaftlicher Arbeit deutlich. Es ist die Sorgsamkeit des Umgangs mit dem Uberlieferten und die Behutsamkeit der Einführung und Aufnahme neuer Erkenntnisse. In eingehender Würdigung der bisherigen Auffassung und Auseinandersetzung mit den zu ihrer Begründung vorgetragenen Argumenten kommt Wolfgang Martens zu dem Ergebnis, daß es für die Antwort auf die später in vielerlei Zusammenhängen - auch von ihm etwa im Zusammenhang mit dem Nachbarschutz - gestellten Frage, ob aus einem Rechtssatz ein Anspruch hergeleitet werden kann, nicht darauf ankommt, ob der Rechtssatz eine gebundene Entscheidung der Verwaltung verlangt oder sie zu einer Ermessensentscheidung ermächtigt, „denn wenn eine Rechtsnorm allein der Wahrung des öffentlichen Interesses dient, erwachsen aus ihr weder Individualansprüche auf ein behördliches Tätigwerden zugunsten eines Dritten, noch erwirbt dieser wenigstens ein Recht auf ermessensfehlerfreie Amtsausübung" 8 . Er erkennt, daß die unterschiedliche rechtssatzmäßige Bindung der Verwaltung allein für den Inhalt des Anspruchs, nicht aber für das O b seines Bestehens erheblich ist. Diese bis heute immer noch nicht Allgemeingut gewordene, überzeugende Einsicht hat er auch in späteren Publikationen immer wieder betont, insbesondere auch in solchen zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Einschreiten. Dieses Thema hat ihn nämlich nicht losgelassen. E r registriert - wie es in einem 1982 publizierten Vortrag heißt - „krisenhafte Erscheinungen", die das Bild des Anspruchs auf polizeiliches Einschreiten gegen andere Private trüben'. „Der dadurch anerkannte polizeiliche Schutz des einzelnen und mit ihm der innere Frieden steht auf dem Spiel, wenn in größerer Zahl besetzte Häuser nicht geräumt und bei Demonstrationen Schaufenster zertrümmert, Auslagen geplündert und Kraftfahrzeuge beschädigt werden." „Die skizzierten Sachverhalte stellen massive Stö-
7 Wolfgang Martens, Zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln, JuS 1962 S.245 (248). 8 Wolfgang Martens, Zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln, JuS 1962 S.245. 9 Vgl. Wolfgang Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982 S. 89 (97).
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Hans-Uwe Erichsen
rungen der öffentlichen Sicherheit dar, durch die - jedenfalls auch individuelle Rechte betroffen werden. O b diese Rechte noch stets den gebotenen staatlichen Schutz finden, erscheint zweifelhaft." 10 Seine dezidierte Ablehnung gilt einem unter Bezug auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip begründeten Vollzugsdefizit, welches „den Verfassungsrang des Eigentums ausblendet" und den Rechtsbruch in der Hoffnung duldet, weiteren Rechtsbruch verhindern zu können". Es sind dies - wie alle, die Wolfgang Martens begegnet sind, mir sicher abnehmen werden nicht die Worte und Gedanken eines verbiesterten Reaktionärs. Für ihn geht es darum, daß sich nur durch einen effizienten Rechtsgüterschutz „die Inanspruchnahme des mühevoll erkämpften staatlichen Gewaltmonopols auch durch den demokratischen und sozialen Rechtsstaat auf die Dauer sachlich rechtfertigen und bewahren" läßt12. Zum Ausdruck kommt hier die Sicht und Einsicht eines Rechtsgelehrten, der sich mit vielen, darunter auch einem anderen hervorragenden Hanseaten, dem vormaligen Ersten Bürgermeister dieser Stadt, Herbert Weichmann, einig in der Sorge um den Bestand und die uneigennützige Durchsetzung des Rechts wußte13. Damit ist ein Thema angesprochen, welches Wolfgang Martens, jedenfalls seit wir uns Anfang der 60er Jahre, damals noch als Assistenten, kennengelernt haben, stets bewegte: Die Sorge um die normative Kraft des Rechts, um seine Autorität, seine Durchsetzung gegenüber dem Faktischen, auch gegenüber dem Geist der Zeiten durchzieht als continuum sein gesamtes Werk und schlägt sich in Methode und Ergebnis nieder. In seiner Dissertation findet sich Rudolf Smend mit den Worten, daß die Verfassung als „Integrationssystem die Erfüllung einer sich immerfort wandelnden Aufgabe sicherzustellen hat" 14 , von Wolf gang Martens mit Zustimmung bedacht, wörtlich zitiert. Ein knappes Jahrzehnt später in seiner 1969 erschienenen Habilitationsschrift „Öffentlich als Rechtsbegriff" knüpft Wolfgang Martens in den ersten Sätzen wiederum an eine Formulierung Smends an, der diesen „Kernbegriff des deutschen Staatsrechts" durch „Formalismus und Positivismus verlorengegangen" sieht15. Wolfgang Martens referiert die Äußerung Smends zu den Begrif10
(97).
Wolfgang Martens,
Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982 S. 89
" Vgl. Wolf gang Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982 S. 89 (97 f). 12 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986 S.2. 13 Vgl. die Bezugnahme auf Herbert Weichmann in Wolf gang Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982 S. 89 (98). H Wolfgang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961 S. 77. 15 Wolfgang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969 S. 17.
Wolfgang Martens zum Gedächtnis
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fen öffentlich und Öffentlichkeit, um dann festzustellen, daß die „nicht eben leicht eingängigen und in ihrer Tragweite sicher zu bestimmenden Formulierungen Smends . . . das auf breiter Front anhebende wissenschaftliche Gespräch weithin entscheidend beeinflußt und geradezu schulbildend" mit der Folge gewirkt haben, daß die als begriffswesentlich angesehene Normativität auf beispielsweise die politischen Parteien, die Gewerkschaften und die Kirchen erstreckt wurde. Der Kontrapunkt zu dieser und anderen vorrechtlich ansetzenden, „stipulatorischen"" Begriffsbestimmungen wird von Wolfgang Martens mit den Worten gesetzt: „Ihnen gegenüber befinden sich solche Fragestellungen, die auf die Interpretations- und Klärungsbedürftigkeit des Wortes »öffentlich« in seiner Eigenschaft als Bestandteil zahlreicher und vielfach eminent wichtiger Vorschriften des positiven Rechts allgemein oder für den Einzelfall abheben, eindeutig im Hintertreffen."17 Damit sind Motiv und Ansatz dieses wissenschaftlichen Unternehmens gekennzeichnet, und ist die Methode angedeutet: „Entschiedener Widerspruch ist jedoch anzumelden, wenn zunehmend in schroffem Gegensatz zur herkömmlichen Methode der Norminterpretation jene metajuristisch gebildeten Begriffe von »öffentlich« unvermittelt zugleich in den Rang von Rechtsinhaltsbegriffen erhoben werden. Genau das geschieht nämlich dadurch, daß sie •kurzerhand dort eingesetzt werden, wo das positive Recht in bestimmten Zusammenhängen den Terminus »öffentlich« verwendet, dessen Bedeutung auf diese Weise nicht mehr durch Auslegung des Gesetzestextes ermittelt, sondern von außen in die Norm hineingetragen wird. Solche Operationen führen letztlich zur vollständigen Preisgabe jeder Rechtsdogmatik in ihrem tradierten Verständnis zugunsten eines reinen Subjektivismus als Interpretationsmethode. Aus demselben Grunde kann derjenigen modernen Argumentationsweise nicht gefolgt werden, der das im Wege metajuristischer Deduktion verliehene Prädikat »öffentlich« genügt, um mächtige Sozialgebilde an Verfassungsprinzipien zu binden, die nach überkommener Rechtsauffassung an die organisierte Staatlichkeit adressiert sind. Auch insoweit ist an der Verfassung als alleinigem Beurteilungsmaßstab festzuhalten; durch ihre Exegese muß die Rechtslage der fraglichen Erscheinungen (Parteien, Verbände, Presse, Kirchen) bestimmt werden."18 In diesen Worten haben wir das methodische Credo, dem Wolfgang Martens bis zu seinem unerwartet und unbegreiflich frühen Tode treu geblieben ist. Er war immer zutiefst mißtrauisch gegen die alerten
Vgl. Wolfgang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969 S. 18. Wolfgang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969 S.21 f. " Wolfgang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969 S. 39 f. 16
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Hans-Uwe Erichsen
Fahnenträger des Zeitgeistes, die eilfertig und behende neuen Wein in die alten Schläuche der Verfassung gießen wollen. Auch der These einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 19 konnte er keinen Geschmack abgewinnen. „Berufsschädigend" war die lapidare Formulierung, mit der er sie in einem Gespräch bedachte, welches wir nach Erscheinen des gleichnamigen Aufsatzes hatten. Diese Qualifikation muß so in den Raum gestellt und im Hinblick auf Breite, Tiefe und Ernsthaftigkeit der in dieser Abhandlung zum Ausdruck kommenden Gedanken und Uberzeugungen als verletzend empfunden werden. Sie war indes keineswegs so gemeint. In ihr wird exemplarisch die Neigung Wolfgang Martens' deutlich, Äußerungen so zu verdichten, daß sie der Entfaltung, gelegentlich auch der Entschlüsselung ihres Bedeutungsgehalts durch den Gegenüber bedurften. Sagen wollte er, daß die Interpretation der Verfassung nicht jedermanns Sache sein kann, sondern daß es der erlernten Kunst des Juristen und der darin inbegriffenen geistigen Disziplin bedürfe, um Berechenbarkeit und Durchsetzung ihres normativen Anspruchs zu gewährleisten, daß es der Zunft der Verfassungsinterpreten bedürfe. Wolfgang Martens hat natürlich nicht die Augen vor der Wirklichkeit, vor ihren Entwicklungen, vor dem Fortschritt der Erkenntnis und vor der Einsicht verschlossen, daß eine Rechtsordnung auch der Akzeptanz bedarf. Die „metajuristische Begriffsbildung", so führt er in seiner Habilitationsschrift aus, sei nicht etwa „für das Rechtsleben überhaupt bedeutungslos". „Uberzeugen die den so gebildeten Begriffen zugrundeliegenden staatstheoretischen oder soziologischen Erkenntnisse, ohne daß ihnen das geltende Recht entspricht, dann werden insbesondere rechtspolitische Bestrebungen in ihnen eine unentbehrliche und legitime Hilfe finden." 20 In diesen Worten kommt zugleich die Bejahung und der Respekt gegenüber dem durch das Grundgesetz vorgegebenen System der repräsentativen Demokratie zum Ausdruck. Grundsätzlich bedurfte nach seiner Auffassung die Änderung von Verfassung und Recht der besiegelnden Worte des Gesetzgebers. Der Wandel der Verfassung - ein Thema, das ihn schon in seiner Dissertation beschäftigte21 - und der Wandel des Rechts - er publizierte 1982 einen Beitrag „Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr" 22 - sind deshalb für ihn eine Herausforderung gewesen, der er sich immer wieder gestellt hat. Eine seiner letzten Veröffentlichungen vom Mai dieses Jahres hat den einerseits bezeichnenden, aber doch auch distanzierenden
" Vgl. den Titel des Aufsatzes von Peter Häberle, JZ 1975 S. 297 ff. Wolf gang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969 S.40. 21 Wolf gang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961 S. 77 f. 20
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D Ö V 1982 S. 89 ff.
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Titel „Tendenzen der Rechtsprechung zum Sofortvollzug der Zulassung von großtechnischen Anlagen" 23 . Es geht hier nicht nur um eine Analyse der vorliegenden Rechtsprechung, eine Aufgabe, die Wolfgang Martens meisterlich beherrschte und deren Ergebnisse er in prägnanter und raffender Sprache eindrucksvoll zu vermitteln verstand, wie sich aus den von ihm bearbeiteten Teilen des von uns gemeinsam verfaßten Abschnitts über das Verwaltungshandeln im Lehrbuch des Allgemeinen Verwaltungsrechts vielfach belegen läßt. Die Aussage, die Rechtsprechung leiste mit ihren Bemühungen, der Eigenart des trigonalen Rechtsverhältnisses im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes Rechnung zu tragen, „einen wesentlichen Beitrag zur Eingliederung des Verwaltungsaktes mit Drittwirkung in das zur Verfügung stehende Rechtsschutzsystem, das diesen zwar häufigen, aber nach der Systematik atypischen Hoheitsakten keine besondere Regelung hat zuteil werden lassen" 24 , dokumentiert die Einsicht in die Lücke und die Billigung der lückenschließenden Rechtsfortbildung zugleich. Einer Rechtsfortbildung allerdings, die, verfassungsgeprägt, systemimmanente Leitlinien freilegt und das in ihnen zum Ausdruck kommende bis zur Lösung des ungeregelten Falles fortdenkt. Auch hier ging es für Wolfgang Martens tendenziell um Kognition und nicht um Dezision, Subjektivismen, Beliebigkeit. Beredtes Zeugnis von seinen methodischen und sachlichen Grundauffassungen gibt sein im Jahre 1971 in Regensburg vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer erstatteter Bericht „Grundrechte im Leistungsstaat". Hier traf er auf seinen „Kontrahenten" Peter Häberle, der im September 1969 in einer Besprechung der Habilitationsschrift seine methodische und sachliche Gegenposition dargelegt und Wolfgang Martens einen „bewußt engen Rechts- und Interpretationsbegriff" vorgehalten hatte, der die Möglichkeit verschließe, „von vornherein spezifisch verfassungsrechtlich nach dem Öffentlichen zu fragen" 25 . In einer Zeit, - in der „Nulltarif" zum geflügelten Wort geworden war, - in der das BVerwG in seinen Privatschulentscheidungen im 23. und 27. Bande der amtlichen Sammlung 26 den Anspruch auf Privatschulsubvention verfassungsrechtlich fundieren zu können glaubte 27 und jedenfalls in der ersten Entscheidung darauf hinwies, daß die PrivatDVB1. 1985 S. 541 ff. Wolfgang Martens, Tendenzen der Rechtsprechung zum Sofortvollzug der Zulassung von großtechnischen Anlagen, DVB1. 1985 S.541 (542). 25 D Ö V 1969 S. 653. 26 B V e r w G E 23 S . 3 4 7 ; 27 S . 3 6 0 ; vgl. nunmehr B V e r w G E 70 S.290 (292) und B a y V e r f G H N V w Z 1985 S. 481 (482) und dazu Ludwig Grämlich, Privatschulförderung in der Krise - B V e r w G , N V w Z 1985 S. 111, und B a y V e r f G H , N V w Z 1985 S.481. 27 Kritisch dazu Menger/Erichsen, VerwArch Bd. 57 (1966) S. 377 f; 59 (1968) S. 275 ff m. w. N a c h w . 23
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schule eine „öffentliche Bildungsaufgabe" erfülle und dem Staat dergestalt Ausgaben erspare, die er bei ihrem Fehlen selbst zu tragen hätte - ein im Hinblick auf die Einschätzung der Eigenverantwortung der Gesellschaft und ihrer Bedeutung wahrhaft aussagekräftiger Satz - in einer Zeit, in der viel von Effektivierung bzw. Effektuierung der Grundrechte durch staatliche Leistung die Rede war, - in der das V G Hamburg in einem Vorlagebeschluß an das BVerfG von einer unbegrenzten verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zum Angebot von Ausbildungsstätten ausging 28 , - in einer Zeit, deren diesbezügliches Resümee in der Numerusclausus-Entscheidung des BVerfG 2 ' mit dem Leitsatz gezogen wurde: „Aus dem in Art. 12 Abs. 1 S. 1 G G gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium", in dieser Zeit hält Wolfgang Martens vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ein Referat, das zu lesen für jeden heute und künftig um die Dogmatik der Grundrechte Bemühten Pflicht sein sollte. Wie es seine Art war, legt er zunächst eine subtile, den abwehrrechtlichen Gehalt der Grundrechte im Leistungsstaat entfaltende Analyse vor. Die Untersuchung der Frage mittelbarer oder vermittelter - man sagt vielfach „faktischer" - Grundrechtsbeeinträchtigung durch Leistungen des Staates mündet in die wenige Jahre später in der Festschrift für Hans J . Wolff, der seine Habilitation in Münster betreut hat, inhaltlich bestätigten Sätze: „Mit dem Verzicht auf Finalität (des Eingriffs) reagieren die Grundrechte auf die Leistungsstaatlichkeit. N u r so wird ihre Wirksamkeit auch gegen solche Bedrohungen gesichert, die erst der Leistungsstaat hervorgebracht hat." 30 D e m grundrechtlich fundierten Teilhabeanspruch nähert Wolfgang Martens sich unter Übernahme der durch die abwehrrechtlichen Überlegungen eingeführten rein subjektiv-rechtlichen Betrachtung mit der Unterscheidung von derivativen und originären Teilhabeansprüchen 31 . Er sieht als derivativ jene Teilhabeansprüche an, die aus Art. 3 Abs. 1 21 Beschluß v. 21.8.1970 mitgeteilt bei Jürgen Schmitt, Die Rechtsprechung zur Zulassungsbeschränkung an den Hochschulen, DVB1. 1971 S.383 und BVerfGE 33 S.303 (315 f). » BVerfGE 33 S.303. 30 Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S. 7 (14) und ders., Prinzipien der Leistungsverwaltung, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für HansJ. Wolff, 1973 S.429 (438 f). 51 Vgl. Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S. 7 (21).
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G G als Reaktion auf vorgängiges staatliches Handeln entstehen. Im Hinblick auf den Gesetzgeber „verleiht also das Gebot gleicher Begünstigung grundsätzlich wohl eine Chance, aber keinen Anspruch auf Teilhabe" 32 . Demgegenüber wird die „anspruchserzeugende Funktion des Gleichheitssatzes gegenüber der im Einzelfall über die Zuteilung von Leistungen entscheidenden Verwaltung" als „ausgeprägter" angesehen 33 . Wolfgang Martens wendet sich sodann der „ - wie es scheint - ebenso unaufhaltsamen wie revolutionären Umdeutung der Grundrechte zu originären und offensiven Leistungsrechten" zu. Die kräftigsten Impulse für diesen Wandel des Grundrechtsverständnisses sieht er von einer sozialstaatlich determinierten Grundrechtsauslegung ausgehen, „die sich sowohl des Gleichheitssatzes wie der Freiheitsrechte bemächtigt hat. Sie hat das Gleichheitsprinzip aus seiner Akzessorietät gelöst und entnimmt ihm die staatliche Verpflichtung zum Ausgleich gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten . . . Als Korrelat der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 II G G ) soll Art. 12 G G dem Arbeitnehmer ein Recht auf Gewährleistung eines hohen Beschäftigungsstandes, Art. 14 G G dem Sparer einen Anspruch auf Währungsstabilität garantieren." 34 Wolfgang Martens bekennt sich zur Aufgabe des modernen Leistungsstaates, aus normativ gewährleisteter Freiheit reale Freiheit werden zu lassen. „Will ein Gemeinwesen nicht lediglich eine Minderheit seiner Bürger in den Genuß seiner Rechte kommen lassen, wird es daher breite Bevölkerungsschichten befähigen müssen, an den Grundrechtsvoraussetzungen zu partizipieren." 35 Daraus folgt für ihn „indes noch nicht, daß um der Grundrechtseffektivität willen die faktischen G r u n d rechtsvoraussetzungen in die normativen Grundrechtsgewährleistungen einbezogen werden müßten. Die kritische Uberprüfung der darauf gerichteten Tendenzen erweist vielmehr, daß ihre Ergebnisse sich mit dem Instrumentarium juristischer Grundrechtsauslegung nicht verifizieren lassen." 36 „Wer angesichts des . . . eindeutigen verfassungsrechtlichen Befundes gleichwohl meint, die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen um eine soziale Dimension erweitern zu sollen, überschreitet die Grenzen der Interpretation der Verfassung und macht sich zu ihrem Herrn." 3 7 „Soziale Gegebenheiten kann der Staat - zu Ende gedacht - im 32 35
Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S.7 (24). Vgl. Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S. 7
(24). 34 35 56 37
Wolf gang Wolfgang Wolfgang Wolfgang
Martens, Martens, Martens, Martens,
Grundrechte Grundrechte Grundrechte Grundrechte
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Leistungsstaat, Leistungsstaat, Leistungsstaat, Leistungsstaat,
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30 (1972) S. 7 (25 ff). 30 (1972) S. 7 (28). 30 (1972) S. 7 (29). 30 (1972) S. 7 (32).
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Unterschied zu freiheitssichernden Normenkomplexen nur um den Preis der Freiheit garantieren." Er sieht den Weg bereitet „von risikobehafteter Freiheit zu gleichheitswidriger Privilegierung" 38 . Die sich schon in diesen wenigen wiedergegebenen Sätzen zeigende, vor dem oben skizzierten Hintergrund gegenläufigen Zeitgeistes bewundernswerte Erkenntnisgewißheit hat, wie die Diskussion in Regensburg zeigte, ihren Eindruck nicht verfehlt. Wenn man heute die Frage aufwirft, ob und welche Folgen der Bericht von Wolfgang Martens in Regensburg für die weitere Entwicklung gehabt hat, so bleibt zunächst festzustellen, daß das BVerfG in der ihm eigenen Souveränität weder die Ausführungen von Wolfgang Martens noch die in ihrer Tendenz gegenläufigen Ansichten von Peter Häberle im Numerus-clausus-Urteil eines zitierenden Hinweises für Wert befunden hat. Wolfgang Martens hat sich indes in der Entscheidung des BVerfG, wie seine Ausführungen in der Wolff-Festschrift zeigen39, durchaus wiedergefunden. Ernst Friesenhahn sah das in seinem 1974 in Hamburg zur Eröffnung des 50.DJT gehaltenen Festvortrag „Der Wandel des Grundrechtsverständnisses" anders. Es heißt dort: „Was schließlich die Teilhaberechte angeht, so gibt schon der Wortgebrauch Anlaß zu Bedenken. Streng genommen kann man davon nur reden, wenn es um die am Gleichheitssatz ausgerichtete verhältnismäßige und gerechte Teilhabe an Leistungen oder Einrichtungen geht, die vom Staat bereitgestellt sind, die von Wolfgang Martens sogenannte »derivativen Teilhabeansprüche«." 40 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die er von Peter Häberles „weit ausgreifender Theorie der Grundrechte im Leistungsstaat" beeinflußt sieht, stößt bei Ernst Friesenhahn in ihren generalisierenden Formulierungen auf Bedenken 41 . Das BVerwG hat im Jahre 1974 in seiner Entscheidung über die Einführung der 5-Tage-Woche an Hamburger Schulen zwar noch einmal einen Versuch gemacht, aus den Grundrechten des Grundgesetzes ein Recht auf Bildung herzuleiten 42 . Doch das ist Episode geblieben. Der heutige Stand der Erkenntnis wird von Konrad Hesse in der kürzlich erschienenen 15. Auflage seiner Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland - übrigens im wesentlichen seit der 1. Auflage unverändert - wie folgt beschrieben:
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Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S. 7 (33). Vgl. Wolf gang Martens, Prinzipien der Leistungsverwaltung, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für H a n s J . Wolff, 1973 S. 429 (441 f). 40 Ernst Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen des Fünfzigsten Deutschen Juristentages, Bd. 2, 1974 S . G 2 9 . 41 Ernst Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen des Fünfzigsten Deutschen Juristentages, Bd. 2, 1974 S. G29. 42 BVerwGE 47 S.201 (204). 39
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„Dagegen kennt das Grundgesetz keine Grundrechte, die sich als (»originäre«, also unabhängig von vorhandenen, gesetzlich geregelten Leistungssystemen bestehende) Teilhaberechte im Sinne individueller Rechte auf Beteiligung an staatlichen Leistungen qualifizieren lassen . . . An dieser verfassungsrechtlichen Lage kann auch der Versuch einer Umdeutung der in das Grundgesetz aufgenommenen Grundrechte in Teilhaberechte nicht vorbeiführen. . . . Anderes gilt für die Frage »derivativer« Teilhaberechte." 43 Dem entspricht es, wenn der Schwerpunkt der Grundrechtsdiskussion sich heute auf die Fragen grundrechtsgeforderter Organisation und Verfahren verlagert hat. Wolfgang Martens hat in seinem Referat vor den Staatsrechtslehrern in den bereits zitierten Ausführungen von der Bedrohung durch den Leistungsstaat gesprochen 44 . Er hat dieses Thema 1973 in seinen Beitrag in der Festschrift für HansJ. Wolff noch einmal aufgenommen und darauf hingewiesen, daß Wissenschaft und Rechtsprechung aufgerufen seien - und die folgende Formulierung ist in ihrer methodischen Aussage wiederum kennzeichnend - , „normative Prinzipien zu entfalten und sichtbar zu machen, an die auch die moderne Leistungsverwaltung gebunden ist. Diese Aufgabe stellt sich um so dringlicher, als es autonome und autarke Daseinsformen im hochindustrialisierten Staat der Gegenwart nicht mehr gibt. Staatliche Daseinsvorsorge ist damit unentrinnbar geworden; Verteilung und Vorenthaltung öffentlicher Leistungen erscheinen als Emanationen staatlicher Macht, denen gegenüber sich Polizeiverfügung und Steuerbescheid bescheiden ausnehmen." 45 Diese im Anschluß an Gedanken Gehlens, die später auch von Schelsky aufgegriffen werden, formulierte Aufgabe, die Freiheit des einzelnen gegenüber der Macht des Leistungsstaates zu schützen, ist bisher vielfach noch nicht einmal als Problem erkannt, geschweige denn gelöst46. Es ist schon eindrucksvoll zu sehen, wie diejenigen, die sich in der Politik als Apostel der Freiheit gegenüber staatlichem Eingriff und Zwang profilieren, nicht die geringsten Bedenken tragen, diesem Staat über die Begründung von Leistungsbeziehungen jene Mittel in die Hand zu geben, die eine höchst effektvolle und geräuschlose Steuerung seiner leistungsabhängigen Bürger ermöglichen. Wolfgang Martens hat die Gefährdung, die der Freiheit durch den obrigkeitlichen Staat drohen kann, nicht vernachlässigt. Dafür steht u. a. 43 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985 R d n . 2 8 9 . 44 Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972) S . 7 (14). 45 Wolf gang Martens, Prinzipien der Leistungsverwaltung, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für H a n s J . Wolff, 1973 S. 429 (430 f). 46 Vgl. dazu Hans-Uwe Erichsen, Freiheit-Gleichheit-Teilhabe, DVB1. 1983 S. 289 ff.
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seine Mitwirkung an der Fortführung des Drews/Wacke, dessen 9. Auflage in der Bearbeitung von Klaus Vogel und Wolfgang Martens, der die Arbeit an seinem Teil noch vor seinem Tode abschließen konnte, in diesen Tagen erscheint. Im Mittelpunkt der von ihm bearbeiteten Teile steht der Schutz des einzelnen vor der Polizei und durch die Polizei in rechtsstaatlich durchformter Weise. In der Sorge um eine Diziplinierung der gerade durch die Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus auf Omnipotenz angelegten Polizei47 hat er einer Neubestimmung des Begriffs Gefahrenabwehr, die dahinging, die gesetzlichen Aufgabenzuweisungen an Polizei- und Ordnungsbehörden deckten auch lenkende und leistende, pflegende und vorsorgende Maßnahmen 48 , „entschieden" widersprochen. „Die unverhüllte Wiederbelebung der alten wohlfahrtspolizeilichen Funktion führt hinter die rechtsstaatlich begrenzte Auslegung des §10 II 17 Pr. ALR zurück, die wir der Rechtsprechung verdanken - beginnend mit dem Kreuzberg-Urteil des Pr. OVG." 49 Die damit verknüpfte Warnung, „tradierte Rechtssatzbegriffe im Wege freier wissenschaftlicher Begriffsbildung zu manipulieren", war gespeist aus der Besorgnis um die freiheitsgewährleistende Rechtsstaatlichkeit eines das Verhältnis des einzelnen zum Staat und des einzelnen zur Gesellschaft ordnenden Polizeirechts. Daß es dabei nicht sein Bewenden haben konnte, ist ihm zunehmend klargeworden. „Es ist offenkundig", so heißt es nunmehr in der 9. Auflage von Drews/Wacke/Vogel/Martens, „daß sozialstaatliche Leistungsverwaltung in der frühen Wohlfahrtspolizei einen Vorläufer hat". Von dort spannt sich für ihn der Bogen zum modernen Recht des Umweltschutzes, welches Wolfgang Martens durch „die Zwecke, die Zentralbegriffe und das bewährte herkömmliche Instrumentarium des Rechts der Gefahrenabwehr" bestimmt, indessen nicht ausreichend gerüstet sieht, um der sozialstaatlich begründeten Aufgabe des Umweltschutzes im hochindustrialisierten Gemeinwesen der Gegenwart zu bewältigen. Die Regelungstechniken gefahrenabwehrender Verwaltung bedürfen nach seinen im Rahmen der Bestimmung des materiellen Polizeibegriffs dargelegten Überlegungen „der Ergänzung durch Maßnahmen leistender Verwaltung und den Einsatz gestaltender Planungen, abgabenrechtlicher Steuerungsinstrumente sowie der Sanktionen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts" 50 . 47
Dazu in Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986 S.38, 11 ff. Vgl. Hans-Uwe Erichsen, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, W D S t R L 35 (1977) S. 171 (188). 49 Wolf gang Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, D Ö V 1982 S. 89 (90). 50 In Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986 S. 41 f. 48
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Schon in seiner Dissertation gewinnt Wolfgang Martens dem Sozialstaatsprinzip freiheitsbegrenzende, aus der Einbindung des einzelnen in die Gemeinschaft resultierende Impulse ab51, ein Ansatz, den das BVerfG in der Numerus-clausus-Entscheidung zehn Jahre später - und heute weitgehend vergessen - wieder aufnimmt52. So wie Freiheit den einzelnen nur neben anderen und begrenzt durch sie zusteht, so ist sie andererseits auf die Verantwortung angewiesen - Stichwort: risikobehaftete Freiheit - , Freiheit, die für ihre Folgen nicht einzustehen hat, war nicht seine Sache. Die Grundpflichten, 1982 Thema der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Konstanz, haben ihn schon in seiner Dissertation beschäftigt". Der cantus firmus - um an ein Wort Dietrich Bonhoeffers anzuknüpfen - des Werkes Wolfgang Martens' war und ist - wie zusammenfassend gesagt werden kann - Freiheit und Bindung des einzelnen im Recht. In dieser thematischen Priorität kommt der Einklang seiner Grundauffassung mit der Struktur unserer heutigen Rechtsordnung zum Tragen, deren Zentrum der in der Gemeinschaft lebende Mensch ist, dessen Würde gem. Art. 1 Abs. 1 G G unantastbar ist und der nicht zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidungen gemacht werden darf. Weil die geltende Verfassungs- und Rechtsordnung so sehr seinen Grundüberzeugungen entsprach, hat Wolfgang Martens die Sorge um ihren Erhalt motiviert und ist er stets strukturellem Wandel gegenüber zurückhaltend und modischer Anpassung abhold gewesen. Er war stets dem Zeitgeist auf der Spur, ohne ihm indes je verfallen zu sein. Die Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts sah er durch sein methodisches Grundkonzept gewährleistet, welches dem reinen Subjektivismus eine strikte Absage erteilte, obwohl es - wie er durchaus gesehen hat - nicht voraussetzungslos war. Die Sorge um die Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts hat ihm juristische Phantasie gelegentlich, sie hat ihm juristische „Spinnereien" immer verdächtig gemacht; die Sorge um die Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts hat ihn motiviert, als Richter tätig zu sein. Er hat auf der anderen Seite in der Auseinandersetzung mit den auf Praxisorientierung abstellenden Thesen des Senatspr. i. R. Dr. Karl Munzel zur Reform des Rechtsstudiums54 den Hochschullehrer davor gewarnt, „den Studenten nur das vorzutragen, was sie - so Münzel - in der Praxis brauchen: die in der Rechtsprechung herrschende Meinung. Denn das wäre das Ende der Jurisprudenz als Wissenschaft." Diese Worte, 1969 von dem damaligen Hamburger Privatdozenten
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Vgl. Wolfgang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961 S. 125. BVerfGE 33 S.303 (331 f). Wolfgang Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961 S. 32 ff, 124 f. Vgl. Karl Münzel, Zur Reform des Rechtsstudiums, MDR 1968 S. 633 ff.
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formuliert", sind heute, also in einer Zeit, in der das Stichwort „Praxisrelevanz" gelegentlich den Blick dafür verstellt, daß Rechtsfindung ein diskursiver Prozeß ist, in dem die Gerichte vielfach das letzte Wort, aber nicht immer recht haben, von uneingeschränkter Aktualität. Möge das in diesen Worten zum Ausdruck kommende Verständnis der Jurisprudenz Ihnen, die Sie heute gekommen sind, um von Ihrem akademischen Lehrer Abschied zu nehmen, Leitbild und Richtlinie bei Ihrem künftigen rechtswissenschaftlichen Studium sein. An die Hochschullehrer gewendet sei gesagt, daß Wolfgang Martens durch die Intensität und Ernsthaftigkeit seines Einsatzes in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung Entscheidendes zur Glaubwürdigkeit und Zukunft des uns anvertrauten, mit Freiheit, aber auch mit Verantwortung ausgestatteten Amtes beigetragen hat.
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M D R 1969 S. 108 (109).
Praktizierte Humanität Rede, gehalten auf der akademischen Trauerfeier am 13. November 1985 CHRISTOPH BUSHART
„Wolfgang Martens gehörte zu denen, die auch unter den anonymen Bedingungen der Massenuniversität noch menschliche Wärme vermitteln konnten". Mit diesen Worten beginnt der Brief eines Studenten, geschrieben zum Tod von Prof. Dr. Wolfgang Martens. „Nach einer Krise in meinem Studium hat er durch seinen Vorlesungsstil, die Art, wie er auf mich als Student einging, dadurch, daß es ihm nicht egal war, ob wir Studenten den Stoff kapierten, meine Entscheidung bestätigt, das Jura-Studium fortzusetzen" - das sind die Zeilen eines anderen Studenten. Die beiden Beispiele sind exemplarisch für die Hochachtung, die dieser Mann genossen hat. Wer einmal den Andrang auf seine Seminare und Übungen miterlebt hat, weiß auch, daß diese Hochachtung kontinuierlich bestand und weit verbreitet war; er weiß auch, daß in den Briefen keine Floskeln, keine Phrasen gesprochen worden sind. Wolfgang Martens genoß nicht nur Wertschätzung bei den Studenten und Doktoranden; er fand sie genauso bei seinen Mitarbeitern, die ihm mehr als den einem Chef geschuldeten Gehorsam entgegenbrachten; er fand sie bei jedem am Seminar Tätigen. Sicher - besser müßte ich sagen: glücklicherweise - war er kein Heiliger, und sein grimmiger Blick am Montag war genauso Anlaß zum Schmunzeln wie sein geheucheltes Entsetzen über die hohen Teilnehmerzahlen in seinen Übungen und die Beteuerung: „Ich weiß gar nicht, warum die alle zu mir kommen" (natürlich wußte er es genau, und er war trotz allen Stöhnens stolz darauf; den Stolz zu zeigen, schien er sich jedoch zu schämen). So kamen auch Spötter und Lästerzungen auf ihre Kosten. Und doch: im Spott, im Lästern schwang immer ein respekt-, ich möchte fast sagen: ein liebevoller Unterton mit. Was hat ihm diese Wertschätzung verschafft? Was hat ihm selbst bei Studenten, die dem Fachbereich Rechtswissenschaft im allgemeinen, den Professoren im besonderen kritisch gegenüberstehen, solche Hochachtung eingebracht, daß sie ihm in der „taz" - einer Zeitung, die sicher nicht zu Martens' täglicher Lieblingslektüre zählte - einen Nachruf widmeten, ihm, mit dem sie sich auf politischer Ebene nie verstanden hätten?
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Die Studenten haben zunächst seine Vorlesungen und Übungen geschätzt. Die Zahl derer, denen er den Zugang zum öffentlichen Recht eröffnet hat, läßt sich nicht beziffern. Aber ich habe nicht nur von Studenten, sondern auch von bereits fertigen Verwaltungsjuristen in schon fast stereotyper Einmütigkeit den Satz gehört: „Bei Martens habe ich endlich verstanden, was öffentliches Recht ist". Prof. Martens besaß die Fähigkeit zu lehren. Er war nicht nur fachlich hoch qualifiziert, sondern richtete sein Augenmerk immer wieder darauf, daß und wie seine Vorlesung „ankam". Ich vermute, daß ihm seine Gewissenhaftigkeit das Einarbeiten und das Verarbeiten der Materien nicht einfach gemacht hat und daß er deswegen seinerseits den oft ja wirklich nicht leicht zugänglichen Bereich des öffentlichen Rechts übersichtlich, klar und präzise darbieten konnte. Präzision, Sorgfalt und minutiöse Planung waren ihm nicht nur in seinen Vorlesungen, sondern noch viel mehr in seinen Übungen unerläßliche Diener. Der Andrang auf die Übungen war entsprechend. Nur wenige (naive) kamen in der Hoffnung auf gute Noten. Die meisten wußten, daß sie in dieser Hinsicht keine Erwartungen zu hegen brauchten. Sie kamen, weil er an sich den Anspruch stellte, gerecht und nachvollziehbar zu korrigieren. Seine früheren Mitarbeiter wissen alle ein Lied zu singen von den Nacht- und Wochenendschichten, die er sich und ihnen auferlegte, um den Anspruch einzulösen. Sie kennen auch seinen Stolz, mit dem er feststellte, daß die Arbeit sich gelohnt hätte, weil Remonstrationen ausblieben. Wir Doktoranden haben naturgemäß von seinen Stärken als Lehrer, von seinen didaktischen Fähigkeiten nicht in diesem Umfang profitiert. Im Gegenteil: seine hohen Ansprüche, seine Präzision haben ihn einen kritischen Doktorvater sein lassen, der nicht leicht zufrieden zu stellen war. So sehr jedoch sein wissenschaftlicher Anspruch ihn unerbittlich und unnachsichtig machte, so sehr hat er auf der anderen Seite Geduld gehabt, für die Nichteinhaltung vollmundig gegebener und anschließend nicht einlösbarer Terminversprechen Verständnis (sicherlich manchmal mit einem leicht spöttischen Unterton) aufgebracht. Er hat während der Durstphasen den Optimismus bewahrt, der uns abhanden gekommen war, und so Hilfestellung gegeben. Die Offenheit, mit der er glaubhaft von seinen Schwierigkeiten erzählte, einen Stoff in den Griff zu bekommen, hat mir mehr als einmal das Gefühl vermittelt, nicht als einziger mit den Phasen gedanklicher Unfruchtbarkeit oder den durch die alltägliche Verwaltungsarbeit im Semester aufgetürmten Hürden kämpfen zu müssen. Für ihn war es selbstverständlich, da zu sein, wenn ein Doktorand seinen Rat suchte; und so sehr er uns unsere Unzuverlässigkeit nachsah, so sehr war er selbst zuverlässig. Es gab gar keine Frage: war
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das längst versprochene Expose endlich da, so hielt er natürlich seinen Termin ein, hatte den Entwurf sorgfältig durchgelesen und brachte fundierte, oft unangenehme, nie aber verletzende Kritik. Einen „dritten Martens" möchte ich gerne ins Gedächtnis rufen. Es ist der Martens, den wir mit gutem Gewissen „die Seele des Seminars" nennen können, den wir wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erlebt haben. Die tägliche Routine zu bewältigen, die ein Lehrstuhl, das Seminar oder gar der Fachbereich mit sich bringen, ist - hier verrate ich keine Geheimnisse - vielen, nicht zuletzt auch vielen Professoren, ein Greuel. Selbst Staats- und Verwaltungsrechtler haben häufig eine (nachvollziehbare, aber paradoxe) Abneigung gegen die Verwaltungspraxis, die zeitraubend ist, oft kleinkariert erscheint und einen langen Atem verlangt. Prof. Martens hat sich auch darum gekümmert, ob es um Räume für neue Kollegen, Stellenpläne, das Vorlesungsangebot oder die Arbeitsbelastung der Schreibkräfte ging. Er konnte sicherlich auf ein natürliches Organisationstalent zurückgreifen, das ihm auch bei seinen Lehrveranstaltungen nützlich war, auf die Fähigkeit zu planen. Ohne die Bereitschaft jedoch, mit Engagement und Kraft diese oft detaillierten und nebensächlich erscheinenden Aufgaben in Angriff zu nehmen, hätte auch Martens sich bald aus dem „Geschäft" zurückziehen müssen. Seine Persönlichkeit letztlich war es, die ihn als Lehrer, als Doktorvater, als Chef unvergeßlich macht. Wolfgang Martens wußte um seinen Platz, um seine Stellung als Professor, die ihm mehr bedeutete als die Inhaberschaft einer beamtenrechtlichen Funktion. Er hat diesen Platz ausgefüllt, weniger für sich, als für andere. Sein Verantwortungsgefühl hat sein Handeln wesentlich bestimmt und war in seiner gesamten Tätigkeit präsent. Viele haben ihn als Gesprächspartner erlebt - in Seminaren, Besprechungen, im persönlichen Gespräch. Uberall wirkte er durch seine Offenheit und Gradlinigkeit. Falsche Kollegialität lag ihm genauso wenig wie vorschnelle Solidarisierung. Durch seine Unabhängigkeit hat er sich Freiraum geschaffen - Freiraum, der ihm die eigene, oft nach langem Nachdenken und Abwägen getroffene Entscheidung ermöglichte und ihm erlaubte, zu seiner Entscheidung, zu seinem Wort zu stehen. Ich gestehe, daß ich mich während meiner Tätigkeit am Seminar vor seinen skeptischen und kritischen Fragen manchmal gerne gedrückt und mir gewünscht hätte, daß er einem Vorschlag schneller folgen möge. Aber ich wurde mehr als entschädigt durch seine rückhaltlose Unterstützung, wenn er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. Seine Uberzeugung vertrat er in der Sache ohne Ansehen der Person, sein Ton nahm ohne Ansehen der Sache Rücksicht auf den anderen, verriet Sensibilität und Feingefühl. Geduld und Verständnis für die
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Situation des anderen, nicht zuletzt auch die Fähigkeit zum Zuhören, ergänzten seine Aufrichtigkeit. Ich glaube, das war ein (wenn nicht sogar: der) G r u n d , warum er auch zu Menschen fand, die seine Ansichten überhaupt nicht teilten. E r konnte Brücken schlagen, w o andere schon die Gräben aufrissen. A u c h diese Fähigkeit zum Gespräch war umgriffen von seinem beständigen Engagement, das die eigenen körperlichen Kräfte oft überfordert hat, das trotzdem immer wieder selbstverständlich kam. Dieses Engagement für andere war der G r u n d seiner Anstrengungen in Vorlesungen, im Seminar, als Doktorvater. E s war der G r u n d für eine Hilfsbereitschaft, die sich nicht aufgedrängt, nie verweigert hat. T r o t z seiner eigenen Gradlinigkeit, trotz seiner Konsequenz, seiner Energie hat er immer Verständnis gehabt für andere, die - vielleicht noch selbstverschuldet — die Orientierung, die H o f f n u n g verloren hatten, die mit sich kämpfen mußten. D a s Wort: „ D a s geht mich nichts a n " hat für ihn nicht gegolten. Ich habe immer wieder die Konsequenz bewundert, mit der er seinen Weg gegangen ist. Er hat (wie wir alle) die Verantwortungslosigkeit von Studenten erlebt, die für eine Arbeit von vielen anderen ebenfalls benötigte Bücher nach Gebrauch verstellen oder die Seiten herausreißen. D a s hat ihn berührt und beschäftigt. Er sah Kollegen, die nach einigen Jahren kapitulierten vor solchen und anderen typischen Erscheinungen der Massenuniversität, die sich zurückzogen und den Anforderungen des Massenbetriebs nur noch im unumgänglich notwendigen Maße stellten. Wie sie hat er unter diesen Erscheinungen gelitten und doch nicht nach einem ähnlich bequemen R ü c k z u g in die Resignation gesucht. Nichts vermag das besser zu belegen als die Energie, mit der er im Wissen um seine Krankheit sein letztes Semester bewältigt hat. Wolfgang Martens hat mit seinem Verständnis von Verantwortung M u t gemacht. E r hat immer wieder von neuem durch sein Beispiel andere an ihre Verantwortung gemahnt und durch sein wortloses Vorbild verpflichtet. E r hat gezeigt, daß es neben allem unverzichtbaren gesellschaftlichen und politischen Engagement, neben entschiedener Parteinahme auch der Menschlichkeit in allernächster N ä h e bedarf, einer Menschlichkeit, die nicht immer anderen den Vortritt läßt. Seine H u m a nität vertrug weder große Dispute noch flammende Resolutionen. Sie war einfach da. Ich bin deshalb froh, daß er gelebt hat. Als Glück empfinde ich, daß ich ihn kennenlernen durfte. D a n k schulde ich ihm für die Beweise von Menschlichkeit, die er anderen und mir erbracht hat und die immer ermutigten.
Deutsches Staatsrecht
Das normative Ermessen beim Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen PETER BADURA
1. Das Gesetz und die abgeleitete Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive Die Verfassung bestimmt durch das Gewaltenteilungsprinzip und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, ob und in welchem Maße der Exekutive selbständige Entscheidungsbefugnisse bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zukommen dürfen. Das Gesetz hat die rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen an die Verwaltungstätigkeit zu gewährleisten, für die zur Regelung eines Einzelfalles zu treffenden Entscheidungen ebenso wie für die abgeleitete Rechtsetzung der Exekutive1. Freiheit und Gebundenheit der Exekutive als Verordnunggeber und als Satzunggeber, Art und Maß ihres normativen Ermessens und Reichweite der gerichtlichen Prüfungsbefugnis gegenüber der administrativen Rechtsetzung sind zuerst vom Gesetz abhängig, das die rechtsetzende Exekutive mit Ermächtigungen versieht und rechtlich bindet2. Die gesetzliche Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen weist der Exekutive zur Regelung eines bestimmten Sachbereichs eine inhaltlich beschränkte, aber eine selbständige Regelungs- und Gestaltungsvollmacht einschließende Rechtsetzungsbefugnis 1 M.Zuleeg, Die Ermessensfreiheit des Verordnungsgebers, DVB1.1970, 157; D.Wilke, Bundesverfassungsgericht und Rechtsverordnungen, A 5 R 9 8 , 1973, S. 196; P.Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Festgabe für das Bundesverfassungsgericht, 1976, 2. Bd., S. 50; K.-U. Meyn, Autonome Satzung und demokratische Legitimation, DVB1.1977, 593; M. Lepa, Verfassungsrechtliche Probleme der Rechtsetzung durch Rechtsverordnung, A5R105, 1980, S.337; F. Ossenhühl, Richterliches Prüfungsrecht und Rechtsverordnungen, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S.283; ders., Eine Fehlerlehre für untergesetzliche Normen, NJW 1986, 2805; ders., Die Quellen des Verwaltungsrechts, in: H.-U. Erichsen/W. Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1986, S. 59/78 ff; E. Schmidt-Aßmann, Die kommunale Rechtsetzung im Gefüge der administrativen Handlungsformen und Rechtsquellen, 1981; H.Spanner, Grenzen des Rechts zum Erlaß von Verordnungen und Satzungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 1986, 225; P. Badura, Rechtsetzung durch Gemeinden, D Ö V 1963, 561. 2 F. Ossenhühl, Prüfungsrecht aaO, S. 292 ff; G.Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1973, S.275; P. Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bestehend aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes, in: Festschrift für Otto Bachof, 1984, S. 169/169 ff.
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zu. Die Delegation von Verordnungsgewalt und die Zuweisung von Satzungsautonomie zeigen eine Verschiedenartigkeit, auf die noch einzugehen sein wird. In beiden Formen ist jedoch die gesetzliche Begründung abgeleiteter Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive wesensnotwendig mit der Einräumung normativen Ermessens verbunden3. Der staatsrechtliche Sinn der delegierten oder autonomen Rechtsetzung liegt gerade darin, unter Wahrung der rechtsstaatlichen und demokratischen Garantiefunktion des Gesetzes die der Exekutive eigentümliche Leistungsfähigkeit und deren spezielleren Sachverstand für die Erledigung einer Regelungsaufgabe dienstbar zu machen. Die Rechtsform normativer Regelung gewährleistet überdies einen sachgerechten und die Gleichbehandlung sichernden Gesetzesvollzug4. Die Bindung der vollziehenden Gewalt an „Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 G G ) meint - als richtig verstandener Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Bindung an das in die Rechtsordnung und die Rechtsentwicklung eingebettete und im Wege wissenschaftlich durchdachter Auslegung verstandene Gesetz 5 . Das Gesetz, das eine Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive begründet, fügt diese hoheitliche Regelungsgewalt in den verfassungsrechtlich definierten Handlungskreis der vollziehenden Gewalt ein. Die Verfassung hat die Exekutive als „verfassungsunmittelbare Institution und Funktion" geschaffen und - auf der Grundlage des Gewaltenteilungsprinzips und des Grundsatzes der parlamentarischen Verantwortung der Regierung - einen „Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung" anerkannt und garantiert6. Da die Rechtsetzung in Gestalt der gesetzgebenden Gewalt der parlamentarischen Volksvertretung vorbehalten ist, kann es eine originäre Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive im Sinne eines mitgesetzten Bestandteils der verfassungsunmittelbar bestehenden vollziehenden Gewalt im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes nicht geben. Die demnach notwendig „abgeleitete" Rechtsetzung der Exekutive kann sich nur in einem beschränkten vom Gesetzgeber vorgezeichneten Rahmen vollziehen. Soweit der Exekutive die Befugnis zur Normsetzung übertragen ist, muß sich der Inhalt der
3 E.Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dung, Grundgesetz, Art. 19 Abs.IV (1985), Rdn.217. 4 W.-R. Schenke, in: BonnKomm., Art. 19 Abs. 4 (1982), Rdn.379, 381; E.SchmidtAßmann, Art. 19 Abs.IVaaO, Rdn.205. 5 Für das konstitutionelle Staatsrecht: G.Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887; G. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, 1900; R.Thoma, Der Polizeibefehl im Badischen Recht, 1906, S. 325 ff; W.Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913. 6 BVerfGE49, 89/124 ff; 67, 100/139; 68, 1/87.
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abgeleiteten Verwaltungsnorm an dem Willen des Gesetzgebers orientieren und auch orientieren können 7 . Die Bindung der Exekutive an das Gesetz, insbesondere die Bindung des Verordnunggebers an Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung, schließt nicht aus, daß dem Normgeber ein gewisser Spielraum normativer Beurteilung und Gestaltung verbleibt 8 . Das Gesetz kann dem Verordnunggeber einen „politischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum" einräumen, „innerhalb dessen nicht die Gerichte ihr — auf Rechtserkenntnis beschränktes — Urteil an die Stelle der politischen oder wirtschaftlichen Wertungen und Entscheidungen des Verordnungsgebers setzen dürfen. Die Gerichte können insoweit nur prüfen, ob die getroffene Maßnahme den Rahmen der Zweckbindung der gesetzlichen Ermächtigung überschreitet, ob sie etwa schlechterdings ungeeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, oder ob sie unverhältnismäßig ist"9. Was für die Delegation von Verordnungsgewalt gilt, gilt nicht weniger für die Einräumung von Satzungsautonomie, vorbehaltlich der gesetzlich zu sichernden Kautelen gegen einen Fehlgebrauch der Autonomie durch die Selbstverwaltungsorgane. Wie weit der dem normativen Ermessen zugestandene Spielraum der Beurteilung und Gestaltung der Exekutive reicht, ist eine durch Auslegung der gesetzlichen Ermächtigung zu beantwortende Rechtsfrage; das Gewaltenteilungsprinzip und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind allgemeine Leitlinien für die zu suchende Antwort (Art. 20 Abs. 3 GG). 2. Verordnunggebung
kraft Delegation und Satzunggebung kraft Autonomie Die Rechtsverordnung ist ein in die Hand der Exekutive gelegtes Werkzeug für die nähere Regelung spezieller, technisch bestimmter und entwicklungs- oder situationsabhängiger Gegenstände. Die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit des zur Verordnunggebung ermächtigenden Gesetzes stellt sicher, daß die wesentlichen Entscheidungen, das „Programm" möglicher Rechtsetzung durch die Exekutive, der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten bleiben. Die Delegation gewährleistet den sachlichen Zusammenhang der auf das maßstabgebende Gesetz und die das Gesetz ausführende Rechtsverordnung verteilten Regelung des Sachgebiets. Die parlamentarische Volksvertretung und die jeweils berufene Stelle der Exekutive, ggf. auch eine kommunale Gebietskörperschaft
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BVerfGE 34, 52/59 f, f ü r die Verordnunggebung. » B V e r f G E 3 8 , 348/363; 53, 135/145. ' BVerfGE 45, 142/162 f, f ü r das Merkmal der Erforderlichkeit einer getreidemarktordnungsrechtlichen Verordnung auf G r u n d des § 7 N r . 2 D u r c h f G - E W G - G e t r e i d e .
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sind an der Normgebung mit den ihnen typischerweise eigenen Entscheidungsfähigkeiten und Legitimationsgründen beteiligt. Die Verordnunggebung kraft Delegation bleibt im Rahmen und Verantwortungsbereich der dem Staat zustehenden Aufgabenerfüllung durch Rechtsetzung, die Satzunggebung kraft Autonomie dagegen basiert auf der - gesetzlich geordneten - politischen Idee der Selbstverwaltung 10 . Die Autonomie ist damit zwar weder eine „originäre" noch eine „unabhängige" Rechtsquelle, dennoch aber eine im Grundzug auf eigenverantwortlicher Regelung eigener Angelegenheiten der Betroffenen beruhende Rechtsetzungsgewalt. Sie ist organisatorisch und funktional der Exekutive zuzurechnen, zeigt aber ein Element selbständiger und nicht staatsabhängiger politischer Entscheidungsfähigkeit 11 . Diese der Autonomie eingestiftete politische Gestaltungsfreiheit, die das normative Ermessen des Satzunggebers prägt, kann „demokratisch" genannt werden 12 , wenn bedacht wird, daß mit diesem Prädikat hier nicht auf die etatistisch ausgeformte Mehrheitsdemokratie der Verfassung, sondern auf das genossenschaftliche und zur Mehrheitsdemokratie unter Umständen in Spannung tretende Lebensprinzip der Selbstverwaltung verwiesen wird. Die Bedeutung dieses Prinzips ist allerdings gerade bei den für die autonome Satzung charakteristischen kommunalen Gebietskörperschaften mit deren fortschreitender Perfektionierung als Leistungsträger der sozialstaatlichen Verwaltung ganz in den Hintergrund gedrängt und bei anderen Selbstverwaltungskörperschaften vielfach vom Interessenstandpunkt des verbändestaatlichen Verteilungskampfes überformt. Die Abgrenzung und Zuordnung der im öffentlichen Interesse zu erfüllenden Verwaltungsaufgaben zur staatlichen oder im übertragenen Wirkungskreis einer Selbstverwaltungskörperschaft liegenden Erledigung oder zum Kreis der Selbstverwaltungsangelegenheiten ist im Uberschneidungsbereich zwischen den notwendig staatlichen Aufgaben und einem Kernbereich der jeweiligen Selbstverwaltung eine Sache der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Demgemäß kann in gewissem Umfang von einer „Austauschbarkeit" der Rechtsformen gesprochen werden". Beispielsweise sieht das neuere Gemeinderecht im Falle der Begründung eines Anschluß- und Benutzungszwangs den Schwerpunkt
10 F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., 1928, S. 78, 80; P. Badura, Rechtsetzung aaO, S. 562 ff; F.Ossenbühl, Quellen aaO, S. 100 f. 11 P.Kirchhof, Rechtsquellen aaO, S. 85 f; E. Schmidt-Aßmann, Kommunale Rechtsetzung aaO, S. 11 f; H.-J. Papier, Zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte, D Ö V 1986, 621/628. n K.-U. Meyn aaO, S. 598 ff.
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Vgl. E.Schmidt-Aßmann aaO, S.26ff.
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in der kommunalen Daseinsvorsorge und nicht in den polizeilichen Erfordernissen der Volksgesundheit, so daß die Anordnung im Wege der Satzung erfolgt". Hingegen findet sich für die Überwälzung der gemeindlichen Pflichten zur polizeimäßigen Reinigung und zum Winterdienst (siehe § 3 Abs. 3 Satz 2 BFStrG) auf die Anlieger die Regelungsform der Rechtsverordnung (Art. 51 Abs. 4 und 5 BayStrWG). Ortliche Bauvorschriften, für die bis vor kurzem Rechtsverordnungen vorgesehen waren - wenn auch mit der alternativen Möglichkeit der Aufnahme in einen Bebauungsplan (§ 9 Abs. 4 B a u G B ) - , können nach Landesbaurecht auch der gemeindlichen Satzungsautonomie zugewiesen werden (so Art. 91 BayBauO). 3. Gestaltungsfreiheit
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Die Auseinandersetzung der politischen Kräfte über die Macht im Staat und über die Aufgaben des Gemeinwesens gelangt, soweit sie sich auf den Inhalt der Rechtsordnung richtet, in der rechtsstaatlichen Demokratie für bestimmte Interessen und Gegenstände im Gesetz zu einer für jedermann verbindlichen Entscheidung. Der verfassungsrechtlich institutionalisierte Wille der in der parlamentarischen Volksvertretung wirksamen politischen Kräfte und - im Bundesstaat des Grundgesetzes — der föderativ im Bundesrat sich artikulierende Wille der für die Regierung in den Ländern verantwortlichen Kräfte legitimieren die durch das Gesetz getroffene Regelung. Der politischen und rechtlichen Schlüsselstellung des Gesetzes im demokratischen Verfassungsstaat entspricht die Formel von der „politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers", die im Hinblick auf das Maß der verfassungsrechtlichen Gebundenheit der Legislative und die Grenze der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Gesetzes gebildet wurde. Die Verschiedenartigkeit der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und des Ermessens der Exekutive, einschließlich des normativen Ermessens des Verordnungund Satzunggebers, ist demgemäß aus den Grundlagen der Verfassungsordnung abzuleiten 15 . Wolfgang Martens hat die dem Gesetzgeber bei der abwägenden und ausgleichenden Verwirklichung des öffentlichen Interesses im Grundrechtsbereich zukommende Gestaltungsbefugnis „legislatorische Qualifikationskompetenz" genannt 16 . Das Grundgesetz räumt dem Gesetzge14 N a c h preußischem Recht wurde der Benutzungszwang bei öffentlichen Anstalten der Gemeinden durch Polizeiverordnung eingeführt; siehe W.Jellinek, Verwaltungsrecht, 1928, S. 495. 15 F. Ossenbühl, Richterliches Prüfungsrecht aaO, S. 287; P. Badura, D a s Planungsermessen und die rechtsstaatliche Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Festschrift für den B a y V e r f G H , 1972, S. 157/162 f. 16 W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 186 ff.
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ber „prinzipielle Gestaltungsfreiheit in der Setzung und Verwirklichung seiner politischen Ziele" ein. Dies schließt das Recht des Gesetzgebers ein, bestimmte wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitische Vorstellungen oder Ziele in den Rang gemeinschaftswichtiger öffentlicher Interessen zu erheben17. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens; es definiert das öffentliche Interesse. Die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts für eine Reihe von Regelungsaufgaben besonders betont worden, so für die Wirtschaftspolitik, für die Leistungsverwaltung und für die Ausgestaltung der Rundfunkordnung. Sie besteht auch für die Art und Weise der organisatorischen Bewältigung öffentlicher Aufgaben. So ist es eine Sache des gesetzgeberischen Ermessens zu entscheiden, welche als legitim anzuerkennende öffentliche Aufgaben der Staat nicht durch seine Behörden, sondern durch eigens gegründete öffentlich-rechtliche Anstalten oder Körperschaften erfüllt; ob die Wahl der Organisationsform zweckmäßig oder notwendig war, ist vom Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen18. Die Zuerkennung des grundsätzlich weiten Spielraums des Gesetzgebers für die gestaltende und ordnende Verwirklichung der Staatsaufgaben im Unterschied zu der engeren Gebundenheit des Verordnunggebers zeigt ihre Bedeutung bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Der Gestaltungsspielraum des Verordnunggebers ist von vornherein in die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung gewiesen und den damit vorgegebenen Festlegungen und Direktiven unterworfen. Die rechtsetzende Exekutive kann die Ziele des Gemeinwohls nicht frei wählen und bewerten; sie empfängt das Maß der Sachgerechtigkeit ihrer Entscheidung vom Gesetzgeber". Ermessen ist die aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes bestehende Befugnis der Exekutive zu selbständiger Abwägung und Entscheidung. Nach der überkommenden Ordnung der verwaltungsrechtlichen Systembegriffe20 ist Ermessen ein gesetzlich begründeter Handlungsspielraum der Verwaltung: die Verwaltung ist hier ermächtigt, in einem bestimmten Rahmen nach Zweckmäßigkeit - wenn auch „pflichtgemäß", ohne Willkür - zu handeln. Wird jedoch das Vorhandensein einer gesetzlich begründeten und von der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle 17 W.Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 186 (unter Bezugnahme auf BVerfGE 13, 97/107 und 14, 263/282); übereinstimmend ders., Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30, 1972, S. 7/17. 18 BVerfGE 10, 89/102 ff; BayVerfG NVwZ 1984, 89. " BVerfGE 13, 248/253, 256; 16, 332/339; BVerwGE26, 305/313; VerfGH RhPfalz DVB1.1969, 799/801. 20 Vgl. etwa W. Martens, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgem. Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1986, §12.11.2.
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zu respektierenden selbständigen Beurteilungs- und Entscheidungsbefugnis der Verwaltung zum leitenden Systembegriff erhoben 21 , wird das Ermessen zu einem abgeleiteten Begriff. Die Ermessensermächtigung findet neben sich gesetzliche Ermächtigungen (1) für einen „Beurteilungsspielraum" der Verwaltung bei der Rechtsanwendung, (2) f ü r die Ausübung „planerischer Gestaltungsfreiheit" bei der raumbezogenen Planung und bei anderen komplexen und zukunftsbezogenen Organisations- und Gestaltungsentscheidungen, (3) für eine selbständige „ N o r m konkretisierungsbefugnis" der Verwaltung bei wissenschaftlich-technischen Bewertungen von Risiken und Auswirkungen im Rahmen der Zulassung und Beaufsichtigung von Anlagen und Tätigkeiten und bei hochschulpolitischen Beurteilungen im Kapazitätsrecht. Das Gewaltenteilungsprinzip, das parlamentarische Regierungssystem und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung legen f ü r die Aufgabe und die Handlungsmöglichkeiten der Exekutive ein G r u n d muster fest. Dennoch ist es notwendig, die Verschiedenartigkeit der staatsleitenden Aufgaben und Verwaltungszwecke, der durch Gesetz geregelten Sachziele der Exekutive und der Rechtsformen des Verwaltungshandelns nicht beiseite zu setzen. Das normative Ermessen und das im Einzelfall auszuübende Ermessen lassen sich nicht im Grundsätzlichen22, sondern nur in den Fällen durch eine gemeinsame Betrachtung erfassen, wo ungeachtet der Konkretheit der Entscheidungsaufgabe im Wege normativer Regelung gehandelt wird, wie bei „Maßnahme-Verordnungen" 2 3 oder bei den kommunalen Bebauungsplänen 24 . 4. Planerische
Gestaltungsfreiheit
Das „Planungsermessen" ist eine besonders eingehend durchdachte und in der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts zu einem eigenen Rechtsinstitut ausgebildete Erscheinungsform des Verwaltungsermessens 25 . Planungsermessen ist die den Planungsentscheidungen der Verwaltung notwendig innewohnende planerische Gestaltungsfreiheit, die entsprechend der gesetzlichen Rechtsgrundlage
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E.Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV (1985), Rdn. 180 ff, bildet auf der Grundlage der von ihm unter Berufung auf BVerfGE61, 82/111 so genannten „normativen Ermächtigungslehre" verschiedene Fallgruppen administrativer Letztentscheidungsermächtigungen, in die auch das überkommene Verwaltungsermessen eingeschlossen wird. 22 F. Ossenbühl, Fehlerlehre aaO, S.2809; anders M. Zuleeg aaO. 23 F. Ossenbühl, Richterliches Prüfungsrecht aaO, S. 289. 24 Siehe E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd.I, 10. Aufl., 1973, S. 309 ff. 25 Kommunale Bauleitplanung: BVerwGE 34, 301; 45, 309; raumbezogene Fachplanungen: BVerwGE 48, 56; 56, 110; 71, 150: 71, 166; BVerwG DVB1. 1986, 416. - Siehe auch BVerwG DVB1. 1986, 55 (Krankenhausbedarfsplanung).
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durch die jeweilige Planungsaufgabe und die einschlägigen Planungsgrundsätze sowie durch die allgemeinen Grundsätze des rechtsstaatlichen Planungsrechts, insbesondere das Abwägungsgebot, gebunden ist. Die Lehre vom Planungsermessen gilt für Planungsentscheidungen, die Rechte einzelner durch eine verbindliche Regelung berühren können, sei es durch Verwaltungsakt (insbesondere Planfeststellungsbeschluß des Fachplanungsrechts), sei es durch normativen Planungsakt (insbesondere durch Satzung festgesetzter Bebauungsplan und durch Rechtsverordnung aufgestellte Ziele der Raumordnung und Landesplanung) 2 '. Die planerische Gestaltungsfreiheit als Kennzeichen des Verwaltungsermessens bei der raumbezogenen Planung bewahrt ihre Eigenart auch dort, wo sie als Element normativen Ermessens in Erscheinung tritt. Die Rechtsform eines Planes als Norm oder Verwaltungsakt hat bei der parzellenscharfen Planung durch Bebauungsplan oder Planfeststellungsbeschluß keine Verschiedenartigkeit des Planungsermessens zur Folge. Dementsprechend unterscheidet das Bundesverwaltungsgericht 27 das Regelungsermessen des kapazitätsrechtlichen Verordnunggebers von der planerischen Abwägung bei der baurechtlichen Planung und stellt entscheidend darauf ab, daß die Regelungen eines Bebauungsplans — ungeachtet der Möglichkeit gewisser Abstraktion oder Verallgemeinerung darauf gerichtet seien, konkret-individuelle Verhältnisse zu ordnen. Die planerische Abwägung ziele darauf ab, über das Verhältnis konkurrierender Einzelinteressen einmalig und abschließend zu befinden und sei deshalb stärker der durch die Rechtsprechung zu wahrenden Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet als andere normative Regelungen. Die Quintessenz dieser Abgrenzung ist die These, daß der Konkretheit planerischer Abwägung eine intensivere verwaltungsgerichtliche Kontrolle korrespondiere, die auch den Abwägungsvorgang erfasse. Für das normative Ermessen bei „Normen mit abstrakt-generellem Gehalt" könne das nicht gelten. Die Rechtsform des Verwaltungshandelns als Norm oder Verwaltungsakt erweist sich damit dem Grundsatz nach doch als Kriterium für eine Verschiedenartigkeit des normativen Ermessens und des am Einzelfall orientierten Verwaltungsermessens. Von diesem Grundsatz können Planungsentscheidungen und Normativregelungen mit planerischem Einschlag - entgegen den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts28 - nicht schlechthin, sondern nur in dem Bereich ausgenommen 26 Die straßenrechtliche Planfeststellung kann durch Festsetzungen in einem Bebauungsplan ersetzt werden (§17 Abs. 3 BFStrG); vgl. W. Brohm, Straßenplanung und Bauleitplanung, in: R. Bartlsperger/ W. BlümeUH.-W. Schroeter (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, 1980, S. 343/373 ff; BVerwGE 38, 152. 27 BVerwGE 70, 318/328 f. 28 BVerwGE 70, 318/329 f.
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werden, wo ein normativer raumbezogener Planungsakt eine konkrete Rechtsgestaltung bewirkt. Von den Planungsakten mit konkreter Gestaltungswirkung abgesehen kann das normative Ermessen die Gewährleistung in Anspruch nehmen, die in der Rechtsform der administrativen Rechtsetzung liegt 2 '. Diese Gewährleistung resultiert aus der Gleichbehandlung, die der generell-abstrakten Regelung immanent ist, mit der eine gesetzliche Ermächtigung durch die Exekutive ausgeführt wird. Planungsentscheidungen beruhen in der Regel auf prognostischen Einschätzungen 30 . Die hier der Verwaltung zukommende „Einschätzungsprärogative" für zukünftige Entwicklungen und entscheidungserhebliche Umstände ist von der - auf der Grundlage einer prognostischen Einschätzung auszuübenden - planerischen Gestaltungsfreiheit zu unterscheiden". Bei der Prognose als Hilfsmittel zukunftsgerichteten Entscheidens hat die Verwaltung bestimmte Bedingungen der Gültigkeit vorausschauenden Einschätzens künftiger Verläufe zu beachten. Das ist eine Frage der Ermittlung tatsächlicher Umstände, die ungewiß sind, weil sie in der Zukunft liegen. Die Verantwortung der Verwaltung beschränkt sich hier auf die Beachtung der methodischen und sachlichen Gültigkeitsbedingungen der Prognose. Im Unterschied dazu ergibt sich die begrenzte Nachprüfbarkeit eines komplexen, zukunftsbezogenen Planungs- oder Gestaltungsaktes, wenn und soweit sie besteht, aus einer gesetzlich begründeten, selbständigen Planungs- und Gestaltungsvollmacht der Exekutive. Diese ist bei der Planung und Gestaltung im Wege der abgeleiteten Rechtsetzung durch die Exekutive eine Erscheinungsform des normativen Ermessens. 5.
Organisationsermessen
Die Exekutive verfügt über „Organisationsgewalt", wenn und soweit ihr kraft verfassungsrechtlicher Zuweisung oder aufgrund Gesetzes die Fähigkeit zusteht, durch normative Regelung oder durch konkrete Entscheidung Behörden einzurichten und mit Verwaltungsaufgaben zu versehen 32 . Organisationsakte der Exekutive fallen - abgesehen von ihrer
29 W.-R. Schenke, Art. 19 Abs. 4 aaO, Rdn.380, 381; E. Schmidt-Aßmann, Art. 19 Abs. IV aaO, Rdn. 205. 50 F. Ossenbühl, Die richterliche Kontrolle von Prognoseentscheidungen der Verwaltung, in: Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 731; P. Badura, Gestaltungsfreiheit aaO, S. 178 ff. 31 BVerwGE 70, 318/330ff, 336f; BVerwG DVB1. 1986, 55; BVerwG DVB1. 1985, 1382/1384. 52 Vgl. A. Köngen, Die Organisationsgewalt, W D S t R L 16, 1958, S.154; E.-W. Bökkenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 78 ff; F.Mayer, Organisationsgewalt, EvStL, 2. Aufl., 1975, Sp. 1693.
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etwa gegebenen Bindung an einen organisatorischen Gesetzesvorbehalt in die Reichweite des materiellen Vorbehalts des Gesetzes („Eingriffsvorbehalt"), wenn sie zu einem über technische Wirkungen hinausgehenden Eingriff in Rechte Dritter führen oder sonst die normativen Grundlagen der Rechtsbeziehungen zu Dritten berühren 33 . Eine Fallkonstellation, bei der die organisatorische Maßnahme als solche geeignet ist, Rechte Dritter zu tangieren, ist der staatliche Organisationsakt, durch den der sachliche oder örtliche Aufgabenkreis oder der gebietsbezogene Bestand einer rechtlich selbständigen Selbstverwaltungseinheit, z . B . einer kommunalen Gebietskörperschaft oder einer berufsständischen Kammer unter Beeinträchtigung des Selbstverwaltungsrechts verändert wird. Fragen des Organisationsermessens sind deshalb vielfach im Zusammenhang mit Maßnahmen der kommunalen Neugliederung und der Gebiets- und Verwaltungsreform zutage getreten. Organisationsakte im Geltungsbereich des materiellen Gesetzesvorbehalts zeigen weithin die Rechtsform der Rechtsverordnung. Nach einer nicht selten vertretenen Auffassung handelt es sich sogar um dem Wesen nach normative Akte; die Gesetzgebung ist dem nicht überall gefolgt 34 . Das Gesetz, das die Exekutive zu organisationsrechtlichen Rechtsverordnungen ermächtigt, ist zugleich die Grundlage für die Ausübung organisatorischer Gestaltungsfreiheit. Das Organisationsermessen ist hier eine — einen planerischen Einschlag aufweisende — Erscheinungsform des normativen Ermessens 35 . Die Grundsätze der rechtsstaatlichen Bindung des organisatorisch-planerischen Ermessens sind hauptsächlich im Hinblick auf die kommunale Gebietsreform und in deutlicher Anleh-
33 B V e r w G N J W 1961, 1 3 2 3 ; O V G Münster O V G E 34, 2 0 1 / 2 0 5 f; Chr. Degenhart, Staatsrecht I, 1984, R d n . 2 5 0 ; W.Rudolf, Verwaltungsorganisation, in: Erichsen/Martens aaO, S. 5 5 5 / 5 6 9 . 34 Zu dieser Frage vgl. B a y V e r f G H DVB1. 1978, 8 0 6 ; O V G Münster O V G E 30, 117/ 121 f; H. Spanner, Organisationsgewalt und Organisationsrecht, D O V 1957, 6 4 0 ; R. Groß, Organisationsgewalt und Organisationsverordnungen, D Ö V 1963, 5 1 ; ders., Zur originären Rechtsetzung der Exekutive, D Ö V 1971, 186; E. Rasch, Entstehung und Auflösung von Körperschaften des öffentlichen Rechts, DVB1. 1970, 7 6 5 / 7 6 8 ; L. Fröhler /J. Kormann, Gebietsreform und Handwerksorganisation, 1976, S . 2 3 , 38\J. Kormann, Änderungen in der Gebietsstruktur von Wirtschaftskammern, GewArch. 1979, 2 8 1 / 2 8 4 f; C.H. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Aufl., 1987, S. 181 f. 35 Einen Fall legislatorischer Organisationsgewalt behandelt B V e r f G E 50, 50. Die Rechtsverordnungen der bayer. Kommunalreform sind gem. Art. 9 Abs. 2 BayVerf. von der Staatsregierung mit vorheriger Genehmigung des Landtags erlassen worden, schließen also nicht anders wie ein Gesetz eine politische Entscheidung der parlamentarischen Volksvertretung ein. F. Ossenhühl, Richterliches Prüfungsrecht aaO, S . 2 9 1 , spricht derartigen Zustimmungsverordnungen „denselben demokratischen Legitimationswert" zu, der einem Gesetz zukomme. Das zeigt nur, daß „demokratisch" oft nichts anderes bedeutet als „politisch", kann aber diese Verordnungen in dem entscheidenden Punkt der rechtsstaatlichen Garantiefunktion nicht auf die Stufe des Gesetzes heben.
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nung an die Grundsätze des Planungsermessens im Bau- und Fachplanungsrecht entwickelt worden 36 . Die wesentliche rechtsstaatliche Bindung bildet neben dem als Gebot der „Systemgerechtigkeit" auftretenden allgemeinen Gleichheitssatz 37 das organisatorisch-planerische Abwägungsgebot, das die Exekutive dazu verpflichtet, eine sachgerechte Abwägung und Gewichtung aller jener Belange vorzunehmen, die nach Maßgabe der Organisationsaufgabe und angesichts der berührten Umstände und Rechte Berücksichtigung verdienen. Die Entscheidung über organisatorische Gebietsabgrenzungen sieht sich in der Regel einer Fülle von tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen gegenüber, auch übergreifenden Gesichtspunkten und Bewertungen. Die gerichtliche Kontrolle des Organisationsaktes reicht so weit, wie rechtliche Maßstäbe im Gesetz oder in den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Organisationsrechts zur Verfügung stehen. Sie erfaßt auch die Rechtfertigung des Rechtseingriffs durch überwiegende Erfordernisse des öffentlichen Interesses, kann sich aber nicht auf die Frage beziehen, ob die bestmögliche oder eine in jeder Hinsicht zweckmäßige Organisationsregelung erreicht worden ist. 6. Selbständige
Normkonkretisierungsbefugnis
Die in neuerer Zeit der Exekutive bei wissenschaftlich-technischen Bewertungen im technischen Sicherheitsrecht 38 und bei hochschulpolitischen Beurteilungen im Kapazitätsrecht 39 zuerkannte selbständige Normkonkretisierungsbefugnis gilt für die Ausführung der Gesetze sowohl im Einzelfall wie auch im Wege normativer oder quasinormativer40 Regelungen. Die allgemeine Richtschnur bei der Auslegung der Gesetze mit dem Ergebnis, daß sie für bestimmte Regelungen oder Entscheidungen eine Ermächtigung zugunsten einer selbständigen Beurteilungs- und Entscheidungsvollmacht der Exekutive aussprechen, wird dem Gewaltenteilungsprinzip und dem darin verwurzelten Verteilungsprinzip der Aufgaben und der Verantwortung für das Gesetz, die 36 Siehe im einzelnen BVerfGE 50, 195/201 f; BVerwG D Ö V 1973, 169; BayVerfGH DVB1. 1978, 806; BayVerfGH V G H E 27, 14/28 ff; 31, 9 9 / 1 2 6 ; 34, 64/74 f. 37 BVerfGE 50, 50/51, 53; 59, 3 6 / 4 9 ; 60, 16/43; BayVerfGH V G H E 27, 1 4 / 2 7 f ; 31, 9 9 / 137ff; StGH Baden-Württemberg N J W 1975, 1205/1212f. 38 V G Schleswig N J W 1980, 1296 ( K K W Stade); BVerwG DVB1. 1986, 190 ( K K W Wyhl). 39 B V e r w G E 56, 3 1 / 3 7 f ; 60, 2 5 / 4 4 f ; 70, 3 1 8 / 3 2 8 f f ; 70, 346/348, 350. - P. Theuersbacher, Probleme der gerichtlichen Kontrolldichte im Kapazitätsrecht, N V w Z 1986, 978/ 981 ff. 40 Die nähere Bestimmung des gesetzlich geforderten Bewertungsmaßstabs für technische Risiken kann im Immissionsschutzrecht durch Verordnung oder Verwaltungsvorschrift erfolgen (§§ 7, 48, 51 BImSchG); dazu P. Badura, Gestaltungsfreiheit aaO, S. 173 f,
177, 187 ff; E. Schmidt-Aßmann, Art. 19 Abs. IV aaO, Rdn.205.
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Peter Badura
vollziehende Gewalt und dem die Verwaltung kontrollierenden Richter entnommen. Vorausgesetzt wird, daß rechtsstaatliche Grundsätze und Garantien die Möglichkeit derartiger Ermächtigungen beschränken, aber den Gesetzgeber nicht von vornherein hindern, der Exekutive einen selbständigen Bereich der Beurteilung und Entscheidung für technische Risiken und Wirkungen, für die Gestaltung des Hochschulwesens auch unter dem Diktat des Kapazitätserschöpfungsgebots 41 und für vergleichbare Regelungsaufgaben, etwa in der Wirtschaftsverwaltung, einzuräumen. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Überprüfung kapazitätsrechtlicher Rechtsverordnungen am Maßstab des Bundesrechts, insbesondere des Art. 12 Abs. 1 GG, das Regelungsermessen des Verordnunggebers, den ihm zustehenden Regelungsspielraum, in Rücksicht auf die ihm auferlegte hochschulpolitische Verantwortlichkeit gerechtfertigt. Das Kapazitätserschöpfungsgebot hindere es nicht, die Entscheidung darüber, wie kapazitätsbestimmende Faktoren - im Streitfall ein Abzug im Interesse der Fort- und Weiterbildung des Personals in der Krankenversorgung - als Rechengröße in die Berechnung der Ausbildungskapazität der Hochschulen eingehen, dem Regelungsermessen des die Kapazitätsverordnung erlassenden Normgebers zu überlassen42. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich damit nicht in Widerspruch zum Bundesverfassungsgericht, das es besonders wegen des Spannungsverhältnisses des Zugangsanspruchs der Studienbewerber und der Wissenschaftsfreiheit für richtig gehalten hatte, dem Gesetzgeber und ggf. auf einer geeigneten gesetzlichen Grundlage dem Verordnunggeber zu überlassen, für alle Beteiligten die Grenzen des Zumutbaren festzulegen und die damit verbundenen Wertungen zu treffen 43 . Die Anerkennung des kapazitätsrechtlichen Regelungsermessens des Verordnunggebers stellt nicht weniger als die Anerkennung der N o r m konkretisierungsbefugnis der Verwaltung im technischen Sicherheitsrecht vor Augen, daß das normative Ermessen der Exekutive durch den staatsrechtlichen Sinn der abgeleiteten Rechtsetzung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu erklären und zu rechtfertigen ist. In dem 41
BVerfGE 33, 305/338 ff; 66, 155/177 ff. BVerwGE 70, 318 mit zust. Anm. von G. Püttner, JZ 1985, 844, und krit. Anm. von P. Hemeler, Z G 1 , 1986, S.76. - Das BVerfG erstreckt das Kapazitätserschöpfungsgebot auch auf die hochschulpolitischen und hochschulverwaltungsrechtlichen „Faktoren", die die Lehrkapazität beeinflussen, also auf Kapazitätseinbußen, die etwa infolge von Strukturreformen oder einer Reduzierung von Lehrverpflichtungen drohen (BVerfGE 66, 155/ 179f). Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfbarkeit der Kapazitätsberechnungsvorschriften und der Höchstzahlenfestsetzungen schließt Differenzierungen der Kontrolldichte nicht aus. 45 BVerfGE 54, 173/193. 42
Das normative Ermessen beim Erlaß von Rechtsverordnungen u. Satzungen
37
normativen Ermessen äußern sich die durch Gesetz begründeten und gebundenen politischen und fachlich wertenden Entscheidungsbefugnisse der Exekutive. Regierung und Verwaltung verfügen über eine selbständige Verantwortung, die ihre spezifische Leistungsfähigkeit in der gewaltenteilenden Verfassungsordnung engagiert.
Bemerkungen zum parlamentarischen Regierungssystem Hamburgs nach der Verfassung von 1952* K A R L AUGUST BETTERMANN**
Hamburg wird, wie alle anderen Länder der Bundesrepublik und diese selbst, parlamentarisch regiert. Das Parlament, die „Bürgerschaft", kreiert und kontrolliert die Regierung, den Senat, und es besitzt das im Rechtsstaat wichtigste Instrument des Regierens: die Gesetzgebung, während es sich in das Budgetrecht mit der Regierung teilt. A.
Bei der Gesetzgebung
fällt die stärkere Stellung des Senats auf.
1. Er hat nicht nur, wie üblich, das Initiativrecht (Art. 48), sondern auch ein Recht zum Veto, das nicht bloß suspensiv, sondern auch resolutiv wirken kann; denn die Bürgerschaft kann es nur mit absoluter Mehrheit1 überstimmen, die schon bei der ersten Lesung erreicht werden muß (Art. 50)'\ Die Heraufschraubung der Mehrheit von der relativen des Art. 19 zur absoluten des Art. 50 darf nicht überbewertet werden. Bei einem Stadtparlament von nur 120 Abgeordneten2 ist die Fehlquote gering. Folglich bleibt die relative Mehrheit unter 61 Stimmen in der Regel nur bei einer wesentlichen Zahl von Enthaltungen. Gesetze, die nicht mit absoluter Mehrheit beschlossen werden, dürften selten sein. Sie vor allem werden
* Literaturhinweis: Immer noch aktuell und unerreicht H. P. Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung, Hamburg 1956; Drexelius/Weber, Die Hamburger Verfassung, 2. Aufl., Berlin 1972; unbrauchbar Bernzen/Sohnke, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1977. Zur Minderheitsregierung Klaus Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, Heft 74, Berlin 1982. Mit Unterstützung von Dr. Kersten Rosenau, MdHB. 1 Die richtigen Begriffspaare sind: einfache - qualifizierte Mehrheit und relative absolute Mehrheit. Bei der einfachen relativen Mehrheit unterscheide: Mehrheit der Anwesenden, Mehrheit der abgegebenen Stimmen, die meisten Stimmen. " Ähnlich Art. 104/123 Verf. Bremen; Art. 119 Verf. Hessen. 2 Art. 6 II Verf., § 3 BgschWahlG.
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Karl August Bettermann
das Veto des Senats herausfordern. Vergleiche aber auch unten sub 6. zur praktischen Bedeutung des Art. 50. 2. a) Die Gesetzesvorlagen des Senats sind geschäftsordnungsrechtlich vor denen der Bürgerschaft bevorzugt: Für diese ist die zweimalige Lesung obligatorisch - jene dagegen können schon in der ersten Lesung mit relativer Zweidrittelmehrheit endgültig angenommen werden. Bei den Parlamentsvorlagen vermag der Senat die Frist zwischen den beiden Lesungen sowohl zu verkürzen als auch zu verlängern (Art. 49 II 4). Das Verlängerungsverlangen kann ein temporäres Veto bedeuten; es wirkt jedenfalls suspendierend, weil retardierend. b) Nach Art. 49 III Satz 1 darf die zweite Lesung noch am gleichen Tage der ersten folgen, „wenn sich kein Widerspruch erhebt". Der kann nach Satz 2 „nur von einem Viertel der anwesenden Abgeordneten erhoben werden". Das „nur" ist irreführend. Auch der Senat kann widersprechen; denn nach Abs. II Satz 4 Halbsatz 1 darf nur „mit seinem Einverständnis" die zweite Lesung früher als nach der 6-Tages-Frist des Satzes 2 stattfinden - und nach Halbsatz 2 kann der Senat die Frist auf 1 Monat ausdehnen. Diese Senatsrechte bleiben von Abs. III Satz 2 unberührt. Die Vorschrift betrifft nicht das Verhältnis der Bürgerschaft zum Senat, sondern nur das Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit innerhalb der Bürgerschaft. Sie normiert ein Mindestquorum für den Widerspruch, der „aus der Mitte der Bürgerschaft" erfolgt. 3. Ausschließlich beim Senat liegt die Initiative für den Haushalt 3 und für die Gesetze des „Bürgerausschusses", der ein Ausschuß der Bürgerschaft ist (Art. 26). a) Dieser kann „auf Antrag des Senats" „in dringenden Fällen gesetzliche Vorschriften bis zur anderweitigen Beschlußfassung der Bürgerschaft erlassen" (Art. 31 II N r . 3). „Dringend" ist der „Fall", wenn seine gesetzliche Regelung so wichtig und so eilig ist, daß die Beschlußfassung des Plenums nicht abgewartet werden kann. Die Gesetzesbeschlüsse des Ausschusses unterliegen nicht dem Senatsveto des Art. 50, wohl aber diejenigen des Plenums, mit denen Beschlüsse des Ausschusses aufgehoben oder geändert werden. Daß solche Änderung und Aufhebung nicht im Wege förmlicher Gesetzgebung, sondern im Beschlußwege zu erfolgen habe, kann nicht aus der Befristungsformulierung des Art. 31 II N r . 3" gefolgert werden; denn auch bei der ordentlichen Gesetzgebung spricht die Verfassung von „beschlossen", „beschließen" und „Beschlußfassung" (Art. 50, 51, 52). Also rechtfertigt nicht einmal die 3 4
Arg. Art. 66 II, vgl. auch unten b). „bis zur anderweitigen Beschlußfassung
der Bürgerschaft."
Das parlamentarische Regierungssystem Hamburgs nach der Verfassung
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Wortinterpretation den Verzicht auf die Anwendung der Verfassungsvorschriften über „Die Gesetzgebung" (Art. 48 ff) auf die „anderweitige Beschlußfassung der Bürgerschaft", mit der sie die vom Bürgerausschuß erlassenen „gesetzlichen Vorschriften" kassiert oder korrigiert. b) Wohl aber genügt die Beschlußform für die Entscheidung der Bürgerschaft über den Haushaltsplan (Art. 66 II). Er wird nicht, wie im Bund und sonst üblich, durch Gesetz festgestellt. Damit trägt Hamburg der Tatsache Rechnung, daß der „Haushalt" keine abstrakt-generellen Regelungen, und schon gar nicht solche mit Außenwirkung, enthält, sondern einerseits eine bloße Planung, andererseits die Ermächtigung der Regierung, Einnahmen zu beschaffen (Kreditermächtigungen!) und vor allem Ausgaben über den Rahmen des rechtlich Verbindlichen hinaus zu leisten. Dem Budgetrecht des Parlaments als seiner ältesten, wenn auch heute keineswegs mehr wichtigsten Kompetenz wird durch die Beschlußform kein Abbruch getan. Der Senat wird nur dann beeinträchtigt, wenn die Bürgerschaft seine „Pläne" und Anträge ändern will. Deshalb hat er dann nach Art. 69 die gleichen Rechte wie im Gesetzgebungsverfahren: Einfluß auf das Tempo der Bürgerschaftsberatungen nach Art. 49 II und das Vetorecht aus Art. 50. Das ist gewiß vernünftig. Aber hätte man dann nicht lieber, weil einfacher, bei der traditionellen Form des Haushalt-Gesetzes bleiben können und aus Bundestreue sollen? 4. Verfassungsänderungen können nur durch Gesetz erfolgen. Ein solches Gesetz muß in einem Abstand von 14 Tagen zweimal mit relativer Zweidrittelmehrheit bei jedesmaliger Anwesenheit von Dreiviertel der Abgeordneten beschlossen werden (Art. 51). a) Das Präsens-Quorum von Dreiviertel vermag das Minus der relativen Zweidrittelmehrheit gegenüber der absoluten Zweidrittelmehrheit des Art. 79 II G G nicht zu kompensieren. Die Mehrheit, mit der sich Hamburg in Art. 51 begnügt, erreicht im ungünstigsten Falle nicht einmal die einfache absolute Mehrheit, die Art. 50 für die Uberstimmung des Senatsvetos verlangt: Diese Mehrheit beträgt 61 von 120 Abgeordneten5 - die verfassungsändernde Mehrheit des Art. 51 dagegen nur 120 X 3 X 2 4X3
"
6 0
-
b) Schon diese Rechnung spricht dafür, daß der Senat auch gegenüber verfassungsändernden Gesetzen das Vetorecht des Art. 50 besitzt - auch Vgl. in und zu Fn. 2. ' Falsch Bernzen/Sohnke, 5
Art. 51 Nr. 2, daß 61 Stimmen erforderlich seien.
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Karl August Bettermann
dann, wenn die Verfassungsänderung beide Male mit größerer Mehrheit als 61 beschlossen wurde; denn das Vetorecht ist unabhängig davon, mit welcher Mehrheit die Bürgerschaft das Gesetz beschlossen hat, dem der Senat widerspricht. Bei Verfassungsänderungen kann der „Einspruch" erst nach dem zweiten Beschluß der Bürgerschaft eingelegt werden, was den Senat nicht hindert, ihn der Bürgerschaft schon in der Zeit zwischen den beiden Beschlußfassungen begründend anzukündigen - so wie er auch bei „einfachen" Gesetzen die Bürgerschaft vorwarnen darf und sollte. c) Zweifelhafter ist die Kompetenz des Senats aus Art. 49 II zur Einflußnahme auf den Termin der zweiten Lesung des Antrags auf Verfassungsänderung: Ist die Forderung nach zwei Lesungen noch sinnvoll angesichts der Notwendigkeit zweimaliger Beschlußfassung, die Art. 51 verlangt? Auch wenn man die Frage bejaht, bleibt noch zu überlegen, ob der Senat zweimal von seinem Aussetzungsrecht Gebrauch machen darf. Er könnte dann bei zusätzlichem Gebrauch von seinem Vetorecht aus Art. 50 die Verfassungsänderung um mindestens drei Monate verzögern; die tatsächliche Verzögerung wäre aus technischen Gründen noch viel größer. d) Das Fehlen einer „Ewigkeitsgarantie" oder Unantastbarkeit bestimmter Verfassungsprinzipien oder -institute, wie sie Art. 79 III G G verspricht, erscheint mir nicht als Mangel. Insoweit kann sich das traditionell reichstreue Hamburg 7 auf die Bundesgarantie des Art. 28 III G G verlassen. 5. Kann der Senat auch dann noch sein Veto einlegen, wenn das von der Bürgerschaft beschlossene Gesetz vollständig seiner Vorlage (Art. 48 I) entspricht - auch dann, wenn es mit der relativen Zweidrittel-Mehrheit des Art. 49 I schon „bei der ersten Abstimmung" secundum senatus consultum beschlossen wurde? Ein solcher Einspruch wäre nur dann kein venire contra factum proprium, wenn er von einem „neuen" Senat eingelegt würde. Die Auswechslung einzelner Senatoren würde nur dann genügen, wenn sie von einer entsprechenden Änderung der parlamentarischen Basis des Senats begleitet wäre. In einem parlamentarischen Regierungssystem ist es widersinnig, daß die Regierung einem von ihr initiierten, vom Parlament total akzeptierten Gesetz widerspricht. Ein solcher Widerspruch setzt „systemimmanent" einen Regierungswechsel voraus.
7 Dieser Treue verdankt H a m b u r g seinen gewaltigen Aufstieg nach der Reichsgründung von 1 8 7 0 / 7 1 . D a ß sich eine Konflikt-Strategie nicht auszahlt, erfährt es seit der Bonner „Wende" von 1 9 8 2 / 8 3 .
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6. Das halte ich für eine auch rechtliche, nicht bloß politische Überlegung. Doch ist generell zu fragen, wie sich die Beteiligung des Senats an der Legislative mit dem parlamentarischen Regierungssystem verträgt und welches Gewicht ihr in der politischen Realität des Stadtstaats Hamburg zukommt. a) Das Initiativrecht der Regierung ist mit dem parlamentarischen System jedenfalls solange voll verträglich, als Gesetzesvorlagen auch von Abgeordneten eingebracht werden können und diese keinen geringeren Rang haben als die Regierungsvorlagen8. In einem Staat mit Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes kann man nicht ohne Gesetze regieren. Um ihren Erlaß und ihre Änderung notfalls auch um ihre Abschaffung als überflüssig oder hinderlich - muß daher die Regierung das Parlament ersuchen können - eine parlamentarisch legitimierte Regierung erst recht. Überdies verfügt die Regierung in der Regel über den besseren Apparat und die größeren Ressourcen zur Erarbeitung sach- und fachgerechter Gesetzentwürfe, zumal gegenüber einem „Feierabend-Parlament", als welches sich die Hamburger Bürgerschaft immer noch mit Recht bezeichnen darf, weil die meisten Abgeordneten keine Berufspolitiker sind und der parlamentarische Hilfsdienst in Hamburg noch längst nicht die Ausmaße des Bonner Bundestags und der Landtage der größeren Flächenstaaten erreicht hat. b) Problematischer ist das Vetorecht des Senats nach Art. 50. Zu seiner Bewertung muß man unterscheiden, ob der Senat noch eine parlamentarische Mehrheit besitzt oder sie verloren hat. (1) Das Veto eines Mehrheits-Senats mag selten sein, ist aber nicht irreal. Kämpfe zwischen Koalitionspartnern bei einer Koalitionsregierung oder Flügelkämpfe innerhalb der regierenden Partei können auf diese Weise parlamentarisch und damit öffentlich ausgetragen werden, ohne daß die res publica detrimenti capit. Populistische Neigungen können sich austoben: der Senat kalmiert durch sein Veto. Das kann sogar vorher abgesprochen sein. Senat und Mehrheitsfraktion(en) können kolludieren: Die Abgeordneten salvieren sich vor ihren Wählern mit dem Veto des angeblich sturen oder zu ängstlichen oder zu wenig fortschrittlichen Senats - im Falle einer Koalitionsregierung auch damit, daß die guten von der Opposition unterstützten Absichten im Senat am sitzstärkeren Koalitionspartner gescheitert seien; denn im Senat bestimmt die Mehrheit, ob das Veto eingelegt wird (Art. 42 II). Der „Senatspräsident", der „Erste Bürgermeister" (Art. 41 I), hat keine
' Diese werden freilich in der geschäftlichen Behandlung durch Art. 4 9 bevorzugt, vgl. oben 2.
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Richtlinienkompetenz, sondern nur den Stichentscheid bei Stimmengleichheit (Art. 42 II 2). Diese Vorschrift schreibt den Stichentscheid dem „Vorsitzenden" zu. Das ist nicht notwendig der „Präsident" des Senats, der „Erste Bürgermeister" des Art. 41. Der kann an der Sitzungsteilnahme und der Beschlußfassung verhindert sein. Dann leitet sein Stellvertreter, der „Zweite Bürgermeister" (Art. 41 I), die Sitzung, bei dessen Verhinderung der dienstälteste bzw. lebensälteste Senator, § 2 II Senats-Geschäftsordnung vom 13.11.1979.
(2) Weitaus bedeutsamer ist das Vetorecht des Senats als Minderheitsregierung. Mit seiner Hilfe kann er die Mehrheit der Bürgerschaft mindestens zeitweise an einer Gegenregierung durch Gesetzgebung hindern. Andererseits kann auch der Senat, nachdem er die Mehrheit verloren hat, kaum noch ein Gesetz in der Bürgerschaft durchbringen, womit ihm ein wesentliches Instrument des Regierens entzogen wird. Beide Verfassungsorgane blockieren sich hier gegenseitig. Doch sitzt die Bürgerschaft insoweit am längeren Hebel, als sie das Veto des Senats mit absoluter Mehrheit niederstimmen kann, während der Senat weder ohne Bürgerschaft noch gegen den Willen ihrer Mehrheit legeferieren kann. Das verfassungsrechtliche Ubergewicht der Bürgerschaft als Legislative hat der Minderheitssenat nur so lange und soweit nicht zu fürchten, als die Mehrheit heterogen ist: sich nur in der Ablehnung des Senats und seiner Politik einig ist, aber sich auf keinem Sachgebiet zu gemeinsamem Vorgehen zu verständigen vermag. Daß aber auch verfeindete Fraktionen sich in Einzelfragen gegen den Senat und dessen Fraktion verbünden können, hat sich nach der Wahl vom 9. November 1986 gezeigt: Aufhebung der Getränkesteuer, Herabsetzung der Hundesteuer und der Müllabfuhrgebühren. Resigniert hat der Senat nach erfolgloser Aussetzung der zweiten Lesung (Art. 49 II 4 Halbsatz 2) kein Veto mehr eingelegt, dessen Erfolglosigkeit die parlamentarische Schwäche des Senats erneut manifestiert hätte. 7. Der Senat verfügt nach Verlust seiner parlamentarischen Mehrheitsbasis nicht über mehr Rechtsetzungsmacht als vorher. a) Er hat weder ein Recht zur Notstandsgesetzgebung noch zu Notverordnungen'. Der auf den Fall des destruktiven Mißtrauensvotums gemünzte Art. 81 G G , der eine Minderheitsregierung noch für sechs Monate handlungsfähig erhalten soll10, hat in der Verfassung Hamburgs kein Pendant.
' Die Rechtsetzungsbefugnis im Verteidigungsfall nach Art. 115 i GG gehört nicht hierher. 10 Bis heute noch nicht aktuell geworden.
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b) Dieses Defizit wiegt freilich auf Landesebene weit geringer als im Bund; denn der Schwerpunkt der Gesetzgebung hat sich in den bald 40 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik immer stärker zum Bund verschoben. Der den Ländern verbliebene Rest nimmt im Gesamtgefüge der Länderkompetenzen schon lange nicht mehr den ersten Rang ein. Die exekutivischen Kompetenzen der Länder einschließlich der personellen sind auch politisch wichtiger als die legislativen - zumal in einer Stadtrepublik wie Hamburg, wo „staatliche und gemeindliche Tätigkeit nicht getrennt werden" (Art. 41). Diese Unifikation ist eine „schreckliche Vereinfachung", eine Fehlkonstruktion der Verfassung von 1952. Sie ist eine wesentliche Ursache für die Schwierigkeiten einer erfolgreichen Politik der Hansestadt und für den Rückfall Hamburgs sowohl in der Rangordnung der Handelsmetropolen und Seehäfen der Welt als auch unter den Ländern der „Bundesrepublik Deutschland". Staatliche und kommunale Funktionen und Agenden müssen auch in Stadtstaaten unterschiedlich gewertet, geordnet und behandelt werden.
c) Wenig bis nichts hilft dem in die parlamentarische Minderheit geratenen Senat sein Recht zur Mobilisierung des Bürgerausschusses nach Art. 31 II Nr. 3, worüber oben 3 a) berichtet wurde. Abgesehen davon, daß der Senat dort nur solche „gesetzlichen Vorschriften" einbringen kann, die so „dringlich", d.h. eilig und wichtig, sind, daß ihre verfassungsmäßige Behandlung durch das Plenum der Bürgerschaft nicht abgewartet werden kann", scheitert der Senat bei politisch kontroversen Themen in der Regel am Verlust seiner parlamentarischen Mehrheit; denn der Bürgerausschuß spiegelt die Mehrheitsverhältnisse des Plenums (Art. 27). Gewiß kann die Reduzierung von 120 auf 20 + 1 zu Verschiebungen führen: Die Änderung der Quantität kann in die Qualität umschlagen. Aber daß der Senat im Bürgerausschuß die im Plenum verlorene Mehrheit wiederfindet, ist wenig wahrscheinlich, zumal nach jeder Wahl die Bürgerschaft den neben dem Eingabenausschuß (Art. 25 a) einzigen obligatorischen Ausschuß neu zu bilden hat (arg. Art. 26/27). Diesem Bürgerausschuß widmet die Verfassung sechs teilweise umfangreiche Artikel. Seine praktische Bedeutung ist gering. Als Instrument eines Senats zum Weiterregieren nach Verlust der Bürgerschaftsmehrheit taugt er nicht. Ein Senatsregiment qua Bürgerausschuß ermöglicht die Verfassung nicht.
11
S.o. sub 3a).
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B. Der Einfluß der Bürgerschaft auf Bestand und Besetzung des Senats L Anders als im Bund, dessen Parlament nur den Regierungschef zu wählen hat, wird in Hamburg der gesamte Senat von der Bürgerschaft kreiert. Das geschieht - jedenfalls nach dem Verfassungstext - nicht durch einen Gesamtakt: etwa durch Zustimmung oder Ablehnung eines Kabinetts, das dessen zuvor gewählter Präsident gebildet hat und der Bürgerschaft präsentiert. Das scheitert schon daran, daß der „Präsident" des Senats, der „Erste Bürgermeister", nach Art. 41 I nicht von der Bürgerschaft, sondern vom Senat „aus seiner Mitte" gewählt wird. Die Bürgerschaft wählt nur den Senat, und diesen auch nur derart, daß sie „die Senatoren" wählt (Art. 34 I). 1. Dies kann nicht nur durch individuellen Akt: durch getrennte Wahl jedes einzelnen Senators, geschehen, sondern auch durch Kollektivakt: durch Wahl des Senats. Diese Form der parlamentarischen Regierungsbildung sieht Art. 35 II neben der Inthronisierung einzelner Regierungsmitglieder ausdrücklich vor. Er regelt das sogenannte konstruktive Mißtrauensvotum, das sowohl dem Senat als ganzem als auch einzelnen Senatoren ausgesprochen werden kann - freilich nur durch Neuwahl eines anderen Senats bzw. eines anderen Senators. Da Art. 35 II offensichtlich das Gegenstück zu Art. 34 I bildet12 und da kein Grund ersichtlich ist, in diesem Punkt die parlamentarische Regierungsbildung unterschiedlich zu behandeln, muß Art. 34 I von Art. 35 II her interpretiert werden: „Die Senatoren" können auch kollektiv gewählt werden: auch in Gestalt der Wahl eines kompletten Senats. 2. Die scheinbare Divergenz zwischen Art. 34 I und Art. 35 II läßt nach dem Anwendungsbereich des Art. 34 I fragen. Er setzt offensichtlich eine Vakanz auf der Regierungsbank voraus - sei es eine totale: kein Senat - sei es eine partielle: eine oder mehrere Senatorenstellen sind frei. Diese Situation tritt aber - nach der Bildung des ersten Senats vor vielen Jahrzehnten - nur ein, wenn „der Senat oder einzelne Senatoren zurücktreten", was sie nach Art. 35 I „jederzeit können". Können, nicht müssen! Ein Mißtrauensvotum der Bürgerschaft zwingt sie nicht zum Rücktritt, sondern feuert sie, wenn es verfassungskorrekt ausgesprochen wird: Die Neuwahl eines anderen Senats oder anderer Senatoren „ersetzt" die alten (Art. 35 II). Deren Rücktritt ist weder erforderlich noch möglich; sie sind durch die Neuwahl „zurückgetreten worden".
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Beide Wahlen erfordern die einfache absolute Mehrheit, also 61 Pro-Stimmen.
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II. Keine Rücktrittspflicht des Hamburger Senats wird durch Neuwahlen begründet, im Gegensatz zur Verfassung des Bundes13 und der meisten Länder14, wo das Regierungsamt spätestens mit dem Zusammentritt des neuen Parlaments endet. Dieses Junktim zwischen Legislaturperiode und Regierungsdauer entspricht dem Diskontinuitäts-Prinzip des Parlamentarismus, das sich auf jede Regierung erstrecken muß, die ihre Existenz parlamentarischer Wahl verdankt, mag auch diese sich auf den Chef der Regierung beschränkt haben. Hamburgs Verfassung läßt die bisherige Regierung im vollen Amt, auch wenn sie durch die Bürgerschaftswahl ihre parlamentarische Basis verloren hat. Das widerspricht dem Prinzip parlamentarischer Regierung nicht, wenn die Neuwahl eine neue - andere regierungsfähige Mehrheit beschert hat: Die „ersetzt" dann den alten, von den Bürgern in der Wahl abgelehnten Senat durch einen neuen, den die Mehrheit der Abgeordneten tragen kann und wird und der sich auf sie stützt. Geschieht das nicht, so bleibt der alte Senat am Ruder. Auch das ist noch systemkonform: Die parlamentarische Regierung setzt die Regierungsfähigkeit des Parlaments voraus. Daran fehlt es, wenn keine Partei die (einfache) absolute Mehrheit besitzt und keine über diese Mehrheit verfügende Koalition zustandekommt. Dann kann sich die destruktive Mehrheit nicht beklagen, daß die bisherige Regierung, obwohl sie im Parlament nur noch von einer Minderheit getragen wird, weiter amtiert; denn regiert werden muß ja das Land! Eine Minderheitsregierung ist im parlamentarischen Regierungssystem legitim, solange und soweit das Parlament zur Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit und damit einer Mehrheitsregierung nicht willens oder nicht fähig ist.
III. Die Größe des Senats ist weder durch die Verfassung festgelegt, noch steht sie, wie im Bund und den meisten Ländern14*, zur Disposition des Regierungschefs, den es ja in Hamburg nicht gibt15. Vielmehr wird die Zahl der von ihr zu wählenden Senatoren von der Bürgerschaft
Art. 69 II G G . Art. 55 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg; Art. 107 Abs. 2 Verf. Bremen; Art. 113 Abs. 2 Verf. Hessen; Art. 24 Abs. 2 Verf. Niedersachsen; Art. 62 Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen; Art. 87 A b s . 3 Verf. Saar; vgl. ferner Art. 44 Abs. 1, 5 Verf. Bayern. In der Verfassung ist die Ministerzahl festgelegt in Bayern Art. 49 und in Berlin Art. 40. 15 S . o . A 6 b) (1). 13
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bestimmt; denn nach Art. 33 II „bestimmt das Gesetz die Zahl der Senatsmitglieder"15". 1. Dies ist im Senatsgesetz durch Fixierung einer Mindestzahl von zehn und einer Höchstzahl von 15 Senatoren geschehen (§ 1 Abs. I). Die Wahl zwischen diesen sechs Möglichkeiten soll die Bürgerschaft durch Beschluß treffen (§ 1 Abs. II SenatsG). Das verstößt sicher gegen Art. 33 II Verf., der Gesetzesform vorschreibt. Mit Abs. II des § 1 SenatsG fällt aber auch dessen A b s . I ; denn wenn für jede Größenbestimmung ein förmliches Gesetz nötig ist, läuft die einfachgesetzliche Fixierung einer Ober- und Untergrenze leer. Sie hat nur Sinn, wenn die Zahlenbestimmung innerhalb dieser Grenze in anderer, einfacherer Form als durch Gesetz erfolgt. Das aber erlaubt Art. 33 II Verf. nicht. Der Unterschied von Gesetz und Beschluß ist hier nicht deshalb unerheblich, weil für beide die einfache relative Mehrheit genügt; denn Art. 19 gilt auch für Gesetzes-Beschlüsse. Aber nur sie unterliegen den komplizierten Verfahrensvorschriften des Art. 49 und dem Veto des Senats nach Art. 50 - nicht auch die „einfachen" Beschlüsse16. 2. Ihr ausschließliches Recht zur Bestimmung der Senatorenzahl setzt die Bürgerschaft instand, Senatoren zum Rücktritt zu nötigen, indem sie die bisherige Zahl reduziert. Weitergehend ermächtigt Art. 35 III sie zur Entscheidung darüber, welcher Senator als überzählig weichen muß. Nach Art. 35 III kann die Bürgerschaft mit einfacher Mehrheit17 eine der Herabsetzung der Senatorenzahl „entsprechende Zahl von Mitgliedern" des Senats „entlassen". a) Macht sie davon keinen Gebrauch, so überläßt sie den Senatoren die Entscheidung, wer von ihnen zurücktritt18. Das Kollegium „Senat" kann diese Entscheidung nicht treffen, insbesondere nicht durch Mehrheitsbeschluß nach Art. 42 II (1), sondern nur erörtern und beraten, wer geopfert werden oder sich opfern soll. Doch kann der Senat auf seine Verstümmelung - und erst recht auf den gezielten Herausschuß bestimmter Mitglieder nach Art. 35 III - mit seinem Gesamtrücktritt reagieren. Daß er damit die Mehrheit, welche die Verstümmelung und den Herausschuß beschloß, erschreckt, ist wenig wahrscheinlich; meist wird der Gesamtrücktritt den Wünschen der Mehrheit entsprechen, war er ihr Fernziel bei ihren Beschlüssen aus Art. 33 II und 35 III und § 1 II SenatsG. Ebenso Art. 107 I Verf. Bremen. " Uber die Haushaltsbeschlüsse vgl. oben A 3 b). 17 Die Klausel „mit der Mehrheit der Abgeordnetenstimmen" in Art. 35 III ist angesichts der Generalklausel des Art. 19 überflüssig. Sie bewirkt keinerlei Erschwerung in der Beschlußfassung der Bürgerschaft. 18 Nach Art. 35 I 1 kann jeder Senator „jederzeit zurücktreten". 151
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b) Solche Beschlüsse hat der Senat nicht zu befürchten, solange er in der Bürgerschaft über eine Mehrheit verfügt. Gefährlich wird die Doppelkompetenz der Bürgerschaft zur Herabsetzung der Senatorenzahl und zur namentlichen Bezeichnung der überzähligen Senatoren nur gegenüber einer Minderheitsregierung, also insbesondere nach Neuwahlen, die eine destruktive Mehrheit ergeben haben. Eine neue konstruktive Mehrheit bedarf der umständlichen Manipulation der Senatorenzahl nicht, um den alten Senat zu stürzen: Sie wählt einen neuen (anderen) Senat (Art. 34 I, 35 II). Die destruktive Mehrheit vermag dies nicht, kann aber sehr wohl sich verständigen auf die Destruktion des alten Senats durch dessen Verkleinerung. Dabei gibt ihr Art. 35 III die Möglichkeit, die profiliertesten Mitglieder des Senats, insbesondere den Ersten Bürgermeister, abzuschießen. Sie vermag Hamburg in der Tat unregierbar zu machen. Offensichtlich kollidiert dies mit Art. 35 Abs. II, wonach sowohl der Gesamtsenat als auch seine einzelnen Mitglieder nur durch „Neuwahl ersetzt", also nicht ersatzlos abgewählt werden können. Aber Abs. III eröffnet ausdrücklich die Möglichkeit zur Abwahl einzelner Senatoren ohne Neuwahl und Ersetzung. Der Gebrauch des Abs. III durch eine destruktive, d. h. zur Regierungsbildung unfähige oder unwillige Mehrheit kann daher nicht als Umgehung des Abs. II disqualifiziert werden" - um so weniger, als, wie gezeigt, eine konstruktive Mehrheit den Art. 35 III nicht benutzt, weil nicht benötigt. Praktisch-politische Bedeutung kommt den Kompetenzen der Bürgerschaft aus Art. 34 II20 und vor allem aus Art. 35 III erst und wohl nur zu, wenn der Senat seine parlamentarische Mehrheit verloren hat. Zwar kann die Größenänderung auch vom Senat gewünscht, ja sogar beantragt sein, aber selten eine Verminderung bei Konstanz der parlamentarischen Basis. Mit Sicherheit ist der parlamentarische Abschuß eines Senators nach Art. 35 III erst real denkbar, wenn der Senat nicht mehr die Mehrheit der Bürgerschaft hinter sich hat. IV. Die Verfassungsnovelle von 1972 hat das Senatorenamt und das Bürgerschaftsmandat für inkompatibel erklärt: Nach Art. 38 a ruht das Mandat. Das widerspricht dem Prinzip parlamentarischer Regierung, das am reinsten verwirklicht ist, wenn die Regierung nur aus Parlamentariern besteht. Das Prinzip der Gewaltenteilung vermag die Regelung " Nach Drexelius/Weber, Art. 35 Nr. 3 hat die verfassungsgebende Bürgerschaft „die Umgehungsgefahr bewußt in Kauf genommen". 20 Inclusive § 1 II SenatsG.
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nicht zu rechtfertigen; denn das parlamentarische Regierungssystem ist eine der markantesten Durchbrechungen der klassischen Gewaltentrennung, indem es Parlament und Regierung aufs engste miteinander verzahnt. V. Verunglückt ist auch Art. 36 über die Folgen der Verneinung einer Vertrauensfrage des Senats. 1. Von den-in Abs. I Satz 1 aufgezählten Befugnissen sind diejenigen nach Nr. 1 und 2 selbstverständlich: die Wahl eines neuen Senats und der nachträgliche Vertrauensausspruch. Nur das Selbstauflösungsrecht nach Nr. 3 ist originär und originell. Nur dieses Recht unterliegt der Befristung auf drei Monate nach Eingang des Vertrauensantrags, während das Recht der Bürgerschaft zur Ersetzung des alten Senats durch einen anderen nicht fristgebunden ist, weil es bereits aus Art. 35 II, nicht erst aus Art. 36 11 Nr. 1 resultiert. Das Ersetzungsrecht der Bürgerschaft aus Art. 35 II ist weder an eine Frist noch an eine Vertrauensfrage des Senats gebunden. 2. Der Senat bleibt während der dreimonatigen Überlegungsfrist, die Art. 36 I der Bürgerschaft einräumt, im Vollbesitz seiner verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Die Verweigerung des Vertrauens schmälert sie nicht21. Im Gegenteil werden sie erweitert durch das Recht des Senats, die Bürgerschaft binnen zwei Wochen nach Ablauf der ihr eingeräumten Dreimonatsfrist aufzulösen (Art. 36 I 2). Diese Frist ist viel zu lang, wie ein Blick auf den Art. 36 HmbVerf. entsprechenden Art. 68 G G zeigt. Der räumt Bundeskanzler und Bundespräsident eine Uberlegungsfrist von längstens drei Wochen (!) ein. Und wozu braucht der Senat nach Ablauf der drei Monate noch einmal zwei Wochen zur Entscheidung, ob er ans Wahlvolk appelliert oder ob er trotz Verlust seiner parlamentarischen Basis weiterwurstelt oder diese Basis wiederherzustellen versucht? Denken die Hamburger so viel langsamer als die Bonner Politiker?! 3. Sinn und praktische Bedeutung erlangt Art. 36 nur beim Bruch einer den Senat tragenden Koalition - bei einer Einparteien-Regierung nur bei einem Zerfall der Regierungspartei oder ihrer Fraktion in sich befehdende Flügel22. Beim Koalitionsbruch gibt es die Alternativen einer Über Art.67 II s.u. C II. Dieser Tatbestand ist die Hauptursache der „Hamburger Verhältnisse", Hamburgs angeblicher Unregierbarkeit und vieler seiner Schwächen trotz natürlicher Stärke: die Zerrissenheit der SPD in mindestens drei Flügel, die ihre Fraktion und ihren Senat führungsunfähig macht. 21
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neuen, anderen Koalition und Neuwahlen. Beide Möglichkeiten versagen beim Bruch des Burgfriedens innerhalb der alleinigen Senatspartei. Deren Streitigkeiten vermag das Wahlvolk nicht zu entscheiden; es kann nur - günstigsten Falls - insoweit Einfluß nehmen, als es sich von der Streitpartei abwendet, sie in die Minderheit versetzt. Diese Gefahr dürfte die Mehrheitspartei vermutlich abschrecken, sie also an der Selbstauflösung der Bürgerschaft nach Art. 36 I 1 Nr. 3 hindern. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sie ihren internen Streit der Wählerschaft zur Entscheidung unterbreitet. . C . Die Haushaltswirtschaft der Minderheitsregierung Ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen sind nicht geringer als die der Mehrheitsregierung, aber ihre reale Handlungsfähigkeit ist reduziert: Ihre Gesetzentwürfe werden regelmäßig, ihr Haushaltsplan immer von der Bürgerschaft abgelehnt werden. Auch die Ermächtigung zur vorläufigen Haushaltsführung nach Art. 67 wird die Bürgerschaft einem Minderheitssenat schwerlich erteilen. I. Die Verweigerung dieser Ermächtigung legt den Senat haushaltswirtschaftlich nicht total lahm: Einen wesentlichen Teil der in Art. 67 I aufgezählten Maßnahmen darf23 der Senat auch ohne parlamentarische Absegnung durch Haushaltsplanfeststellung nach Art. 66 II oder Ermächtigung nach Art. 67 I treffen. 1. Mit Sicherheit muß der Senat „die rechtlich begründeten Verpflichtungen der Freien und Hansestadt Hamburg erfüllen" 24 und die rechtlich begründeten Forderungen der Stadt bei Fälligkeit einziehen, insbesondere die der Stadt rechtens zustehenden öffentlichen Abgaben 25 erheben26. Aber auch die Ausgaben zur Erhaltung „bestehender Einrichtungen"27 zu leisten, dürfte der Senat in jedem Fall berechtigt und in den meisten Fällen verpflichtet sein. Zweifelhaft ist die parlamentsfreie Kompetenz des Senats für „Ausgaben" zur Durchführung „beschlossener Maßnahmen" 28 ; sie dürfte zu bejahen sein für die Maßnahmen, welche die Bürgerschaft beschlossen oder gebilligt hat. Auch bei den Ausgabezwecken und -objekten des Art. 67 I Nr. 1 lit. c) muß m. E.
23 24 25 26 27 28
Meist sogar muß er. Art. 67 I Nr. 1 lit. b). „Steuern und andere Abgaben, die auf Gesetz beruhen", Art. 67 I Nr. 3. Vgl. Art. 67 I Nr. 2 und Nr. 3. Art. 67 I Nr. 1 lit. a). Art. 67 I Nr. 1 lit. a) zweite Alternative.
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differenziert werden: Begonnene „Bauten" „fortzusetzen" ist wirtschaftlicher als ihre Unterbrechung - und ist demokratisch unbedenklich, wenn „bereits" im parlamentarisch abgesegneten Haushaltsplan des „Vorjahres" „Mittel" für diese „Bauten" bewilligt waren, wie es Art. 6 7 1 Nr. 1 lit. c) verlangt. Für die in dieser Vorschrift ferner angeführten „Beschaffungen" kann das bei den „Bauten" verwendete Argument der Wirtschaftlichkeit ebenso zutreffen — ob auch für die „sonstigen Leistungen", weiß ich mangels Vorstellung über diesen Begriff nicht. „Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren" 2 ' halte ich den Senat ohne parlamentarische Ermächtigung nicht für berechtigt - vielleicht mit Ausnahme von Beihilfen zu bereits begonnenen „Bauten". Daß „für diese Zwecke" „durch den Haushaltsplan eines (!) Vorjahres bereits Mittel bewilligt waren" 30 , genügt nicht für einen Senat, dem die Bürgerschaft die Ermächtigung „zur Fortführung des Haushaltsplans"31 verweigert hat. 2. Soweit der Senat auch ohne die Ermächtigung des Art. 6 7 1 Ausgaben leisten darf, muß er zur Aufnahme von „Kassenkrediten" im gleichen Umfange wie nach Art. 67 I N r . 3 berechtigt sein: „soweit nicht der Geldbedarf durch Steuern und andere Abgaben, die auf Gesetz beruhen, oder aus sonstigen Einnahmen gedeckt werden kann". a) „Kassenkredite sind Mittel zum Ausgleich kurzfristiger Liquiditätsschwankungen" 32 . Sie dienen „zur Aufrechterhaltung einer ordnungsmäßigen Kassenwirtschaft", § 18 II Nr. 2 Landeshaushaltsordnung [ L H O ] , die sie als „Kassenverstärkungskredite" bezeichnet. Ihnen stellt sie die Kredite „zur Deckung von Ausgaben" (§18 II Nr. 1) gegenüber. Zur Aufnahme solcher „Deckungskredite" ist der Senat bei nicht verabschiedetem Haushaltsplan nicht einmal dann befugt, wenn ihm die Bürgerschaft die Ermächtigung des Art. 67 II erteilt hat. Für die Deckungskredite bleibt es in jedem Falle bei Art. 72, der für die Beschaffung von „Geldmitteln im Wege des Kredits" einen Beschluß der Bürgerschaft verlangt. b) Diese Vorschrift findet nach dem oben zitierten Urteil des Landesverfassungsgerichts keine Anwendung auf Kassenkredite. Art. 72 soll nach Ansicht dieses Gerichts33 ferner nicht für Umschuldungskredite gelten, insbesondere nicht für Tilgungskredite, d. h. für neue Schulden, Letzte Alternative von Art. 67 I Nr. 1 lit. c). Art. 67 I Nr. 1 lit. c). 31 Art. 67 II ultimo. 52 HambVerfG 1/84 v. 3 0 . 5 . 1 9 8 4 sub B II 1 der Entscheidungsgründe, veröffentlicht im HmbJVBl. 1984, 169ff; auszugsweise in D Ö V 1985, 456. 33 AaO sub B I 1 lit. b). 29 30
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mit denen alte Schulden bei Fälligkeit erfüllt werden, sondern nur für Kredite, mit denen neue Fehlbeträge gedeckt werden - nur Kredite, welche die bisherige Schuldenlast, das „SchuldenrnWii«" erhöhen, nicht bloß, wie angeblich die Tilgungskredite, die „Schuldensir»&i«r" verändern. Dem korrespondiert die Auslegung - richtiger: die Durchbrechung - des Art. 66 I, der verlangt, daß „alle Einnahmen und Ausgaben in den Haushaltsplan eingestellt werden müssen". Das Verfassungsgericht läßt genügen, daß nur die Neuverschuldung dokumentiert wird, wie es § 15 I L H O in der Neufassung durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984" vorschreibt. Der dort vorgenommene Übergang von der Bruttozur Nettoveranschlagung ist bundesrechtlich ermächtigt durch § 12 I 2 Haushaltsgrundsätze-Gesetz 1969. Das wiederum beruht auf der Grundgesetznovelle vom 12.5.1969 über die Finanzreform. Deren Väter hingen dem „Nettokreditprinzip" an in dem Irrglauben, daß nur die Neuverschuldung der öffentlichen Hand volkswirtschaftlich erheblich sei35. c) Vom Boden dieses Nettokreditprinzips, das in die Neufassung des §15 I L H O übernommen und vom Landesverfassungsgericht abgesegnet wurde, wird die Umschuldung von Krediten 36 , die Aufnahme neuer Kredite zur Tilgung alter Kredite bei deren Fälligkeit, nicht vom Budgetrecht des Parlaments erfaßt. Sie steht dann weder unter Gesetzesvorbehalt noch unter dem Vorbehalt eines zustimmenden oder ermächtigenden Beschlusses der Bürgerschaft. Zur Aufnahme reiner Tilgungskredite bedarf daher der Senat weder der bürgerschaftlichen Ermächtigung des Art. 67 II noch der des Art. 72. d) Das gilt nicht für die Umwandlung von Kassenkrediten in Deckungskredite, wozu Art. 2 Haushaltsbegleitgesetz 1984 für die Fehlbeträge der Haushaltsjahre 1982 und 1983 ermächtigte37. Daß diese „Umwandlung", diese „Altlastenfundierung", unter „Netto", nicht unter „Brutto" verbucht werden muß, also an Art. 72 zu messen ist, hat das Verfassungsgericht38 zutreffend festgestellt. Im Geltungsbereich des Art. 72 aber ist für parlamentsfreie Entscheidungen des Senats kein Raum. 3. Weitere Kreditkompetenzen des Senats ergeben sich aus §18 II und III L H O .
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GVB1. 1984, 343. Ausführlich dazu und dagegen meine dissenting opinion zu Teil I des zitierten Urteils des Landesverfassungsgerichts, mitveröffentlicht a a O . 36 A u s g e n o m m e n die U m w a n d l u n g von Kassenkrediten in Deckungskredite, s. u. d). 37 Wen es ermächtigte, sagte das Gesetz nicht. 38 A a O sub B II der Entscheidungsgründe. 35
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Abs. III handelt von Kreditermächtigungen, die im alten verabschiedeten Haushaltsplan erteilt, aber im alten Haushaltsjahr nicht voll ausgenutzt wurden. Wenn der Haushalt für das neue Jahr „nicht rechtzeitig festgestellt" wird, gelten die nicht ausgenutzten Ermächtigungen weiter: — bei den Deckungskrediten bis längstens zum übernächsten Haushaltsjahr, - bei den Kassenkrediten bis zur Feststellung des Haushaltsplans für das nächste Jahr. Die dadurch eröffneten Möglichkeiten zur Aufnahme von Krediten stehen auch dem Minderheitssenat offen - genauso wie das Recht zur Aufnahme neuer Kassenkredite nach Rückzahlung der alten (§18 II Nr. 2 Satz 2 L H O ) .
II. Eine seltsame Regelung trifft Art. 67 Abs. II für den Fall, daß der Senat seinen Antrag auf Erteilung einer Ermächtigung nach Abs. I mit der Vertrauensfrage des Art. 36 verbindet, dafür aber nicht die (einfache) absolute Mehrheit findet39. Dann soll der Senat, wenn die Bürgerschaft in der Dreimonatsfrist des Art. 36 I untätig bleibt, auch ohne ihre Zustimmung im Umfange des Art. 6 7 1 „zur Fortführung des Haushaltsplans", d.h. zur Haushaltsführung ohne parlamentarisch festgestellten Haushaltsplan, berechtigt sein. Er soll es schon vor Ablauf der Dreimonatsfrist sein, wenn vorher das neue Rechnungsjahr beginnt. 1. Diese Fristenregelung ist unverständlich, die Dreimonatsklausel neben dem „Beginn des neuen Rechnungsjahres" überflüssig. Im alten Rechnungsjahr ist der Senat durch den von der Bürgerschaft verabschiedeten Haushaltsplan ermächtigt. An dessen Ausführung kann der Senat nicht durch Verneinung der Vertrauensfrage gehindert sein; denn diese Frage wird für die Ermächtigung zur Haushaltsführung im „neuen Rechnungsjahr" gestellt, nicht für die Haushaltswirtschaft im alten Jahr, worüber die Bürgerschaft längst durch Verabschiedung des alten Haushaltsplans entschieden hat. Die Ermächtigung des Art. 67 I wird nur und erst für das „neue Rechnungsjahr", „für das folgende Jahr", benötigt, für das der Haushaltsplan noch „nicht festgestellt worden ist". Für dieses neue Jahr aber wird die Ermächtigung mit seinem Beginn benötigt. Dem trägt Art. 67 II mit seiner „spätestens"-Klausel Rechnung. Aber das „spätestens" ist verfehlt; im Gegenteil gewinnt der Senat das parla39 Diese Voraussetzung fehlt im Tatbestand des Art. 67 II, ist aber notwendig und v o m Gesetzgeber stillschweigend mitgedacht.
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mentsfreie Recht zur Haushaltsfortführung frühestens mit dem Beginn des neuen Haushaltsjahres. Die Dreimonatsklausel des Art. 67 II läuft also leer; sie kann ersatzlos gestrichen werden. 2. Wie, wenn der Senat für seinen Antrag auf Ermächtigung nach Art. 67 I nicht die Vertrauensfrage stellt, aber nicht einmal die einfache relative Mehrheit des Art. 19 findet? Dann ist er zur vorläufigen Haushaltsführung nur in dem unter I. dargestellten Umfange ermächtigt, nicht im vollen Umfang des Art. 67 Abs. I. Dessen Abs. II ist nicht anwendbar; aus ihm ist ein Umkehrschluß, nicht ein Analogieschluß zu ziehen. Der Unterschied, ob der Senat seinen Ermächtigungsantrag mit oder ohne Vertrauensfrage gestellt hat, ist wesentlich. Daß der Senat sich über das negative Votum der Bürgerschaft hinwegsetzen darf, ist oder erscheint nur dann vertretbar, wenn die Bürgerschaft von ihren Möglichkeiten aus Art. 36 I keinen Gebrauch gemacht hat. An dieser Herausforderung der Bürgerschaft durch die Vertrauensfrage des Senats fehlt es bei der schlichten Ablehnung eines Senatsantrags. Dieser Ablehnung muß sich der Senat beugen; gegen sie kann er nicht, wie bei verweigertem Vertrauen, nach von der Bürgerschaft ungenutztem Ablauf der Dreimonatsfrist des Art. 36 durch Auflösung der Bürgerschaft ans Volk appellieren.
III. Das zu I. und II. Ausgeführte zeigt: Weit wesentlicher für die Regierungsfähigkeit, für die politische Gestaltungskraft des Senats, als das Fehlen einer parlamentarischen Ermächtigung zur Haushaltsfortführung nach Art. 67 ist das Fehlen eines parlamentarisch abgesegneten Haushalts nach Art. 76. 1. Die Differenz zwischen den Senatsbefugnissen bei Vorliegen und bei Fehlen dieser Ermächtigung ist weit geringer als die Differenz zwischen einer Senatsregierung mit und ohne verabschiedeten Haushalt. Auch der nach Art. 67 ermächtigte Senat ist auf die Aufrechterhaltung einer geordneten Staatswirtschaft, auf die Fortführung des schon vom Parlament Beschlossenen oder Gebilligten 40 , beschränkt. Zu neuen Projekten legitimiert die Ermächtigung des Art. 67 den Senat nicht. Sie ist konservierend, nicht progressiv und nicht innovativ orientiert. Eine „neue" Politik ermöglicht sie dem Senat nicht. Die bedarf in einem konsequent parlamentarischen Regierungssystem der parlamentarischen Fundierung. Soweit sie Geld kostet, muß es vom Parlament vorher bewilligt
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„zur Fortführung (!) des Haushaltsplans ermächtigt", Art. 67 II ultimo.
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sein41. Das aber geschieht dadurch, daß die Bürgerschaft den ihr vorgelegten Haushaltsplan des Senats - sei es mit, sei es ohne Änderungen „feststellt" (Art. 67 II). 2. Art. 67 regelt zwei politisch grundverschiedene Sachverhalte: Das von ihm vorausgesetzte Manko eines „Haushaltsplans für das folgende Jahr" kann mehrere Ursachen haben. Politisch wichtig und in unserem Zusammenhang bedeutsam ist, ob der Etatentwurf des Senats von der Bürgerschaft abgelehnt oder noch nicht verabschiedet worden ist. Der Tatbestand des Art. 67 I deckt sowohl die Verzögerung in der Vorlage und Verabschiedung des Haushaltsplans als auch dessen parlamentarische Verweigerung. Die aber kann nur einem Minderheitssenat widerfahren. Spätestens wird er durch solche Verweigerung zum Minderheitssenat.
41 Diese Bewilligung schließt nicht aus, sondern ein, daß das Parlament die richtige Verwendung der von ihm bewilligten Gelder und damit die so finanzierte Politik der Regierung kontrolliert.
Bundesstaatliche Probleme des Art. 80 I GG CARSTEN BRODERSEN
I.
Charakteristisch für die Rechtsetzung durch Rechtsverordnung unter dem Grundgesetz ist, daß sie „durch Art. 80 G G in demokratischrechtsstaatlichen Bahnen kanalisiert" 1 wird. Ursprünglich vor allem gegen einen Mißbrauch des Verordnungsrechts in der Weimarer Zeit gerichtet, hat diese Betonung der demokratisch-rechtsstaatlichen K o m ponente für die Verordnunggebung nach verbreiteter Auffassung 2 auch unter sich wandelnden Verhältnissen und insbesondere einer geänderten \ Staatspraxis nichts an Aktualität verloren. Kaum weitergehende Beachtung gefunden hat demgegenüber bisher, daß die Rechtsetzung durch Rechtsverordnung auch bundesstaatliche Aspekte aufweist. Gerade auf. sie näher einzugehen, wird indes in jüngerer Zeit aus doppeltem Anlaß nahegelegt: Zum einen macht, so scheint es, die Staatspraxis nicht-nur vermehrt von der Möglichkeit Gebrauch, durch Bundesgesetz auch die Landesregierungen 3 zur Rechtsetzung zu ermächtigen, vielmehr dürften nicht wenige dieser Anwendungsfälle auch qualitativ, wie unten an einigen Beispielen aufgezeigt werden soll, Aufmerksamkeit verdienen. Zum anderen haben derartige Ermächtigungen der Landesregierungen auch im Rahmen der politischen Bestrebungen, dem Kompetenzverlust der Länderparlamente entgegenzuwirken, zu der unlängst erhobenen Forderung 4 geführt, Art. 80 G G dahin zu ergänzen, daß in Fällen, in denen Landesregierungen bundesrechtlich ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, „die Länder zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt" seien 5 .
' Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1980, §38 I 5, S.656. Allg. zu Art. 80 GG vgl. neben den einschlägigen Kommentaren aus jüngerer Zeit vor allem Lepa, AÖR 105 (1980), 337. 2 Vgl. nur Stern ( o . F n . l ) , §38 III 3, S.670; Bryde, in: v.Münch, GG, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Art. 80 Rdn. 1 ff, 20. 3 Das entsprach bereits unter der WRV (der allerdings eine Parallele zu Art. 80 GG fehlte) der Staatspraxis; vgl. Jacobi, HdbDStR, Bd. 2, 1932, S.248. 4 Entschließung einer von den Fraktionsvorsitzendenkonferenzen von CDU/CSU, SPD und FDP berufenen interfraktionellen Arbeitsgruppe, ZParl. 1985, 179; dazu bereits Rudolf, in: Festg. f. Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S.343 (349ff). 5 Vgl. ferner etwa bereits Martin, ZParl. 1984, 278, sowie ZParl. 1983, 357.
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Diese bundesstaatlichen Aspekte sollen hier de constitutione lata erörtert werden. Auch bei dieser Beschränkung wird die Blickrichtung indes gerade durch derartige politische Forderungen mitgeprägt; denn sie verdeutlichen nachdrücklich, daß die Ermächtigung einer Landesregierung nicht nur eine Auswahlentscheidung unter mehreren möglichen Ermächtigungsadressaten bedeutet, vielmehr auch in Bezug zu setzen ist zu einem Tätigwerden des Landesgesetzgebers: Es geht dann darum, welche Formen landesrechtlicher Normsetzung der Bund in einem seinem Zugriff offenen Kompetenzbereich ermöglichen kann. Zentraler Ausgangspunkt für eine derartige Betrachtung ist das Bestehen einer Bundeskompetenz zur Gesetzgebung. Ist sie gegeben, kann der Bund nicht nur durch die Auswahl des Ermächtigungsadressaten die Rechtsetzung auf die Landesebene verlagern; neben einer Einschaltung der Landesregierung nach Art. 80 I 1 G G kommt vielmehr für den Bund auch in Betracht, über Art. 71, 72 G G die Voraussetzungen zu schaffen, daß der Landesgesetzgeber tätig wird. Die Frage ist dann, ob diese möglichen Alternativen ganz zur Disposition des Bundes stehen oder ob es bereits de constitutione lata Vorgaben gibt, die der Bund in einer derartigen Entscheidungssituation zu berücksichtigen hat. Diese Thematik kann im vorliegenden Rahmen zwar aufgegriffen, indes auch nicht annähernd umfassend erörtert werden; hier ist nur ein bescheideneres Programm in Angriff zu nehmen: Anknüpfend an Art. 80 G G soll im folgenden zunächst die Situation näher erläutert werden, die eine derartige Fragestellung aktuell erscheinen läßt (II). Ein Uberblick über bisherige Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur schließt sich an (III). Abschließend soll versucht werden, einige weiterführende Überlegungen und Ansätze zu skizzieren (IV). II. 1. Ausgangspunkt seien hier zunächst die erwähnten verfassungspolitischen Forderungen. In der seit langem geführten Diskussion um die föderative Ordnung der Bundesrepublik bildet gerade der Terrainverlust der Länderparlamente einen zentralen Aspekt. Die vielfach betonte innere Verschiebung dahingehend, daß sich die föderative Struktur weniger in regionaler Eigenart als in stärkerer gliedstaatlicher Teilnahme an der gesamtstaatlichen Entscheidung ausprägt 6 , hat vor allem zu einer Schwächung der Länderparlamente geführt - eine Situation, zu deren
' So die vielzitierte Formulierung von Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 19 IV 1, S. 749. Allg. zum „Abstieg des Föderalismus im Sozialstaat" auch Schmitt Glaeser, A O R 107 (1982), 337 (355 ff).
Bundesstaatliche Probleme des Art. 80 I G G
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Kennzeichnung Schlagworte wie „Depossedierung der Landtage" 7 oder „Vollzugsföderalismus der Länderregierungen" 8 bzw. „gouvernementale Bundesstaatlichkeit"' verbreitet sind und zu deren Erklärung oft u. a. darauf hingewiesen wurde 10 , die öffentliche Meinung nehme wesentliche Leistungs- und Belastungsunterschiede als Folge einzelstaatlich unterschiedlicher Lösungen nicht mehr hin. Einen besonderen Ausdruck und Kulminationspunkt dieser Entwicklung bildeten Einsetzung und Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsreform 1 '. Auch wenn sich seitdem im Schrifttum vermehrt Hinweise auf gegenläufige Tendenzen 12 finden und gelegentlich angesichts eines Rückgewinns an politischer Substanz in den Ländern bereits eine neue „Phase" in der Entwicklung des Föderalimus diagnostiziert wird 13 , sind gerade Reformüberlegungen nicht verstummt, in deren Mittelpunkt eine Stärkung der Länderparlamente steht. Neben einer weiteren Einschaltung der Landtage in Bundesratsangelegenheiten 14 geht es dabei insbesondere auch um die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder. Anknüpfungspunkte sind hier nach wie vor eine Verschärfung der „Bedürfnisklausel" für den Bundesgesetzgeber bzw. eine (Rück-)Ubertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an die Länder. In diesem Zusammenhang ist auch die bereits oben erwähnte Forderung erhoben worden, durch Änderung des Art. 80 G G bei bundesrechtlicher Ermächtigung der Landesregierungen zur Verordnunggebung auch die Möglichkeit landesgesetzlicher Regelung zu schaffen. Ein derartiger Therapievorschlag war - als bereits de constitutione lata zu verwirklichen - schon 1970 von Konowxi gemacht worden; auch von
7 So bereits Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, 1923, S. 108; vgl. auch Kisker, N J W 1977, 1313 (1316). Allg. dazu auch Leisner, D Ö V 1968, 3 8 9 ; Lenz, D Ö V 1977, 157. 8 Miller, D Ö V 1986, 140 (146); zum „Beteiligungsföderalismus" vgl. Kisker, in: Probleme des Föderalismus, 1985, S. 29 ff. 9 Stern (o. Fn. 6), § 19 IV 2, S. 755. 10 Charakteristisch etwa die Begründung zum Regierungsentwurf des Finanzreformgesetzes 1969, BT-Drs. V/2861, S. 11 Tz. 10. Prononciert in diesem Sinne auch später etwa Rottmann, DVB1. 1981, 439 (442). 11 BT-Drs. 7/5924. Dazu vgl. statt aller E. W, Böckenförde/K. Stern, Die Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsreform . . . , 1977. 12 Kretschmer, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit 9 (1974), 97 (118); Kisker ( o . F n . 8 ) , S . 3 4 f f ; auch Stern ( o . F n . 6 ) , § 1 9 IV 1, S.749. 13 So namentlich Klatt, Reform und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1986, B 28, S. 3 ff; vgl. aber auch z . B . H.P. Schneider, in: Wassermann/Rasehom/Benseier, Lebendige Verfassung - das Grundgesetz in Perspektive, 1981, S.91 (103 ff, 113 ff). 14 Dazu vgl. etwa Heyen, Der Staat 1982, 191 ff m. w . N a c h w . 15 D Ö V 1970, 22 (26 f).
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anderer Seite" wurde später die Auffassung vertreten, die Landesgesetzgeber könnten mehr als bisher gesetzgeberisch tätig werden, wenn der Bundesgesetzgeber die Rechtsetzung weniger an die Verordnunggeber als vielmehr an die Landesgesetzgeber delegieren würde. Und Konow konnte auch bereits auf ein einschlägiges Beispiel aus dem geltenden Recht verweisen17: Nach § 9 V WeinG 1969" treffen die Landesregierungen der weinbautreibenden Länder bestimmte Regelungen „durch Rechtsverordnung, sofern nicht eine Regelung durch Landesgesetz getroffen wird". 2. Gerade im geltenden Recht besteht jedoch auch eine weitere, im gewissen Sinne gegenläufige Tendenz: Auf den zunehmenden Einsatz und das wachsende politische „Gewicht" durch Rechtsverordnung getroffener Regelungen ist für das Bundesrecht oft hingewiesen worden19; besondere Aufmerksamkeit haben etwa die Verordnungen im Bereich des Straßenverkehrsrechts20 bzw. des Post- und Fernmeldewesens21 gefunden. Erwähnt sei weiter der nicht seltene Einsatz von Verordnungsermächtigungen als „Drohgesetz" 22 , wie z . B . bei der Werbung für Tabakerzeugnisse in §22 L M B G oder im Hinblick auf die Abfallvermeidung bei Verpackungen in § 14 AbfG. Eher unbemerkt sind demgegenüber Entwicklungen geblieben, die die Verordnunggebung durch Landesregierungen betreffen und die auf eine Stärkung des Landeseinflusses hinzielen: Gerade in der neueren Praxis ist etwa ein vermehrtes Gebrauchmachen 23 von Ermächtigungsformen zu verzeichnen, die, wie es im Schrifttum24 genannt wird, auf eine „Art konkurrie" Kretschmer (o. Fn. 12), S. 120, der allerdings dem konkreten Vorschlag Konows skeptisch gegenübersteht. - Auf der Basis einer politischen Entscheidung für eine restriktive Inanspruchnahme der Kompetenzen des Bundes plädiert jetzt auch ausdrücklich für diese Möglichkeit Friedrich Vogel, in: Festg. f. Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S . 4 9 3 (503). Rechtspolitische Vorschläge zur „Auslastung" der Landtage z . B . auch bei Kisker, N J W 1977, 1313 ( 1 3 1 6 ) ; v. Pestalozzi N J W 1981, 2081 (2084). 17 D Ö V 1970, 22 (28). 18 Weingesetz v o m 16. 7 . 1 9 6 9 B G B l . I, 7 8 1 ; jetzt - sachlich insoweit unverändert - § 10 V des Gesetzes i. d. F. v o m 27. 8 . 1 9 8 2 , B G B l . I, 1196. " Vgl. nur Lepa, A Ö R 105 (1980), 338 ff; ferner etwa Brugger, VerwArch 1987, 1 (19). Kritik an der Handhabung in einem konkreten Einzelfall z. B. bei Wagner, StuW 1986, 89. 20 Dazu vgl. etwa Jekewitz, in: Festschr.f.Blischke, 1982, S. 111 m . w . N a c h w . 21 Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß), N J W 1984, 1871. 22 Kloepfer, W D S t R L 40 (1982), 76. - Zu derartigen Eingriffskompetenzen als Voraussetzung informalen Verwaltungshandelns vgl. zuletzt etwa Becker, D Ö V 1985, 1003 m. w. N a c h w . - D e m korrespondiert die bemerkenswerte Feststellung bei Stern (o. Fn. 1), § 38 II 1, S. 662, die Verordnunggebung erlaube „schließlich . . . eine Rechtsetzung, die den Interessenkonstellationen vielköpfiger Parlamente entzogen" sei. 23 Insbesondere ist hier etwa das neue Pflanzenschutzgesetz vom 1 5 . 9 . 1 9 8 6 , B G B l . I, 1505, zu nennen. 24 So - zu § 2 3 II B I m S c h G -Jarass, BImSchG, 1983, § 2 3 R d n . 9 .
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render Gesetzgebung im Bereich der Rechtsverordnungen" hinauslaufen. Wesentlicher ist indes, daß der Bundesgesetzgeber gerade auch in politisch gewichtigen Sachfragen zunehmend 25 eine Regelung nur durch Landesverordnung vorsieht: So ist etwa unlängst der politische Kompromiß über eine Änderung der Ladenschlußzeiten derart „umgesetzt" worden, daß die Entscheidung über das Gebrauchmachen von den neu geschaffenen Ausnahmen auf Landesebene getroffen wird, allerdings nicht vom Landesparlament, sondern von der Landesregierung 26 . Und wenn etwa §§ 30 ff B B e r g G den Landesregierungen eine weitgehende Einflußnahme auf die Erhebung der Feldes- und Förderabgaben und insbesondere deren Höhe einräumen, so illustriert allein schon der durch die Frage ihrer Einbeziehung (mit-)ausgelöste Streit um den Länderfinanzausgleich 27 das politische Gewicht dieser wiederum zwar auf die Landesebene, nicht aber den Landesparlamenten übertragenen Entscheidungsbefugnisse. Die Vielzahl der nach der bundesgesetzlichen Vorgabe des § 32 II B B e r g G für die Entscheidung der Landesregierung in Betracht kommenden Aspekte, die bis zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts reichen, spiegeln zugleich den hier dem Verordnunggeber eingeräumten Gestaltungsspielraum wider. Nicht zuletzt dürfte aber gerade dieses Beispiel der bergrechtlichen Abgaben auch verdeutlichen, welche Tragweite es haben kann, wenn dem Verordnunggeber - wie hier - auch die Möglichkeit eröffnet wird, in bestimmten Fällen diese Abgaben nicht zu erheben 28 . Hinzuweisen ist schließlich auf die bemerkenswerte Rechtslage, auf der zur Zeit die Erhebung der sog. Fehlbelegungsabgabe beruht. Für diese auf den Abbau der Fehlsubventionierung im Wohnungswesen zielenden Ausgleichszahlungen wurde 1981 zunächst eine ausführliche bundesgesetzliche Regelung 29 geschaffen, in deren Rahmen allerdings die Entscheidung über die Einführung der Abgabe jeweils Verordnungen der Landesregierungen übertragen wurde. Eine 1985 vorgenommene Änderung des Bundesgesetzes 30 behielt diese Lösung zwar hinsichtlich der Verordnungsermächtigung des § 1 IV des Gesetzes 31 bei, stellte die
25 Als älteres Beispiel kann das Recht der Zweckentfremdung von Wohnraum genannt werden; dazu vgl. BVerfGE 38, 348. 26 § § 8 , 9 LSchlG i. d. F. des Änderungsgesetzes vom 25. 7.1986, BGBl. I, 1169 (1173). 27 Dazu vgl. nur BVerfGE 72, 330. 2 ! Zu diesem Aspekt etwa Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs gem. Art. 107 II GG, 1984, S.75f. 29 Vgl. das Gesetz über den Abbau der Fehlsubventionierung im Wohnungswesen vom 22.12.1981, BGBl. I, 1523, 1542. 30 Durch §16 des Änderungsgesetzes vom 11.7.1985, BGB1.I, 1276. 31 Das gilt weiter auch für § 10 II-IV des Gesetzes.
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Anwendung der übrigen Vorschriften des Bundesgesetzes aber unter den Vorbehalt eigener Abgabengesetze der Länder32, so daß es zu einem sich ergänzenden Nebeneinander auch von Landesgesetz und bundesrechtlich dirigierter Landesverordnung kommen kann. Auf diesen besonderen Fall wird an späterer Stelle näher einzugehen sein. III. 1. Lenkt man nach diesem Befund den Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum, so zeigt sich, daß im Hinblick auf Art. 80 G G die hier interessierenden Landesverordnungen in den meisten wichtigen Fragen den entsprechenden Bundesverordnungen gleichgestellt werden. Das gilt zunächst schon für die Rechtsprechung des BVerfG. In ihr nimmt namentlich die zentrale Frage der hinreichenden Bestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigung breiten Raum ein; die zahlreichen Entscheidungen spiegeln mittelbar auch den Wandel im Einsatz des Rechtsetzungsinstruments Verordnung wider. Es geht nicht (mehr) darum, daß Verordnungen „administrative oder technische Detailvorschriften ohne sachliches oder politisches Gewicht" bildeten, sie werden vielmehr als Mittel flexibler Anpassung an sich ändernde Verhältnisse gesehen" und eingesetzt, um insbesondere Wandlungen und Entwicklungen wirtschaftlicher Verhältnisse zügig normativ lenken zu können34. Dem tragen die an die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm gestellten Anforderungen Rechnung, wenn diese einerseits zwar der Grundrechtsrelevanz der Regelung zu entsprechen hat, zu der ermächtigt wird, andererseits aber auch „ausreichend Raum für eine sachgerechte und situationsbezogene Lösung bei der Abgrenzung von legislativen und exekutiven Kompetenzen" bleiben soll35. Im einzelnen braucht darauf hier indes ebensowenig eingegangen zu werden wie auf in der neueren WesentlichkeitsRechtsprechung des BVerfG zu verzeichnende Tendenzen, deutlicher als bisher zu unterscheiden36 zwischen dem Parlamentsvorbehalt und der über Art. 80 G G ermöglichten Funktion einer Verordnung als „gesetzlicher Grundlage". Denn ungeachtet aller insoweit verbleibenden inhaltlichen Zweifelsfragen ist für den hier interessierenden Zusammenhang festzuhalten, daß 32 Dazu sind inzwischen Gesetze ergangen z.B. in Bayern (vom 21.11.1985, GVB1.1985, 678) und in Bremen (vom 19.11.1985, GB1.211). 33 BVerfGE 55, 207 (228, 241 ff). Allg. dazu auch Stern (o.Fn. 1), §38 I 5, S.656, auch S. 662. 34 BVerfGE 42, 191 (203). 35 BVerfGE 58, 257 (278). 36 So - im Vergleich etwa zu BVerfGE 55, 207 (225) - BVerfGE 58, 257 (268, 274ff); vgl. dazu auch die Anm. von Wilke, JZ 1982, 758; ferner z.B. Wahl, DVB1.1985, 822 (826).
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derartige Begründungen für den Einsatz von Verordnungen nicht nach dem Adressaten der Ermächtigung differenzieren 37 . Soweit Gründe für die Einschaltung der Landesregierungen überhaupt angesprochen werden, pflegen etwa die Verschiedenheit der örtlichen Verhältnisse bzw. die regionale Differenzierung und eine daraus folgende Sachnähe der Landesregierung angeführt zu werden58. Ebensowenig wird hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus der Ermächtigung ergeben, nach deren Adressat differenziert. Für den Umfang des Gestaltungsspielraums des Verordnunggebers 3 ' und insbesondere die ihm auch - vorbehaltlich abweichender Bestimmung durch den Gesetzgeber - eingeräumte Befugnis, darüber zu entscheiden, ob und wann von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden soll40, ist nicht die Auswahl des Adressaten der Ermächtigung entscheidend. Noch in einer neueren Entscheidung des BVerfG41 findet sich die lapidare Feststellung, entschließe sich der Bundesgesetzgeber in Wahrnehmung seiner Kompetenzen zu einer Verordnungsermächtigung, so stehe es ihm innerhalb des von Art. 80 I 1 G G abgesteckten Adressatenkreises frei, wen er zum Verordnunggeber berufen wolle. Unter ausdrücklichem Hinweis auf eine gebotene „föderalistische Auslegung" 42 des Art. 80 I 1 G G wird demgegenüber in BVerfGE 11, 77 (86) entschieden, welche Stelle als „Landesregierung" i. S. des Art. 80 I 1 G G anzusehen ist. Weitere spezifisch bundesstaatliche Aspekte der Rechtsetzung durch die Exekutive betreffen Entscheidungen zur Tragweite des Art. 80 I 2 G G für den Landesgesetzgeber insbesondere bei Schweigen der Landesverfassung43 sowie zur Mitwirkung des Bundesrates beim Erlaß von Verordnungen gem. Art. 80 II GG 4 4 . Und schließlich ist die bejahende Stellungnahme des Gerichts zu der zuvor lebhaft umstrittenen Frage zu nennen, ob derartige Landesverordnungen aufgrund bundesgesetzlicher Ermächtigung Landesrecht sind - mit der ausdrücklichen Konsequenz auch einer dann bestehenden Bindung der Landesregierung an Landesverfassung45 und -gesetze. Gerade die dafür Vgl. etwa nur BVerfGE 38, 348 sowie BVerfGE 55, 207. So etwa BVerfGE 18, 407 (417); 42, 191 (203). 39 Vgl. wiederum nur BVerfGE 38, 348 (363), gerade eine Ermächtigung der Landesregierungen betreffend; ferner z . B . BVerfGE 53, 1 (21) und 135 (145). Für die besonderen Aspekte des Art. 3 I GG vgl. BVerfGE 69, 150 (159f). 40 Nachw. bei Wilke, A Ö R 98 (1973), 196 (234); vgl. etwa auch BVerfGE 42, 191 (200); allg. dazu auch H. Schneider, Gesetzgebung, 1982, S. 145. 41 BVerfGE 56, 298 (311). 42 Angesprochen ist damit also (nur) die Rücksichtnahme auf die landesverfassungsgesetzliche Organisation. 43 Vgl. die Nachw. bei Bryde (o. Fn. 2), Art. 80 Rdn. 2a. 44 BVerfGE 24, 194. 45 Dazu vgl. auch BVerfGE 38, 139 (147) sowie BayVerfGH, BayVBl. 1984, 398. 37 38
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einschlägige Entscheidung BVerfGE 18, 40746 dürfte bislang auch die einzige sein, die Rechtsprobleme der Landesverordnungen ausführlicher anspricht; neben der Diskussion des Ergebnisses haben indes diese inhaltlichen Äußerungen als solche wenig Beachtung gefunden, ihre Tragweite dürfte noch nicht voll ausgelotet 47 sein. Insgesamt spielen damit die hier interessierenden Aspekte bislang in der Rechtsprechung des BVerfG kaum eine Rolle; der Blick ist jeweils nur auf die konkrete vom Bundesgesetzgeber getroffene Entscheidung gerichtet, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft wird 48 , ohne daß Anlaß bestanden hätte bzw. gesehen würde, dabei etwaige alternative Entscheidungsmöglichkeiten 4 ' einzubeziehen. 2. Ein ähnliches Bild ergibt sich, betrachtet man das einschlägige Schrifttum 50 . Bestimmend für die Problemsicht sind durchweg die Verhältnisse auf Bundesebene. Das gilt etwa für die vielfach neben der „Bestimmtheit" der Ermächtigung im Mittelpunkt stehende Abgrenzung zu den Verwaltungsvorschriften, aber gleichermaßen auch, soweit es gerade um die Abgrenzung zum Gesetz geht. Neuere Untersuchungen51, die etwa vorbehaltene parlamentarische Mitentscheidungsrechte als Formen der Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung thematisieren und damit gerade „gewichtige" Fälle des Einsatzes von Rechtsverordnungen erfassen, gehen dabei, wie es die Fragestellung nahelegt, vom Verhältnis Bundestag/Bundesregierung aus. Aber auch Untersuchungen, die allgemeiner dem Einsatz von Verordnungen im Hinblick auf eine „Stufengerechtigkeit" 52 der Normsetzung nachgehen, pflegen bundesstaatliche Aspekte dabei auszuklammern 53 . Nicht untypisch und zugleich diese Sicht erklärend dürfte eine Feststellung von
Bezugnahme darauf auch in BVerfGE 24, 167. *7 Z. T. ist das Gericht später von ihnen in der Sache abgerückt, vgl. Wilke, A O R 98 (1973), 196 (215), der auch S.235 Fn.324 weitere Ausführungen des Gerichts in dieser Entscheidung als widersprüchlich und unklar bezeichnet. 4 ! Zur ganz anders gelagerten Frage einer Wahlfreiheit des Gesetzgebers unter dem Aspekt des Rechtsschutzes vgl. demgegenüber etwa BVerfGE 10, 89 (105); 70, 35 (56). 49 Von einem generellen Bestimmungsrecht des Bundesgesetzgebers auch zwischen Landesregierung und Landesgesetzgeber scheint BVerfGE 24, 155 (167) jedenfalls für die dort gegebene Konstellation auszugehen. 50 Zum Fehlen einer umfassenden Monographie in diesem Bereich vgl. Ossenbühl, in: Festschr. f. Hans Huber, 1981, S . 2 8 3 f ; den., N J W 1986, 2805 (2806). 51 So z . B . Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 173ff; vgl. auch Kisker, N J W 1977, 1313 (1319 f). 52 Allg. dazu Karpen, Z G 1986, 5 (19). 53 So Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtsetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S.5. 44
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Bullinger54 aus dem Jahre 1970 sein, Ermächtigungen an die Landesregierungen stünden denen an die Bundesregierung und die Bundesminister an Bedeutung nicht unerheblich nach und seien wenig geeignet, die Länder als politische Gemeinwesen zu aktivieren, mit dem erläuternden Zusatz, „überwiegend werden wohl nur Bundesregierung oder Bundesminister zu sachlichen Regelungen ermächtigt". Bundesstaatliche Aspekte werden demgemäß eher am Rande berührt. Anknüpfungspunkt ist die Regelung der Ermächtigungsadressaten in Art. 80 I 1 G G , die indes nicht ausdrücklich in Bezug zu Art. 71, 72 G G gesetzt wird. Auch die Auswahlentscheidung als solche pflegt zumeist nicht näher angesprochen zu werden, allenfalls wird die Auswahlfreiheit des Bundesgesetzgebers betont 55 . Im Anschluß an Überlegungen in BVerfGE 11, 77 (88) werden allerdings die „Kombinationsmöglichkeiten" des Bundesgesetzgebers eingeschränkt; so wird namentlich eine „föderative Sperre" 56 angenommen, die es ausschließe, eine Landesregierung gemeinsam 57 mit der Bundesregierung zu ermächtigen oder von deren Zustimmung abhängig zu machen. Bereits früh wurde aber auch gelegentlich betont 58 , eine Ermächtigung der Landesregierung entfalte zugleich eine Sperrwirkung für das Landesparlament, andererseits aber auch die Frage aufgeworfen 59 , ob das Landesparlament eine derartige Landesverordnung aufheben dürfe. Damit sei hier dieser Uberblick abgeschlossen.
IV. 1. Der Gedanke, die Verfassung eröffne dem Bundesgesetzgeber einen Dispositionsspielraum, innerhalb dessen er über die Abgrenzung der Regelungsbefugnisse zwischen Regierung und Gesetzgeber auf Landesebene frei entscheiden könne, mag auf den ersten Blick nicht ganz 54
D Ö V 1970, 761 (765 mit und in Fn. 36). - Im einschlägigen Schrifttum anzutreffende statistische Hinweise pflegen auch nur Angaben zu Bundesverordnungen zu enthalten, so etwa bei Bryde (o.Fn.2), Art.80 Anh.; H.Schneider (o.Fn.40), S.98. Auch Hasskarl, D Ö V 1968, 558, bezieht seine Übersicht für 1949 bis 1965 auf Bundesrecht, führt aber S. 562 in Fn. 22 a an, etwa 8 % der Ermächtigungen seien in diesem Zeitraum den Landesregierungen erteilt worden. 55 So Stern ( o . F n . l ) , §38 III 1, S.667; Wilke, in: v. Mangoldt/Klein, G G , 2. Aufl. 1974, Art. 80 Anm. V 5 b. 56 Wilke (o. Fn. 55), Art. 80 Anm. V 5 b, 6 d; ihm folgend z. B. Lepa, A Ö R 105 (1980), 338 (358 f); vgl. ferner Bryde (o. Fn. 2), Art. 80 Rdn. 16, 18; auch H. Schneider (o. Fn. 40), S. 150 f. 57 Vgl. aber auch BVerfGE 24, 184 (202). 58 So Haas, DVB1.1954, 241 (242); Zippelws, N J W 1958, 445 (447); im Anschluß daran BayVerfGH N F 14 (1961), 71 (74), dem H.P. Schneider, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1983, Bd. 3, S. 126 folgt. So auch die Argumentation in BVerfGE 18, 407. s ' Wilke, A Ö R 98 (1973), 196 (235 Fn.324).
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fernliegen. Unter dem Aspekt demokratisch-rechtsstaatlicher Anforderungen wird im Schrifttum 60 zu Art. 80 G G die Auffassung vertreten, das Grundgesetz kenne - außerhalb eines Bereichs des „Parlamentsvorbehalts" - keine generelle Trennung zwischen den Aktionsräumen des Gesetzgebers und des Verordnunggebers, die Rechtsverordnung sei als Rechtsetzungsinstrument in den genannten Grenzen ebenso funktionstüchtig wie das Gesetz. Eine derartige Sicht könnte die Annahme nahelegen, daß der Bundesgesetzgeber in dem seinem Zugriff offenen Kompetenzbereich auch grundsätzlich frei wählen dürfe, ob er in Fällen, in denen er die Möglichkeit einer ergänzenden Regelung auf Landesebene eröffnen will, über Art. 80 I G G die Landesregierung oder über Art. 72 G G " den Landesgesetzgeber einschaltet 62 . Eine Regelung wie § 9 V W e i n G 1969" scheint überdies darauf hinzudeuten, daß diese beiden "Wege nach Auffassung des Bundesgesetzgebers gleichwertig und deshalb insbesondere auch derart „kombinierbar" sind, daß die Landesregierung vorbehaltlich eines Tätigwerdens des Landesgesetzgebers ermächtigt wird. Unter derartigen Prämissen mag es dann naheliegen, den Versuch zu unternehmen, angesichts der angeblichen Wahlmöglichkeit des Bundes Direktiven für deren Ausübung zu entwickeln und dem Bund etwa aufzuerlegen, dem Gedanken einer „Stärkung der Länderparlamente" durch einen entsprechenden Vorbehalt Rechnung zu tragen. Solche Überlegungen würden indes auf einem grundlegenden Mißverständnis beruhen und die Anforderungen außer acht lassen, die sich neben der Berücksichtigung der demokratisch-rechtsstaatlichen Komponente im Bundesstaat ergeben. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, eröffnet das Grundgesetz dem Bundesgesetzgeber keine so geartete Wahlmöglichkeit. Zudem bestehen gegen Regelungen nach Art des § 9 V WeinG 1969 verfassungsrechtliche Einwände, die so gravierend sind, daß auch gegen eine Verwirklichung der Forderung, derartige Hand-
Lepa, A Ö R 105 (1980), 337 (339). " Für diesen Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung soll die Problematik im folgenden behandelt werden; Art. 71 und 75 GG bleiben ausgeklammert. Zu Art. 71 GG grundlegend Rudolf, A Ö R 88 (1963), 159. 62 Ob der Bundesgesetzgeber im Rahmen des Art. 72 GG über die unstrittig gegebene Möglichkeit eines Vorbehalts zugunsten landesgesetzlicher Normierung hinaus (dazu vgl. nur BVerfGE 20, 238, 251) den Landesgesetzgeber auch - wie den Verordnunggeber (Nachw. oben Fn. 40) - zum Erlaß einer Regelung verpflichten kann, ist allerdings zweifelhaft; vgl. dazu die Nachw. unten in Fn. 77. " Oben bei Fn. 18. - Diese Vorschrift soll hier nur als „Modell" einer möglichen Regelung herangezogen werden; auf etwaige Besonderheiten des Weinrechts, die den Anlaß für eine derartige Gestaltung des § 9 V gegeben haben könnten, ist deshalb nicht einzugehen. 60
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lungsalternativen durch Ergänzung des Art. 80 G G im Grundgesetz zu verankern, verfassungspolitische Bedenken 64 anzumelden wären. 2. Für Anforderungen, die der Bundesgesetzgeber zu beachten hat 65 , wenn er in Ausübung seiner Kompetenzen auch Raum für landesrechtliche Normsetzungen schafft, gilt es, das Verhältnis zwischen Art. 80 und Art. 72 G G zu klären. Hierbei geht es zunächst um die Frage, inwieweit eine den Landesregierungen erteilte Rechtsverordnungsermächtigung als Kriterium für ein fehlendes Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung66 i. S. des Art. 72 II G G gedeutet werden kann. Zweifelsfrei ist eine solche Wertung als generelle Regel nicht vertretbar: Denn in diesem Fall würde Art. 80 G G insoweit im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung leerlaufen. Die Vorschrift setzt nämlich das Bestehen einer Bundesgesetzgebungskompetenz voraus, knüpft also an die Art. 70 ff G G an; wenn sie gleichwohl, ohne zwischen den verschiedenen Kompetenzarten zu differenzieren, auch die Möglichkeit einer bundesgesetzlichen Ermächtigung der Landesregierung vorsieht, folgt daraus zwingend, daß dem Einsatz dieses Instruments nicht schon von vornherein und generell ein fehlendes Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung i. S. des Art. 72 II G G entgegengehalten werden kann. Im Schrifttum 67 ist allerdings betont worden, hier zeige sich, daß die Einbeziehung der Landesregierungen in den Kreis der Ermächtigungsadressaten des Art. 80 I 1 G G „nicht bis ins letzte mit den Vorschriften über die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten abgestimmt worden" sei. Auch eine derartige Feststellung bleibt indes fraglich. Denn das Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung könnte — wofür möglicherweise die Änderung des Ladenschlußgesetzes 68 ein Beispiel ist - gerade darin bestehen, dem Bund die grundsätzliche Entscheidung über die Zulassung von Ausnahmen bzw. Experimenten vorzubehalten. Dann würde insbesondere die
" Vgl. dazu auch bereits Rudolf (o.Fn.4), S. 352 f. 65 Landesverfassungsrecht scheidet insoweit als Maßstab ersichtlich aus. Art. 80 GG gehört zudem zu den den Ländern außerhalb des Art. 28 I GG vorgegebenen Bestimmungen des Bundesverfassungsrechts, vgl. BVerfGE 18, 407 (419); 36, 342 (361). Allerdings kann, worauf Wolfrum, D O V 1982, 674 (679) in anderem Zusammenhang hingewiesen hat, Art. 28 I GG gerade auch bei der Auslegung der Art. 70 ff GG Bedeutung erlangen; das kann hier nicht weiterverfolgt werden. " Dazu, daß dieses Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung i. S. des Art. 72 II GG - entgegen BVerfGE 18, 407 (415) - nicht stets auf eine bundeseinheitliche Regelung abzielen muß, vgl. v.Münch, GG, Bd. 3, 1983, Art. 72 Rdn.16; Bothe, A K - G G , 1984, Art. 72 Rdn. 11. 67 Wilke, A Ö R 98 (1973), 196 (211). " Oben bei Fn.26.
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Maunz'sche „Formel" nicht greifen 6 ', die Voraussetzungen bundesgesetzlicher Regelung fehlten schon, „weil der eigene Inhalt des Gesetzes dagegen spreche". Insgesamt kommt also ein derartiger generalisierender Lösungsansatz nicht in Betracht. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, daß an dieses „Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung" möglicherweise im konkreten Einzelfall gerade dann besondere Anforderungen zu stellen sind, wenn der Bundesgesetzgeber den Weg der Ermächtigung der Landesregierung beschreiten will70. Eine ebenfalls offenkundig nicht vertretbare Regel ist die in BVerfGE 18, 407 (417) geäußerte Ansicht71, in Fällen einer Ermächtigung der Landesregierung mache der Bundesgesetzgeber zwar von seiner Gesetzgebungszuständigkeit i. S. des Art. 72 I G G keinen abschließenden Gebrauch 72 , das bedeute jedoch nicht, daß anstelle der Landesregierung auch der Landesgesetzgeber die ergänzende Regelung treffen könne, weil nämlich die bundesgesetzliche Regelung dem Verordnunggeber des Landes die Regelungsbefugnis zugewiesen habe. Nach der Grundregel des Art. 72 I G G sind, (solange und) soweit der Bund von seiner Kompetenz keinen Gebrauch macht, die Länder kraft Verfassung aus eigenem Recht zuständig. Damit ist die Vorstellung unvereinbar, der Bund könne auch zwar von seiner Kompetenz i. S. des Art. 72 I G G keinen Gebrauch machen, gleichwohl aber die Anordnung treffen, daß nicht der Landesgesetzgeber, sondern nur die Landesregierung eine (ergänzende) Regelung treffen dürfe. Eine derartig eingeschränkte „Sperrwirkung" ist Art. 72 I G G nicht zu entnehmen; für die (isolierte) Anordnung, daß anstelle des Landesgesetzgebers die Landesregierung tätig werden solle, kann im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge ein „Bedürfnis" i. S. des Art. 72 I G G nicht anerkannt werden. Es kann insbesondere nicht aus Art. 80 G G abgeleitet werden, denn dieser setzt Bestehen und Inanspruchnahme der Bundeskompetenz voraus, womit insoweit wiederum die Regel des Art. 72 I G G eingreift. Anhaltspunkte dafür, daß gerade Art. 80 G G diese Grundentscheidung über das Kompetenzgefüge modifizieren und dem Bund die weitergehende Befugnis " Maunz, in: Maunz/Dürig, G G , Art. 72 (Stand 1984), Rdn. 16. - Auch i.S. von BVerfGE 34, 9 (28) dürfte in derartigen Fällen im übrigen eine „Regelung" des Bundes vorliegen. 70 Dazu vgl. auch Maunz (o.Fn.69), Art. 72 Rdn. 11; Art. 80 (Stand 1978), Rdn. 12. 71 Ihr dürfte auch bereits die spätere Entscheidung BVerfGE 34, 9 (28) insoweit entgegenstehen. - Im übrigen muß damit der Streit um das Ergebnis, zu dem BVerfGE 18, 407 gelangt, nicht wiederaufgenommen werden. 72 Ein „Gebrauchmachen" des Bundes i. S. des Art. 72 I G G nehmen für diesen Fall auch an Haas, DVB1. 1954, 241 (242); BayVerfGH N F 14 (1961), 71 (74). Im Ergebnis so auch Zippelius, N J W 1958, 445 (448), dessen weiterer Differenzierung (kein „Gebrauchmachen" demgegenüber bei bloßer Ermächtigung der Bundesregierung) allerdings nicht zu folgen ist.
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zusprechen könnte, in dem den Ländern verbleibenden Bereich jedenfalls auch den Landesgesetzgeber zugunsten der Landesregierung zurückzudrängen, sind nicht ersichtlich. Art. 80 G G betrifft vielmehr nur die Modalitäten, wie der Bundesgesetzgeber die ihm im Rahmen der konkurrierenden Zuständigkeit zustehende Gesetzgebungsbefugnis im einzelnen einsetzen kann. 3. Damit ist nicht nur der Rahmen umrissen, innerhalb dessen die weitere Klärung zu erfolgen hat, sondern zugleich auch eine wichtige Aussage über den Stellenwert gemacht, der dem Art. 80 G G dabei zukommt. Ein gewisses „Unbehagen" mag durchaus verständlich sein, daß etwa Entscheidungen über Erhöhung bzw. Senkung des Förderzinses nach dem BBergG 7 3 von der Landesregierung und nicht vom Landesparlament getroffen werden 74 . Gleichwohl wäre es verfehlt, eine Lösung auf der Ebene des Art. 80 G G anzusiedeln und Abhilfe in Regelungen nach Art des § 9 V W e i n G 1969 suchen zu wollen, die dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit eröffnen, an die Stelle der Landesregierung zu treten. Mit einem derartigen Ansatz wird nämlich verkannt, daß Art. 80 G G (nur) die Verlagerung von Rechtsetzungsbefugnissen von der Legislative auf die Exekutive betrifft. Kann man insoweit die Einschaltung der Bundesregierung oder der Landesregierung als prinzipiell gleichwertig ansehen, so wird eine ganz andere Dimension erreicht, wenn Normsetzungsbefugnisse in dieser Weise auf Landesregierung und Landesgesetzgeber verteilt werden sollen. Denn ein Vorgehen nach Art. 80 G G setzt voraus, daß der normsetzenden Exekutive eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmte Ermächtigung durch den Bundesgesetzgeber erteilt wird. Eine derartige „Vorgabe" für ein Tätigwerden des Landesgesetzgebers wäre indes mit dessen Stellung unvereinbar: Zwar mag es noch in der Konsequenz des Art. 72 I G G liegen, daß der Bund durch die Art und Weise, wie er seine Gesetzgebungskompetenz ausübt, auch „den verbliebenen Freiraum des Landesgesetzgebers näher definiert" 75 ; man mag dann weiter davon sprechen können, daß das Bundesgesetz „Ausführungsvorschriften durch Landesgesetz vorsieht" 76 . Auch wird man über das Ausmaß, in dem derartige „Bindun73 Oben bei Fn. 27, 28. - Gerade dieses Beispiel zeigt im übrigen, daß es in der Praxis oft eher darum gehen dürfte, ob Bundes- oder Landesregierung ermächtigt werden sollen: Der Regierungsentwurf zum BBergG sah eine Ermächtigung an den Bundesminister für Wirtschaft vor, die Einschaltung der Landesregierungen erfolgte erst als späterer, wohl wesentlich durch den Bundesrat mitbestimmter politischer Kompromiß; vgl. dazu die bei Zydek, Bundesberggesetz, 1980, abgedruckten Gesetzesmaterialien. " Namentlich unter Berücksichtigung der Öffentlichkeitsfunktion parlamentarischer Entscheidungen; vgl. dazu Kisker, NJW 1977, 1313 (1314). 75 Bothe (o. Fn. 66), Art. 72 Rdn.5. 76 Bothe (o.Fn.66), Art. 72 Rdn.5.
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gen" des Landesgesetzgebers zulässig sind, nicht zuletzt wegen des „Selbsteintrittsrechts" des Bundes streiten können 77 . Gleichwohl ändert das nichts daran, daß der Landesgesetzgeber auch in derartigen Fällen stets „von seiner ursprünglichen - nämlich konkurrierenden - Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch" 78 macht. Im Einzelfall mag sich das zwar, wie etwa das Beispiel des § 47 I N r . 2 V w G O zeigt, auf die Frage verengen, ob der Landesgesetzgeber von einer bestimmten, im Bundesrecht geregelten Möglichkeit - hier der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle für untergesetzliches Landesrecht - Gebrauch macht oder nicht. Auch bei einer derart reduzierten Entscheidungsbefugnis ist der Landesgesetzgeber indes nicht gehalten, bei seiner Entscheidung ein nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmtes „Programm" des Bundesgesetzgebers zugrunde zu legen79. Diesen Überlegungen kann nicht entgegengehalten werden, daß der Bund im hier interessierenden Bereich auch die Befugnis zur eigenen „Vollregelung" habe, im Vergleich zu der es immerhin ein „schonenderes" Vorgehen wäre, dem Landesgesetzgeber Bindungen i. S. des Art. 80 G G aufzuerlegen. Ein derartiger Schluß a maiore ad minus kann im Verhältnis von Legislative und Exekutive im Rahmen des Art. 80 G G zulässig sein und ist vom BVerfGm herangezogen worden, um Mitwirkungsbefugnisse des Bundestages bei (Bundes-)Verordnungen zu rechtfertigen. Bei der hier diskutierten „Einschaltung" des Landesgesetzgebers geht es aber nicht mehr um die Ausgestaltung des Verhältnisses von Legislative und Exekutive, sondern um die Frage der Zuordnung zweier eigenständig zur Normsetzung befugter Gesetzgeber, für deren Beantwortung Art. 72 G G einschlägig ist. Welche Tragweite die gegenteilige Auffassung hätte, kann gerade an einer Regelung nach Art des § 9 V WeinG 1969 illustriert werden. Soweit es dort nämlich nicht lediglich um Zuständigkeits- und Verfahrensfragen geht, zielt die Ermächtigung darauf ab, „das Nähere" zu regeln81, und nimmt dabei, wie es auch Art. 80 I 2 G G fordert, Bezug auf ausführliche Regelungen in den vorangehenden Absätzen des § 9 WeinG 1969. In eine derartige Regelung „des Näheren" alternativ auch den Landesge77 Vgl. m . w . N a c h w . Fastenrath, BayVBl. 1985, 423 (425 bei und in Fn.21, von Art. 75 G G ausgehend); ferner (zu Art. 71 GG) Bothe (o. Fn. 66), Art. 71 Rdn. 7. 78 So BVerfGE 35, 65 (74); auch v. Münch (o. Fn. 66), Art. 72 Rdn. 8. Vgl. ferner etwa BVerfGE 62, 354 (369): „Raum eigener Gestaltung" für die Länder. 79 Auch bei Berücksichtigung des Gestaltungsspielraums des Verordnunggebers (vgl. oben bei Fn. 39) liegt hierin der entscheidende Unterschied. - Allg. zur „Freiheit" des Landesgesetzgebers vgl. im übrigen auch BVerfGE 49, 343 (359). 80 BVerfGE 8, 274 (321); Bryde (o.Fn.2), Art.80 Rdn. 17; vgl. ferner bereits die Nachw. oben in Fn. 51. 81 Vgl. §9 V N r . 2 WeinG 1969.
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setzgeber einzubeziehen, wie es §9 V WeinG 1969 tut, bedeutet aber, ihn unter die Vorgaben zu stellen, die der Bundesgesetzgeber im Rahmen des Art. 80 I G G (nur) der Landesregierung stellen darf und muß. Das läuft darauf hinaus, den Landesgesetzgeber an eine „Ermächtigung" zu binden; i. S. des Art. 72 I G G fehlte es dann aber an zu fordernder „Substanz" für ein Landesgesetz, wenn das Bundesgesetz derart das eigentliche Programm festlegt. Gerade in diesen Fällen müßte im übrigen auch der Versuch scheitern, zur Vermeidung dieses Ergebnisses die Regelung dahin zu interpretieren, sie wolle dem Landesgesetzgeber (nur) dessen Handlungsspielraum nach Art. 72 G G (wieder-)eröffnen. Wie demgegenüber ein solches Ziel, den Geltungsanspruch einer bundesgesetzlichen Regelung zugunsten des Landesrechts zurückzunehmen, in verfassungskonformer Weise mit der Sicherung entscheidenden Bundeseinflusses verbunden werden kann, zeigt — allerdings, wie zu betonen ist, wiederum nur als Modell82 - die gegenwärtige Rechtslage bei der Erhebung der sogenannten Fehlbelegungsabgabe 83 . Durch § 16 S. 1 des Änderungsgesetzes von 1985 hat der Bundesgesetzgeber einerseits angeordnet, daß das einschlägige Bundesrecht nicht mehr anzuwenden sei, soweit landesrechtliche Vorschriften an seiner Stelle erlassen werden. Von diesem Vorbehalt zugunsten des Landesgesetzgebers wird in Satz 2 der Vorschrift dann § 1 IV des Gesetzes ausgenommen, der den Landesregierungen die Befugnis überträgt, nach seiner Maßgabe durch Verordnung zu entscheiden, in welchen Gemeinden diese Abgabe überhaupt erhoben werden soll. Damit wird hier einerseits i. S. des Art. 72 I G G eine regional differenzierende Normsetzung nach den Vorstellungen des Landesgesetzgebers ermöglicht, andererseits aber in einem zentralen Punkt auch bei einer Regelung auf Landesebene über Art. 80 G G die Einhaltung der Direktiven des Bundes sichergestellt. Eine derartige Lösung mag auf den ersten Blick zwar umständlich erscheinen; sie ist indes in der Sache konsequent. Widerspricht nach allem die in §9 V WeinG 1969 zum Ausdruck kommende Vorstellung einer „Austauschbarkeit" von Regelungen durch Landesverordnung und durch Landesgesetz dem geltenden Verfassungs-
12 I. S. klarer Trennung der Regelungsbereiche von Landesregierung und Landesgesetzgeber. O b die Vorschriften in ihrer konkreten Ausgestaltung mit der Verfassung vereinbar sind, muß hier dahinstehen. Das O V G Münster hält § 1 IV des Gesetzes (der die Verordnungsermächtigung enthält) mit gewichtigen Argumenten insbesondere zum Parlamentsvorbehalt für verfassungswidrig; vgl. den Vorlagebeschluß vom 28.2.1986 - 14 A 2517/85 - , KStZ 1986, 131. 85 Vgl. die Nachw. oben in Fn. 29-32.
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recht 84 , so begegnet darüber hinaus auch die Forderung nach einer entsprechenden Erweiterung des Art. 80 G G grundlegenden Bedenken. In der Sache enthält sie letztlich einen Angriff auf die Souveränität der Landesparlamente; statt zu der intendierten Stärkung würde sie also zu deren wesentlicher Schwächung führen. Nicht auf der Ebene des Art. 80 G G , sondern auf der vorgeschalteten Stufe einer Entscheidung im Rahmen des Art. 72 G G sind deshalb Lösungen zu entwickeln. Gerade für die hier interessierende Konstellation mag es weiterführen, im Schrifttum 85 unternommene Versuche aufzugreifen, den „Schutz der Landesgesetzgebung" als einen der leitenden Gesichtspunkte der Auslegung in diesem Bereich stärker herauszuarbeiten. Auch soweit neuere Tendenzen in der Wesentlichkeits-Rechtsprechung 86 Anlaß geben mögen, in derartigen Fällen neben dem Bundesgesetzgeber den Landesgesetzgeber einzuschalten, hätte dies unter den Bedingungen des Art. 72, nicht unter denen des Art. 80 G G zu erfolgen.
" Gegen eine derartige Austauschbarkeit spricht schließlich der vom BVerfG in anderem Zusammenhang betonte Aspekt, daß „die Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bund und Ländern . . . den formalen Rahmen der Gesetzgebung im Bundesstaat (bilden) und . . . als solche in hohem Maße der Festigkeit und Berechenbarkeit (bedürfen)"; BVerfGE 61, 149 (175; vgl. ferner S.203). 15 Vgl. Bullinger, D Ö V 1970, 797 (799); Scholz, Festg. BVerfG, Bd. 2, 1976, S.270f. " Vgl. insoweit auch den Ansatz des O V G Münster in dem bereits erwähnten Vorlagebeschluß (oben Fn. 82). Ob dieser Vorlagebeschluß zu einer grundsätzlichen Stellungnahme des BVerfG führen wird, bleibt abzuwarten.
Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates PETER HÄBERLE
I. Problem „Utopien"' sind bislang weder als Literaturgattung noch in ihren Inhalten grundsätzlich in deutschen Staats- oder Verfassungslehren integriert worden 2 . Gewiß, sie werden von der Disziplin „Allgemeine Staatslehre" bald erklärtermaßen ausgeklammert 3 oder vor allem aus bildungs- bzw. „geistesgeschichtlichen" Gründen mitgeführt 4 , bald sind
1 Ein Klassiker der wissenschaftlichen „Sekundärliteratur" zu Utopien ist K. Mannheim, Ideologie und Utopie (1928/29), 4. Aufl., 1964. - Siehe ferner A. Neusüß (Hrsg.), Utopie, 1968; aus der jüngeren Literatur: W. Vosskamp (Hrsg.), Utopieforschung, 3 Bde., 1982. - „Primärliteratur" aus unserer Zeit bildet E.Bloch, Geist der Utopie (1918/1923), Neuauflage 1964; klassische Utopien bündelt das Taschenbuch: Der utopische Staat. Morus, Utopia, Campanella, Sonnenstaat, Bacon, Neu-Atlantis, übersetzt und mit einem Essay hrsg. von K . J . Heinisch, 1960. Zu großen Friedensutopien der frühen Neuzeit (z. B. Dantes „Monarchia") jetzt: K. Garber, Das höchste Gut auf Erden, FAZ Beilage vom 31.1.1987. 2 Symptomatischerweise fehlt im Evangelischen Staatslexikon (1. Aufl. 1966) ein selbständiges Stichwort „Utopie"; es erscheint nur im Rahmen der christlichen „Sozialethik" als negatives Abgrenzungskriterium („chiliastischer Utopismus"), vgl. Sp. 2048 ff. Auch die 3. Aufl. 1987 (2 Bde.) verzichtet auf einen Artikel „Utopie". 3 Charakteristisch G.Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 140: „Ausgeschlossen aber bleiben jene zahlreichen Lehren, die überhaupt nicht den gegebenen Staat zum Inhalt haben, sondern Idealtypen des Staates jedweder Form. Weder Utopien noch politische Ideale irgendwelcher Art sind Gegenstand theoretischer Staatswissenschaft . . . Denn das Recht ist stets positiv, d. h. ein allgemein anerkannter Maßstab des Bestehenden, während der Idealtypus des Staates nach Anerkennung ringt, ohne sie jemals erreichen zu können." - Anschaulich berichtet R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 9. Aufl., 1985, S. 7 ff unter dem Stichwort „Leitbilder der Politik" von Utopien als „politischen Wunschvorstellungen zu umfassenden Entwürfen eines besseren Staates"; Fehlanzeigen aber: R.Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, kennt den Begriff der Utopie nicht. Er fehlt auch bei K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., 1969; H.H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984. 4 Vgl. etwa auch R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 1971, S. 75 ff („Utopische Modelle"); ergiebig insofern auch M.Stürmer, Die Suche nach dem Glück: Staatsvernunft und Utopie, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 2, 1983, S. 1 ff.
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sie primär kritisch mitbehandelt 5 . Auch finden sich spezielle Arbeiten, die ein besonderes verfassungspolitisches Problem unter die UtopieFrage stellen, etwa „Europa" 6 . Indessen fehlt, soweit ersichtlich, ein Versuch, die Literaturgattung und Wissenschafts- bzw. Kunstform der „Utopie" als solche vor dem Forum der Verfassungslehre grundsätzlich zu diskutieren, und zwar in ihrer Ambivalenz: Einerseits haben Utopien eine positive (legitimierende und kritisierende) Funktion, auch und gerade für den Typus „Verfassungsstaat", andererseits liefern sie warnende (Gegen)Modelle, schafft gerade der Verfassungsstaat einen Rahmen, der die Gefahren von (nicht nur „negativen") Utopien erkennbar macht, kann er sich wie kein anderer Staatstypus Utopien „leisten". Das sei im folgenden näher skizziert. II. Beispiele in Geschichte und Gegenwart, „Einteilungen" 1. Beispiele in Geschichte und Gegenwart Eine Verfassungslehre, die kulturwissenschaftlich arbeitet7, muß sich der Utopie als Wissenschafts- und „Kunstform" schon deshalb stellen, weil diese Literaturgattung seit Thomas Morus' „Utopia" von 1516 kulturgeschichtlich überkommen ist. Mögen sich im Rückblick ältere Entwürfe über den „idealen Staat" wie etwa solche von Piatons „Politeia" ebenfalls als „Utopie" darstellen: erst zu Beginn der Neuzeit hat sich mit Morus diese Literaturgattung als solche und zugleich mit diesem Namen etabliert. Indes verlangt nicht allein die Geschichte des Denkens über Staat und Recht, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, auch „Utopien" als mögliche „Materialien" für verfassungsstaatliche Fragen heute auszuwerten: In der Gegenwart gibt es einen eigenen Wissenschaftszweig „Utopieforschung", der Literaturwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Philosophen und Theologen zusammenführt 8 - die (Verfassungs-) Juristen sind bislang bezeichnenderweise daran nicht beteiligt. Die Utopie als interdisziplinärer Gegenstand der Teilwissenschaften läßt sich freilich im letzten nur kulturwissenschaftlich auf einen integrierenden Nenner bringen, und die Verfassungslehre hat hier ihren spezifischen Beitrag zu leisten, so „fern" das juristische Denken prima facie dem utopischen Denken zu stehen scheint. Utopien erweisen sich indes als
5 So bei H.Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S.654ff, 658ff: von seinem „Staatlichkeitskonzept" her konsequent. - Siehe auch die Behandlung der „Utopisten" bei C.J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 577. 6 Vgl. z.B. H.P.lpsen, Utopisches im Parlamentsentwurf einer Europäischen Union, FS Carstens, 1984, S. 155 ff; G. Nicolaysen, Europa und Utopia, ebd. S. 231 ff. 7 Ein Programm in meiner „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", 1982. 8 Dazu die Nachweise bei Nicolaysen, aaO, S. 237 f.
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kulturelle Kategorie, auf der Themen zur Sprache gebracht werden und in der „Kristallisationen" zum Ausdruck kommen, die die „Verfassung als Kulturzustand" und „Kulturprozeß" nicht ausklammern kann, will sie sich nicht selbst um unentbehrliches Innovationsmaterial und Kritikpotential bringen. Eine bestimmte Zeit grundiert sich auch durch „visionäre" Utopien, mögen sie noch so sehr Raum und Zeit transzendieren oder sonst „utopisch" sein oder scheinen. Das herkömmlich einseitig negative Ausgrenzen statt (auch) positive Integrieren von Utopien in das verfassungsjuristische Denken überrascht um so mehr, als der „Traum von einer besseren Welt einem Archetyp menschlicher Vorstellung zu entsprechen" scheint, er „sich durch die überlieferte Geschichte von Anbeginn" zieht und „zu allen Zeiten in immer neuen Formen" wiederkehrt9. Eine Verfassungslehre, die anthropologisch ansetzt und menschliche Grundformen wie das „Vertragen" bzw. den Vertrag, die „Würde des Menschen" als Natur und Kultur oder das Emotionale neben dem Rationalen als „Konsensquelle" sowie „Bedürfnisse" nach Religion wie nach individuellem Wissen-Wollen, d. h. Wissenschaft, in ihr Koordinatensystem „einzubringen" versucht, sollte sich konsequenterweise auch der Utopie „stellen": denn sie scheint mit menschlichem Denken und Fühlen, Wollen und Handeln „gegeben" zu sein. So ist es also der kulturwissenschaftliche bzw. anthropologische Ansatz, der die Verfassungslehre notwendig zum Thema „Utopie" führt. Hinzu kommt ein Weiteres: Schon ein erster erfahrungswissenschaftlicher Blick in die Geschichte der Utopien zeigt, daß diese nicht nur jenseits der realen Staats- oder Verfassungsgeschichte geblieben sind. M. a. W.: Es gibt Beispiele dafür, daß utopische Entwürfe nach Jahrhunderten von der politischen bzw. Verfassungsgeschichte „eingeholt" wurden, jedenfalls in 7ez7-Elementen. So war der Verfassungsstaat zur Zeit von John Locke's „Two Treatises on governement" (1690) noch weitgehend „(konkrete) Utopie", und so galt Coudenhove-Kalergis Aufruf zur Bildung einer paneuropäischen Union (1922)10 als Utopie, und doch wurde Locke's Entwurf in den amerikanischen Kolonien, den späteren USA, in vielem zum gelebten Verfassungsstaat, ist Europa im Europarat (seit 1949) und in der E G (seit 1957) auf den Weg gebracht worden. Auch Theodor Herzls „Judenstaat" wurde als Utopie (1896) geboren und mit der Gründung des Staates Israel (1948) Wirklichkeit. Es ist diese Zukunftsdimension, die nicht wenige Utopien umreißen, die sie zum So mit Recht Nicolaysen, a a O , S. 235. Siehe auch den Textentwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951), der unter dem Vorsitz von Coudenhove-Kalergi erarbeitet wurde (Text bei P. C. Mayer-Tasch, Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 832 ff). 9
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Denk- und nicht nur „Spielmaterial" für eine Verfassungslehre macht (als Kategorie von „Zeit und Verfassungfskultur"]) 11 , und es ist die Unverzichtbarkeit des „Möglichkeitsdenkens" (bzw. des „fabelnden", „experimentierenden" und „Alternativen-Denkens") als einer von drei juristischen Denkformen (neben dem Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken)' 2 , das feine Sensibilität und grundsätzliche Offenheit der Verfassungslehre für Utopien, freilich auch die Fähigkeit zu Kritik und wachem Sinn für ihre Gefahren verlangt. Der demokratische Verfassungsstaat baut schon de constitutione lata den „Werk- und Wirkbereich" von Utopien in seine Entwicklungsprozesse positiv ein: indem er von der Grundrechtsseite her die notwendigen kulturellen Freiheiten bereits textlich garantiert. Die Verfassungslehre muß dem wissenschaftlich entsprechen. Utopien können „Kunst" und „Wissenschaft", oft auch beides, sein und sie werden insofern positivrechtlich durch die Grundrechte der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit geschützt. Auch wenn, wie zu zeigen sein wird, auf dem Forum einer Verfassungslehre dezidiert (freilich auch irrtumsbehaftet) zwischen „negativen" und „positiven" Utopien zu unterscheiden ist, auch wenn die Gefabrenmomente beim Namen genannt werden müssen: Das Entstehen-Können von neuen Utopien bzw. das Weiterverbreiten der „klassischen" zeichnet den Verfassungsstaat als Typus aus. Seine „Verfassung der Freiheit" und seine „Verfassung des Pluralismus" nimmt Utopien wie andere Arten kritischer Literatur 13 und Wissenschaft nicht bloß widerstrebend hin, sondern bedenkt sie sogar mit einem positiven Prädikat: weil Utopien ein belebendes, kulturschaffendes, sogar selbst im Negativen kulturgrundierendes, fermentartig wirkendes „Medium" für Entwicklungen der offenen Gesellschaft sind, die ihnen keine andere Literaturgattung und Wissenschafts- bzw. Kunstform abnehmen kann, so sehr „Utopien" in offenkundigen Zusammenhängen mit anderen kulturellen „Emanationen" der jeweiligen Zeit, etwa der Architektur oder der (nicht nur surrealistischen) Malerei stehen können. Ein Zitat von Heinrich Mann mag das Gemeinte speziell für Europa belegen, auch wenn Utopie hier „Fernes", „Beliebiges", nicht Einholbares bedeutet, was sie im Koordinatensystem der Verfassungslehre begrifflich gerade nicht von vorneherein ist. H. Mann14 formuliert 1923: „Entweder wir einen Europa, hören auf, das geeinte Europa für Utopie, Liebhaberei und fernes Zukunftsbild zu halten, erfassen seine dringliche Lebensnotwendigkeit, - oder dieser Ausläufer Asiens, der so viel lär" Dazu mein gleichnamiger Beitrag, in: Die Zeit, hrsg. von A. Peisl/A. Möhler, S. 289 ff. ze/-Bewilligung, aufscheinenden Zentralbegriff des D W - V A näher und rechtsfindungsmethodisch fundiert zu erhellen. Wegen des Zwecks der Neuregelung in §48 Abs. 2, Dauerrechtsverhältnisse der sozialen Sicherung in der Zeit betreffend Beginn, Inhalt und Ende auf Rechtmäßigkeit kontrollierbar zu machen, wird hier nur pauschal eine großzügige Rechtsanwendung empfohlen. So dürften insbesondere sogenannte Rentenelementenbescheide wie Vormerkung von Ersatzzeiten u. ä., vor allem aber auch antragswidrige Vollablehnungen von Sozialleistungen analog den echten D W - V A zu behandeln sein7. Die wichtigsten Teilbestimmungen dürften §48 Abs. 1 Satz 1 und Satz2 N r . 1 sein; hier wird eine echte Anpassungspflicht der Sozialverwaltung für die Z u k u n f t festgelegt. Diese wird ausgelöst, wenn sich für den von einem D W - V A Betroffenen eine wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse ergeben hat. Die letztere Regelung ist offensichtlich verwandt der Wiederaufgriffsbestimmung für die Allgemeine Verwaltung §51 Abs. 1 N r . 1, Abs. 2 - 5 V w V f G ; diese ist ihrerseits verwandt mit (scheinbaren!) RechtskraftEinschränkungsnormen wie z.B. §323 Z P O : danach berechtigen wesentliche Tatsachenänderungen bei Zivilrechtsverhältnissen über wiederkehrende Leistungen (wie etwa Unterhalts- und Schadensersatzrenten) zu einer Abänderungsklage. - Wegen seines hier einfach als Faktum festgestellten, erst später zu problematisierenden Standorts der Sozialrechtsprechungs-Anpassung im äußeren Gesetzesaufbau soll der Gegen-
7 BSGE 56, 165; 58, 49 (Elementenbescheid); siehe aber auch das vorsichtige Offenlassen der Frage in BSGE 58, 27-34 (28, 29). - Zur Frage der analogen Einbeziehung von völliger Leistungsverweigerung sind die argumentativen Annäherungen bei Hofe, SGb 1986, 11 (13) noch nicht ausreichend und teilweise vordergründig; überzeugende Bejahung der Frage etwa bei dem Prozeßrechtler K.Sieg, SGb 1980, 49 (51 r.Sp.). Anders aber: BSGE 58, 27 (LS 1). - Z u r D W - F r a g e im Wirtschaftsrecht s.etwa B V e r w G E 59, 148 (159 f).
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stand der Regelung des § 48 Abs. 2 S G B X vorläufig als Ordnung einer „unechten Anpassung" bezeichnet werden. Auch wenn der Wortlaut der S G B X-Vorschriften über Rücknahme, Widerruf und Anpassung (u. a.) belastender V A einschließlich eben des zentralen Sozialverwaltungs-Entscheidungstypus volle oder teilweise Vorenthaltung von längerfristig geschuldeten Sozialleistungen dies (leider!) abermals - wie schon der Wortlaut der VwVfG-Vorschriften nicht sehr deutlich macht, ist auch in der Dogmatik des Sozialverwaltungsrechts überall von einer rechtsschutzmäßig höchst relevanten Zweistufigkeit des Verfahrens zur Uberwindung einer B K im Einzelfall auszugehen. Das bedeutet: O b ein (teilweise) belastender, nämlich Leistungen, die gesetzlich beanspruchbar sind oder jedenfalls später werden, vorenthaltender Sozialleistungsbescheid (teilweise) aufzuheben ist, hängt von zwei Entscheidungen der Sozialleistungsträger in der Form von zwei V A ab: 1. Formelle positive Entscheidung über ein subjektives öffentliches Recht auf Wiederaufgreifen des an und für sich abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens (statt einer bloßen Berufung auf die B K im Wege sogenannter wiederholender Verfügung) und 2. (teil-)günstige Neuentscheidung über den gesetzlichen Sozialleistungsanspruch nach materiellem Recht unter Zugrundelegung jetzt ermittelbarer Tatsachen im Wege eines sogenannten (teil-)positiven Zweitbescheids. B. Grundsätzliche Würdigung der Neuregelung I. Ubersicht über Fragestellungen und Gedankengang der Erörterung Schon der vorangehende, sogleich mit einer Stellungnahme zu einer streitigen Auslegungs-Kernfrage zu vertiefende Vorschriftenüberblick zeigte es: Das S G B X enthält in seinen Nachbesserungsphilosophien selbst wenn man diese wie hier, gegen gewisse Strömungen in erster Rechtsprechung und Erläuterungsliteratur, restriktiv auslegt - eine im Vergleich zum V w V f G stärkere Zurückdrängung der B K bei Renten und anderen auf Dauer angelegten Sozialleistungsverhältnissen. Das Sozialgesetzbuch bleibt freilich seinerseits in der Frage gerichtlich durchsetzbarer sozialbürgerfreundlicher Neufeststellungs-Ansprüche noch hinter wesentlichen Teilen des früheren Sozialrechts zurück. Auf den ersten Blick erscheint die hier aufgezeigte Regelungstendenz - mehr Flexibilität - erfreulich, ist doch dieser Blick natürlich mehr vom einzelnen „Sozialunrechts-Fall" bestimmt als vom Ganzen der Verwaltungsrechts- und
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Verwaltungsrechtsschutz-Ordnung und deren institutionellen Funktionsvoraussetzungen und Steuerungsbedürfnissen. Es bleibt aber nachfolgend zu prüfen, ob auch für eine bedachtsame, voll rationale und umfassende Abwägung der auch in langfristigen Sozialrechtsverhältnissen aufeinanderprallenden beiden Rechtsstaatsgüter Rechtssicherheit und Gesetzmäßigkeit die Bestimmung § 4 8 Abs. 2 S G B X inhaltlich prinzipiell gelungen ist. Die Ausdehnung subjektivöffentlicher Rechte auf Durchsetzung z. B. von materiellem Sozialversicherungsrecht noch nach Verstreichen der Rechtsbehelfsfristen und eine damit einhergehende Einschränkung des Wiederaufgriffsermessens der öffentlichen Verwaltung dürfen auch im sozialen Rechtsstaat nicht bedenkenlos vorangetrieben werden. Sicherlich ist es legitim, auch Verfahrensnormen zu Verwaltungsverhältnissen der sozialen Sicherung sozialstaatskonform (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 G G ; vgl. auch das Gesetzesinterpretationsgebot „im Zweifel zugunsten sozialer Rechte" und ihrer Verwirklichungschancen in § 2 Abs. 2 S G B I) zu konzipieren; stets müssen aber legislative Lösungen und entsprechend richterliche Rechtsfindung einen verhältnismäßigen Ausgleich zu den Rechtsstaats-Säulen von Rechtskraft und B K herstellen 8 . Darüber hinaus ist vor diesem verfassungsprinzipiellen Hintergrund auch zu fragen, ob die nähere normative Ausgestaltung der SozialrechtsAnpassung befriedigt. Von daher ergibt sich folgende Gliederung der nachfolgenden Gedanken: Einleitend unter II. ist das „Vorfeld" des Themas zu beleuchten, nämlich zu erläutern, wie die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts, die seit 1976 im wesentlichen anhand des VwVfG und vorgehenden Richterrechts zur Kontrolle der Allgemeinen Verwaltung entwickelt wurden, nachträgliche abweichende Rechtsprechung verarbeiten; dabei geht es auch um die Diskussion wenigstens einer analogen Anwendung der Wiederaufgriffsregelung §51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Sodann muß unter III. etwas ausführlicher folgende, hier eingangs schon eingeführte Auslegungsthese begründet werden: die frappierende wuchtige Positivierung der Rechtsprechungsanpassung (nun) für alle Sozialleistungszweige in § 4 8 Abs. 2 S G B X hat diese Anpassung zu einem bloßen Widerrufsgrund (im Gegensatz zu einem Rücknahmegrund, vgl. dazu § 4 4 S G B X ) „umfunktioniert" und entsprechend hat
8 Mosaiksteine zu einer in Verwaltungsrechtsverhältnissen differenzierenden, aber in einem Kernbereich übereinstimmenden Dogmatik der Bestandskraft - jeweils mit besonderer Mitschau des Sozialrechtsverhältnisses - liefern in dogmengeschichtlicher Sicht: Paul Kirchhof, in Fschr. zum 25jährigen Bestehen des BSG, 1979 (hrsg. vom Dt. Sozialgerichtsverband), Bd. 2, S. 537 (566 ff, insb. 569 unten); siehe auch Joachim Martens, D O K 1979, 169 ff; Schachtschneider, VwArch, Bd. 63 (1972), 112 ff (295-304).
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die jeweilige Anpassungsentscheidung trotz des Verweises in Halbsatz 2 auf letztere Rücknahmevorschrift selbst in Rentenfällen keineswegs immer rückwirkenden Charakter. Es geht sodann unter IV. um die rechtspolitische Uberzeugungskraft des grundsätzlichen Lösungsmodells in § 4 8 Abs. 2 S G B X . Daran anschließend werden einige kritische Anmerkungen zur tatbestandlichen Fassung der Rechtsprechungs-Anpassungsklausel und ihrer Rechtsfolgenordnung vorzutragen sein, um Anregungen für zukünftige Verbesserungen der normativen Ausgestaltung der Anpassungsidee zu liefern (V.)Schließlich ist die Zugunstenentscheidung aufgrund nachträglicher günstigerer BSG-Spruchpraxis trotz fehlender (rechtzeitiger) vorangehender Rechtswegbeschreitung systematisch exakter zu verorten, als dies im jetzigen positiven Recht geschehen ist (VI.). Dabei wird endgültig folgende dogmatische Position bezogen: Die hier besprochene unechte Anpassung (an Rechtsprechung) ist eher ein spezieller Widerrufsfall. Das gleiche wird zu erweisen sein für die im Geltungsbereich des VwVfG entwickelte Generalklausel einer Anpassungspflicht zur Herstellung (sozial) zumutbarer Regelungsverhältnisse, so daß hier noch einmal der Bogen zum Vorfeldabschnitt II. geschlagen werden kann. Im Schlußteil C. wird - darauf sei hier schon hingewiesen - die Frage einer Ausdehnung des sozialrechtlichen Instituts RechtsprechungsAnpassung auf bestimmte, den Sozialleistungsverhältnissen ähnliche Verwaltungsrechtsverhältnisse unter dem V w V f G erörtert; falls eine solche ausdehnende Anwendung bejaht werden kann, wäre dies die schönste Frucht der Methode dieser Skizze, verwaltungsverfahrensrechtliche Institute in verschiedenen Teilbereichen der öffentlichen Verwaltung alle von einem allgemeinen deutschen Verwaltungsrecht und Staatsrecht her dogmatisch zu entwickeln und zu kontrollieren und nur, wo es nötig ist, rechtsverhältnis-konkrete Differenzierungen und Modifizierungen einzubringen 9 .
9 Abzulehnen ist „dogmenpolitisch" die Gründung regelrechter Sonderbereichsdogmatiken. - Z u m ganzen methodologischen Problem siehe Schmidt-Assmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, Schriften der Jur. Stud. Ges. Karlsruhe, 1982. - Sehr vorsichtig hat die Dogmatik zu sein mit dem Argument, daß die drei Kodifikationsgebiete des Verwaltungsverfahrensrechts durchgehend hinsichtlich der B K Stärke Gebietscharaktere aufweisen; so gibt zu denken, daß sogar in dem - nach seiner fiskalischen Aufgabe und nach seiner Rechtstradition - besonders der Rechtssicherheit verpflichteten Gebiet der Steuerschuldverhältnisse auch bestimmte V A mit D W an Rechtsprechung angepaßt werden; dazu etwa einführend die „rechtsvergleichenden" Hinweise zur A O i . V . m. VStG, B e w G von Joachim Martens, D O K 1979, 169 (175, 176).
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II. Dogmenhistorisches Vorfeld: Behandlung von Zugunstenabweichungen späterer Rechtsprechung in bisheriger VwVfG-Praxis In der Dogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts, deren Strukturen das VwVfG des Bundes beeinflußt haben und die natürlich umgekehrt auch von diesem Gesetz wesentliche Impulse erhalten haben, ist die Diskussion der Anpassung von VA mit DW an abweichende Rechtsprechung keineswegs abgeschlossen 10 . Die h.M. lehnt es hier bisher ab, das Tatbestandsmerkmal von §51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, nämlich Veränderung der „Rechtslage", auf abweichende Rechtsprechung zu erstrecken und damit vielleicht noch mittelbar Turbulenzen in die Rechtsquellenlehre zu tragen. „Recht" wird eben nur als Inhalt von Vorschriften des positiven Rechts, insbesondere des Gesetzesrechts verstanden, obwohl eigentlich nur in der Nachbarvorschrift über die Möglichkeiten des Widerrufs eines günstigen VA § 49 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG von „Vorschriften"-Änderung die Rede ist. Allenfalls werden Änderungen höchstrichterlicher Entscheidungspraxis, die rechtsschöpferischen Charakter i. e. S. von Rechtsfortbildungscharakter haben, wie eine Rechtslagen-Änderung nach §51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG behandelt. Dabei wird teilweise besonders auf Entscheidungen des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes als möglichen Anpassungsgrund hingewiesen. Weitere Auflösungen der Konturen des Instituts des Wiederaufgriffs zur Anpassung werden einhellig abgelehnt. Eben dieselbe h. M. ist aber überwiegend bereit, unzumutbares Beharren der Allgemeinen Verwaltungen auf B K mit einer eigenständigen ungeschriebenen Rechtsfiguration abzuwehren; dabei wird oft zu §51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG eine ergänzend gültige General- und Auffangklausel über Ansprüche auf Wiederaufgriff und Aufhebung des Erstbescheids zur Vermeidung unzumutbarer (einschließlich eben auch unsozialer) Wirkungen des letzteren behauptet 11 . An dieser Stelle könnte der ausdrückliche Vorstoß des Sozialgesetzbuchs zu einer über die soziale Entschädigung von Kriegsopfern weit hinausgreifenden, umfassenden Sozialrechtsprechungs-Anpassung bei Dauer-VA juristische Bedeutung haben, und zwar im Sinne einer par10 Kopp, a a O (Anm. 3), Rdn. 19 a. E. in Erl. zu § 51 m. w. N . ; Hans Meyer, in Meyer/ Borgs, V w V f G , K o m m . 2 , 1982, Rdn. 15 zu § 5 1 ; Wolfgang Martens, in Erichsen/Martens (Anm. 1), S . 2 5 5 (356); besonders eindrucksvoll: Stelkens, N V w Z 1982, 492. - Z u m Gesamtsystem des § 5 1 : Bettermann, in Fschr.f. H . J . W o l f f , 1973, S . 4 6 5 f f ; Sachs, J u S 1982, 264; Kühne, J A 1985, 326. - Auf der Linie der h . M . der Literatur: B V e r w G E . v . 2 5 . 5 . 1 9 8 1 , 8 B 89/90 (Nichtzulassungsbeschwerde-Beschluß zu Mietpreisrechtssache). " Siehe etwa Rechtsprechungs- und Literaturnachweise bei Kopp, a a O (Anm. 3), Rdn. 12 a. E. zu § 5 1 V w V f G , ebenso ders. in, 4. Aufl. seines Erläuterungswerks 1986, Rdn. 12 i . V . m . Rdn. 56, 57 zu §48 und Rdn. 12 zu §49.
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tiellen Konkretisierung der eben mitgeteilten Lehre ungeschriebener Schranken des Ermessens der öffentlichen Verwaltung zur Aufhebung (teilweise) belastender VA jenseits der engen Voraussetzungen des §51 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2—4 VwVfG, einer streng formalisierten verfahrensrechtlichen Ordnung, die sich wie gesagt anlehnt an justitielle Verfahren über die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren. Auf diese Deutung des §48 Abs. 2 S G B X als partielle Konkretisierung allgemeiner Grundsätze des Verwaltungsrechts über die Grenzen der B K von VA ist später zurückzukommen. III. Die Umfunktionierung der „(ständigen) Rechtsprechung" vom Rücknahme- zum Widerrufs grund als (teilinhaltlich kontroverser) Kern der Neuregelung Das S G B X enthält richtiger Ansicht nach den objektiven Gesetzeswillen zu folgendem Verhältnis von § 44 und § 48 bei Entwicklungen von Rechtsauslegungspraxis in der Zeit: a) §44 Abs. 1: Eine Rücknahme von hier bestimmten, unmittelbar finanzwirksamen Sozialverwaltungsakten ex tunc - im Rahmen der VierJahre-Frist des §44 Abs. 4 - ist nur bei offensichtlich von Anfang an rechtswidrigen Akten dieser speziellen Art durchsetzbar; b) §48 Abs. 2: eine generell eröffnete günstige Neubescheidung zur Rechtsprechungs-Anpassung für DW-VA (und ähnliche VA) wirkt grundsätzlich nur ex nunc. Das B S G neigt in ersten Entscheidungen 12 zum neuen Verwaltungsverfahrensrecht der Vorsorgerechtsverhältnisse und anderer Sozialrechtsverhältnisse überraschend zu einer grundlegend anderen Sicht. In einer Grundsatzentscheidung vom Januar 1985" wird, vereinfachend wiedergegeben, jedenfalls für den Spezialfall eines Rechtsprechungswandels eine ex-tunc-Bescheidkorrektur gefordert, sofern nicht letzterer Wandel nach der Begründung der neuen ständigen Gerichtspraxis (oder gleichstehender Entscheidung des Großen Senats) des zuständigen Revisionsgerichts auf einen Wandel der „rechtlichen Grundlagen" (wohl gemeint: entscheidungserheblichen Vorschriften) oder jedenfalls auf den
12 B S G E . v . 3 0 . 1 . 1 9 8 5 , DVB1. 1985, 633 = B S G E 58, 27 (vgl. dazu materiellrechtlich B S G E 48, 147); Einstieg nahm das B S G in die in der vorzitierten Entscheidung vertiefte Bestandskraftdeutung bei Sozialrechtsakten soweit ersichtlich in B S G E . v . 2 1 . 6 . 1 9 8 3 , N V w Z 1984, 336 (Rußlandrente). Siehe ferner noch B S G E . v . 25.10.1984, DVB1. 1985, 629; E . v . 11.4.1985 in S o z R 1300, §44 S G B X N r . 17 und B S G E 55, 87. 13 Siehe die erste in der Voranm. zitierte Entscheidung.
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Wegfall der bei ihrer Schaffung „geltenden" (?) sozio-ökonomischen Gegebenheiten oder Anschauungen zurückgeht. Es kann hier nicht eingegangen werden auf alle Facetten der ernstzunehmenden dogmatischen und rechtspraktischen Problematik der neuen Sicht des B S G . Es können hier nur - zur Ergänzung der bereits in der Literatur vorgetragenen Einwände und Gegenargumente 1,1 - einige Gesichtspunkte betont werden, welche die vom B S G dem Gesetz unterlegte und mit schillernden Kriterien versuchsweise konkretisierte Unterscheidung zwischen „berichtigenden" neuen Gerichtsentscheidungen und sonstigem, nämlich bestimmte Veränderungen nur registrierenden Rechtsprechungswandel kritisieren. Aus ihnen wird sich nochmals ergeben, daß die überraschenden Begründungsansätze des B S G , die an der redaktionell wenig geglückten und den Beruf unserer Zeit zu inhaltlich durchdachten sowie präzis und verständlich gefaßten Kodifikationen erneut in Zweifel ziehenden Verweisung in -§48 Abs. 2 Halbsatz 2 auf § 4 4 S G B X „aufgehängt" sind, nicht überzeugen und abzulehnen sind. Damit ist nicht gesagt, wie am Ende dieses Gedankenabschnitts im einzelnen auszuführen ist, daß in jedem streitigen Rückwirkungsfall auch im Ergebnis anders entschieden werden müßte. Die also rein dogmatische Kritik geht davon aus, daß nach der Grundidee der Differenzierung des B S G - Theorie eines Bürgerrisikos bei Wandlungsprozessen - Fälle schlichter Rechtswidrigkeit ohne entsprechende Rechtsprechungsbasis vom Gleichheitssatz her nicht anders behandelt werden könnten, also auch, nach deren Voraussetzungen, der Bestimmung § 4 4 Abs. 1 S G B X zuzuschlagen wären. Vordergründige Kritik der vom B S G eingeschlagenen Interpretationslinie wird sich an zweierlei stören: Im Ergebnis kommt es im spezialen Fall des Vorschriftenwandels zu einer befremdlichen und unsystematischen Verschlingung der Tatbestände § 4 8 Abs. 1 und 2 S G B X . Weiterhin stört folgendes: Wandel als Ursache von neuer Rechtsprechung wird so konkretisiert, daß es zu unterschiedlichen zeitlichen Anknüpfungen kommt: Wandel der rechtlichen Grundlagen und d. h. der Vorschriften wird ab Erlaß des letztere vollziehenden Erstbescheids gemessen, bei der Prüfung, ob Wertungen oder empirische Bezüge überholt sind, soll es 14 Zum lebhaften Meinungsstreit über das Verhältnis § 44 und § 48 in der Literatur der Praktiker-Kommentare siehe die ausführlichen Nachweise in der oben (Anm. 12) angegebenen Grundsatzentscheidung selber; hervorzuheben ist dazu nur, daß die Wiedergabe der Stellungnahmen des SGB-Komm. von Hauck-Haines höchst unvollständig ist, es fehlt die zweite, dem hier entwickelten Rechtsstandpunkt teilweise nahekommende Meinungsäußerung bei Rdn. 23-25 zu §48 SGB X. - Als weitere Sozialrechtspraktiker-Stimme sei noch die Ablehnung der BSG-Ableitungen durch Tannen, DRV 1985, 173, 194; 1985, 480, 481; 1986, 90 erwähnt.
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nach Auffassung des Revisionsgerichts auf einen Vergleich mit dem Umfeld der Vorschriften bereits bei deren Schaffung ankommen. Wichtiger sind folgende grundsätzliche Beanstandungen der Auslegung der Bestandskraft-Vorschriften des SGB X durch das BSG, welche wohlgemerkt die rechtspolitische Frage, inwieweit im einzelnen eine Aufweichung der Bestandskraft in Sozialrechtsverhältnissen zweckmäßig ist, zunächst noch beiseiterücken. - Die Genese der Vorschriften § 44 und § 48 SGB X gibt keine Hinweise auf die vom BSG vertretenen Thesen praktisch eines weitgehenden Ausbaus der Pflicht der Verwaltung zur rückwirkenden Rücknahme nach §44 Abs. 1, 4 SGB X15: Im Gegensatz zum V w V f G wird im SGB X ganz betont zur Abgrenzung der Aufhebungsgrund-Tatbestände auf den Beurteilungszeitpunkt „bei Erlaß" (des Rentenbescheids usw.) abgehoben. Dies ist umgekehrt ein deutlicher Hinweis auf die vom Gesetzgeber beabsichtigte Legitimierung der ex-ante-Betrachtung bei der Frage der Rechtmäßigkeit. Auch aus dem Blickwinkel der zweiten Bescheidkorrektur-Vorschrift, nämlich § 48 Abs. 2 SGB X über Sozialrechtsprechungs-Anpassung, kann die Position des BSG, praktisch rückwirkende Aufhebung schon in allen Fällen schlichter Rechtswidrigkeit (Unrichtigkeit) des Erstbescheids bzw. der diesem zugrundeliegenden Rechtsprechung (ohne Hineinspielen von Wandlungsfaktoren in die Rechtmäßigkeitsbeurteilung) nur für fragwürdig erklärt werden. Entscheidend ist folgendes: Die Voranstellung des Halbsatzes 1 mit der Rechtsfolge bloß exnunc-Aufhebung vor den Halbsatz 2 ist im Zweifel aus sachlichen Gründen vom Gesetzgeber vorgenommen worden: es soll eben RegelRechtsfolge Aufhebung nur für die Zukunft sein. N i m m t man zu all diesen Topoi und rechtstatsächlichen Befunden hinzu, daß in einem Verwaltungsrecht durchgehend abgewogener rechtsstaatlicher Formtypik und bloßer Nuancierung der Handlungsgrundsätze in den konkreten Verwaltungsrechtsverhältnissen die BK in allen Teilgebieten der öffentlichen Verwaltung die Regel, ihre Durchbrechung die Ausnahme bleiben sollte, so erscheint die hier vertretene Ablehnung einer Ausweitung des Aufhebungsverfahrens nach §44 Abs. 1, 4 SGB X und einer Einengung des Wirkungsbereichs des Verfahrens der Sozialrechtsprechungs-Anpassung nach §48 Abs. 2 SGB X
15 Zur Entstehungsgeschichte vgl. die ausgezeichnete Übersicht bei Barnewitz, SGb 1978, 51 (54); seine richtige Deutung des neuen Aufhebungssystems des SGB X anhand des Regierungsentwurfs wird durch den weiteren Gesetzgebungsverfahrensverlauf nicht etwa überholt; dazu BT-Drs. 8/4022. Nicht haltbar deshalb: Plagemann/Plagemann, aaO (Anm.2), S. 157 Anm. 82. - Zur Genese des Nebeneinanders dreier Verwaltungsverfahrensordnungen siehe auch Hans Meyer, ZRP 1979, 105 (mit teilweise bedenklichen Stellungnahmen).
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mehr mit dem G G zu harmonisieren, weil sie das gemeinte RegellageSystem folgerichtiger verwirklicht. Die zugleich immer zu berücksichtigende sozialstaatliche Komponente der Auslegung der Reichweite der BK-Vorschriften kann in folgenden Rechtsschritten in jedenfalls verfassungsrechtlich ausreichender Weise zur Geltung gebracht werden: 1. Eine sozialpolitisch einmal zwingend geforderte ex-tunc-Wirkung der Aufhebung kann von den Rechtsanwendungsorganen vielfach im Ergebnis auch ohne Vergewaltigung des objektiven Systemgeistes der neuen BK-Ordnung des Sozialgesetzbuchs auf folgenden, alternativ zu benutzenden „Schleichwegen" erreicht werden: a) Durch eine entsprechende sozialstaatsprinzipkonforme Handhabung der - wie sogleich zu zeigen sein wird — in § 48 Abs. 2 mitzulesenden Ermächtigung zur ausnähmlichen ermessensweisen Erstreckung der Anpassung in die Zeit vor Entstehung des Anpassungsfaktors; etwa könnte die Auslegung dahingehen, daß der Ermessensspielraum auf Null zurückgeführt ist, also eine positive Entscheidung zugunsten des Zugunstenentscheidungs-Antragstellers zu fällen ist, wenn die frühere Entscheidung - mag sie vielleicht sogar von der Rechtsprechung in Parallelfällen zunächst noch gebilligt worden sein - nachträglich als besonders ungerecht erscheint. b) Zur gleichen Lösung der gemeinten Härtefälle großzügige Auslegung des Begriffs der (bei Erlaß des VA gegebenen) „offensichtlichen Rechtswidrigkeit" einer Auslegung im Rahmen des §44 Abs. 1 SGB X; der Begriff des offensichtlichen Sozialunrechts wird m. a. W. nach dem Gewicht des sonst drohenden Sozialleistungs-Nachteils für abstufungsfähig erklärt. Schließlich kann durchaus erwogen werden, allein der rechtsformalen Tatsache, daß es - wie in dem vom BSG entschiedenen Leitfall - zu einer den Bürger begreiflicherweise irritierenden Kehrtwende (sogar) der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei einer Sachfrage kam, Ermessensrelevanz in folgender Richtung zu geben: Es gehört in solchen Grenzsituationen zum pflichtgemäßen Ermessen der Sozialverwaltung, der Aufhebungsentscheidung rückwirkende Kraft beizulegen. Hat doch der Bürger aus guten Gründen die Rechtsbehelfsfristen verstreichen lassen: er vertraute auf die Richtigkeit und Kontinuität der Rechtsprechung des Revisionsgerichts! So ergibt sich insgesamt für die Dogmatik des geltenden Rechts: Unabhängig von den (richtig oder auch einmal falsch) ausgewiesenen Gründen der neuen Rechtsprechung bleibt an der Regel-Rechtsfolge Aufhebung ex-nunc festzuhalten. N u r in besonderen Fällen der Selbst-
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korrektur höchstrichterlicher Rechtsprechung oder bei unzumutbaren Auswirkungen solcher beschränkten Lockerungen der BK ist ausnahmsweise eine ex-tunc-Aufhebung geboten. Der sibyllinische Zusatz § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB X, vielleicht naiv einfach nachgebildet einer vermeintlichen Parallelvorschrift, nämlich der ihrerseits nach vorherrschender Meinung schon reichlich mißglückten Vorschrift §51 Abs. 5 V w V f G f ü r die Allgemeine Verwaltung, ist also wahlweise wie folgt auszulegen: Entweder wird er als stillschweigende Ermächtigung der Verwaltung im Rechtsprechungs-Anpassungsverfahren zu einer Ausnahmeentscheidung mit rückwirkender Bedeutung ausgelegt; oder er wird als Ausdruck eines bloßen Redaktionsversehens ignoriert und die Verwaltung erhält kraft richterrechtlicher Rechtslückenerschließung ein auf die Bedürfnisse des Einzelfalles zu orientierendes Gestaltungsermessen in die H a n d . - In den umrissenen Ausnahmefällen schrumpft das Ermessen in jedem Fall auf Null mit der Folge, daß ein Anspruch auf rückwirkende Entscheidung besteht 15 '. 2. Im übrigen sollte zur Wahrung des natürlichen Hauptanliegens jeder sozialen Sicherungsordnung, einschließlich ihrer Verwaltungsverfahrensordnung, nämlich Sicherung des Lebensunterhalts für Gegenwart und Zukunft, das Rechtsinstitut der obligatorischen verwaltungsamtlichen Information von Versichertengruppen 16 zur breiten Vermehrung von Ansprüchen auf Rechtsprechungsanpassung in der weiteren Praxis von Gesetzgebung, justizieller Gesetzesauslegung und Wissenschaft zur dogmatischen Fundierung in sozialstaatlichem Geist fortentwickelt werden und fortentwickelt werden können. Die von den Schöpfern des SGB recht ängstliche Betonung der bloßen Existenz von Rücknahmeansprüchen (§44 Abs. 1) und Anpassungsaufhebungsansprüchen (§48 Abs. 2) „im Einzelfall" darf kein entscheidendes Hindernis für eine solche Rechtsfortbildungsarbeit sein, zumal die moderne E D V die Verwaltungsumstände und -kosten einer Massenverwaltung bei der Erfüllung eines künftig hoffentlich weitergespannten Informationsauftrags etwa
151
Vgl. dazu noch einmal in rechtspolitischer Sicht unten V. 3. " Dazu gut: v. Maydell, ZfSH/SGB, 1986, 361 ff (368-374). - Zum korrespondierenden Haftungsinstitut der sozialversicherungsrechtlichen (Wieder-)Herstellung bei Informationsfehlern etwa H.Bogs, Fschr. zum 25jährigen Bestehen des BSG, 1979, Bd. 1, S. 149-183. Zum Informationsproblem nochmals zusammenfassend: BSG E. v. 28.2.1984, SozR 1200 N r . 16, 34 f.
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der Sozialversicherungsträger und ihrer Verbände und dann auch bei Wiederaufrollen an und für sich schon abgeschlossener Verwaltungsverfahren in grundsätzlich vertretbaren Grenzen halten dürfte. IV. Sozialrechtsprechungs-Anpassung als Ausdruck rechtsverhältnis-konkret ausgewogener A b w ä g u n g Die positivrechtliche Institutionalisierung der RechtsprechungsAnpassung von DW-VA der Sozialverwaltung in § 48 Abs. 2 S G B X , der hier sogenannten unechten Anpassung, ist grundsätzlich, d. h. ungeachtet kleinerer sogleich aufzugreifender Formulierungs-Schwächen zu begrüßen; der Grundgedanke der Vorschrift kann und sollte das soeben als noch entwicklungsoffene ausgewiesene Recht der Anpassung von Innenverwaltungs-VA nach dem VwVfG befruchten. Der Ausschlag der (im Kern natürlich auch verfassungsrechtlich gesteuerten) Güterwaage, welche für die rechtspolitische und interpretative Bestimmung der Reichweite der B K in Verwaltungsrechtsverhältnissen sehr verschiedener Art maßgeblich zu sein hat, zeigt bei dem wichtigsten von § 48 Abs. 2 S G B X (unmittelbar oder mittelbar) erfaßten Bescheidtypus, nämlich teilweise oder gänzliche Versagung von Rentenbewilligungen durch Träger der staatlichen Rentenversicherung, durchaus eigentümliches Verhalten. Die Gewichtsbeziehungen zwischen Rechtssicherheitsaspekten einerseits und Gerechtigkeitsaspekten andererseits sind von eigener Art; die Ursache dafür liegt offen: im Rentenverhältnis spiegelt sich ein Stück lebenszeitiger staatlicher Daseinsvorsorge wider, die Verwaltung und Bürger engstens verbindet. Es spricht für eine starke Berücksichtigung von materieller Richtigkeit und Gesetzmäßigkeit: der sozialstaatliche und sozialgleichheitliche Gedanke des Schutzes der wirtschaftlichen Funktion der Rente (regelmäßig) als einer aktuellen Unterhalts-Grundsicherung des Erwerbstätigen, etwa im Alter. In die gleiche Richtung - starkes Gewicht des Rechtswerts aktuell stimmiger Rentenfestsetzung - weist, daß das moderne Rentenversicherungsrecht (und übrigens auch noch viele weitere Gebiete des Sozialverwaltungsrechts . . . ) vielfach außerordentlich kompliziert ist (sind) und der Versicherte - trotz Hilfen der Vertrauensleute der Selbstverwaltung und gewerkschaftlicher Experten vor Ort vielfach ohne erschwingliche, verläßliche und vor allem rechtzeitige Rechtsinformation bleibt. Er ist also auf Rechtsschutz „außerhalb" der regulären Rechtsschutzfristen-Ordnung im sogenannten ZugunstenwegVerfahren verstärkt angewiesen. Aus der Natur der Sache, z . B . des Rentenversicherungsverhältnisses, folgt schließlich eine weitgehende Entlastung der gesuchten Lösung des Wiederaufgriffsproblems von Komplizierungen des Abwägungsvor-
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gangs des Gesetzgebers bzw. des Rechtsanwenders durch Drittwirkungen eines VA: Es ist in der allgemeinen Verwaltung - etwa bei nachbarschaftlichen Verhältnissen des Planungs- und des Baurechts sowie bei Konkurrentenverhältnissen des Wirtschaftsrechts - häufiger die unmittelbare Betroffenheit von Dritten im Wiederaufgriffs-Kalkül mit zu berücksichtigen. Die Interessenabwägungen zur etwaigen Flexibilisierung von Verwaltungsentscheidungen mit Rücksicht auf neue Rechts(erkenntnis)daten sind m. a. W. mehrschichtig, mehrdimensional angelegt. Das Sozialleistungsverhältnis ist angenehm „eindimensional" angelegt, erschöpft sich etwa im Beispielsfalle in der Rechtsbeziehung zwischen Versichertem und Sozialleistungsträger. Die entwickelten, für Flexibilität sprechenden Umstände und Gesichtspunkte werden nicht etwa dadurch wesentlich abgewertet, daß in der Massenverwaltung staatliche Rentenversicherung, die heute eine Fast-Volksversicherung ist, dem Abwägungsgesichtspunkt Vollzugseffizienz eine herausragende Rolle zugemessen werden muß. Im einzelnen: Die moderne E D V hat, recht besehen, der Verwaltung u. a. eine begünstigende (Teil-)Aufhebung von D W - V A im Verwaltungswege viel leichter gemacht. Man kann sogar noch weitergehen und - den eben schon berührten Informationsrückstand der Versicherten aufnehmend - sagen: Die neuen Verwaltungstechniken geben massiven Anstoß, die bisher festzustellende große Zurückhaltung unseres Rechts bei gesetzlicher oder richterrechtlicher Anerkennung von Ansprüchen der Versicherten auf Verwaltungs-Information, z.B. gerade auch über neue, u. U. breite Gruppen von Versicherten betreffende günstigere Rechtsprechung, aufzugeben und damit einer Vielzahl von Betroffenen ein Gesuch auf Wiederaufgriff und Neuentscheidung zu ermöglichen. Es bleibe dahingestellt, ob und inwieweit der Gesetzgeber des Sozialverwaltungsrechts von 1981, der wohl mit den Worten „im Einzelfall" die Singularität von verwaltungswegiger Aufhebung hervorheben wollte, eine über solchen Massenaufgriffsverfahren sich praktisch ergebende wesentliche Minderung der Wirkung seiner bestandskraftrechtlichen Anordnungen hinnähme. - Doch damit werden neue Themen angerührt, die zugleich auch die Fragen eines rechtsstaatlich gebotenen generellen rückwirkenden Übergangsrechts aus der Feder des Gesetzgebers aufwerfen. Insgesamt erscheint die flexible Regelung des §48 Abs. 2 SGB X, die noch nicht als unangemessen bestandskraftfeindlich bezeichnet werden kann, als Rechtsfortschritt auf der Grundlage einer ausgewogenen, insbesondere die Wesenszüge eines konkreten Typus von Verwaltungsrechtsverhältnis (Sozialleistungsverhältnis) berücksichtigenden Abwägung' 7 .
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V. Mängel der Ausgestaltung der Anpassungs-Idee (Thesen) Es ist hier nicht der Ort, in eine nähere Erörterung der Fragen einer sachlichen und teilweise auch nur redaktionellen Verbesserung der soeben grundsätzlich, der Idee nach gutgeheißenen Vorschrift § 48 Abs. 2 SGB X einzutreten. Umfangreichere Argumentationen und Abwägungen wären dazu erforderlich. Immerhin seien hier aber doch - thesenartig - folgende Vorschläge zur Neufassung des Tatbestandes bzw. der Rechtsfolgeordnung zur Diskussion gestellt: 1. In der Sozialrechtsprechungs-Anpassungsklausel §48 Abs. 2 SGB X sollte der 2. Halbsatz „§44 bleibt unberührt" gestrichen werden. Zu BIII ist dargelegt worden, daß dieser vielleicht §51 Abs. 5 VwVfG nachgebildete, im Sozialverwaltungszusammenhang aber als redaktionelles Versehen einzuordnende Verweis nicht zu einer Brücke zu einem jedenfalls für die Entscheidungstypen des §44 Abs. 1 SGB X maßgeblichen Vorrang letzterer Rückwirkungsvorschrift aufgewertet werden darf. Dann aber ist er nicht nur überflüssig, sondern auch eher den systematischen Ordnungszusammenhang verdunkelnd. 2. Die tatbestandliche Fassung des §48 Abs. 2 SGB X stellt sinngemäß zu formal auf die Sozialverwaltungs-Rechtsquelle „Richterrecht" ab, indem sie eine „ständige Rechtsprechung" fordert. Dabei dürfte der von der Sache her verfehlte Versuch der Gesetzesväter, an die Vorschrift über die echte Anpassung (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB X) Anschluß zu finden, eine Rolle gespielt haben. Die Anpassung im hier erörterten Sinne hat aber ihre eigene Logik, greift insbesondere aus verfahrensrechtsdogmatischer Sicht allein wirklich in die BK ein und muß deshalb eigenständig konzipiert und formuliert werden. Schon eine einzige abweichende BSG-Entscheidung sollte genügen, mag diese erstmalig ergehen zu einer rechtlichen Streitfrage oder mag sie einen Wandel der Rechtsanschauung des Revisionsgerichts gegenüber früherer revisionsgerichtlicher Entscheidung oder gar gefestigter Entscheidungspraxis zutage fördern. Die vielfach geäußerte Befürchtung, eine solche Lösung würde zu untragbaren Anpassungs-Unsicherheiten führen, erscheint jedenfalls dann übertrieben, wenn man nur vorbehaltlose rationes decidendi als Maßstab der Anpassung anerkennt; dies ist geboten. Wegen dieser Erweiterung der Flexibilität von Sozial-VA mit D W ist aber folgende flankierende Reform der Tatbestandsfassung zu fordern: 17 Für eine solche Methode der Differenzierung der Verwaltungsrechtsdogmatik in einzelnen Rechtsverhältnistypen eigener Art hat sich eine starke Strömung auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung 1986 ausgesprochen, vgl. W D S t R L 45 (1987). - In der Rechtsprechung ebenso die wiedergutmachungsrechtliche Entscheidung BVerfGE 27, 297 (306); skeptischer im Unterhaltssicherungsrecht z . B . BVerwGE 44, 333.
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Eine Anpassung ist nur im Regelfall beanspruchbar; es sollte also etwa heißen: „Der V A soll im Einzelfall auch dann für die Zukunft aufgehoben werden, wenn . . . " . In Sonderfällen einer aus der Sicht der Instanzgerichte oder auch der Verwaltung selber besonders angreifbaren Entscheidung oder Argumentation des Revisionsgerichts (einschließlich des Falles ungenügender Verarbeitung von weiteren wichtigen Falltypen in der schriftlichen Entscheidungsbegründung!) bleibt dann der Dialog zwischen Sozialverwaltung, unteren Sozialgerichten der ersten und zweiten Instanz und dem Bundessozialgericht offen. - Eine gewisse Lockerung der Anpassungsautomatik durch Vermeidung einer stringenten, ausnahmslosen Anpassungspflichtnorm empfiehlt sich weiterhin wegen der atypischen Fälle von V A mit Drittwirkung; hier sind der Verwaltung bewegliche Abwägungen zu eröffnen. Bei einer Neuredaktion der Vorschrift über unechte Anpassung ist schließlich auch das Verhältnis von nachträglicher abweichender revisionsgerichtlicher Rechtsfeststellung und nachträglicher abweichender Auslegungs- bzw. Ermessensrichtlinie der obersten zuständigen Selbstverwaltungsverbände/Behörden zu prüfen. Diese Anregung berücksichtigt insbesondere, daß solche Anpassungsentscheidungen auf einer formal zugegebenermaßen wesentlich schwächeren Rechtserkenntnisbasis diese Entscheidungen stehen ja unter dem Risiko einer späteren Richtlinien-Ablehnung durch die Rechtsprechung - u. U . mit einem ausdrücklichen Widerrufsvorbehalt i . S . v . § 3 2 Abs. 2 N r . 3, § 4 7 Abs. 1 N r . 1 S G B X versehen werden können. Empfohlen wird eine gesetzliche Freigabe von Anpassungsermessen. 3. Es dürfte von den Schöpfern des S G B X vergessen worden sein, bei der Rechtsprechungsanpassung die Frage einer wohl nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehenden Rückwirkung zu regeln. Hier dürfte rechtspolitisch (und vorläufig im Wege richterlicher Ausfüllung einer planwidrigen Lücke des positiven Rechts) die Einführung einer „Kann"-Ermächtigung an die mit einem Wiederaufgriffsanliegen befaßte Verwaltung, im Einzelfall einen auf Dauerregelung eines Verwaltungsrechtsverhältnisses angelegten V A auch einmal von Anfang an an das höchstrichterlich neu festgestellte Recht anzupassen, das richtige Regelungsinstrument sein. Die redaktionelle Neufassung sollte diese Gesetzeslücke schließen, wobei sie sich auf eine regelungstechnisch verwandte Abstufung der Aufhebungsbefugnisse und Aufhebungspflichten der Verwaltung im Fall von § 44 Abs. 1 und 2 S G B X berufen kann. Eine Anpassung ex tunc - wiederum bis zu höchstens 4 Jahren zurück - wird insbesondere dann beanspruchbar werden, wenn die frühere Verwaltungspraxis, vielleicht sogar von Rechtsprechung bestätigt, auch
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schon in der ersten Zeit ihrer Auswirkung schwere soziale Härten hinterließ. Das Ermessen reduziert sich dann von Rechts wegen auf Null. Folgende Zwischenbilanz des Gedankengangs ist hier möglich: Allgemeine rechts- und sozialstaatliche Überlegungen ergaben, daß §48 Abs. 2 SGB X in seinem rechtsgrundsätzlichen Gehalt einen modernen Lösungsansatz bietet und insofern von seiten der Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik Billigung verdient. Gleichwohl ist die genannte Vorschrift hinsichtlich der näheren Ausgestaltung der Anpassungsmechanik noch der Verbesserung bedürftig.
VI. Zustellung des §48 Abs. 2 zu §46 Abs.l SGB X? Die thesenartig vorgehend vorgetragenen Empfehlungen zur äußeren Verbesserung der Gestalt des Rechtsinstituts (unechte) Anpassung an Rechtsprechung führen zwangsläufig zu der abschließenden Forderung, §48 Abs. 2 SGB X dorthin zu stellen, wohin er vom Regelungsgegenständ her hingehört: in die Regelungen des §46 Abs. 1 über das Ermessen der Sozialverwaltung, sich nach Erlaß des Erstbescheids als rechtswidrig herausstellende Belastungen des Sozialbürgers zu überprüfen und zu widerrufen. Der Anspruch, oder - nach einer redaktionellen Neufassung - der grundsätzliche Anspruch auf Rechtsprechungsanpassung in die weitere Zukunft der Wirkung eines VA mit DW hinein markiert im Grunde nur eine spezielle Schranke von Widerrufsermessen. Es sprengte auch nicht die innere Systematik des § 46 Abs. 1 SGB X, wenn für einen fest umgrenzten Sonderfalltypus die RechtsprechungsAnpassungsklausel verbesserter Form ausnahmsweise auch eine rückwirkende Rechtswahrung zuließe. Die in Antwort auf eine eingangs18 gestellte Frage vorgeschlagene Neuplacierung würde auch für die anschließend zu behandelnden Fälle einer analogen Anwendung der Rechtsprechungs-Anpassungsklausel des Sozialgesetzbuchs in sozialgeprägten Verwaltungsrechtsverhältnissen unter dem VwVfG ihre Bedeutung haben: Die WiderrufsermessensKlausel nach § 49 Abs. 1 VwVfG wäre entsprechend zu erweitern. Eine solche Erweiterung würde eine organischere Rechtsfortbildung darstellen als die jetzt von der h. M. vorgeschlagene Überhöhung des Rechtsinstituts des Wiederaufgreifens nach §51 VwVfG durch eine General- und Auffangklausel gegen unzumutbare Fortwirkungen einmal bestandskräftig ermittelten und festgestellten Rechts.
Siehe dazu oben B. II.
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C. Partielle Ausstrahlungen der Rechtsprechungs-Anpassungsklausel des SGB X in das VwVfG Die in dieser Skizze vorgestellte Rechtsprechungs-Anpassungsklausel des S G B X könnte sogar einen allgemeinen Trend der deutschen Rechtsentwicklung signalisieren: Tendenzielle Einschränkung der B K von VA, die auf Dauer angelegte Verwaltungsrechtsverhältnisse regeln. Auf diese Frage wird sogleich noch einmal zurückzukommen sein. Jedenfalls kann und muß abschließend festgestellt werden: Die neuartige Vorschrift § 4 8 Abs. 2 S G B X , die unbestreitbar Glanz auf die Revisionsgerichte wirft, weil sie deren Erkenntnissen eine gewisse allgemeine, über die Rechtskraft in Einzelfällen weit hinausweisende und sowohl die Gerichtsverfassungs- als auch die Gewaltenteilungsordnung des G G noch besser treffende normative, sogar teilweise gerichtlich einklagbare Direktivbedeutung zumißt, kann schwerlich nur in Verwaltungsrechtsverhältnissen unter dem Sozialgesetzbuch Geltung haben. Ihr Anwendungsbereich überschreitet sicherlich die Grenzen der Teilkodifikationen des Verwaltungsverfahrensrechts im S G B von 1981 und im V w V f G von 1976. Vielmehr gilt: Jene Rechtsprechungs-Anpassungsklausel ist „sinngemäß" auf alle Dauer-VA anwendbar, die in Verwaltungsrechtsverhältnissen mit wesentlicher sozialer Zwecksetzung ergehen. Die Interessenstrukturen und, auf ihnen aufbauend, die administrativen Steuerungsbedürfnisse im Spannungsfeld von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sind denen in Sozialleistungsverhältnissen unter dem S G B voll vergleichbar. Ein klarer Fall einer berechtigten Analogiebildung zur Nachbesserung eines - unter Rücksicht auf ein späteres abweichendes BSG-Erkenntnis die Rente zu niedrig festsetzenden Bescheids einer staatlichen Rentenversicherungsanstalt ist die Bescheidkorrektur in folgendem Fall: Ein späteres BVerwG-Erkenntnis stellt die Rechtmäßigkeit des niedrigen Betrags einer Beamtenpension in Frage. Hier hat der vom Dauerunrecht einer Zuniedrigfestsetzung (potentiell) betroffene Beamte als Versorgungsempfänger ein subjektives öffentliches Recht auf Pensionsneuregelung gemäß der „richtigen" Auslegung des BeamtVG nunmehr durch das zuständige Revisionsgericht. Die in der modernen sozialrechtswissenschaftlichen Dogmatik vorherrschende Einordnung der Beamtenversorgung und der gesetzlichen Rentenversicherung in ein Großgebiet öffentlich-rechtliche soziale Vorsorgesysteme findet hier, bei der B K Lehre, also an einem für die Rechtsanwendungspraxis durchaus bedeutsamen Punkt eine eindrucksvolle Bestätigung. Natürlich wird sich der Bereich der Verwaltungsrechtsverhältnisse mit wesentlichem sozialen Zweckgehalt, der wie gesagt Teilkodifikationsgrenzen überspringt, stets nur unscharf abgrenzen lassen. Richtig
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dürfte es sein, bei Zweifelsfall-Zuordnungen großzügig zu verfahren, weil damit dem Geist gleichheitlicher rechtsstaatlicher Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes am meisten entsprochen werden kann. Wegen einer also einzuräumenden gewissen Offenheit der Zone legitimer Analogie wird z.B. die (nach der hier gezeichneten dogmatischen Grundlinie mindestens gut vertretbare) Auffassung, daß auch ein langfristiges Verhältnis der Subvention privaten Wohnungsbaus durch Darlehensvergünstigungen Subventionsbescheide hervorbringt, die analog §48 Abs. 2 SGB X zu behandeln sind, auch Widerspruch erfahren können. Dieser würde also z. B. einer rechtsgrundsätzlich sehr interessanten instanzgerichtlichen Entscheidung 19 Sympathie entgegenbringen, welche der Behörde gestattet, sich auch nach abweichender, wesentlich günstigerer BVerwG-Entscheidung über den gesetzmäßigen Förderungssatz im Falltypus des Wiederaufgriffsanspruchs-Klägers auf BK zu berufen. Nach dem hier eingenommenen methodologischen G r u n d standpunkt verdient sie diese Sympathie nicht! Der weiteren Entwicklung von forensischer Entscheidungspraxis, wissenschaftlicher Dogmatik und Gesetzgebung über BK von VA mit D W des G G wird man - soviel ergibt sich schon aus diesen Schlußbemerkungen über einen erweiterten Anwendungsbereich der Rechtsprechungs-Anpassungsklausel des Sozialgesetzbuchs - mit großer Spannung entgegensehen können. Wie eingangs angedeutet, könnte es einen allgemeineren Trend zur Flexibilisierung von VA in Dauerrechtsverhältnissen geben, der dann sogar auch von der traditionellen Rechtskraftlehre gewisse Veränderungen verlangte. Darin eingeschlossen könnte eine Neufassung auch der verfassungsprozeßrechtlichen Vorschrift §79 Abs. 2 BVerfGG über grundsätzlich fehlende Rückwirkung von kassatorischen N o r m e n k o n trollentscheidungen des BVerfG sein20. Der hier sich manifestierende starre Respekt vor Bestands- und Rechtskraft erscheint schon heute etwa im Bereich sozialer Sicherung - problematisch. U n d nicht immer wird der einen Normenkontrollspruch umsetzende Gesetzgeber mit " VG Berlin E.v. 14.4.1981, N V w Z 1982, 522 mit ausgezeichneter Rezension von Stelkens, daselbst S.492; vgl. auch die wesentlich ausführlichere Wiedergabe der Entscheidung in N J W 1981, 2595. 20 In seiner schon erwähnten instruktiven Studie über Sozialrechtsprechungs-Anpassung geht K.Sieg, SGb 1980, 49 (51) auf die rechtspolitische Fragwürdigkeit der geringen Rückwirkungen von verfassungsgerichtlichen Normenkontrollentscheidungen nach der angeführten Vorschrift des BVerfGG und nachgebildeter Vorschriften wie § 183 V w G O sowie auf die den maßgeblichen Vorschriften zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen Vorwertungen speziell bei DW-VA leider nicht ein. - Zu wenig flexibel auch die Begründungsargumentation von BFinH E.v. 27.9.1977, N J W 1978, 511 betr. den Einfluß von kassatorischen Vorabentscheidungen des E u G H nach Art. 177 Abs. 3 EWG-V auf frühere, bestands- oder rechtskräftig gewordene Entscheidungen in Parallelsachen.
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legislativen Anordnungen übergangsrechtlichen Charakters der sozialen Gerechtigkeit zu einem noch größeren Sieg verhelfen wollen oder können. Die ganze Entwicklung betrifft einen neuralgischen Punkt im spannungsvollen Wertenetz des sozialen Rechtsstaats.
Umweltschutz und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen RÜDIGER BREUER
I. Allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Umweltschutz und Gefahrenabwehr Auf den ersten Blick mutet es paradox an, wenn Behörden und Gerichte in jüngster Zeit zunehmend auf polizeirechtliche Eingriffsvoraussetzungen und Denkmuster der Gefahrenabwehr zurückgreifen, um aktuelle und oft spektakuläre Fälle auf dem Problemfeld des Umweltschutzes zu lösen. Zu diesem Phänomen bietet die Diskussion über die Rechtsprobleme der sog. Altlasten reiches Anschauungsmaterial1; dabei geht es um Schadstoffanreicherungen in Boden und Grundwasser, die an Standorten verlassener und stillgelegter Ablagerungsplätze, infolge von wilden Ablagerungen, Aufhaldungen und Verfüllungen mit umweltgefährdenden Produktionsrückständen, an ehemaligen Industriestandorten sowie infolge von undichten Leitungssystemen und Kanälen zutage treten2 und regelmäßig nach altem Recht zu behandeln sind. Wie noch zu zeigen ist3, sind polizeirechtliche Grundsätze der Gefahrenabwehr aber nicht allein bei der Verantwortlichkeit für Altlasten maßgebend, zumal diese ohnehin einen äußerst unscharf und keineswegs rechtsbegrifflich abgegrenzten Problemkomplex darstellen. Seit das Umwelt-
1 Vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 1985, 355; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, 1985, S. 5 ff, 34 ff, 78 ff, 116 ff; Papier, Altlasten und polizeirechtliche Störerhaftung, 1985, S.3ff, l l f , 13ff, 47ff; den., DVB1. 1985, 873ff; ders., NVwZ 1986, 256ff; Kloepfer, Altlasten als Rechtsproblem: Zur rechtlichen Verantwortlichkeit für die Sanierung von Deponien, dargestellt am Beispiel Gerolsheim, Gutachten im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz, Maschinenschr., August 1985; ders., NuR 1987, 7ff; Altlasten und Umweltrecht, 1. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht vom 20.-22.11.1985, Umwelt- und Technikrecht (Schriftenreihe der Forschungsstelle für Umwelt- und Technikrecht an der Universität Trier), U T R Bd. 1, 1986 (mit Beiträgen von Stegmann, Kloepfer, Papier, Diederichsen und Schmidt-Salzer sowie Podiumsdiskussion von Töpfer, v.Lersner, Salzwedel und Schottelius); Scheier, ZfW 1983, 333 ff; Schink, DVB1. 1985, 1149 ff; ders., DVB1. 1986, 161 ff; Striewe, ZfW 1986, 273 ff; Breuer, JuS 1986, 359 ff; Brandt/Lange, U P R 1987, 11 ff. 2 Vgl. die Beschreibung in: Bodenschutzkonzeption der Bundesregierung, BT-Drucks. 10/2977, S.27f. 3 Vgl. unten das Fallmaterial unter Ziffer II.
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schutzrecht in einer Vielzahl spezieller Gesetze kodifiziert, ausgedehnt und verfeinert worden ist4, schien es indessen, als könnte das Polizeirecht - genauer: das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht5 - auf die Vermeidung und Beseitigung von Umweltschäden kaum noch Anwendung finden. Die Spezialität der neuen Umweltschutzgesetze, ihr systematischer Vorrang und die traditionelle Subsidiarität des Polizeirechts schienen dessen Anwendungsfeld einer fortschreitenden Erosion auszuliefern6. Hinzu kommt, daß der „bloßen" polizeilichen Gefahrenabwehr - im Vergleich mit den Planungs- und Vorsorgegeboten des modernen Umweltschutzrechts 7 - das Odium der antiquierten Beschränktheit anhaftet. Demgemäß wurde dem Polizeirecht seit längerem nur noch die bescheidene Rolle eines Lückenbüßers mit überkommener Reservefunktion zuerkannt. Vor diesem Hintergrund weckt der neuerliche Rückgriff der Rechtspraxis auf polizeirechtliche Grundsätze der Gefahrenabwehr die Erinnerung an die mahnenden Worte von Günter Dürig auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahre 19798. Bewußt provozierend, meinte Dürig schon damals zum Thema „Staatsaufgabe Umweltschutz", die Staatsrechtslehre solle sich zunächst und primär mit dem harten Geschäft der eigentlichen repressiven und präventiven Gefahrenabwehr begnügen. Bei der Staatsaufgabe Umweltschutz stehe man vor einem „ganz verquollenen Ökologiebegriff". Die Beschränkung auf die Gefahrenabwehr im Umweltschutz verlange der Staatsrechtslehre auch nicht etwa zu wenig ab. Dabei verwies Dürig auf das ungeklärte Verhältnis von Gefahr und „Restrisiko" sowie auf Gefahren, die erst aus der Summierung jeweils für sich polizeilich erlaubter, technisch (noch) nicht reduzierbarer Umweltbelastungen entstünden. Wohl nicht nur an die Zunft der Staatsrechtslehrer, sondern auch an die politischen und administrativen
4 Vgl. dazu den Uberblick bei Breuer, in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1985, S. 554 ff; ferner Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, Berichte des Umweltbundesamtes, 8/78, 1978, S. 12 ff; Kloepfer/Meßerschmidt, Innere Harmonisierung des Umweltrechts, Berichte des Umweltbundesamtes, 6/86, 1986; Salzwedel/Preusker, Umweltschutzrecht und -Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, 1983. 5 Zur begrifflichen und sachlichen Systematik statt vieler: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl. 1986, S. 16 ff, 33 ff; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 1985, Rdn. 1 ff. 6 Vgl. dazu etwa Götz, aaO (Fn.5), Rdn. 24, 72 ff; ders., DVB1. 1975, 876 ff; Ericbsen, W D S t R L 35, 173 ff. 7 Vgl. dazu Breuer, aaO (Fn.4), S.544f, 562 ff, 568 ff, 593 ff; zur „Vorsorge als Rechtsprinzip" im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 ff. 8 W D S t R L 38, 331 ff.
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Entscheidungsträger appellierte er, daß man sich in der Staatsaufgabe Umweltschutz erst einmal um die Gefahrenabwehr kümmern solle, bevor man die „ökologische Wende" und die „ökologische Vernetzung" anzustreben versuche. Wolfgang Martens hat in nüchterneren Worten einen ähnlichen Tenor anklingen lassen. In dem - nicht nur quantitativ - großen, von Bill Drews und Gerhard Wacke begründeten, zusammen mit Klaus Vogel fortgeführten Lehrbuch des Polizeirechts 9 schreibt Martens: Manches von dem, was er zu den „spezialgesetzlich geregelten Materien der Gefahrenabwehr" rechne, werde heute häufig unter der Uberschrift „Umweltschutz" erörtert. Dagegen sei nichts einzuwenden, da der Begriff des Umweltschutzes noch keine festen Konturen gewonnen habe und das Recht des Umweltschutzes kein selbständiges und abgrenzbares Rechtsgebiet darstelle10. Es handle sich vielmehr um eine im Blick auf das gemeinsame und primäre Schutzgut vorgenommene Zusammenfassung verschiedener überkommener und neuer Regelungen, die nicht auf die Gefahrenabwehr begrenzt seien und deren Umfang im Schrifttum uneinheitlich bestimmt, zumeist aber sehr weit gezogen werde. Diese Regelungen zog Martens nur insoweit in Betracht, als sie auf die Unversehrtheit der natürlichen Lebensgrundlagen abzielen. Damit folgte er erklärtermaßen nicht der „verbreiteten Neigung", den Begriff des Umweltschutzes „ausufern zu lassen und dafür weite Teile des Besonderen Verwaltungsrechts in Anspruch zu nehmen". Martens hat diese sachliche Beschränkung offenbar nicht nur wegen des thematischen Rahmens des polizeirechtlichen Lehrbuchs bevorzugt. Die Verbindung des Immissionsschutzrechts und anderer Teilgebiete des Umweltschutzrechts mit den polizeirechtlichen Wurzeln und Grundsätzen war ihm stets ein wichtiges Anliegen 11 . So kann es auch als Bestätigung der von Martens befürworteten Bescheidung gedeutet werden, wenn sich die Rechtspraxis - entgegen der jahrelang vorherrschenden Trendanalyse 12 - auf dem Problemfeld des Umweltschutzes zuletzt wieder verstärkt auf die polizeirechtlichen Eingriffsvoraussetzungen und Denkmuster der Gefahrenabwehr besinnt 13 . Dies geschieht in besonders auffälliger Weise, wo Behörden mit ungewissen Sachverhalten konfrontiert sind und aufgrund unvollständiger Erkenntnisse - regelmäßig kurzfristig - über Maßnahmen des ersten
A a O ( F n . 5 ) , S. 158. Anders insoweit allerdings - worauf Martens, ebenda, ausdrücklich hinweist Breuer, aaO ( F n . 4 ) , S. 554 f. " Charakteristisch hierfür: Martens, DVB1. 1981, 597 ff; ders., D Ö V 1982, 89 ff. 12 Vgl. etwa die Nachweise in Fn. 6. 15 Ausdrücklich konstatiert auch von Papier, in: U T R Bd. 1 (Fn. 1), S . 5 9 f . 9
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Zugriffs entscheiden müssen. Es geht insoweit um den Umgang mit Anscheins- und Verdachtslagen 14 . Beispiele hierfür drängen sich in der aktuellen Szene des Umweltschutzes fast tagtäglich auf. Charakteristisch sind insofern die sich häufenden Fälle, in denen zunächst erste Anzeichen oder Befunde eine Verunreinigung des Bodens oder des Grundwassers mit gesundheits- oder umweltgefährdenden Schadstoffen indizieren15. Gerade in solchen Situationen weisen die komplizierten Sachverhalte, die typischen Lücken der verfügbaren Tatsachenkenntnis sowie die Unsicherheiten in naturwissenschaftlicher und technischer Hinsicht, aber auch die Art und das Ausmaß der potentiellen Schäden im Zeitpunkt des ersten - und unaufschiebbaren — Zugriffs der zuständigen Behörde oft prekäre Züge auf. Immerhin mag in manchen Fällen dieser Art die Boden- oder Grundwasserverseuchung als solche noch frühzeitig bewiesen oder beweisbar sein. Deren Verursachung ist dann jedoch vielfach in einem verworrenen Geflecht von unterschiedlichen, sich überlagernden und zeitlich gestreckten Handlungs- und Zustandsbeiträgen mehrerer Beteiligter zunächst nicht zu erkennen. Vermutungen können jedenfalls grundsätzlich den Beweis der Verursachung nicht ersetzen. Außerdem kommt in aller Regel den näheren Umständen einer festgestellten Boden- oder Grundwasserverseuchung entscheidende Bedeutung dafür zu, welche Abwehrmaßnahmen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. Auch insoweit erweisen sich nicht selten aufwendige und langwierige Ermittlungen als notwendig. Hinreichend umfassende und verläßliche Erkenntnisse über das Vorliegen einer Gefahr, deren Ursache, die beteiligten Verursacher, die von ihnen bewirkten Handlungs- und Zustandsbeiträge, die Art und das Ausmaß der drohenden Schäden sowie die möglichen und gebotenen Gegenmaßnahmen sind in solchen Fällen oft nur schwer und kaum kurzfristig zu gewinnen. Die notwendigen Ermittlungen und die Einschätzung der konkreten Situation erfordern meist ein hohes Maß an Sachverstand. Angesichts dieser Umstände befindet sich die zuständige Behörde in einem Dilemma. Einerseits läuft sie Gefahr, mit zügigen, auf die vorhandenen Anzeichen und Vermutungen gestützten Eingriffen vorschnell zu handeln und dadurch — objektiv und ex post betrachtet — die gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen zu verfehlen. Andererseits drohen ihr die Vor-
14 Vgl. dazu bereits die grundsätzlichen Überlegungen von Hoffmann-Riem über „Anscheingefahr" und „Anscheinverursachung" im Polizeirecht, in: Verfassung - Verwaltung - Finanzen, Festschrift für Gerhard Wacke, 1972, S. 327 ff. 15 Vgl. im einzelnen unten Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 35-59; ferner den Uberblick über die einschlägige Rechtsprechung bei Sander, BauR 1986, 657 (663 ff).
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würfe eines Vollzugsdefizits16, einer Vernachlässigung des Verursacherprinzips17 und einer ungerechtfertigten Belastung der Allgemeinheit18. Derartige Vorwürfe pflegen sich einzustellen, wenn sich herausstellt, daß die Behörde in einer nachträglich bestätigten Gefahrensituation nicht, zu spät oder unzureichend eingegriffen hat oder mit eigenen Mitteln zu Lasten der öffentlichen Haushalte tätig geworden ist, obwohl - wiederum objektiv und ex post betrachtet - die gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines verantwortlichen Verursachers in umfassender Weise erfüllt waren. Das umrissene Dilemma spiegelt sich in den einschlägigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen" und ihren polizeirechtlichen Lösungsansätzen wider. Zwar handelt es sich hierbei - vorerst noch überwiegend um Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Sie lassen jedoch vertraute polizeirechtliche Denkmuster erkennen, mit deren Hilfe offenbar auch „endgültige" Lösungen anvisiert werden. Als begriffliche Chiffren fungieren dabei die Anscheinsgefahr, der Anscheinsstörer, der Gefahrenverdacht und der Gefahrerforschungseingriff - Begriffe, die in der Rechtsprechung20 sowie im Schrifttum21 zum Polizeirecht entwickelt worden sind und auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblicken können, gleichwohl aber immer noch unterschiedlich verwendet werden. Deshalb kann es nicht überraschen, daß der Rückgriff auf diese Chiffren und die damit bezeichneten Denkmuster auch auf dem Problemfeld des Umweltschutzes bisher weder eindeutige noch einhellige Ergebnisse hervorgebracht hat. Die genannten Begriffe erläutern und ergänzen die allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen der polizeirechtlichen Generalklausel sowie der Verhaltens- und Zustandshaftung des Störers. Alle diese gesetzlichen und gesetzesinterpretierenden Begriffe sind verbal höchst sparsame und äußerst unbe-
" Dazu aus empirischer Sicht: Mayntz u. a., Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, Materialien zur Umweltforschung, hrsg. vom Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, 1978; auch Stich, in: Öffentlicher Dienst, Festschrift für Carl Hermann Ule, 1977, S. 215 ff. 17 Dazu Breuer, aaO (Fn. 4), S. 545 ff mit weiteren Nachweisen. 18 In diesem Sinne unter Hinweis auf das „Gebot sparsamer und wirtschaftlicher Verwendung öffentlicher Mittel" OVG Saarland, AS 18, 248 = DÖV 1984, 471. " Vgl. unten Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 35-59. 20 So insbes. PrOVGE 77, 333 (338 f); BVerwGE 39, 190 (193 ff); 45, 51 (58); 59, 36 (44); DÖV 1981, 421 (422f); OVG Münster, NJW 1980, 138; DVB1. 1982, 653 (654); OVG Lüneburg, NJW 1984, 192 (193); OVG Hamburg, NJW 1986, 2005. 21 Vgl. statt vieler: Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S. 225 ff; Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 125ff; Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14); Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 66 ff, 69 ff, 172 ff; Kickartz, Ermittlungsmaßnahmen zur Gefahrerforschung und einstweilige polizeiliche Anordnungen, Das Vorfeld der Polizeigefahr (Gefahrenabwehr), 1984.
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stimmte Formeln. Infolgedessen sind sie „offen" genug, um eine Fülle komplizierter Fallsituationen und Probleme erfassen und einer dynamischen, zugleich aber disziplinierten Rechtsentwicklung zuführen zu können. Hinter ihnen verbergen sich daher neben gesicherten Ansätzen und Erkenntnissen auch ungelöste, permanente Streitfragen und vielfältige Judikate einer tastenden, nicht immer einheitlichen Kasuistik22. Wer die Generalklauseln und unbestimmten Begriffe des Polizeirechts auf schwierige Sachverhalte und aktuelle Probleme anwendet, wühlt notwendigerweise alten Streitstoff auf. Ihn gilt es dann mitzubewältigen. Die polizeirechtlichen Denkmuster und Lösungen sind insoweit unfertig und ihrerseits erst noch entwicklungsbedürftig. Allerdings sollte es zu denken geben, daß ein solcher Rückgriff auf das Polizeirecht und seine Begriffe überhaupt notwendig geblieben und nicht etwa durch das spezielle und moderne Umweltschutzrecht erübrigt worden ist. In diesem Zusammenhang ist abermals an eine Mahnung von Günter Dürig" zu erinnern. Nach seinen Worten sind Vertrauen und Konsens auf dem Gebiet ökologischer Vorsorge erst dann und nur dann zu gewinnen, „wenn die Primärfunktion des öffentlichen Rechts — und das ist die Gefahrenabwehr — wieder funktioniert". Auf den Stand des Jahres 1979 bezogen, schloß Dürig ein Negativurteil über die umweltspezifische Gefahrenabwehr an: „Gegenwärtig funktioniert sie nicht." Unabhängig davon, ob man diese pauschale Bewertung teilt, wird man wohl konstatieren müssen, daß die Erfolgsbilanz des staatlichen Umweltschutzes sich von 1979 bis 1987 nicht fundamental gewandelt hat. Insgesamt muß die Situation der natürlichen Umwelt ebenso wie der Stand des staatlichen Umweltschutzes als unverändert kritisch bezeichnet werden24. Das Beispiel der hervorgehobenen, sich häufenden Fälle von Boden- und Grundwasserverseuchungen und die dabei auftretenden Zweifel über den rechtlichen Umgang mit ungewissen Sachverhalten spricht jedenfalls nicht für eine funktionierende Gefahrenabwehr. Die polizeirechtlichen Begriffe der Anscheinsgefahr, des Anscheinsstörers, des Gefahrenverdachts und des Gefahrerforschungseingriffs sind komplexe und kontroverse Anknüpfungspunkte - mehr nicht. Im Sinne der Analysen von Günter Dürig25 und Wolfgang Martens2'' muß daher der 22 Instruktiv dazu namentlich die Analysen von Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14) und Kickartz, aaO (Fn.21), S. 7 ff; jeweils mit weiteren Nachweisen. 23 W D S t R L 38, 352. 24 Nähere Angaben dazu in: Umwelt - weltweit, Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) 1972-1982, hrsg. von der Deutschen Stiftung für Umweltpolitik, 1983; für die Bundesrepublik Deutschland: Daten zur Umwelt 1986/87, hrsg. vom Umweltbundesamt, 1987. 25 W D S t R L 38, 331 ff, 352 f. 26 AaO (Fn. 5), S. 158 f f ; ders., D Ö V 1982, 89 ff.
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Versuch unternommen werden, diese Begriffe und ihre Relevanz für die geschilderten Fallsituationen zu klären, insoweit das Recht der Gefahrenabwehr auf den Umweltschutz auszurichten und letzten Endes der Gefahrenabwehr auf dem Problemfeld des Umweltschutzes rechtliche Lösungswege aufzuzeigen.
II. Fallmaterial und Standpunkte der Rechtsprechung Sichtet man die Rechtsprechung zum Themenkreis „Umweltschutz und Gefahrenabwehr", so zeigt sich, daß der Rückgriff auf das Polizeirecht zwar auf verschiedene positivrechtliche Vorschriften gestützt wird, zugleich jedoch auf der systematischen Grundstruktur des Besonderen Verwaltungsrechts beruht. Unbeschadet aller Planungs- und Vorsorgegebote des modernen Umweltschutzrechts, der damit erstrebten präventiven Verschärfungen und Verfeinerungen sowie subtiler, vielfach indirekt wirkender Lenkungsinstrumente 27 bleibt die Gretchenfrage des öffentlichen Rechts, über welche Sanktionen des repressiven Einschreitens die zuständige Behörde verfügt, falls sie auf verwaltungsrechtswidrige Handlungen oder Zustände stößt. Die Antwort auf diese Frage ist verblüffend einfach: Eigenständige und vorrangige Spezialregelungen finden sich in den Gesetzen des modernen Umweltschutzrechts nur insofern, als genehmigte, erlaubte oder durch sonstige behördliche Gestattungsakte gedeckte Handlungen oder Zustände (namentlich von Grundstücken und Anlagen) dem repressiven Einschreiten einer Behörde nur zugänglich sind, soweit der jeweilige Gestattungsakt einer Legalisierungswirkung entbehrt, zuvor aufgehoben oder im Wege einer nachträglichen Anordnung eingeschränkt worden ist29. Im übrigen 27 Näher dazu Breuer, Grundprobleme des Umweltschutzes aus juristischer Sicht, in: Issing/Hofmann/Wenz (Hrsg.), Ökologie, Ökonomie und Jurisprudenz, 1987, S. 21 (32 ff). 21 Allgemein dazu aufgrund der (zunächst im Baurecht entwickelten) Unterscheidung zwischen formeller und materieller Legalität und der Bedeutung der formellen Legalität oder Illegalität sowie aufgrund der Spezialvorschriften über Genehmigungs-, Erlaubnisund sonstige Gestattungsvorbehalte, nachträgliche Anordnungen, Untersagungs-, Stillegungs- und Beseitigungsverfügungen und den Widerruf der jeweiligen Genehmigung, Erlaubnis oder sonstigen Gestattung (z.B. §§17, 20, 21 BImSchG, § 1 7 AtomG, §§5, 7, 12 W H G ) : Breuer, aaO (Fn. 4), S. 570 ff; speziell zur Legalisierungswirkung der (früheren) gewerberechtlichen und der (heutigen) immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung: PrOVGE 82, 351 (357); BVerwGE 55, 118 (121); ferner (in strikter Weise) Martens, DVB1. 1981, 597 (603ff); dagegen allerdings Feldhaus/Schmitt, WiVerw. 1984, 11 f; für eine allgemeine Legalisierungswirkung öffentlich-rechtlicher Genehmigungen (usw.) in bezug auf Altlasten: Papier, Altlasten (o. Fn. 1), S..24ff; ders., DVB1. 1985, 875 f; ders., NVwZ 1986, 257ff = U T R Bd. 1 (o. Fn. 1), 65 ff; dazu kritisch und teilweise ablehnend: Kloepfer, NuR 1987, 13 f, 16 = U T R Bd. 1 (o. Fn. 1), S. 33 ff, 42; auch Schink, DVB1. 1986, 167; insgesamt betrachtet, ist eine Legalisierungswirkung öffentlich-rechtlicher
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beantwortet sich die Gretchenfrage des repressiven Einschreitens letztlich nach den polizeirechtlichen Grundsätzen der Gefahrenabwehr. Dazu verweisen die Spezialgesetze des Umweltschutzrechts zum Teil ausdrücklich auf die Eingriffsermächtigungen des allgemeinen Polizeiund Ordnungsrechts 2 '. Ohne sich hiervon sachlich abzuheben, enthalten andere Spezialgesetze eigene Generalklauseln, welche die zuständige Behörde zum repressiven Einschreiten ermächtigen 30 . Wieder andere Spezialgesetze setzen stillschweigend die Anwendbarkeit der polizeirechtlichen Generalklausel voraus"; dahinter steht die zutreffende Einsicht, daß ein Verstoß gegen die geltende Verwaltungsrechtsordnung die „öffentliche Sicherheit" i. S. der polizeirechtlichen Generalklausel verletzt32, deren Eingriffsvoraussetzungen also erfüllt. Die Rechtsprechung hat daher keine Mühe, das repressive Einschreiten der Behörden auch auf dem Problemfeld des Umweltschutzes auf übergreifende polizeirechtliche Grundsätze zurückzuführen 33 . Sie erkennt auch - überzeugend und unangefochten - an, daß die Adressatenfrage bei repressiven Eingriffen der zuständigen Behörden nach allgemeinen polizeirechtli-
Genehmigungen (usw.) nicht pauschal, sondern nur in differenzierter Weise anzuerkennen; vgl. Breuer, JuS 1986, 362 f. 29 So z. B. § 67 Satz 3 BerlWG; § 154 BremWG; § 138 WG N-W; § 108 Abs. 1 W G RhPf; §83 Abs. 3 SaarlWG. 30 So z.B. §82 Abs.3 Satz 1 WG B-W; Art.68 Abs.3 BayWG; §64 Abs.2 HbgWG; §74 Abs. 3 HessWG; vgl. zum Ganzen für das Wasserrecht: Gieseke/Wiedemann/Czychowski, WHG, 4. Aufl. 1985, §21 Rdn.34, 42 ff; Salzwedel, RdWWi 13, 35 ff; ders., in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1985, S.677f; Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 2. Aufl. 1987, Rdn. 537, 548; für ungenehmigte Abfallablagerungen („wilder Müll"): §10 A b s . l , 2 LAbfG B-W; Art. 11 Satz 1 BayAbfG; §15 BremAGAbfG; §11 HbgAGAbfG; §11 HessAbfG; §§15, 18 Abs.l, 2 LAbfG Rh-Pf; §11 Abs. 3 Satz 3, 4 SaarlAGAbfG; dazu Schink, DVB1. 1985, 1153 f; für das Immissionsschutzrecht der sog. nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen: §§24, 25 BImSchG; dazu Drews/Wacke/Vogel/ Martens, aaO (Fn. 5), S. 161 f mit weiteren Nachweisen. 31 So die Landesabfallgesetze in Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (ursprünglich auch in Nordrhein-Westfalen) in bezug auf den „internen" Herrschafts- und Verantwortungsbereich des Abfallbesitzers im Vorfeld des „Einsammelns" (und somit der Entsorgungspflichten öffentlich-rechtlicher Körperschaften nach §3 Abs. 2 AbfG) sowie in bezug auf die Erfüllung der Überlassungspflicht des Abfallbesitzers nach § 3 Abs. 1 AbfG; vgl. dazu BVerwGE 67, 8; Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S. 165f; allerdings verweist der nachträglich eingefügte §17a Abs.l LAbfG N-W insofern ausdrücklich auf das allgemeine Recht der Gefahrenabwehr. 52 Vgl. statt vieler Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S.236ff; Götz, aaO (Fn.5), Rdn.82; Friauf, in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7.Aufl. 1985, S. 198 f. 33 Vgl. unten Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 35-59; ferner zur polizeirechtlichen Behandlung der Altlastenfälle die Nachweise oben in Fn. 1.
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chen Grundsätzen zu beantworten ist34. Insoweit sind mithin nach ständiger und gesicherter Rechtsprechung auch auf dem Problemfeld des Umweltschutzes die Kriterien der polizeirechtlichen Verhaltens- und Zustandshaftung anzuwenden. Unsicherheiten und gegensätzliche Standpunkte schlagen jedoch in der Rechtspraxis durch, wenn die Gerichte behördliche Maßnahmen des ersten Zugriffs bei ungewissen Sachverhalten zu überprüfen haben. Dabei ist ersichtlich die Grenze des polizeirechtlichen Konsenses erreicht. Die Auswahl der im folgenden wiedergegebenen Entscheidungen mag von Zufälligkeiten abhängen. Eines dürften diese Entscheidungen aber belegen: Das Dilemma des Umgangs mit ungewissen Sachverhalten beschränkt sich nicht auf die Ebene des Verwaltungshandelns. Es setzt sich vielmehr auf der Ebene der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle fort. 1. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in Baden-Württemberg a) Der VGH Baden-Württemberg hat in einem Urteil vom 13.2.1985 35 sowie in einem Beschluß vom 24.3.1986 36 bei der Behandlung von Verdachtslagen eine mittlere Linie eingeschlagen. Die erstgenannte Entscheidung gelangt zu der Erkenntnis, daß die „umfassende Eingriffsermächtigung" des §82 Abs. 3 WG B-W auch Anordnungen zuläßt, die der Feststellung der Ursachen und des Verursachers einer Grundwasserverunreinigung dienen. Das Urteil bezieht sich auf die behördliche Anordnung, die Durchführung von Probebohrungen zu dulden. Eine solche Anordnung war in dem zugrunde liegenden Fall einer objektiv feststehenden Grundwasserverunreinigung durch Chlorkohlenwasserstoffe gegen die Eigentümerin des betroffenen Grundstücks ergangen. Ungewiß war, ob die Eigentümerin die Verunreinigung verursacht hatte. Die angeordnete Probebohrung diente der Feststellung der Gefahrenursache. Dennoch sah der VGH Baden-Württemberg37 die Eingriffsvoraussetzungen der spezialgesetzlichen Generalklausel als erfüllt an, indem er die Probebohrung als „Vorstufe der Bekämpfung der Gefahr bzw. Störung" und als notwendige Voraussetzung dieser Bekämpfung qualifizierte. Dazu merkte der VGH an, es handele sich „nicht eigentlich um ein durch eine bloße Anscheinsgefahr veranlaßtes behördliches Vorge-
54 Vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1983,294; 1986, 325; OVG Hamburg, DÖV 1983, 1016; HessVGH, UPR 1986, 116; Gieseke/Wiedemann/Czychowski, aaO (Fn. 30), §21 Rdn.48; Breuer, aaO (Fn.30), Rdn.552ff. 55 DÖV 1985, 687. 34 NVwZ 1986, 325. 37 DÖV 1985, 687 f.
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hen mit dem Ziel, das tatsächliche Vorhandensein einer Gefahr abzuklären", also nicht um einen Gefahrerforschungseingriff. Im Hinblick auf die Adressatenfrage argumentierte der V G H BadenWürttemberg 3 8 , es liege nahe, die für die Verifizierung eines objektiven Gefahrenverdachts entwickelten Grundsätze „auch im Fall einer Gefahrenerforschung in subjektiver Hinsicht" heranzuziehen, nämlich dann, „wenn nicht die Existenz einer Gefahr, sondern lediglich deren Urheber ungeklärt ist". Bestünden hinreichende Anhaltspunkte, die den Verdacht einer Gefahrenverursachung begründeten, so könne - unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und somit insbesondere bis zur Gewinnung endgültiger Erkenntnisse - der Verdachtsbetroffene vorläufig als Störer in Anspruch genommen werden. Bei dieser Argumentation darf indessen nicht übersehen werden, daß der V G H Baden-Württemberg hier lediglich über die Inanspruchnahme durch eine Duldungsverfügung zu entscheiden hatte 3 '. Unerwähnt lassen die wiedergegebenen Passagen der Entscheidungsgründe im übrigen das Argument, daß die in Anspruch genommene Grundstückseigentümerin immerhin als Zustandsstörerin in Betracht kam 40 . In dem Beschluß vom 2 4 . 3 . 1 9 8 6 hat der V G H Baden-Württemberg 4 1 entschieden, daß die zuständige Wasserbehörde bei der Feststellung einer starken Grundwasserverunreinigung mit Schadstoffen wie Tri- und Perchloräthylen regelmäßig nach § 82 Abs. 3 W G B - W ermächtigt sei, die notwendigen Schadensbegrenzungsmaßnahmen im Wege der unmittelbaren Ausführung selbst vorzunehmen. Dies gelte auch für Probeund Sondierungsbohrungen. Die Behörde hatte die Eigentümerin des betroffenen Grundstücks durch den angefochtenen Bescheid als Zustandsstörerin in Anspruch genommen und ihr die Kosten der genannten behördlichen Maßnahmen auferlegt. In diesem Fall war ebenfalls das Vorliegen einer Gefahr bewiesen. Die Inanspruchnahme der Grundstückseigentümerin als Zustandsstörerin wurde vom V G H Baden-Württemberg für rechtens erklärt. Dabei ging der V G H von dem traditionellen, aber problematischen und heute kontroversen Grundsatz aus, daß die Ursache des störenden oder gefährlichen Sachzustandes für die polizeirechtliche Zustandshaftung unerheblich sei42. Daß im übrigen
DÖV 1985, 688. Diesen Umstand hat später das OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ 1987, 240 (241), hervorgehoben; vgl. dazu unten II 4 mit Fn.55. 40 Darauf stellen jedoch ab: VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1986, 325 f (dazu unten bei Fn. 41); VG Karlsruhe, ZfW 1985, 55 (60 ff) (dazu unten bei Fn. 43, 44, 46); HessVGH, DÖV 1987, 260 (261) (dazu unten bei Fn.47, 48). 41 NVwZ 1986, 325. 42 So etwa OVG Nordrhein-Westfalen, OVGE 5, 185 (188 ff); Drews/Wacke/Vogel/ Martens, aaO (Fn. 5), S.320f mit weiteren Nachweisen; a. A. mit durchgreifenden Grün38
39
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nur ein Verursachungsverdacht gegen die Eigentümerin vorlag, diese somit nicht als Verhaltensstörerin herangezogen werden konnte und eventuell auch Dritte für die Grundstücksverunreinigung verantwortlich waren, sah der V G H als unerheblich an. Schließlich bejahte er aufgrund der konkreten Fallumstände die Voraussetzungen der unmittelbaren Ausführung einer polizeilichen Maßnahme sowie des nachfolgenden Kostenbescheides nach § 8 Abs. 1 und 2 PolG B-W. b) Das VG Karlsruhe hat bereits in einem Urteil vom 23.2.1983 4 3 einen ähnlichen Fall im gleichen Sinne entschieden. Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die zuständige Behörde mehreren Unternehmen, die während der Vergangenheit in zeitlicher Abfolge auf einem und demselben Grundstück Betriebe der Metallbranche unterhalten hatten, die Durchführung von Untersuchungsmaßnahmen aufgegeben. Diese bestanden in der Niederbringung mehrerer Beobachtungspegel sowie in bestimmten Probenahmen und Messungen, nachdem behördliche Proben erhebliche Boden- und Grundwasserverunreinigungen, u. a. mit Cyaniden, ergeben hatten. Welches der in Betracht kommenden Unternehmen die Verunreinigungen verursacht hatte, war ungewiß. Das VG Karlsruhe zog auch hier als Ermächtigungsgrundlage § 82 Abs. 3 W G B-W heran. Ebenso bereitete es dem Gericht in diesem Fall keine Schwierigkeiten, das Vorliegen einer Störung und einer weitergehenden Gefahr zu bejahen. Außerdem führte das Gericht aus, daß die auferlegten Maßnahmen als solche vom Gesetz gedeckt seien; kraft Sachzusammenhangs fielen unter § 82 Abs. 3 WG B-W nicht nur Gefahrenbeseitigungs-, sondern auch Aufklärungsmaßnahmen. Das VG Karlsruhe44 glaubte, dieses Ergebnis durch Überlegungen zur Anscheinsgefahr und zur Aufklärungspflicht des Anscheinsstörers stützen zu können. Damit glitt es allerdings unversehens in die problematische Adressatenfrage ab. Allerdings ließ es die Verhaltenshaftung des herangezogenen Unternehmens und den (begründeten) Verursachungsverdacht ausdrücklich dahinstehen. Mit überzeugenden Einzelfallüberlegungen und ähnlichen Argumenten wie der V G H Baden-Württemberg45 sah das VG Karls-
den, sofern der Gefahren- oder Störungszustand „in die Risikosphäre der Allgemeinheit fällt" und der Eigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt eine reine „OpferPosition" einnimmt und mithin einer „gestörten Privatnützigkeit" ausgesetzt ist: Friauf, a a O ( F n . 3 2 ) , S. 2 1 7 f ; ders., in: Verfassung - Verwaltung - Finanzen, Festschrift für Gerhard Wacke, 1972, S. 293 ff; Schenke, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, Rdn. II 9 7 ; Papier, Altlasten (o. Fn. 1), S. 48 ff; ders., DVB1. 1985, 8 7 8 ; ders., N V w Z 1986, 261 f = U T R Bd. 1 (o. Fn. 1), S. 74 ff; Schink, DVB1. 1986, 169 f. 43 44 45
Z f W 1985, 55. Z f W 1985, 55 (58 f). N V w Z 1986, 325 f (dazu oben bei F n . 4 1 ) .
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ruhe46 jedoch das herangezogene Unternehmen infolge der tatsächlichen Gewalt über das betroffene Grundstück als verantwortlichen Zustandsstörer an.
2. Rechtsprechung
des Hessischen VGH
Auf der gleichen Linie wie die referierten Entscheidungen der badenwürttembergischen Verwaltungsgerichte liegt ein Beschluß des HessVGH vom 20.3.1986 47 . Auch in dieser Entscheidung ging es um eine festgestellte Grundwasserverunreinigung durch Chlorkohlenwasserstoff sowie eine behördliche, an den Grundstückseigentümer gerichtete Anordnung, Bohrungen niederzubringen, Bodenproben zu entnehmen und diese untersuchen zu lassen. Die Anordnung war auf die spezialgesetzliche Generalklausel der Gefahrenabwehr in §74 Abs. 3 Satz 1 HessWG gestützt. Hierin erblickte der HessVGH eine tragfähige Rechtsgrundlage für die angeordneten Maßnahmen, obwohl diese nicht unmittelbar zur Beseitigung oder Verminderung der eigentlichen Gefahr dienten, sondern vorbereitenden Charakter in bezug auf die vorgesehene Beseitigung von Erdreich haben sollten. Als entscheidend sah der HessVGH den sachlichen Zusammenhang der angeordneten Bohrungen und Bodenuntersuchungen mit der Abtragung von Erdreich an: Bei den ersteren handele es sich jedenfalls weitaus überwiegend nicht um zusätzliche, sondern lediglich um zeitlich vorgezogene Maßnahmen im Verhältnis zu der Abtragung, nämlich „mindestens einen Schritt in Richtung auf die Gefahrbeseitigung"; nicht etwa gehe es um bloße Kontrollmaßnahmen zu Zwecken vorbeugender Erkenntnisgewinnung. Mit der Rechtsprechung der baden-württembergischen Verwaltungsgerichte stimmt es auch überein, wenn der HessVGH 48 die in Anspruch genommene Eigentümerin als Zustandsstörerin betrachtete.
3. Die Rechtsprechung
des OVG Saarland
Einen weitergehenden und äußerst problematischen Schritt hat das OVG Saarland in einem Beschluß vom 21.9.1983 4 ' vollzogen. Erfordert ein gesetzwidriger Zustand — polizeirechtlich gesprochen: eine Störung oder Gefahr wie z. B. eine Grundwasserverseuchung - sofortige Gegenmaßnahmen, z. B. die Niederbringung eines Abwehrbrunnens, läßt sich aber nicht zugleich mit letzter Sicherheit der Verantwortliche unter mehreren in Betracht kommenden Störern feststellen, so erkennt das OVG Saarland der Behörde die Befugnis zu, einen der möglicherweise 46 47 41 49
Z f W 1985, 55 (60 ff). D Ö V 1987, 260. D Ö V 1987, 260 (261). AS 18, 248 = D Ö V 1984, 471.
Umweltschutz und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen
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Pflichtigen durch (sofort vollziehbaren) Bescheid in Anspruch zu nehmen. Das OVG meint, die Behörde sei „angesichts des Gebots sparsamer und wirtschaftlicher Verwendung öffentlicher Mittel nicht darauf verwiesen, die erforderlichen Maßnahmen selbst zu veranlassen und mit den notwendigen Kosten zunächst in Vorlage zu treten". Die Ermächtigungsgrundlage war auch hier in einer spezialgesetzlichen Generalklausel der Gefahrenabwehr zu finden (§§36 Abs. 3, 83 SaarlWG). Der „springende Punkt" des wiedergegebenen Beschlusses liegt in der Behandlung der Adressatenfrage. Das OVG Saarland50 verzichtet bei einer vorliegenden Störung oder bei einer gegenwärtigen (unmittelbar bevorstehenden) Gefahr auf den Beweis der haftungsbegründenden Tatsachen. Obwohl die tatsächlichen Voraussetzungen der Verhaltens- und Zustandshaftung, insbesondere die Verursachung der festgestellten Grundwasserverseuchung, in dem entschiedenen Fall nicht bewiesen waren und von der Behörde lediglich vermutet wurden, hielt das OVG die Heranziehung eines verdachtsbetroffenen Unternehmens zur Vornahme von Abwehrmaßnahmen für rechtens. Anders ausgedrückt: Der bloße Verursachungsverdacht soll hiernach als Grundlage der polizeirechtlichen Haftung genügen. Im Gegensatz zu den badenwürttembergischen Verwaltungsgerichten51 und dem HessVG52 hat das OVG Saarland auch davon abgesehen, das in Anspruch genommene Unternehmen wegen seines Grundstückseigentums oder der tatsächlichen Gewalt über das betroffene Grundstück als Zustandsstörer zu qualifizieren. Diese „Zurückhaltung" scheint gute Gründe zu haben. Die Zustandshaftung begegnet schwerwiegenden Bedenken, wenn die festgestellte Boden- oder Grundwasserverseuchung wirklich durch einen Dritten verursacht worden ist und der herangezogene Grundstückseigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt somit selbst das Opfer einer Drittverursachung geworden ist. In solchen Fällen wird mit triftigen Argumenten eine teleologische Reduktion der polizeirechtlichen Zustandshaftung gefordert53. Noch bedenklicher als die traditionelle, von jeglicher Ursachenbetrachtung losgelöste Weite der Zustandshaftung erscheint es indessen, wenn das OVG Saarland die polizeirechtliche Heranziehung zur Vornahme (und nicht etwa nur zur Duldung) von Abwehrmaßnahmen an den bloßen Verursachungsverdacht knüpft.
AS 18, 248 (249 ff) = D Ö V 1984, 471. VGH Baden-Württemberg, D Ö V 1985, 6 8 7 ; N V w Z 1986, 3 2 5 ; VG Karlsruhe, 1985, 55; dazu oben bei Fn. 3 5 - 4 6 . 52 D Ö V 1987, 2 6 0 ; dazu oben bei F n . 4 7 , 48. 53 Vgl. die Nachweise zu der dahingehenden Ansicht in Fn. 42. 50 51
ZfW
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4. Die Rechtsprechung des OVG
Rheinland-Pfalz
Den Kontrapunkt nicht nur zum Standpunkt des O V G Saarland, sondern auch zu den wiedergegebenen Entscheidungen der badenwürttembergischen Verwaltungsgerichte und des HessVGH hat jüngst das O V G Rheinland-Pfalz in einem Beschluß vom 25.3.1986 5 4 gesetzt. Der zugrunde liegende Sachverhalt unterscheidet sich kaum von den Fällen der zuvor beleuchteten Rechtsprechung. Die zuständige Wasserbehörde hatte hier dem Inhaber eines Gewerbebetriebes zunächst die Errichtung und den Betrieb von Anlagen zur Gefahrenabwehr (Aktivkohle-Absorberanlage und Regenrückhaltebecken) sowie die Durchführung näher bezeichneter Untersuchungsmaßnahmen aufgegeben, nachdem aus dem Bereich des Betriebsgeländes gesundheitsgefährdende Konzentrationen von Schadstoffen in den Boden, das Grundwasser und ein oberirdisches Gewässer gelangt waren. Wenig später hatte die Behörde die angeordneten Maßnahmen im Wege der Ersatzvornahme ausführen lassen und die hierdurch entstandenen Kosten durch Leistungsbescheide dem Betriebsinhaber auferlegt. Diesen traf ein starker Verursachungsverdacht; nach der Erkenntnis des O V G waren jedoch „letzte Zweifel hinsichtlich der Kausalität" verblieben, die einer weiteren Sachaufklärung bedurften. Das O V G Rheinland-Pfalz erkannte im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 V w G O auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, der sich gegen die Leistungsbescheide richtete. Die dafür gegebene Begründung des O V G läßt aufhorchen: Die wasserbehördliche Anordnung sei dadurch gekennzeichnet, daß sie erklärtermaßen nicht der Beseitigung eines Gefahrenzustandes, sondern nur der Ermittlung des Gefahrenumfanges und der Vorbereitung der endgültigen Gefahrenbeseitigungsmaßnahme diene. O b derartige Maßnahmen überhaupt dem „Verantwortlichen" aufgegeben werden dürften oder von der Behörde selbst durchgeführt werden müßten und wer letztendlich die Kosten dafür zu tragen habe, sei bisher nicht eindeutig geklärt. Soweit unter dem Begriff des Gefahrerforschungseingriffs Ermittlungsmaßnahmen zur Feststellung einer Gefahr im Vorfeld der Gefahrenbeseitigung als gerechtfertigt angesehen würden, sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser lasse es regelmäßig nur zu, dem vermeintlichen Störer die Duldung behördlicher Ermittlungsmaßnahmen aufzugeben. Für diesen Standpunkt beruft sich das O V G Rheinland-Pfalz55 auf die gefestigte Auffassung, wonach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Falle des Gefahrenverdachts regelmäßig nur vorläufige Maßnahmen (wie Stich54 55
NVwZ 1987, 240 f. NVwZ 1987, 240 (241).
Umweltschutz und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen
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proben und Sicherstellungen) gestattet56. Eine weitere Argumentationshilfe entnimmt das OVG Rheinland-Pfalz" aus der im neueren Schrifttum dezidiert vertretenen Auffassung, daß die Zulässigkeit des Gefahrerforschungseingriffs keinesfalls die Möglichkeit beinhalte, dem „Verantwortlichen" die weitere Sachaufklärung durch Polizeiverfügung aufzugeben oder ihm die Kosten der behördlichen Ermittlungen aufzubürden58. Für diese Auffassung spreche - wie das OVG anfügt — immerhin die Tatsache, daß die Aufgabe der Sachverhaltsaufklärung im Verwaltungsverfahren in erster Linie Sache der Behörde sei und der Bürger grundsätzlich nur gewisse Mitwirkungspflichten habe, welche die Durchführung der Ermittlungen erst ermöglichen sollten. Daraus könne man „nicht ohne weiteres" die Berechtigung ableiten, die Ermittlungstätigkeit insgesamt oder zum wesentlichen Teil auf den „Verantwortlichen" zu übertragen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtfertige es kaum, den „Verantwortlichen" außer mit den Kosten der Gefahrenbeseitigung zusätzlich mit den Kosten der Vorermittlungen zu belasten 5 '. III. Systematisierung und Differenzierung der verschiedenen Anscheins- und Verdachtslagen Die offengelegten Divergenzen der Rechtsprechung und die unklare Verwendung der Begriffe der Anscheinsgefahr, des Anscheinsstörers, des Gefahrenverdachts und des Gefahrerforschungseingriffs deuten auf sachliche Unsicherheiten der polizeirechtlichen Dogmatik. Dieser Eindruck wird durch eine neuere Untersuchung über „Ermittlungsmaßnahmen zur Gefahrerforschung und einstweilige polizeiliche Anordnungen" im „Vorfeld der Polizeigefahr" 60 bestätigt. Die dort präsentierte Analyse der einschlägigen Judikatur namentlich des PrOVG61, des BVerwG62, des RG" und des BGH64 mündet in die Feststellung, „daß im Mittelpunkt 56 So z.B. Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn. 5), S.227; Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 130; Schenke, aaO (Fn.42), Rdn. II 38; vgl. auch Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 335, der allerdings betont, daß die Beschränkung auf aufklärende und vorläufig sichernde Maßnahmen aufgrund des Übermaßverbots lediglich häufig, nicht aber stets und zwingend geboten ist. 57 N V w Z 1987, 240 (241). 58 So Papier, Altlasten (o. Fn. 1), S. 1 5 f f ; ders., DVB1. 1985, 875; ders., N V w Z 1986, 257 = UTR Bd. 1 (o. Fn. 1), S . 6 2 f f ; Schink, DVB1. 1986, 165 f; Striewe, Z f W 1986, 280 f. 59 OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ 1987, 240 (241). 60 Kickartz, aaO (Fn.21), S. 7 ff. 61 PrOVGE 59, 441; 77, 333. 62 BVerwGE 12, 87; 39, 190; BVerwG, NJW 1975, 2158. 63 RG, J W 1930, 2113. 64 BGHZ 5, 155; BGH, DVB1. 1954, 813.
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dessen, was man mit der ,Anscheinsgefahr' meint, der Gefahrverdacht steht und daß der Rückgriff auf die Generalermächtigungen Ermittlungsmaßnahmen und einstweilige polizeiliche Anordnungen rechtfertigen soll" 65 . So aufschlußreich die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Rechtsprechung, ihrer Fallösungen und Begriffsbildungen sowie der changierenden Begriffsrezeption des polizeirechtlichen Schrifttums" sein mag, soll dennoch an dieser Stelle die Entwicklungsgeschichte der genannten Begriffe nicht vertieft werden. Daß die Begriffsbildung in Rechtsprechung und Schrifttum nicht geradlinig, sondern schwankend und teilweise verwirrend verlaufen ist, läßt sich nicht bestreiten. Trotzdem soll hier, soweit möglich, an die üblichen Begriffe und damit an das Ergebnis der polizeirechtlichen Begriffsgeschichte angeknüpft werden. Mit Hilfe dieses Rasters und der eventuell erforderlichen Ergänzungen soll versucht werden, die ungewissen Sachverhalte sowie vor allem die entscheidungsbedürftigen Anscheins- und Verdachtslagen aufzuschlüsseln 67 . Dazu muß das zuvor ausgebreitete Fallmaterial systematisiert werden. Erst danach kann einer differenzierten Lösung der aufgeworfenen Fragen im Umgang mit verschiedenen Anscheins- und Verdachtslagen nachgespürt werden. Dieses Vorgehen bietet eine größere Aussicht auf sachliche Klärungen als der Weg einer weiteren entwicklungsgeschichtlichen Kritik. Die Frage, ob namentlich bei der Entwicklung der heute unterschiedenen Begriffe „Anscheinsgefahr" und „Gefahrenverdacht" Mißdeutungen unterlaufen sind, tritt dadurch in den Hintergrund. Die Systematisierung des Fallmaterials muß sich an der-sachlichen Notwendigkeit und Tauglichkeit der herausgebildeten Kategorien orientieren. Methodisch handelt es sich hierbei um eine objektive, teleologisch ausgerichtete Gesetzesauslegung. Die mehrdeutigen und mehrschichtigen Eierschalen der polizeirechtlichen Begriffsgeschichte müssen zwar bewußt bleiben, dürfen jedoch nicht nachträglich mit Erkenntniserwartungen überfrachtet werden.
65
Kickartz, a a O (Fn.21), S . 3 9 . " D a z u namentlich Hoffmann-Riem, a a O (Fn. 14); Kickartz, a a O (Fn. 21), S. 7 f , 12 f, 78 ff und passim. " Ebenso Martens, in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, a a O (Fn. 5), S. 225 ff, entgegen neueren Stimmen, welche die Begriffe der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts für entbehrlich halten und verabschieden wollen (so Damstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 85 ff, 94 ff, für die Anscheinsgefahr und den Gefahren verdacht; Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 84 ff, für die Anscheinsgefahr); treffend Martens, ebenda, S. 225, Fn. 30: „ D u r c h Preisgabe der Begriffe würden sich . . . die unter diesen Abbreviaturen diskutierten Probleme nicht erledigen)."
U m w e l t s c h u t z und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen
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1. Unterscheidung nach dem Gegenstand und der Art der Ungewißheit Nach dem Gegenstand und der Art der Ungewißheit müssen verschiedene Fallsituationen im Aufgabenbereich der Gefahrenabwehr auseinandergehalten werden. Zwar bezieht sich die Ungewißheit in allen diesen Situationen auf den Sachverhalt, der einer Polizei- oder Ordnungsbehörde einen Anlaß zur Gefahrenabwehr gibt. Die Hervorhebung solcher Unterschiede ist im Polizeirecht geläufig, wird jedoch üblicherweise nicht „zu Ende gedacht". Insofern gilt es, systematische Lücken und Mängel zu überwinden. Deshalb muß im Problemkreis des Umgangs mit ungewissen Sachverhalten gerade die notwendige Unterscheidung nach Gegenstand und Art der Ungewißheit über die begriffsgeschichtliche Perspektive hinausgreifen. a) Putativ- oder
Scheingefahr
Nur am Rande sei hier die Putativgefahr erwähnt, die im neueren Schrifttum im allgemeinen auch mit dem synonym verstandenen Begriff der Scheingefahr belegt wird. Hierbei handelt es sich um eine Fallsituation, in der „die Polizei einen Schadenseintritt subjektiv für wahrscheinlich hält, ohne daß sich diese Annahme auf hinreichende Anhaltspunkte zu stützen vermöchte"68. In solchen Fällen liegt objektiv - ex ante wie ex post betrachtet - keine Gefahr, sondern ein pflichtwidriger und zurechenbarer Irrtum eines Amtswalters vor, der fälschlich den Tatbestand einer Gefahr unterstellt. Die dadurch ausgelösten Eingriffe sind rechtswidrig69. Ein derartiger Fall läge z.B. vor, wenn die behördliche Annahme einer gesundheits- oder umweltgefährdenden Boden- oder Grundwasserverseuchung infolge eines Meß- oder Analysefehlers objektiv falsch ist. Selbst vorläufige Maßnahmen eines ersten behördlichen Zugriffs sind dann als rechtswidrig zu qualifizieren. Diese Fallsituation braucht im folgenden nicht vertieft zu werden. b)
Anscheinsgefahr
Unter der Anscheinsgefahr wird in Rechtsprechung70 und Lehre71 eine Fallsituation verstanden, die zwar - objektiv und ex post betrachtet und 68 Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S.225; Schenke, aaO (Fn.42), Rdn. II 36; Hansen-Dix, aaO (Fn.21), S.58f; Schneider, DVB1. 1980, 406 (408). " Vgl. die Nachweise in Fn.68; ferner bereits PrOVG, PrVBl. 38, 360. 70 So PrOVGE 77, 333 (338 f); BGH2 5, 144 (149, 152); BGH, DVB1. 1954, 813; BVerwGE 45, 51 (58); 49, 36 (44); OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1980, 138; OVG Lüneburg, NJW 1984, 192 (193); OVG Hamburg, NJW 1986, 2005. 71 So Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn. 5), S. 226; Schenke, aaO (Fn. 42), Rdn. II 37; Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S.327f, 331 f; Hansen-Dix, aaO (Fn.21), S.59f; Schneider, DVB1. 1980, 406 (408); ferner Friauf aaO (Fn.32), S.203; im Ergebnis auch
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insoweit ebenso wie die Putativ- oder Scheingefahr - keine „Schadenseignung" aufweist, aber — objektiv und ex ante betrachtet und insoweit anders als die Putativ- oder Scheingefahr - nicht nur von dem handelnden Amtswalter als gefährlich angesehen worden ist, sondern auch nach dem „Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters" als Gefahrentatbestand erschien. Die so definierte Anscheinsgefahr wird entweder unter den Begriff der Gefahr i. S. der polizeirechtlichen Generalklausel subsumiert72 oder als sachgerechte „Hilfskonstruktion" aufgefaßt73 und deshalb dem eingriffslegitimierenden Tatbestand der realen Gefahr gleichgestellt. Ebenso ist eine Anscheinsstörung denkbar, wenn ex ante der objektive Anschein einer Störung, d. h. einer bereits erfolgten Verletzung eines polizeilichen Schutzgutes, besteht74. Soweit polizeiliche Eingriffe aufgrund der ex ante bestehenden Erkenntnislage objektiv notwendig und unaufschiebbar erscheinen, sind sie gerechtfertigt. Dieses Ergebnis ist heute unstreitig und unabweisbar, damit die behördliche Gefahrenabwehr funktionsfähig bleibt. Eine Gefahr besteht nämlich nur, aber auch stets, wenn die Schädigung eines polizeilichen Schutzgutes „bei ungehindertem Geschehensablauf hinreichend wahrscheinlich ist"75. Die Gefahrenabwehr ist deshalb auf eine Wahrscheinlichkeitsprognose zugeschnitten und somit sachlich auf eine Tatsachenbeurteilung ex ante angewiesen. Dieser Einsicht entspricht es, den Rechtsbegriff der Gefahr i. S. der gebotenen Wahrscheinlichkeitsprognose strikt auf die Ex-ante-Perspektive zu beziehen. Danach fällt die Anscheinsgefahr direkt unter den Rechtsbegriff der Gefahr, ohne daß es einer analogen Gesetzesanwendung oder einer „Hilfskonstruktion" bedarf76. Grundsätzlich kann z . B . auch ein ungewisser, d.h. nicht abschließend geklärter Sachverhalt einer Boden- oder Grundwasserverseuchung
Götz, aaO (Fn.5), Rdn. 125 ff (der jedoch vor einer Subjektivierung des Gefahrenbegriffs warnt). 72 So die h. M.; vgl. die Nachweise in Fn. 71 außer den in Fn. 73 Genannten. 73 So Friauf, aaO (Fn. 32), S. 203, allerdings ohne genauere rechtsdogmatische Qualifizierung und ohne Andeutung praktischer Konsequenzen; ähnlich, darüber hinaus aber mit einschränkender Tendenz: Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 127; weitergehend, nämlich sowohl die Subsumtion der Anscheinsgefahr unter den Rechtsbegriff der Gefahr als auch die analoge Gleichstellung der Anscheinsgefahr mit der realen Gefahr ablehnend: Schwabe, DVB1. 1982, 655 f. 74 Vgl. Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S.328f, 330 f; streng genommen, müßten daher die Begriffe und die Fallsituationen der Anscheinsgefahr und der Anscheinsstörung stets nebeneinander erwähnt werden; trotzdem wird im folgenden - der üblichen Begriffsbildung entsprechend - im Interesse der Übersichtlichkeit lediglich die Anscheinsgefahr ausdrücklich benannt. " So die „klassische" Umschreibung der Gefahr; vgl. statt vieler: Drews/Wacke/Vogel/ Martens, aaO (Fn. 5), S. 223 ff mit weiteren Nachweisen. 76 Ebenso die h. M.; vgl. die Nachweise in Fn. 70-72; a. A. die in Fn. 73 Genannten.
Umweltschutz und Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen
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eine Anscheinsgefahr darstellen. Dies setzt jedoch definitionsgemäß voraus, daß - ex ante betrachtet - der objektive Anschein einer Situation mit festgestellter Schadenseignung bestand, die Behörde dementsprechend - subjektiv - zur Abwehr einer vermeintlich festgestellten Gefahr tätig wird, dieser Gefahrenanschein jedoch später widerlegt wird, sich also - objektiv und ex post betrachtet - als falsch erweist. Ein solcher Fall ist denkbar, wenn scheinbar eindeutige, aber irreführende Anzeichen für bestimmte Kontaminationen und Schadstoffwirkungen vorliegen. Hierfür mag das Beispiel stehen, daß Tiere nach dem Kontakt mit einem belasteten, in Wirklichkeit aber nicht gefährlich kontaminierten Grundstück oder Gewässer verenden, als wirkliche Todesursache jedoch später überraschend eine anderweitige, zunächst unbekannte und nicht erkennbare Nahrungsaufnahme der Tiere ermittelt wird77. Das zuvor dargestellte, der Rechtsprechung entnommene Fallmaterial 78 umfaßt jedoch keinen Sachverhalt dieser Art. Zudem ist ein solcher Fall einer bloßen Anscheinsgefahr und einer nachträglichen Widerlegung des Gefahrenanscheins praktisch kaum noch vorstellbar, wenn fehlerfrei durchgeführte Probenahmen und Messungen bereits gefährliche Kontaminationen des Bodens oder Grundwassers auf dem fraglichen Grundstück ergeben haben.
c) Anscheinsgefahr
und Anscheinsstör er
Mit dem Vorliegen einer Anscheinsgefahr steht noch nicht fest, ob ein einzelner wegen der notwendigen und unaufschiebbaren Abwehrmaßnahmen als Störer in Anspruch genommen werden kann. Vielmehr bleibt die Frage zu stellen, wer durch sein Verhalten oder durch den Zustand seiner Sachen Anscheinsstörer ist79. Dafür reicht nicht aus, daß jemand ein Verhalten oder einen Sachzustand zu einer Fallsituation beigetragen hat, die den Tatbestand einer Anscheinsgefahr erfüllt. Es kommt vielmehr für die Verhaltenshaftung darauf an, ob der eingriffslegitimierende Gefahrenanschein durch das Verhalten des fraglichen Adressaten verursacht worden ist. Für die Zustandshaftung ist maßgebend, ob der Gefahrenanschein von dem Zustand einer Sache ausgeht, die im Eigentum oder in der tatsächlichen Gewalt des fraglichen Adressaten steht. W e r weder den einen noch den anderen Haftungstatbestand verwirklicht hat, erfüllt nicht die polizeirechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen. E r ist kein Störer, und zwar auch kein Anscheinsstörer,
77 Abwandlung des Sachverhalts in VG Karlsruhe, ZfW 1985, 55 (56), wo das Verenden der Tiere ein zutreffendes Indiz für einen realen Störungs- und Gefahrenzustand bildete. 78 Vgl. oben Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 3 5 - 5 9 . 79 Im Ansatz zutreffend und klar schon Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 329 f.
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sondern Nichtstörer 80 . Ihm können daher die (notwendigen und unaufschiebbaren) Maßnahmen zur Abwehr der Anscheinsgefahr wie auch die Kosten solcher Maßnahmen nicht auferlegt werden. Freilich gilt diese Beurteilung in einem konkreten Fall erst, wenn die Anscheinsgefahr als solche aufgedeckt, also der Gefahrenanschein widerlegt ist. Erst danach kann die Frage gestellt und beantwortet werden, ob jemand den eingriffslegitimierenden Gefahrenanschein durch sein Verhalten oder durch einen zurechenbaren Sachzustand verursacht hat. Vorher bietet die Anscheinsgefahr das gleiche Bild wie eine reale Gefahr; beide Gefahrenarten sind so lange nicht unterscheidbar. Bis zur Aufdeckung der Anscheinsgefahr, d. h. bis zur Widerlegung des Gefahrenanscheins, kann derjenige, der das Bild des Verhaltensverursachers oder - als Sacheigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Sachgewalt - das Bild des Zustandsverursachers bietet, zu Abwehrmaßnahmen oder deren Kosten herangezogen werden, und zwar ebenso wie bei einer realen Gefahr oder Störung. Insoweit ist mit Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit der Gefahrenabwehr für die rechtliche Beurteilung der Adressaten- wie der Gefahrenfrage die Ex-ante-Perspektive maßgebend81. Wird der Gefahrenanschein widerlegt, muß das vorherige polizeiliche Einschreiten konsequenterweise nach wie vor als rechtmäßig angesehen werden. Dies muß auch im Hinblick auf die Adressatenfrage für die vorherige Inanspruchnahme eines Verhaltens- oder Zustandsverursachers aufgrund der Anscheinslage gelten. Die rechtmäßige Inanspruchnahme wird nicht nachträglich rechtswidrig. Sie kann jedoch nach der Widerlegung des Gefahrenanscheins nicht aufrechterhalten werden. Wer den Gefahrenschein weder durch sein Verhalten noch durch einen Zustand seiner Sachen verursacht hat und deshalb nicht (mehr) als Störer herangezogen werden kann, gleichwohl aber aufgrund der vorherigen Anscheinslage als Störer (rechtmäßig) herangezogen worden ist, ist das Opfer eines drittseitig zu verantwortenden Verhaltens oder Sachzustandes geworden. Zu seinen Gunsten greift der Gesichtspunkt der Folgenbeseitigung ein. Ein solcher Adressat muß deshalb nachträglich aus der Ex-post-Perspektive als rechtmäßig herangezogener Nichtstörer behandelt werden. Er hat demgemäß wegen der erfolgten,
So auch Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 336 ff; Schenke, aaO (Fn. 42), Rdn. 38, 93, 232; weitergehend (und insoweit nicht überzeugend) Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 131, 288, der denjenigen, der durch sein Verhalten oder durch einen Zustand seiner Sachen den Eindruck einer Gefahr erweckt hat, stets als Nichtstörer ansieht. 81 Dies wird im allgemeinen übersehen; auch Hoffmann-Riem, ebenda, übergeht diesen Aspekt und dessen Konsequenzen.
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rechtmäßigen Inanspruchnahme einen polizeirechtlichen Entschädigungsanspruch82. Anscheinsstörer ist und bleibt dagegen, wer die Anscheinsgefahr entweder durch sein Verhalten oder als Eigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt durch einen anscheinsbegründenden Zustand seiner Sachen verursacht hat. Ein solcher Anscheinsstörer ist und bleibt im vollen Sinne Störer83. Er hat durch die Verhaltens- oder zustandsbedingte Begründung des Geiahrenanscheins die polizeiliche „Gefahrenschwelle" überschritten und die Entstehung der Anscheinsgefahr zu verantworten. Bei dieser Verantwortlichkeit und der daraus resultierenden Verhaltensoder Zustandshaftung bleibt es auch, wenn später die Anscheinsgefahr als solche aufgedeckt, also der Gefahrenanschein widerlegt wird. d) Reale Gefahr oder Störung und Anscheinsstörer Die Fallsituation einer realen Gefahr oder Störung und eines Anscheinsstörers liegt vor, wenn eine Gefahr ex ante wie ex post festgestellt, also bewiesen ist und jemand - ex ante und objektiv betrachtet - dem falschen, aber erst später widerlegten Anschein ausgesetzt ist, diese Gefahr oder Störung sei durch sein Verhalten oder durch einen Zustand seiner Sachen verursacht worden. Hier muß - ähnlich wie in Fällen einer zugrunde liegenden Anscheinsgefahr - zwischen dem echten Anscheinsstörer und dem anscheinsbetroffenen Nichtstörer unterschieden werden. Der echte Anscheinsstörer ist im vollen Sinne Störer, und zwar Verhaltens- oder Zustandsstörer. Seine polizeirechtliche Verantwortlichkeit beruht darauf, daß entweder sein Verhalten oder ein Zustand seiner Sachen den Verursachungsanschein in bezug auf die reale Gefahr oder Störung begründet hat84. Die polizeirechtliche Inanspruchnahme des echten Anscheinsstörers bleibt als solche auch dann rechtmäßig, wenn nachträglich der Anschein der Verhaltens- oder Zustandsverursachung widerlegt wird. Anders ausgedrückt: Die Widerlegung des zu verantwortenden, haftungsbegründenden Verursachungsanscheins läßt den in Anspruch genommenen Anscheinsstörer nicht nachträglich zum Nichtstörer werden. Er bleibt vielmehr Störer.
82 Vgl. die Nachweise in Fn. 8 0 ; im Ergebnis ebenso Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn. 5), S. 2 2 7 , 668 (allerdings auf der Grundlage der insoweit nicht überzeugenden Annahme, ein solcher Adressat sei Störer). 85 So auch BGHZ 5, 144 ( 1 5 2 ) ; Drews/Wacke/Vogel/Martens, ebenda; Schenke, aaO (Fn. 42), Rdn. II 9 3 ; a. A . Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 131, 2 8 8 (der jedoch - insoweit mit den zuvor zitierten Stimmen der h. M . übereinstimmend - einem solchen Anscheinsverursacher einen Entschädigungsanspruch abspricht). 84 Diese Fallsituation wird von den in Fn. 83 zitierten Stimmen nicht erörtert.
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Demgegenüber zeichnet sich ein anscheinsbetroffener Nichtstörer dadurch aus, daß weder sein Verhalten noch ein Zustand seiner Sachen den Verursachungsanschein in bezug auf die reale Gefahr oder Störung begründet hat. Solange der objektive Verursachungsanschein in bezug auf die reale Gefahr oder Störung besteht, ist zwar die Heranziehung des anscheinsbetroffenen Nichtstörers als Verhaltens- oder Zustandsstörer rechtmäßig. Sobald der Verursachungsanschein indessen widerlegt und der anscheinsbetroffene Nichtstörer als solcher „rehabilitiert" ist, muß zu dessen Gunsten die Ex-post-Perspektive walten. Er muß demgemäß ebenso wie im Falle der drittseitig zu verantwortenden Anscheinsgefahr - als rechtmäßig herangezogener Nichtstörer behandelt werden85. e) Gefahrenverdacht Ein Gefahrenverdacht liegt vor, „wenn der Behörde anders als bei der Anscheinsgefahr bestimmte Unsicherheiten bei der Diagnose des Sachverhalts . . . oder bei der Prognose des Kausalverlaufs bewußt sind und ihr deshalb die Entscheidung über die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erschwert wird"86. In Rechtsprechung und Lehre ist bestritten, ob der begründete Gefahrenverdacht noch als Vorstadium einer Gefahr87 oder schon als Gefahr im Rechtssinne88 zu qualifizieren ist. Unabhängig von diesem Streit werden allerdings im Falle eines Gefahrenverdachts Maßnahmen zur Unterbrechung des Geschehens und Eingriffe zur Ermittlung des Sachverhalts, die sog. Gefahrerforschungseingriffe, als zulässig angesehen89. Ausnahmsweise können im Einzelfall auch sofortige Abwehrmaßnahmen gerechtfertigt sein, wenn der konkrete Gefahrenverdacht wegen des drohenden Schädigungspotentials oder der Relevanz der bedrohten Rechtsgüter besonders schwerwiegend ist90. Die Wiederentdeckung des Gefahrenverdachts und seine Unterscheidung von der Anscheinsgefahr sind der jüngeren Dogmatik des Polizeirechts91 zu verdanken. Früher hat man die Anscheinsgefahr und den Gefahrenverdacht lange nicht oder nicht hinreichend klar unterschie-
So ausdrücklich auch Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 329, 336 ff. So Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S.226. 87 So Götz, aaO (Fn.5), Rdn. 128; ders., NVwZ 1984, 211 (213f). 88 So die h.M., z.B. BVerwGE 39, 190 (193ff); 45, 51 (58); 49, 36 (44); OVG Nordrhein-Westfalen, DVB1. 1982, 653 (654) mit Anm. von Schwabe; Drews/Wacke/ Vogel/Martens, ebenda; Schenke, aaO (Fn.42), Rdn. II 37; Hansen-Dix, aaO (Fn.21); Schneider, DVB1. 1980, 406 (408 f). 89 Vgl. die Nachweise in Fn. 56, 87, 88. 90 Vgl. auch dazu die Nachweise in Fn. 56. " Vgl. die Nachweise in Fn.67, 86-88. 85
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den92. Bemerkenswert ist, daß das oben ausgebreitete Fallmaterial der Rechtsprechung zu behördlichen Maßnahmen des ersten Zugriffs bei ungewissen Sachverhalten der Boden- und Grundwasserverseuchung93 durchweg unter die Kategorie des Gefahrenverdachts oder unter die (Anschluß-)Kategorie des Verursachungsverdachts fällt. Die Kategorien der Anscheinsgefahr und des Anscheinsstörers sind deshalb nicht überflüssig. Vielmehr sind Fallsituationen dieser Kategorien nach wie vor auch bei Boden- und Grundwasserverseuchungen sowie überhaupt bei Umweltverschmutzungen denkbar; wie zuvor ausgeführt'4, liegen solche Anscheinslagen vor, wenn ein Gefahren-, Störungs- oder Verursachungsanschein - ex ante und objektiv betrachtet - den definitiven Eindruck einer realen Gefahr oder Störung oder einer realen Gefahrenoder Störungsverursachung entstehen läßt und der polizeiliche Eingriff auf diesen definitiven Eindruck gestützt ist. Das dargestellte Fallmaterial belegt jedoch, daß Umweltverschmutzungen regelmäßig keine derartige Anscheinslage, sondern eine bloße Verdachtslage hervorrufen. Dazu tragen gerade die Erfahrungen der Behörden mit den komplizierten Sachverhalten aus der aktuellen Szene des Umweltschutzes bei. Hierdurch herrscht im allgemeinen auf seiten der Behörden beim ersten Zugriff das Bewußtsein dafür, daß die vorhandenen Tatsachenkenntnisse unvollständig und weitere Untersuchungen notwendig sind. Eben dies ist die Fallsituation der Verdachtslage. Beim Gefahrenverdacht tauchen indessen spezifische Schwierigkeiten auf, die in dieser Weise bei der Anscheinsgefahr oder -Störung und der Anscheinsverursachung nicht relevant werden. So fragt sich, welche (vorläufigen oder endgültigen) Maßnahmen sowie welche Kosten die Behörde einem herangezogenen Adressaten schon während der bloßen Verdachtslage auferlegen kann. Darüber hinaus ist zu fragen, ob ein Gefahrerforschungseingriff auf die polizeirechtliche Generalklausel gestützt werden kann95. Hiermit korrespondiert die umgekehrte Frage, ob nicht die Gefahrerforschung von der gebotenen Amtsermittlung nach §24 VwVfG umfaßt wird und somit von Gesetzes wegen Sache der Behörde ist. Darauf gründet sich der namentlich von Wolfgang Mar92 So noch Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14); zur Begriffsgeschichte und zur Analyse der Rechtsprechung Kickartz, aaO (Fn.21), S. 7 ff; vgl. auch die obigen Bemerkungen unter Ziffer III, vor 1. 95 Vgl. oben Ziffer II mit Fn. 35-59. 94 Vgl. oben Ziffer III 1 b-d. 95 Diese Frage wird im polizeirechtlichen Schrifttum (zumeist ohne Auseinandersetzung mit dem potentiellen Gegenargument aus § 24 VwVfG) durchweg bejaht; so die in F n . 5 6 zitierten Stimmen; im Ergebnis auch Kickartz, aaO (Fn.21), S. 78ff, 253ff (allerdings mit nicht überzeugender Begründung unter Annahme entsprechenden Gewohnheitsrechts).
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tens* vertretene Standpunkt, die polizeilichen Ermittlungen und deren Kosten fielen stets den Polizei- und Ordnungsbehörden zur Last; dies gelte auch bei einem Gefahrenverdacht und unabhängig davon, ob die Ermittlungen den Verdacht der Behörde entkräfteten oder bestätigten. Wie erwähnt, neigt auch das OVG Rheinland-Pfalz97 im Gegensatz zu anderen Gerichten98 diesem Standpunkt zu. f ) Gefahrenverdacht und Verdachtsstör er Ebenso wie mit der Feststellung einer Anscheinsgefahr noch nicht geklärt ist, ob ein einzelner wegen der notwendigen und unaufschiebbaren Abwehrmaßnahmen als Störer in Anspruch genommen werden kann99, ist mit der Feststellung eines konkreten Gefahrenverdachts die Störer- und Adressatenfrage noch offen. Vielfach wird allerdings mit dem Vorliegen eines Gefahrenverdachts auch ein konkreter Verursachungsverdacht verbunden sein. Die bloße objektive Verdachtsbetroffenheit begründet jedoch noch keine Störereigenschaft100. So kann der Verursachungsverdacht im Einzelfall allein darauf beruhen, daß jemand als Handelnder, als Sacheigentümer oder als Inhaber der tatsächlichen Sachgewalt in einer sachlichen, räumlichen und zeitlichen Nähe zu dem Herd des Gefahrenverdachts steht. In den Fällen einer Boden- oder Grundwasserverseuchung kann das kontaminierte Grundstück oder Grundwasser in diesem Sinne als Gefahrenherd bezeichnet werden; ein Anlagenbetrieb, eine Bodennutzung, eine Gewässerbenutzung oder eine bestimmte Grundstücksbeschaffenheit im Umkreis um die Stelle einer Probenahme kann die Rolle des Nähefaktors und Verdachtauslösers spielen. Da die Behörde sich beim Gefahren verdacht - anders als bei der Anscheinsgefahr - der Unvollständigkeit der verfügbaren Tatsachenkenntnis bewußt ist und die Ungewißheit des Sachverhalts ex ante kennt, begegnet es jedenfalls Bedenken, wenn der bloße Verdachtsbetroffene
" In: Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn. 5), S.678 (trotz der Ausführungen auf S.227 zur Zulässigkeit von Aufklärungsmaßnahmen aufgrund der polizeirechtlichen Generalklausel); ebenso zum Gebot der Amtsermittlung und zu §24 VwVfG die in Fn. 58 zitierten Stimmen aus dem jüngeren Schrifttum. 97 NVwZ 1987, 240 f; dazu oben Ziffer II 4. " So (allerdings für Maßnahmen zur Aufklärung eines Verursachungsverdachts bei einer festgestellten Gefahr oder Störung) am deutlichsten: OVG Saarland, AS 18, 248 = DÖV 1984, 471; auch VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1986, 325; VG Karlsruhe, ZfW 1985, 55; HessVGH, DÖV 1987, 260; vgl. zum Ganzen oben Ziffer II 1-3. 99 Vgl. oben III 1 c sowie die Nachweise in Fn. 80. 100 Ebenso der Sache nach Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 329 f, 336 ff (allerdings ohne die Unterscheidung zwischen Anscheins- und Verdachtslagen sowie unter den übergreifend verstandenen Begriffen der „Anscheinsgefahr" und der „Anscheinsverursachung"); insoweit zutreffend auch Götz, aaO (Fn. 5), Rdn. 131; ders., NVwZ 1984, 211 (214).
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ohne weiteren Zurechnungsgrund zur Vornahme oder zu den Kosten von Abwehrmaßnahmen herangezogen wird. Eine wesentlich andere Fallsituation liegt vor, wenn der Betroffene sich durch sein individuelles Verhalten oder durch den konkreten Zustand seines Grundstücks oder seiner Anlagen den objektiven Gefahren- oder Verursachungsverdacht zugezogen hat. Typische Beispiele hierfür bilden rechtswidrige oder nachlässige Betriebs- und Handlungsweisen sowie rechtswidrige Grundstücks- oder Anlagenzustände. In solchen Fällen liegt nicht nur eine objektive Verdachtsbetroffenheit vor. Vielmehr hat der Betroffene hier den Gefahren- und Verursachungsverdacht (Doppelverdacht) objektiv provoziert. Er muß ihn sich deshalb zurechnen lassen. Dadurch erweist er sich als Störer 10 ', und zwar als Verdachtsstörer. Er kann deshalb als Verhaltens- oder Zustandsstörer zu den Maßnahmen herangezogen werden, die der Polizei- oder Ordnungsbehörde aufgrund des Gefahrenverdachts zu Gebote stehen. g) Reale Gefahr oder Störung und
Verdachtsstörer
Wie das einschlägige Fallmaterial der Rechtsprechung 102 zeigt, ist in (partiell) ungewissen Sachverhalten der Boden- oder Grundwasserverseuchung oft bereits durch Probenahmen und Messungen eine reale Gefahr oder Störung festgestellt. In solchen Fällen kann nicht mehr von einem Gefahrenverdacht gesprochen werden. Ungewiß ist beim ersten behördlichen Zugriff jedoch häufig noch, wer als Verhaltens- oder Zustandsstörer für die festgestellte Gefahr oder Störung verantwortlich ist. Gerade insofern dokumentiert die wiedergegebene Rechtsprechung das eingangs skizzierte Dilemma der Rechts- und Verwaltungspraxis: Das Geflecht von unterschiedlichen, sich überlagernden und zeitlich gestreckten Handlungs- und Zustandsbeiträgen, die als Erbe der technischen und industriellen Entwicklung überkommen sind, läßt vielfach zunächst nur einen Verursachungsverdacht zu. Dessen Grundlage kann in bestimmten signifikanten Verhaltensweisen oder Sachzuständen sowie in der Berücksichtigung typischer Kausalverläufe und allgemeiner Erfahrungssätze bestehen103. Solche Fallsituationen sind mithin dadurch
101 Diese Fallsituation wird im allgemeinen nicht gesondert erörtert, gelegentlich aber offenbar (terminologisch ungenau) unter den Begriffen der „Anscheinsgefahr" und des „Anscheinsstörers" mitbehandelt; in diesem Sinne der Sache nach wie hier: HoffmannRiem, aaO (Fn. 14), S.331, Fn.21; Schenke, aaO (Fn.42), Rdn. II 93; a.A. Götz, aaO (Fn.5), Rdn. 131; ders., NVwZ 1984, 211 (214); Kickartz, aaO (Fn.21), S. 81 ff, 257ff (speziell zum Verursachungsverdacht in bezug auf den Adressaten); vgl. auch oben Ziffer III 1 c bei Fn. 83 und die dortigen Nachweise (zur Fallsituation der Anscheinsgefahr und des Anscheinsstörers). 102 Vgl. oben Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 35-59. 103 Eingehend dazu Hoffmann-Riem, aaO (Fn.14), S. 332 ff, 338 ff.
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gekennzeichnet, daß eine reale Gefahr mit einem Verursachungsverdacht verbunden ist. Der Verursachungsverdacht bedeutet nicht, daß der Verdachtsbetroffene stets Verdachtsstörer wäre und als solcher zu Maßnahmen oder Kosten der Gefahrenabwehr herangezogen werden könnte. Vielmehr muß - ähnlich wie bei einem zugrunde liegenden Gefahrenverdacht zwischen dem Verdachtsstörer und dem bloßen Verdachtsbetroffenen unterschieden werden. Der Verdachtsstörer ist i. S. der allgemeinen polizeirechtlichen Begriffsbildung Störer 104 , und zwar Verhaltens- oder Zustandsstörer. Als Verhaltensstörer ist demgemäß verantwortlich, wer sich durch eine rechtswidrige oder nachlässige Betriebs- und Handlungsweise den Verdacht zugezogen hat, er habe die festgestellte Gefahr verursacht. Als Zustandsstörer ist verantwortlich, wer sich als Sacheigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Sachgewalt durch einen rechtswidrigen Zustand seines Grundstücks oder seiner Anlagen den Verdacht zugezogen hat, eine dieser Sachen sei störend oder gefährlich und die festgestellte Gefahr oder Störung somit durch diese Sache verursacht 105 . Im einen wie im anderen Falle überschreitet der Verdachtsstörer die polizeiliche „Gefahrenschwelle". Er kann daher zu den Maßnahmen herangezogen werden, welche die Polizei- oder Ordnungsbehörde schon während der Verdachtslage ergreifen kann. Jedenfalls können die behördlichen Befugnisse in der Fallsituation einer realen Gefahr oder Störung und eines Verdachtsstörers nicht geringer sein als in der zuvor erwähnten Fallsituation, in der lediglich ein Gefahren- und Verursachungsverdacht (Doppelverdacht) vorliegt und der potentielle Adressat die Merkmale des Verdachtsstörers erfüllt106. Hat der Verdachtsbetroffene indessen weder durch sein Verhalten noch durch einen Zustand seiner Sachen einen Verursachungsverdacht provoziert, so begegnet seine polizeiliche Inanspruchnahme auch bei einer zugrunde liegenden realen Gefahr oder Störung durchgreifenden Bedenken. Seine Heranziehung als Störer würde auch hier eines individuellen Zurechnungsgrundes entbehren, also „auf reinen Verdacht hin" erfolgen. Der Betroffene befindet sich folglich in der Rechtsposition des Nichtstörers 107 . In die gleiche Richtung zielt das bereits hervorgehobene Argument, die Gefahrerforschung gehöre zur behördlichen Amtsermittlung nach § 24 V w V f G . Dieses Argument richtet sich zwar grundsätzlich gegen jeden „Gefahrerforschungseingriff", drängt sich aber besonders
Vgl. oben Ziffer III 1 f bei Fn. 101 und die dortigen Nachweise. Zutreffend daher aufgrund der konkreten Fallumstände: VGH Baden-Württemberg, N V w Z 1986, 325; VG Karlsruhe, ZfW 1985, 55; dazu oben Ziffer II 1 b, c. Vgl. oben Ziffer II 1 f. 107 Vgl. oben bei Fn. 100 und die dortigen Nachweise. 104
105
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auf, wenn der potentielle Adressat eines solchen Eingriffs lediglich einem schlichten Verursachungsverdacht ausgesetzt ist, also infolge äußerer Umstände bloßer Verdachtsbetroffener ist. h) Ungewißheiten hinsichtlich der situationsgerechten Maßnahmen Unabhängig von der Gefahr- und der Adressatenfrage und somit auch unabhängig von den Fallsituationen einer Anscheinsgefahr, eines Anscheinsstörers, eines Gefahrenverdachts und eines Verdachtsstörers können schließlich Ungewißheiten darüber herrschen, welche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im konkreten Fall situationsgerecht, d. h. geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. Dabei geht es, allgemein formuliert, um die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Mittels. Daß insofern gerade auch nach ersten Feststellungen von Boden- oder Grundwasserverseuchungen ein erheblicher Ermittlungsbedarf bestehen kann108, wird durch das Fallmaterial der Rechtsprechung' 09 eindrucksvoll bestätigt. Auch hier kann man von Anscheins- und Verdachtslagen sprechen. Der Anschein oder Verdacht bezieht sich insoweit auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der in Betracht kommenden Abwehrmaßnahmen. Die Problematik des „Gefahrerforschungseingriffs" taucht hier zwar nicht im strengen Wortsinne auf, wohl aber in der abgewandelten Erscheinungsform des polizeilichen „Ermittlungseingriffs" hinsichtlich der geeigneten, erforderlichen und verhältnismäßigen Abwehrmaßnahmen. Der sachliche Kern des Problems ändert sich dadurch nicht. Auch insoweit ist zu klären, ob die polizeiliche Ermittlung unter das Gebot der Amtsermittlung nach §24 VwVfG fällt oder einem polizeipflichtigen „Störer" aufgrund der Verhaltens- oder Zustandshaftung auferlegt werden kann110. 2. Unterscheidung nach der Art der Abwehrmaßnahmen Anscheins- und vor allem Verdachtslagen rechtfertigen mit Rücksicht auf ihre typischen Ungewißheiten nicht jede Abwehrmaßnahme, die beim definitiven Beweis eines entsprechenden Gefahrentatbestandes zulässig ist. Einschränkungen ergeben sich aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 111 . Die zulässigen Maßnahmen beschränken sich danach auf das im ersten behördlichen Zugriff N o t -
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Vgl. dazu die einleitenden Überlegungen unter Ziffer I. Vgl. oben Ziffer II mit den Nachweisen in Fn. 35-59. 110 Im letzteren Sinne Kickartz, a a O (Fn.21), S. 85 f; wohl auch Drews/Wacke/Vogel/ Martens, a a O (Fn. 5), S.227; a. A. die in Fn. 58 zitierten Stimmen; dazu neigend auch OVG Rheinland-Pfalz, N V w Z 1987, 240 (241) (vgl. oben Ziffer II 4). 111 Vgl. oben bei Fn. 56, 89, 90 und die dortigen Nachweise. 109
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wendige und Unaufschiebbare. Das gilt insbesondere für Verdachtslagen, die sich definitionsgemäß dadurch auszeichnen, daß die Ungewißheiten des Sachverhalts und die Notwendigkeit einer weiteren „Gefahrerforschung" den Amtswaltern der zuständigen Behörde bewußt sind. Zur Handhabung dieser Grundsätze müssen die denkbaren Maßnahmen der Gefahrenabwehr nach ihrer Art unterschieden werden. Kriterien einer solchen Unterscheidung sind der konkrete Abwehrzweck und die Eingriffsschwere. Demgemäß heben sich Maßnahmen der Gefahrerforschung, der vorläufigen Gefahrenabwehr, des Gefahreneinschlusses und der Gefahrenbeseitigung voneinander ab. Die Gefahrerforschung umfaßt polizeiliche Ermittlungen. Sie dient nur mittelbar der Gefahrenabwehr, nämlich der Beschaffung der notwendigen Tatsachenkenntnisse im Vorfeld der eigentlichen und unmittelbaren Gefahrenbekämpfung'12. In den Fällen einer Boden- oder Grundwasserverseuchung bilden Probeund Sondierungsbohrungen, Probenahmen und Messungen typische Maßnahmen einer solchen Gefahrerforschung113. Maßnahmen der vorläufigen Gefahrenabwehr haben interimistischen Charakter. Sie richten sich zwar unmittelbar gegen eine drohende Gefahr, schaffen jedoch nur eine vorübergehende Abhilfe114. Ihr Aufwand ist regelmäßig geringer als derjenige endgültiger und dauerhafter Maßnahmen. Daher sind Maßnahmen der vorläufigen Gefahrenabwehr bei Anscheins- und Verdachtslagen eher akzeptabel. Von einem Gefahreneinschluß kann gesprochen werden, wenn eine (endgültige) Maßnahme die Gefahr nicht beseitigt, sondern lediglich nach außen abschirmt. Zum Beispiel ist insofern an die Einzäunung und Bewachung eines kontaminierten Grundstücks zu denken115. Schließlich bildet die endgültige und dauerhafte Gefahrenbeseitigung das effektivste und zuverlässigste Mittel der Gefahrenabwehr. Naturgemäß sind solche Maßnahmen, etwa die Auskofferung und Beseitigung oder die physikalische, chemische und biologische Behandlung von kontaminiertem Erdreich, am aufwendigsten116. Die Heranziehung eines bloßen Verdachtsbetroffenen zur Vornahme oder zu den Kosten derartiger Maßnahmen der Gefahrenbeseitigung begegnet daher, relativ betrachtet, den stärksten Bedenken.
112 Eingehend dazu im Hinblick auf die Modalitäten Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S. 330 ff; Kickartz, aaO (Fn.21), S. 78 ff, 144 ff, 251 ff; vgl. auch die obigen Ausführungen unter Ziffer III 1 b-g. 113 Vgl. dazu das obige Fallmaterial der Rechtsprechung unter Ziffer II. 114 Eingehend dazu im Hinblick auf die näheren Inhalte und Modalitäten Kickartz, aaO (Fn.21), S. 105ff. 115 Vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.6.1985, 4 B 1621/85 (mitgeteilt von Sander, BauR 1986, 666). Dazu aus naturwissenschaftlich-technischer Sicht Stegmann, in: UTR Bd. 1 (o. Fn. 1), S. 5 ff, 11 f; vgl. auch Sander, BauR 1986, 658 f.
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3. Unterscheidung nach der gesetzlichen Eingriffsermächtigung Klarzustellen bleibt, daß die zuvor dargelegte Systematik der verschiedenen Anscheins- und Verdachtslagen nicht unbesehen und undifferenziert auf alle Materien der Gefahrenabwehr anwendbar ist. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, die Eingriffsvoraussetzungen sowie die geforderte Diagnose- und Prognosegewißheit zu modifizieren. Er kann damit die Weichen für die Entscheidung ungewisser Sachverhalte in unterschiedlicher Weise stellen. Infolgedessen ist eine Unterscheidung nach der anwendbaren gesetzlichen Eingriffsermächtigung geboten. Die dargelegte Systematik der verschiedenen Anscheins- und Verdachtslagen gilt - wie gezeigt — im Anwendungsbereich der polizeirechtlichen Generalklausel und der gleichartigen spezialgesetzlichen Eingriffsermächtigungen 117 , insbesondere mithin für Boden- und Grundwasserverseuchungen mit ungewissen Sachverhaltselementen. Hier bildet namentlich der Gefahrenverdacht eine eigene Kategorie bestimmter, im tatbestandlichen „Grenzbereich" liegender Fallsituationen 118 , da der gesetzliche Eingriffstatbestand auf die Rechtsbegriffe der Gefahr und der Störung beschränkt ist. Dagegen finden sich in anderweitigen Spezialgesetzen der Gefahrenabwehr weitergehende Eingriffsermächtigungen, deren rechtsbegrifflicher Tatbestand neben der Gefahr und der Störung ausdrücklich die Alternative des Gefahrenverdachts umfaßt. Dies trifft innerhalb des allgemeinen Polizeirechts für eine Reihe der speziellen polizeilichen „Standardmaßnahmen" 11 ' sowie für die spezialgesetzlichen Eingriffsermächtigungen im Seuchenrecht120 und im Chemikalienrecht 121 zu. Damit hat der Gesetzgeber in diesen Spezialbereichen der Gefahrenabwehr ausdrücklich den Gefahrenverdacht der realen Gefahr gleichgestellt. Hierdurch ist die Eingriffsschwelle im Interesse einer gesteigerten Effektivität der Gefahrenabwehr vorverlagert worden. Für die Eingriffslegitimation genügt insoweit die geringere Prognosegewißheit des Gefahrenverdachts. Im Anwendungsbereich derartiger spezialgesetzlicher Eingriffsermächtigungen kann folglich der Gefahrenverdacht nicht in einen kategorialen Gegensatz zur realen Gefahr gebracht werden. Deshalb kann der Gefahrenverdacht hier - anders als im Anwendungs-
117
Vgl. die Nachweise in Fn. 30. Vgl. oben Ziffer III 1 e-g. Vgl. etwa zur Durchsuchung von Sachen (z.B. §24 Abs. 1 N r . 3 PolG B-W), zur Vorladung und Vorführung (z. B. §21 Abs. 1 N r . 1 und Abs. 3 PolG B-W), zur Sistierung (z. B. § 20 Abs. 1 N r . 1 PolG B-W) sowie zur Razzia (z. B. §20 Abs. 1 N r . 3-6 PolG B-W) Kickartz, aaO (Fn.21), S.97ff, 161 ff, 175ff, 200ff. 120 §10 Abs. 1 BSeuchenG; dazu BVerwGE 39, 190 (193ff); Drews/Wacke/Vogel/ Martens, aaO (Fn. 5), S. 157; vgl. zum früheren Recht auch BVerwGE 12, 87 (93). 121 §§ 17, 23 C h e m G ; dazu Breuer, in: Chemikalienrecht, Schriften der Gesellschaft für Rechtspolitik, Bd. 3, 1986, S. 212 ff, insbes. S.219, 223 ff. 118
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bereich der polizeirechtlichen Generalklausel und der gleichartigen spezialgesetzlichen Eingriffsermächtigungen — nicht zum Gegenstand einer eigenen, im tatbestandlichen „Grenzbereich" angesiedelten Kategorie von Fallsituationen erhoben werden. IV. Folgerungen für die Maßnahmen- und Kostenlast der Gefahrenabwehr bei Verdachtslagen Auf der Grundlage der polizeirechtlichen Generalklausel sowie der gleichartigen spezialgesetzlichen Eingriffsermächtigungen 122 ergeben sich aus der dargelegten Systematik der Anscheins- und Verdachtslagen Antworten auf die Frage, welche behördlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei den verschiedenen Verdachtslagen im Hinblick auf das Vorliegen einer Gefahr, deren Verursachung oder die situationsgerechten Abwehrmittel zulässig sind. Die systematischen Grundsätze müssen sich an den geschilderten, mit ungewissen Sachverhaltselementen durchsetzten Fällen von Boden- und Grundwasserverseuchungen 123 sowie ähnlichen Umweltverschmutzungen bewähren. Es gilt daher, aus den systematischen Grundsätzen konkrete Folgerungen für die Maßnahmenund Kostenlast der Gefahrenabwehr bei derartigen Verdachtslagen zu ziehen. Dabei muß die für Verdachtslagen kennzeichnende Doppelbödigkeit der Erkenntnis- und Entscheidungsperspektive eingefangen und bewältigt werden. Zunächst müssen die zulässigen Maßnahmen der Gefahrenabwehr aus der Ex-ante-Perspektive der Ungewißheit präzisiert werden. Danach sind die zulässigen Maßnahmen aus der Ex-postPerspektive der nachträglichen Ermittlungen zu bestimmen. 1. Zulässige Maßnahmen der Gefahrenabwehr aus der Ex-ante-Perspektive der Ungewißheit Aus der Ex-ante-Perspektive der Ungewißheit kommt, wie gezeigt124, sowohl beim Vorliegen einer realen Gefahr oder Störung als auch bei einem zugrunde liegenden Gefahrenverdacht der polizeirechtlichen Adressatenfrage entscheidende Bedeutung zu. Wer sich als Verdachtsstörer durch eine rechtswidrige oder nachlässige Handlungsweise oder durch einen rechtswidrigen Zustand seiner Sachen, insbesondere eines Grundstücks oder einer Anlage, den Gefahren- oder Verursachungsverdacht in objektiv provozierender Weise zugezogen hat, muß sich diesen Verdacht zurechnen lassen125. Er kann als Störer zu allen situationsgeVgl. die Nachweise in Fn. 30. Vgl. oben die allgemeinen Überlegungen unter Ziffer I und vor allem das Fallmaterial der Rechtsprechung unter Ziffer II. 124 Vgl. oben Ziffer III 1 f und g. 125 Vgl. oben bei Fn. 101, 104 und 105 sowie die dortigen Nachweise. 122 123
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rechten Maßnahmen der Gefahrenabwehr herangezogen werden. Dazu gehören in aller Regel Maßnahmen der Gefahrerforschung und der vorläufigen Gefahrenabwehr, eventuelle Maßnahmen des Gefahreneinschlusses und ausnahmsweise, nämlich in besonders dringlichen Situationen, auch unaufschiebbare Maßnahmen der endgültigen und dauerhaften Gefahrenbeseitigung126. Da der Verdachtsstörer aufgrund allgemeiner Zurechnungskriterien im echten und eigentlichen Sinne Störer ist, kann er insoweit nicht nur zur Duldung entsprechender behördlicher Maßnahmen, sondern zu deren Vornahme und - im Falle einer behördlichen Selbst- oder Ersatzvornahme - zu den Kosten dieser Maßnahmen herangezogen werden. Er trägt mithin insoweit die vorläufige Maßnahmen- und Kostenlast im Stadium des ersten behördlichen Zugriffs während der bestehenden Verdachtslage. Wer hingegen weder durch sein Verhalten noch durch den Zustand seiner Sachen einen Gefahren- oder Verursachungsverdacht (objektiv) provoziert hat, ist allenfalls bloßer Verdachtsbetroffener. Mangels eines individuellen Zurechnungsgrundes ist er kein Verhaltens- oder Zustandsstörer, sondern Nichtstörer im allgemeinen polizeirechtlichen Sinne127. Er kann deshalb während der bestehenden Verdachtslage grundsätzlich nicht zur Vornahme oder zu den Kosten situationsgerechter Maßnahmen der Gefahrenabwehr herangezogen werden. Insbesondere fällt die notwendige Sachverhaltsaufklärung, die „Gefahrerforschung", hier in den Verantwortungsbereich der Amtsermittlung nach § 24 VwVfG128. In solchen Fällen trägt mithin die Behörde die vorläufige Maßnahmen- und Kostenlast. Soweit behördliche, im Wege der Selbstoder Ersatzvornahme durchzuführende Maßnahmen aus tatsächlichen Gründen im Herrschaftsbereich des Verdachtsbetroffenen, z.B. auf seinem Grundstück oder an seinen Anlagen, erfolgen müssen, kann er lediglich durch eine entsprechende Duldungsverfügung in Anspruch genommen werden129. 2. Zulässige Maßnahmen der Gefahrenabwehr aus der Ex-post-Perspektive der nachträglichen Ermittlungen Aus der Ex-post-Perspektive der nachträglichen Ermittlungen, d.h. der durchgeführten „Gefahrerforschung", stellt sich der entscheidungsbedürftige Sachverhalt in einem neuen Licht dar. Regelmäßig wird die 126 Zur Unterscheidung der verschiedenen Arten von Gefahrenabwehrmaßnahmen oben III 2. 127 Vgl. oben bei Fn. 100 und 107 sowie die dortigen Nachweise. 128 Vgl. oben Ziffern II 4 und III 1 e, g; insoweit zutreffend die in Fn.58, 96 und 97 zitierten Stimmen. 129 Vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, DÖV 1985, 687; OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ 1987, 240 (241).
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ursprüngliche Verdachtslage zu einer festgestellten (bewiesenen) Gefahren-, Störungs- und Verursachungslage. Daraus ergeben sich rechtliche Konsequenzen, die im einzelnen von dem Resultat der durchgeführten Ermittlungen abhängen. a) Widerlegung des Gefahren- oder Verursachungsverdachts Wenn der Gefahren- oder Verursachungsverdacht widerlegt wird, steht fest, daß der Verdachtsbetroffene kein Verhaltens- oder Zustandsstörer ist. Falls er zuvor ausschließlich ein bloßer Verdachtsbetroffener war, ist er endgültig entlastet. Die vorläufige Maßnahmen- und Kostenlast der Behörde wird zur endgültigen130. Soweit der Verdachtsbetroffene zuvor durch eine Duldungsverfügung in Anspruch genommen worden ist und hierdurch einen Schaden erlitten hat, hat er als Nichtstörer einen polizeirechtlichen Entschädigungsanspruch 131 . Falls hingegen der Verdachtsbetroffene ursprünglich infolge eines zurechenbaren Verhaltens oder Sachzustandes Verdachtsstörer war, wird er infolge seiner „Rehabilitierung" ebenfalls von der endgültigen Maßnahmen- und Kostenlast befreit. Die vorläufige Inanspruchnahme muß er sich jedoch als Verdachtsstörer unverändert zurechnen lassen. Wegen der daraus resultierenden Nachteile, z. B. einer vorübergehenden Betriebsstillegung, hat er mithin keinen Entschädigungsanspruch. b) Bestätigung des Gefahren- oder Verursachungsverdachts Wenn der Gefahren- oder Verursachungsverdacht durch die behördlichen Ermittlungen bestätigt wird, also die Gefahr und die haftungsbegründende Verursachung bewiesen werden, kann die Behörde ihre Aufwendungen für sofortige Maßnahmen der vorläufigen Gefahrenabwehr, des eventuellen Gefahreneinschlusses und der endgültigen Gefahrenbeseitigung nach den Polizeigesetzen einiger Länder132 als Kosten der „unmittelbaren Ausführung einer polizeilichen Maßnahme" im nachhinein dem Verursacher auferlegen. Allerdings kennen die Polizei- und Verwaltungsvollstreckungsgesetze anderer Länder133 nur den traditionellen „Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt". In diesen Ländern gilt jedoch im Ergebnis nichts anderes als bei der „unmittel1)0 So im Ergebnis auch Schink, DVB1. 1986, 161 (166), der hier allerdings (mit nicht überzeugender Begründung) schon einen Gefahrerforschungseingriff verneint. 131 Insoweit zutreffend Hoffmann-Riem, aaO (Fn. 14), S.337. 132 So (gemäß § 5 a MEPolG): § 8 PolG B-W; §9 BayPAG; §12 BerlASOG; § 7 H b g S O G ; §6 PVG Rh-Pf; §174 LVwG S - H ; vgl. dazu Drews/Wacke/Vogel/ Martens, aaO (Fn. 5), S.441 f. 133 So §11 Abs.2 BremVwVG; §42 Abs.2 N d s S O G ; §28 Abs.2 PolG N - W , §55 Abs. 2 VwVG N - W ; wohl auch § 72 HessVwVG; vgl. dazu Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn. 5), S. 438 ff.
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baren Ausführung einer polizeilichen Maßnahme". Das OVG Nordrhein-Westfalen134 hat in überzeugender Weise zum „Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt" die Rechtsfigur der (vorläufig) adressatneutralen Sofortmaßnahmen entwickelt, denen eine Verfügung zur Bestimmung und Inpflichtnahme des verantwortlichen Verursachers nachfolgen kann. Die endgültige Maßnahmen- und Kostenlast hat insoweit mithin durchweg der erwiesene Verhaltens- oder Zustandsstörer zu tragen. Ob bei einer Bestätigung des Gefahren- und Verursachungsverdachts auch die Kosten von Gefahrerforschungsmaßnahmen (z.B. von Probeund Sondierungsbohrungen oder Meßstationen) im nachhinein dem Verursacher auferlegt werden können, ist streitig. Wie erwähnt, wird dies teils unter Hinweis auf die Prinzipien der Amtsermittlung (§24 VwVfG) verneint135, teils aufgrund der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit des Verhaltens- oder Zustandsstörers bejaht136. Die letztgenannte Auffassung verdient den Vorzug. Die Entscheidung dieser Streitfrage hängt davon ab, ob man die Kosten der Gefahrerforschung materiellrechtlich der Gefahrenabwehr zurechnet und somit der nachträglichen „Umpolung" auf den erwiesenen Störer zugänglich macht oder als qualitativ unveränderliche Verfahrenskosten der Amtsermittlung einstuft. Für die materiellrechtliche Zurechnung und die entsprechende „Umpolung" sprechen zwei durchgreifende Gesichtspunkte: Zum einen ist auf den Sachzusammenhang der Gefahrerforschungsmaßnahmen mit den Maßnahmen der vorläufigen Gefahrenabwehr und der endgültigen Gefahrenbeseitigung zu verweisen. Derartige Maßnahmen bilden praktisch ein einheitliches „Paket" gestufter und voneinander abhängiger Schritte der Gefahrenabwehr 137 . Zum anderen würde es nicht überzeugen, wenn die endgültige Kostenlast der Gefahrerforschung zur Ermittlung der situationsgerechten Abwehrmaßnahmen von den Zufälligkeiten der ursprünglichen Gewißheit oder Ungewißheit des Sachverhalts sowie der schrittweisen Sachverhaltsaufklärung abhängen würde. 3.
Fazit
Damit tritt ein Fazit hervor, das zu den allgemeinen Eingangsüberlegungen über das Verhältnis von Umweltschutz und Gefahrenabwehr zurückführt. Die Maßnahmen- und Kostenlast der Gefahrenabwehr ist OVGE 29, 44 (49 ff) = DVB1. 1973, 924 (925). So Drews/Wacke/Vogel/Martens, aaO (Fn.5), S.678; Papier, Altlasten (o. Fn. 1), S. 15 ff; den., DVB1. 1985, 875; ders., NVwZ 1986, 257 = UTR Bd. 1 (o. Fn. 1), S . 6 3 f . 136 So VGH Baden-Württemberg, N V w Z 1986, 325; VG Karlsruhe, Z f W 1985, 55; dazu oben Ziffer II 1 a und b; zustimmend Schink, DVB1. 1986, 161 (166); ebenso Koch, aaO (Fn. 1), S. 68 f. 137 Vgl. HessVGH, D Ö V 1987, 260; auch oben III 2. 134
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bei Verdachtslagen, wie sie bei Boden- und Grundwasserverseuchungen sowie bei ähnlichen Umweltverschmutzungen häufig auftreten, nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen in differenzierter, aber auch angemessener und einsichtiger Weise verteilt. Diese einfachgesetzliche Rechtslage entspricht der rechtsstaatlichen Tradition der polizeirechtlichen Eingriffsbegrenzung. Sie dient zugleich der Funktionsfähigkeit der Gefahrenabwehr auf dem Problemfeld des Umweltschutzes. Es bleibt zu hoffen, daß es der Rechtspraxis gelingt, die eingangs skizzierten Unsicherheiten auf den abgesteckten Wegen zu überwinden.
Zum Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Informationen im Verwaltungsverfahren CARL-EUGEN EBERLE
I. Problemstellung Seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts ist allgemein anerkannt, daß das informationelle Selbstbestimmungsrecht den Bürger gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe seiner persönlichen Daten durch staatliche Stellen schützt 1 . Beschränkungen dieses Grundrechts sind möglich, doch hat das Gericht hohe Anforderungen an die Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen geknüpft 2 . Grundsätzlich darf die Verwaltung personenbezogene Informationen jetzt nurmehr verarbeiten, soweit hierfür eine gesetzliche Grundlage besteht. In vielen Bereichen fehlen aber die nötigen Rechtsvorschriften für die Informationsverarbeitung 3 . Auch die Rechtsgrundlagen für den zwischenbehördlichen Informationsverkehr sind umstritten und unsicher geworden 4 . U m dennoch ihre Aufgaben erfüllen zu können, wird die Verwaltung deshalb oft nicht umhin können, bis zum Erlaß der nötigen Rechtsvorschriften Informationen ohne gesetzliche Grundlage zu verarbeiten. Dieser Zustand ist aber nur für eine Ubergangszeit hinnehmbar. Zudem ist die Verwaltung jetzt schon verpflichtet, personenbezogene Informationen nur unter strikter Wahrung des Ubermaßverbots zu verarbeiten. Da sie vielfach wohl noch nicht darauf eingerichtet ist, die Informationsverarbeitung auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken, ist zu befürchten, daß sich in der Verwaltungspraxis die Fälle rechtswidriger Informationsverarbeitung häufen werden. Hinzu kommt, daß neue Datenschutzregelungen teilweise so unbestimmt, teilweise aber auch so
' BVerfGE 65, S. 1/41 ff, 43. BVerfGE 65, S. 1/43 f, 45 f. 5 Vgl. dazu C.-E. Eberle, Löst die Informationstechnik, insb. über den Datenschutz, eine Verrechtiichungswelle aus? In H. Reinermann u.a. (Hrvj. j, Neue Informationstechniken - Neue Verwaltungsstrukturen, Heidelberg 1987 (m. \v. N. in Anm. 2). 4 Zum Stand der Diskussion vgl. insb. B.Schlink, NVwZ 1986, S. 249-256. 2
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Carl-Eugen Eberle
kompliziert abgefaßt sind, daß von dieser Seite die Gefahr weiterer informationsrechtlicher Verstöße droht 5 . Angesichts dieser Situation gewinnt die Frage nach den Folgen rechtswidriger Informationsverarbeitung an Bedeutung. In der Literatur zum Verwaltungsverfahrensrecht wird das Problem eben erst erkannt 6 ; eine Diskussion hierüber hat noch nicht stattgefunden. Im Datenschutzrecht stehen Probleme der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit staatlicher Informationsverarbeitung im Vordergrund. Es fehlt jedoch eine substantielle Auseinandersetzung mit der Frage, welche Konsequenzen sich aus der rechtswidrigen Erhebung, Speicherung, Weitergabe oder Verarbeitung personenbezogener Informationen für die auf diese Informationen aufbauenden Maßnahmen der Verwaltung ergeben. Meist wird kurzerhand von der Rechtswidrigkeit der Erhebung auf die Rechtswidrigkeit der Speicherung und weiteren Verarbeitung geschlossen, ohne daß hierfür eine tiefergreifende dogmatische Begründung geliefert wird 7 . Die umfangreiche Diskussion zum Stichwort „Verwertungsverbote" im Strafprozeßrecht und im Steuerverfahrensrecht wird hierbei nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt 8 . Deshalb erscheint es dringend geboten, sich mit der Frage nach den Folgen rechtswidrig erlangter Informationen im Verwaltungsverfahren eingehender zu befassen. II. Zum Stand der Diskussion 1. Verfahrensrechtliche
Verwertungsverbote
Das Thema Verwertungsverbote wird im Strafprozeß- und im Steuerverfahrensrecht seit geraumer Zeit ausführlich diskutiert. Deshalb ist zunächst zu prüfen, ob die dort entwickelten Lösungsansätze eine Antwort auf die Frage liefern, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen rechtswidrig erlangte Informationen auch im allgemeinen Verwaltungsverfahren nicht verwertet werden dürfen.
5 Vgl. hierzu die jährlichen Tätigkeitsberichte der Datenschutzbeauftragten in Bund und Ländern. 6 Vgl. insb. F.Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Baden-Baden 1986, S.114-124. 7 Vgl. z . B . H.-P. Schneider, N J W 1978, S. 1601/1602; W. Schatzschneider, Ermittlungstätigkeit der Amter für Verfassungsschutz und Grundrechte, Frankfurt a. M. u. a. 1979, S. 192; D.Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, Berlin 1980, S . 2 0 9 ; C. Gusy, D Ö V 1980, S. 431/433 f; ders., N V w Z 1983, S. 3 2 2 / 3 2 3 ; ders., VerwArch. 1983, S. 9 1 / 9 5 a . E . , 106; F.Hufen, J Z 1984, S. 1072/1077 f. Lediglich E.Schwan in R. Kamiah u.a., Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, in Burhenne/Perband, EDV-Recht Bd. 3, Berlin 1970 ff., § 1 R d n . 3 5 setzt sich ausführlich mit dem Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Informationen auseinander. ! Dazu unter II.
Rechtswidrig erlangte Informationen im Verwaltungsverfahren
a)
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Strafprozeß
Verwertungsverbote sind im Strafprozeßrecht als Beweisverwertungsverbote nur sehr vereinzelt gesetzlich geregelt'. Die Vorschriften schützen das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde von Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen jeweils in einem Sonderfall und lassen kaum allgemeine Folgerungen zu. Deshalb ist auch die Grundlage der strafprozessualen Verwertungsverbotslehre umstritten. So stellen einige auf die Revisionsvorschrift (§337 StPO) ab10. Können Urteile, die insb. auf der Verletzung von Verfahrensvorschriften beruhen, aufgehoben werden, dann folge daraus ohne weiteres ein Verwertungsverbot für rechtswidrig erhobene Informationen. Eine Parallele zum Verwaltungsverfahren läßt dieser Ansatz aber nicht zu, da eine der Revisionsvorschrift entsprechende Regelung für das Verwaltungsverfahren fehlt. Uberwiegend werden die strafprozessualen Verwertungsverbote jedoch nicht als Funktion des Revisionsrechts, sondern als selbständige Grundsätze des strafgerichtlichen Verfahrens, unabhängig von der jeweiligen Instanz, gewertet 11 . Zu ihrer Begründung wird auf unterschiedliche Funktionen verwiesen, denen die Verwertungsverbote dienen sollen, die aber im einzelnen sehr umstritten sind12. Damit werden jedoch nur die Aufgaben der Verwertungsverbote dargestellt, ohne daß ein zwingender Grund für ihre normative Geltung geliefert wird. Für das Verwaltungsverfahren lassen sich deshalb auch aus diesem Ansatz keine Schlußfolgerungen herleiten. Umstritten sind aber nicht nur die Begründungsversuche der Lehre von den strafprozessualen Verwertungsverboten, sondern auch die Kriterien, nach denen im Einzelfall zu beurteilen ist, ob ein Verwertungsverbot besteht. Nicht jede Verletzung gesetzlicher Verfahrensvorschriften soll nämlich zu einem Verwertungsverbot führen. Die Rechtsprechung sah früher nur Verstöße gegen Vorschriften, die den Rechtskreis des Betroffenen berühren, als relevant an13, während in der Literatur überwiegend darauf abgestellt wird, ob der Normzweck der verletzten Verfahrensregelung auf ein Verwertungsverbot abzielt 14 . Außerdem sol-
' Vgl. §§ 136 a Abs. 3 S.2, 69 Abs. 3, 72 StPO; §81 Abs. 3 S.5 StPO; § 5 1 B Z R G . Vgl. z . B . B. Schünemann, M D R 1969, S. 101 ff; J.Blomeyer, J R 1971, S. 142 ff; B. Haffke, G A 1973, S. 6 5 / 7 5 ; C. Schöneborn, G A 1975, S. 3 3 / 3 5 ff. " Vgl. z . B . G. Grünewald, J Z 1966, S . 4 8 9 / 4 9 0 ; F.Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, Köln u.a. 1977, S. 16 ff; G. Fezer, JuS 1978, S. 104/105; K.Rogall, ZStW 1979, S. 1/7 f. 12 Vgl. die Übersicht bei K. Rogall, ZStW 1979, S. 1 1 - 2 2 . 13 Rechtskreistheorie, vgl. BGHSt. 11, S. 213/215. 14 Schutzzwecktheorie, vgl. insb. G. Grünwald, J Z 1966, S . 4 9 2 f ; H.-J. Rudolphi, M D R 1970, S. 93/96 ff; G. Fezer, Strafprozeßrecht II, München 1986, Fall 16 R d n . 4 6 , 53 ff. Angesichts der Unterschiede zwischen repressivem Straf- und Strafprozeßrecht 10
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len aber über die Verletzung von strafprozessualen Vorschriften hinaus auch Grundrechtsverstöße insb. im Bereich des Persönlichkeitsrechts aufgrund einer Abwägung mit den staatlichen Strafverfolgungsinteressen zu Verwertungsverboten führen15. Alle diese Lehren erscheinen aber für das Verwaltungsverfahren wenig tragfähig. Die Rechtskreistheorie wird aufgrund vielfältiger Kritik schon von der Rechtsprechung nicht mehr angewandt". Die Abwägungslehre stößt auf kompetenzrechtliche Bedenken, da es nicht Sache der Verwaltung sein kann, ohne gesetzliche Leitlinien zwischen Gemeinwohl- und Grundrechtsbelangen abzuwägen 17 . Die Schutzzwecktheorie schließlich wurde im Kontext strafprozessualer Regelungen entwickelt und ist auf deren Interessenkonstellationen bezogen. Im Ergebnis gibt deshalb die Lehre von den strafprozessualen Verwertungsverboten für die Fehlerfolgen rechtswidriger Informationsverarbeitung im Verwaltungsverfahren nichts her. b)
Steuerfestsetzungsverfahren
Die Diskussion über Verwertungsverbote für rechtswidrig erlangte Informationen im Steuerfestsetzungsverfahren knüpft zum Teil an die Lehre von den strafprozessualen Verwertungsverboten an18. Auch hier gibt es - umstrittene - Versuche, zwischen der Verletzung von Formund Ordnungsvorschriften, welche folgenlos bleiben soll, und der von zwingenden Vorschriften mit der Folge eines Verwertungsverbots zu unterscheiden 19 , wobei zusätzlich auch auf den Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift 20 oder auf einen Grundrechtsverstoß 21 abgestellt wird. Bei alledem handelt es sich aber um Kriterien für die Abgrenzung rechtsfolgenrelevanter Verfahrensfehler, die ohne Bezugnahme auf die dogmatische Begründung eines Verwertungsverbots entwickelt worden
einerseits und präventivem Ordnungsrecht andererseits wird von P. Krause / R. Steinbach, D O V 1985, S. 5 4 9 / 5 5 7 die Übernahme der strafprozessualen Beweisverbotslehre ins Ordnungsrecht abgelehnt. 15 Abwägungslehre, vgl. B G H S t . 24, S. 125/130 f; 19, S. 3 2 5 / 3 3 2 f. 16 Vgl. K.Rogall, ZStW 1979, S . 2 6 ; G. Fezer, Strafprozeßrecht II (Anm. 14), Fall 16 Rdn. 41 (zu B G H N S t Z 1985, S.372). 17 Kritisch H.H. Ritpp, Gutachten zum 4 6 . D J T , S. 165/205ff schon zur Abwägungskompetenz des Strafgerichts. 18 Vgl. z. B. H. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Auflage 1981 ff, § 8 8 A O Rdn. 118 m . w . N . " Vgl. z . B . T.G. Schmidt, B B 1970, S. 1389/1390 sowie H. Söhn in Hübschtnann/ Hepp/Spitaler (Anm. 18), § 88 A O Rdn. 121 m. w. N . 20 Vgl. z . B . H.Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Anm. 18), § 8 8 A O Rdn. 124; H.Rüping, Beweisverbote als Schranke der Aufklärung im Steuerrecht, Köln 1981, S.32. 21 H.Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Anm. 18), Rdn. 1 2 5 - 1 2 8 ; K.Tipke/H.-W. Kruse, Abgabenordnung. Finanzgerichtsordnung, § 88 A O Rdn. 7, jeweils m. w. N .
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sind und denen deshalb eine gewisse Beliebigkeit anhaftet. Zudem wird die stark polarisierte Auseinandersetzung im Steuerrecht zum Teil von tradierten Vorstellungen über die Dominanz des staatlichen Steueranspruchs gegenüber Verfahrensfehlern geprägt. Dies kommt zum Ausdruck, wenn der Begründung eines Verwertungsverbots aus dem Institut des Folgenbeseitigungsanspruchs 22 entgegengehalten wird, daß bei materiell rechtmäßiger Steuerfestsetzung keine Rechtsbeeinträchtigung mehr vorliege und deshalb ein solcher Anspruch nicht greifen könne 23 . Hierauf wird noch zurückzukommen sein24. Auch die Rechtsprechung des BFH hat nur in engen Grenzen und zunächst unter Berufung auf Rechtsschutzinteressen ein Verwertungsverbot ausgesprochen, soweit Erkenntnisse aus einer Betriebsprüfung herangezogen werden sollen, deren Anordnung rechtskräftig durch ein Gericht 25 oder durch das Finanzamt 26 aufgehoben worden war. Im Ergebnis bleibt jedoch auch die Begründung eines Verwertungsverbots für rechtswidrig erlangte Informationen im Besteuerungsverfahren im Dunkeln oder ist - wie im Fall der BFH-Rechtsprechung - auf einen engen Sonderfall begrenzt. Die Lehre von den Verwertungsverboten ist also sowohl im Strafprozeßrecht als auch im Steuerverwaltungsrecht in ihren dogmatischen Grundlagen durch erhebliche Begründungsdefizite und Unsicherheiten gekennzeichnet und kann schon deshalb nicht ohne weiteres in das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht übernommen werden. 2. Verfassungsrechtliche
Verwertungsverbote
Überlegungen für, aber auch gegen ein Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Informationen werden schließlich auch auf verfassungsrechtliche Argumente gestützt. So hat das Bundesverfassungsgericht im Fall einer grundrechtswidrigen Beschlagnahme von Unterlagen einer Suchtberatungsstelle ein Beweisverwertungsverbot angenommen, das unmittelbar aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Beschlagnahmeordnung folge, „ohne daß es hierüber eines gesonderten Ausspruchs bedürfe" 27 . An die Stelle dieses Junktims von unzulässiger D.Salch, StBp 1970, S. 1/5. Vgl. insb. W. Frotscher in B.Schwarz, Abgabenordnung, Freiburg 1976 ff, § 8 8 Rdn. 1 2 c a.E.; H. Wenzig, FR 1981, S.320/323. 24 Vgl. unter Abschnitt III. 2. 25 BFHE 109, S. 500/502; 125, S. 144/146; 128, S. 170/172. 26 BFHE 143, S. 506/508. In BFHE 144, S. 339/341 wird jetzt allerdings auch ein Verwertungsverbot unabhängig von einer vorherigen Rechtswidrigkeitsfeststellung der Prüfungsmaßnahme für möglich gehalten, ohne daß hierfür inhaltliche Maßstäbe aufgeführt werden. 27 BVerfGE 44, S. 353/383. 22
23
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Datenerhebung und Verwertungsverbot tritt in anderen Entscheidungen aber eine Abwägung. In sie werden eingestellt auf der einen Seite die Grundrechtsbeeinträchtigung, die mit der rechtswidrigen Informationserhebung verbunden ist, und auf der anderen das Interesse der Allgemeinheit an der Verwertung der Informationen 28 . Unter welchen Voraussetzungen nun ein Verwertungsverbot entweder unmittelbare Folge rechtswidriger Informationsverarbeitung sein soll oder erst aufgrund einer Abwägung ausgesprochen werden kann, läßt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Auch das Volkzählungsurteil führt in dieser Frage nicht weiter. Wenn das Gericht für Vollzugsdaten einen amtshilfefesten Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote verlangt", dann legt das den Schluß nahe, daß ein Verwertungsverbot nur nach Maßgabe einer gesetzlichen Regelung besteht. Damit setzt sich das Gericht aber in Widerspruch zu den oben angeführten Entscheidungen, die auch ohne ausdrückliche Vorschrift zu einem Verwertungsverbot kommen. Schließlich wird gerade in der steuerrechtlichen Literatur gerne auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip verwiesen, das einem Verwertungsverbot entgegenstehe, soweit es eine der materiellen Rechtslage entsprechende Steuerfestsetzung verhindere 30 . D a jedoch bei Versagung eines Verwertungsverbots Verfahrensvorschriften sanktionslos unterlaufen werden können, droht die Gesetzesbindung der Verwaltung ebenfalls, wenn auch in einem anderen Bereich, Schaden zu nehmen. Der Uberblick über die zentralen verfassungsrechtlichen Argumente der Diskussion über die Verwertungsverbote zeigt, daß der Zusammenhang zwischen rechtswidriger Informationsverarbeitung im Verfahren und der daraus zustande gekommenen Sachentscheidung als dem Verfahrensergebnis noch keineswegs als geklärt angesehen werden kann, obwohl hier der Schlüssel für eine Lehre von den Verwertungsverboten zu liegen scheint.
III. Zusammenhang zwischen Sachentscheidung und vorbereitender Informationsverarbeitung 1. Die Erschließung des Verwaltungsverfahrens vom und von den informationellen Entscheidungsprämissen
Ergebnis her
Auch wenn die verwaltungsrechtliche Dogmatik heute mehr und mehr das Verfahren erfaßt, in dem Verwaltungsentscheidungen zustande " BVerfGE 34, S. 2 3 8 / 2 4 8 ; vgl. auch das Sondervotum des Richters Hirsch in BVerfGE 57, S. 182/202 ff. 29 BVerfGE 65, S. 1 / 4 6 ; kritisch hierzu auch H. Bäumler, J R 1984, S. 361/365. 30 Vgl. z. B. H. Kalmes, DStZ 1981, S. 427 f m. w. N . aus der Rechtsprechung; vgl. auch H. Wenzig, DStZ 1982, S. 248 ff.
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kommen, so ist Ausgangspunkt dieser Betrachtung doch das Verfahrensergebnis. Diese Outputorientierung kommt etwa in der Vorstellung vom Verfahren als dem Verwirklichungs- und Konkretisierungsmodus des materiellen Rechts zum Ausdruck 31 . Auch die grundrechtliche Aufwertung der Verfahrensbeteiligung im Sinne eines vorweggenommenen Rechtsschutzes 32 denkt das Verfahren als abhängige Variable der abschließenden Sachentscheidung. Die Erschließung des Verfahrens vom Ergebnis her wird schließlich besonders deutlich durch die Vorschriften über die Unbeachtlichtkeit von Verfahrensfehlern dokumentiert. Die Idee von der „dienenden Funktion des Verwaltungsverfahrens" 33 liegt implizit auch manchen Vorstellungen über die Fehlerfolgen rechtswidriger Informationsverarbeitung zugrunde. Besonders die sowohl für den Strafprozeß wie auch für das Steuerverfahren vertretene, von der Verfassungsrechtsprechung inspirierte Abwägungslehre tendiert dazu, solche Fehler an der Bedeutung und an dem Gewicht der jeweils zu treffenden Sachentscheidung und den dahinter stehenden Gemeinwohlinteressen zu messen. Die Durchsetzungsschwächen der individuellen Rechtspositionen in dieser Abwägung liegen auf der Hand. Damit verbunden ist aber auch die Gefahr, daß sanktionslos bleibende Verfahrensverstöße die verfahrensrechtliche Gesetzesbindung aufweichen und in ihrer die Verhaltens- und Rechtssicherheit stützenden Funktionen entwerten. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen, eröffnet sich, wenn das Verfahren nicht einseitig von seinem Endpunkt, der Sachentscheidung her, betrachtet wird, sondern wenn man stärker auf die Entscheidungsprämissen abstellt, die als Informationen in das Verfahren eingehen und sein Ergebnis stützen. Eine solche inputorientierte, an den informationellen Ressourcen des Verwaltungshandelns ausgerichtete Betrachtungsweise kommt insb. als neuer Ausgangspunkt einer Fehlerfolgenlehre in Betracht. Die Grundüberlegung geht davon aus, daß die Sachentscheidung der Verwaltung auf einem verfahrensrechtlich geregelten Informationsverar51 Vgl. insb. R. Scholz, VVDStRL 34 (1976), S. 145/163 ff; R.Wahl, W D S t R L 41 (1983), S. 151/153 ff; H. Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1986, S. 201 ff, jeweils m.w. N. Vgl. demgegenüber H.Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, Baden-Baden 1981, S. 343 ff sowie F.Hufen, NJW 1982, S. 2160/2164, die gerade unter grundrechtlichen Aspekten die eigenständige Bedeutung des Verwaltungsverfahrens gegenüber der Sachentscheidung aufwerten wollen. 32 BVerfGE 53, S. 30/65 f. 35 Kritisch hierzu J. Schwarze, Der funktionale Zusammenhang zwischen Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsverfahren, Berlin 1974, S. 65 ff; E.SchmidtAßmann in P. Lerche / W. Schmitt Glaeser/E. Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984, S. 1/33.
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beitungsprozeß beruht. Soweit es dabei um personenbezogene Daten geht - auf sie beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen gelten für deren Verarbeitung die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil zum informationellen Selbstbestimmungsrecht entwickelt hat34. Dieses aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 G G ) konkretisierte Grundrecht schützt den einzelnen vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe seiner persönlichen Daten. Mit Rücksicht auf die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit muß der einzelne jedoch hinnehmen, daß seine Daten im Verwaltungsverfahren verarbeitet werden. Allerdings darf diese Verarbeitung nur mit Einwilligung des Betroffenen oder aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stattfinden. Die rechtlichen Schranken, die der Verwaltung im Umgang mit personenbezogenen Informationen auferlegt werden, lassen Informationsgewinnung und -Verarbeitung in ihrer Bedeutung für das Verwaltungsverfahren in einem neuen Licht erscheinen. Die rechtmäßige Handhabung der informationellen Ressourcen wird zu einem Bezugspunkt, an dem sich das Verfahren ebenso zu orientieren hat wie an der Sachentscheidung, die bisher im Vordergrund stand. Die gesetzesgebundene Informationsverarbeitung ist einerseits Voraussetzung dafür, daß das Verfahren für die Beteiligten transparent und in seiner Entwicklung überschaubar bleibt, so daß sie ihr Verhalten eigenverantwortlich einrichten können. Sie kann aber auch für das Verfahrensergebnis von ausschlaggebender Bedeutung sein. Soweit es nämlich auf die Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten ankommt, ist eine strikt rechtmäßige Informationsverarbeitung durch die Verwaltung unerläßliche Voraussetzung für die erwünschte Beteiligung am Verfahren. Im Ergebnis bilden jedenfalls die informationellen Prämissen einen wichtigen Ausgangspunkt, von dem her das Verwaltungsverfahren einschließlich der Verfahrensfehler zu beurteilen ist.
2. Grundrechtlich rechtswidriger
begründete Fehlerfolgen Informationsverarbeitung
Als Konsequenz der Verfassungsrechtsprechung zum informationellen Selbstbestimmungsrecht löst jede Erhebung, Speicherung, Weitergabe oder Verarbeitung personenbezogener Informationen, die als unzulässiger Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht
34 BVerfGE 65, S. 1/41 ff; zum Begriff der personenbezogenen Informationen vgl. C. E. Eberle, aaO (Anm. 3) (m. Anm. 9 ff).
Rechtswidrig erlangte Informationen im Verwaltungsverfahren
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anzusehen ist, einen grundrechtlichen Abwehranspruch des Betroffenen aus35. Dieser Abwehranspruch ist darauf gerichtet, daß die Verwaltung jede Beeinträchtigung, mithin jede unzulässige weitere Verarbeitung dieser Daten unterläßt. Soweit Daten rechtswidrig erhoben oder von anderen Verwaltungsstellen unrechtmäßig erlangt sind, würde die Verwaltung weiterhin in den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts unzulässig eingreifen, wenn ihre Speicherung aufrechterhalten bliebe oder sie gar weiterverarbeitet würden, da dies den rechtswidrigen Umgang mit ihnen fortbestehen ließe. Insofern erfaßt der negatorische Anspruch zugleich den Anspruch auf Herausgabe oder Vernichtung bzw. Löschung der gespeicherten Daten, ohne daß es hierzu eines gesonderten Folgenbeseitigungsanspruchs bedarf 36 . In diesem Abwehranspruch ist aber - gewissermaßen als ein minus - auch ein prinzipielles Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte personenbezogene Informationen im Verwaltungsverfahren enthalten. Soweit die Verwaltung unter Verwendung rechtswidrig erlangter Informationen bereits eine Sachentscheidung getroffen hat, steht dem Betroffenen ein Folgenbeseitigungsanspruch auf Aufhebung dieser Sachentscheidung zu, sofern die Voraussetzungen dieses Anspruchs vorliegen. Als rechtswidrige hoheitliche Handlung, die einen Folgenbeseitigungsanspruch auslösen kann, kommt jede Amtshandlung in Betracht, die rechtswidrige Folgen nach sich zieht, ohne daß es sich dabei um einen Verwaltungsakt handeln muß 37 . Dies ist insb. für die rechtswidrige Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Informationen bedeutsam, da diese Maßnahmen in der Regel nur Realakte darstel-
35 Die Grundrechtsrelevanz von Verfahrensfehlern unabhängig vom Verfahrensergebnis wird seit einiger Zeit erkannt, vgl. insb. W. Brohm, VVDStRL 30 (1972), S.245, 289 f f ; H.Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien (Anm.31), S. 343 ff; P. Selmer, SteuerN J W 1982, S.2160/2164. recht und Bankgeheimnis, Hamburg 1981, S . 1 4 2 f ; F.Hufen, Das informationelle Selbstbestimmungsrecht wurde bislang noch nicht in diesem Zusammenhang diskutiert, sieht man von F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (Anm. 6), S. 114 ff, ab. 56 Anders aber W.Martens in Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9 . A u f lage Köln u.a. 1986, S. 190, soweit es um die Vernichtung und Löschung erkennungsdienstlicher Unterlagen geht,sowie für das Datenschutzrecht E.Schwan, aaO (Anm. 7), Rdn.35. Allgemein zur Entbehrlichkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs, soweit der grundrechtliche negatorische Abwehranspruch reicht, W.Fiedler, N V w Z 1986, S.969/ 971 f. 37 Seit B V e r w G DVB1. 1971, S.858 st. Rspr.; vgl. zuletzt BVerwGE 69, S.366/369f. Zur Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs im Verwaltungsverfahren vgl. J.Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, Berlin 1984, S . 2 3 6 f ; H.Hill, Das fehlerhafte Verfahren (Anm.31), S . 4 5 6 f f , die jedoch auf das hier diskutierte Problem der Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts im Verfahren nicht eingehen.
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len, die zu faktischen Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht führen 38 . Fraglich könnte aber sein, ob der rechtswidrige Zustand, der in der Beeinträchtigung des informationellen Selbstbestimmungsrechts besteht, in der auf der Informationsverarbeitung beruhenden Sachentscheidung noch fortbesteht, wenn diese - abgesehen von dem Verfahrensfehler materiell-rechtlich nicht zu beanstanden ist. Zur Begründung dafür, daß der Makel rechtswidriger Informationsverarbeitung auf die Sachentscheidung durchschlägt und den für den Folgenbeseitigungsanspruch notwendigen Rechtswidrigkeitszusammenhang konstituiert, kann zunächst auf den oben dargestellten Zusammenhang zwischen Sachentscheidung, Verfahren und informationellen Entscheidungsprämissen zurückgegriffen werden. Danach müssen die informationellen Entscheidungsgrundlagen, das Verfahren und die Entscheidung selbst prinzipiell als aufeinander bezogene Elemente eines einheitlichen Vorgangs der Rechtskonkretisierung angesehen werden 39 . Aufgrund des engen funktionalen Beziehungsgeflechts zwischen diesen Entscheidungselementen kann die Rechtmäßigkeit des Entscheidungsergebnisses nicht isoliert betrachtet, sondern muß unter Einbeziehung der zugrunde liegenden Verfahrens- und Informationsverarbeitungsphasen gewürdigt werden. Deshalb teilt sich die Rechtswidrigkeit der Informationsverarbeitung der auf ihr beruhenden Sachentscheidung mit und begründet den Rechtswidrigkeitszusammenhang für einen Folgenbeseitigungsanspruch, der auf ihre Aufhebung gerichtet ist40.
58 Zur Gleichsetzung dieser faktischen Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht mit Rechtseingriffen vgl. C.-E. Eberle, a a O (Anm. 3) (m. A n m . 14 ff). Z u m Folgenbeseitigungsanspruch aufgrund grundrechtswidrig erlangter Informationen aus datenschutzrechtlicher Sicht vgl. E.Schwan, a a O (Anm. 7), R d n . 3 2 , 35. 39 F.Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (Anm. 6), S. 117 verwendet zur Kennzeichnung dieses Zusammenhangs von informationeller Vorbereitung einer Entscheidung und Verfahren den Begriff der „Legitimationskette". Auch W. Martens in R. Städter/ W. Thieme (Hrsg.), H a m b u r g - Deutschland - Europa, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, H a m b u r g 1977, S.449/454, 456 und ihm folgend H.Hill, Das fehlerhafte Verfahren (Anm. 31), S.398, 395 gehen davon aus, daß der Verfahrensmangel eines Verwaltungsakts zu seiner Rechtswidrigkeit führt. 40 So im Grundsatz wohl auch F.Hufen, a a O ( A n m . 3 9 ) und S. 119ff. Wenn U. Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, Berlin 1960, S.230 die Verwertung unrechtmäßig erlangter Nachrichten zulassen will, weil keine N o r m dies ausdrücklich verbiete, so läßt sich diese Begründung jedenfalls in den Fällen, in denen rechtswidrige Informationsverarbeitung zu Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht führt, heute nicht mehr aufrechterhalten. Das verkennen auch P. Krause / R. Steinbach, D Ö V 1985, S.549/558. N a c h K. Obermayer, Kommentar zum V w V f G , Neuwied u . a . 1983, § 2 6 Rdn. 13 kann fehlerhafte Informationsverarbeitung zu einem Verwertungsverbot führen, wenn öffentliche Interessen an der Aufrechterhaltung der Sachentscheidung nicht überwiegen.
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Auf die Gefahren, die der verfahrensrechtlichen Gesetzmäßigkeit drohen, wenn die Verwaltung sanktionslos gegen Verfahrensvorschriften verstoßen kann, wurde oben schon hingewiesen. Aus diesem Grunde trägt die Disziplinierungs- und Präventivfunktion, welche die rechtliche Relevanz fehlerhafter Informationsverarbeitung hervorruft 41 , zur Festigung der Gesetzesbindung bei. Ein Einwand gegen einen Folgenbeseitigungsanspruch aufgrund der Verwertung rechtswidrig erlangter Informationen könnte sich daraus ergeben, daß der Betroffene ungeachtet der rechtswidrigen Informationsverarbeitung für die Umstände verantwortlich ist, aufgrund deren die Sachentscheidung nach materiellem Recht gegen ihn ergeht. Soweit er demnach den durch die Sachentscheidung hervorgerufenen Zustand mitverursacht, ist dieser nicht allein und unmittelbar auf die rechtswidrige Informationsverarbeitung zurückzuführen. Die Rechtsprechung hat jedoch den Gedanken der Mitverursachung lediglich auf die haftungsausfüllende Kausalität angewendet 42 , bei der es darum geht, die zu beseitigenden Folgen dem Umfang nach einzugrenzen und die Verwaltung vor unübersehbaren Konsequenzen zu schützen. Für die Begründung des Folgenbeseitigungsanspruchs genügt es, daß die rechtswidrige Amtshandlung unmittelbar auf die eingetretene Folge gerichtet war, ein Zusammenhang, der hinsichtlich rechtswidriger Informationsverarbeitung und Sachentscheidung regelmäßig gegeben ist. Schließlich mag kritisiert werden, daß die grundsätzliche Relevanz von Verfahrensfehlern im Einzelfall zu unbilligen Ergebnissen führt, wenn z . B . der Verfahrensfehler klein, das öffentliche Interesse an einer Aufrechterhaltung der Sachentscheidung aber groß ist. Hier eine Abwägungsentscheidung zu treffen ist jedoch Sache des Gesetzgebers; die Heilungs- und Unbeachtlichkeitsregelungen der Verfahrensgesetze geben hierfür Beispiele ab. An der grundsätzlichen, aus der Grundrechtsdogmatik entwickelten Regel, daß prinzipiell ein Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte personenbezogene Informationen besteht und daß Sachentscheidungen, die auf der Verarbeitung solcher Informationen beruhen, im Wege der Folgenbeseitigung aufzuheben sind, ändert dies nichts.
41 Vgl. H.Hill, Das fehlerhafte Verfahren (Anm.31), S.29 (zur Funktion strafprozessualer Beweisverwertungsverbote). 42 B V e r w G E 69, S. 366/372 f. Auf die Kritik an der am zivilrechtlichen Schadensersatzdenken ausgerichteten Argumentation (vgl. zuletzt W.Fiedler, N V w Z 1986, S . 9 7 2 f f m. w. N . ) kann hier nicht eingegangen werden.
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IV. Einzelfragen einer Lehre von den verwaltungsverfahrensrechtlichen Verwertungsverboten Während bislang nur die grundrechtlich geprägte Ausgangssituation für die Fehlerfolgen rechtswidriger Informationsverarbeitung dargelegt wurde, muß die Frage, was im konkreten Einzelfall gilt, zunächst anhand der jeweils einschlägigen Verfahrensvorschriften beantwortet werden. Sie liefern nicht nur die Maßstäbe, nach denen die Rechtmäßigkeit der Informationsverarbeitung zu beurteilen ist. Vielmehr enthalten sie auch Heilungs- und Unbeachtlichkeitsregelungen, welche die grundrechtlich gebotenen Fehlerfolgen rechtswidriger Informationsverarbeitung ausschließen, um ein aus der Sicht des Normgebers höherrangiges öffentliches Interesse durchzusetzen. Aus der Fülle der dabei auftretenden Einzelfragen können nachfolgend nur einige wenige behandelt werden, bei denen der hier vertretene Informationsverarbeitungsansatz einer Fehlerfolgenlehre besonders deutlich dokumentiert werden kann. 1. Rechtswidrig erlangte
Informationen
O b von der Verwaltung verwendete personenbezogene Informationen rechtswidrig erlangt sind, bemißt sich zunächst danach, ob für die Erhebung und Speicherung der Informationen eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist und ob die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen die Informationen verarbeitet werden dürfen, erfüllt sind. Dabei gibt es noch viele offene Fragen, welche die Reichweite des datenschutzrechtlichen Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts betreffen, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann43. Schwierigkeiten bereitet die Behandlung der Fälle, in denen die Verwaltung personenbezogene Informationen zwar erheben durfte, sie gleichzeitig aber bestehende Hinweis- oder Belehrungspflichten nicht beachtet hat. Eine Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts wird man nicht schon bei jedem Verstoß gegen eine dieser Pflichten annehmen können, sondern nur bei solchen, die für die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen hinsichtlich der Preisgabe seiner Informationen - das Schutzgut des informationellen Selbstbestimmungsrechts - von Bedeutung sind. Deshalb führt z. B. ein Verstoß gegen die Pflicht, auf die Freiwilligkeit von Angaben hinzuweisen, die nicht aufgrund einer Rechtsvorschrift erhoben werden können (§ 9 Abs. 2, 2. Alt. B D S G ) , zu einem Verwertungsverbot. Wird dem Betroffenen dagegen bei der Belehrung über die Vorschrift, welche die Datenerhebung erlaubt ( § 9 Abs. 2, 1. Alt. B D S G ) , fälschlicherweise eine unzutreffende Rechtsgrundlage anstelle der an sich einschlägigen genannt, so wird dies in der Regel seine Entschließungsfreiheit nicht beeinflussen. Es 43
Vgl. dazu C.-E. Eberle, aaO (Anm.3) m . w . N .
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liegt dann kein Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht, sondern ein schlichter Verfahrensfehler vor, der jedenfalls aus der Sicht des informationellen Selbstbestimmungsrechts kein Verwertungsverbot nach sich zieht 44 . In ähnlicher Weise führt auch ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht über ein Zeugnisverweigerungsrecht (§65 Abs. 2 VwVfG i. V. m. §383 Abs. 2 ZPO) zu einer Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts 45 , allerdings zunächst nur beim Zeugen. Da dieser nicht Adressat der das Verfahren abschließenden Sachentscheidung ist, könnte es für den Folgenbeseitigungsanspruch auf Aufhebung dieser Entscheidung am erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang fehlen. Das gleiche Problem tritt auf, wenn die Verwaltung in unzulässiger Weise Angaben verfahrensunbeteiligter Dritter unter Mißachtung der Zweckbindung, unter der sie erhoben wurden, verwertet, vielleicht sogar nach unzulässiger Weitergabe durch eine andere Verwaltungsstelle. Zwar beeinträchtigt in beiden Fällen die Erhebung oder Weitergabe dieser Informationen die Verfahrensbeteiligten nicht, doch fehlt für ihre weitere Speicherung und Verarbeitung die Rechtsgrundlage, so daß unter diesem Gesichtspunkt dann doch eine Beeinträchtigung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Verfahrensbeteiligten angenommen werden muß, die ihre Verwertung verbietet. Soweit personenbezogene Informationen zwangsweise aufgrund eines rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Verwaltungsakts erhoben worden sind, stellt dies keinen rechtswidrigen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht (mehr) dar, da eine wirksame Rechtsgrundlage vorliegt 46 . Der Ablauf der Fristen, innerhalb derer dieser Verwaltungsakt hätte angefochten werden können, sanktioniert auch den durch den
44 Vgl. dazu auch H.-J. Ordemann / R.Schomems, Bundesdatenschutzgesetz, S . A u f lage München 1982, § 9 Nr. 3. 45 Zur Parallele im Steuerverwaltungsverfahrensrecht vgl. H.Sohn in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, aaO (Anm. 18), § 88 A O Rdn. 130 m. w. N. Diesen Verstößen vergleichbar ist es auch, wenn z.B. Durchsuchungsanordnungen nicht rechtsstaatlich einwandfrei formuliert sind, da auch dieser Fehler die Entscheidungsfreiheit und Verhaltenssicherheit der Betroffenen im Verfahren beeinträchtigt; ebenso im Ergebnis wohl auch P. Selmer, Steuerrecht und Bankgeheimnis (Anm. 35), S. 149. 46 Vgl. zu diesem Rechtsgedanken allgemein W. Martens, Negatorischer Rechtsschutz im öffentlichen Recht, Stuttgart u.a. 1973, S. 8 (Umgehung von Widerspruchs-/Klagefristen); F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Auflage München 1983, S.203. Der Einwand gegen diese Lösung, damit werde vor allem bei Beschlagnahmeanordnungen gegenüber Dritten dem Betroffenen eine unzumutbare Rügepflicht auferlegt (P. Selmer, Steuerrecht und Bankgeheimnis [Anm. 35], S. 145) berücksichtigt nicht, daß Beschlagnahmeanordnungen, die an Dritte adressiert sind, nicht ohne weiteres eine Rechtsgrundlage für die Verarbeitung der Daten des Betroffenen schaffen.
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Vollzug des Verwaltungsakts geschaffenen Zustand und schließt somit einen Folgenbeseitigungsanspruch aus. Fraglich ist schließlich, ob rechtswidrig erlangte Informationen auch dann zu einem Verwertungsverbot führen, wenn die Informationen auch rechtmäßig beschafft werden könnten47. In diesem Fall kann es gegen Treu und Glauben, speziell gegen das Prinzip „dolo agit, qui petit, quod statim rediturus est" verstoßen48, wenn der Betroffene ein Verwertungsverbot geltend macht. Wurde z.B. bei einer Datenerhebung versäumt, entsprechend § 9 Abs.2, l . A l t . BDSG auf die vorhandene Rechtsvorschrift, die den Betroffenen zu Angaben verpflichtet, hinzuweisen, so könnte dieser Hinweis nachgeholt werden. Der Betroffene wäre dann in gleicher Weise zu Angaben verpflichtet. Die Dinge liegen jedoch anders, wenn sich aufgrund des rechtmäßigen Alternativverhaltens der Verwaltung die Entscheidungssituation des Betroffenen verändert und er nunmehr andere Informationen liefern könnte als zuvor. Deshalb ist z.B. der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Angaben nach § 9 Abs. 2, 2. Alt. BDSG nicht nachholbar, da die freiwilligen Angaben anders ausfallen können als die zwangsweise erhobenen. Es erscheint jedoch hier wie in anderen Fällen rechtswidriger Informationsverarbeitungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß der Betroffene später in die Verwendung seiner rechtswidrig erlangten Informationen einwilligt. Zwar bleibt noch abzuklären, ob die Einwilligung in bestimmten Situationen nicht zu einem unzulässigen Grundrechtsverzicht führt49. Davon abgesehen schließt die Einwilligung des Betroffenen aber ein Verwertungsverbot aus50.
47 Für die Möglichkeit, daß die Behörde zu ihr gelangte „verbotene Informationen" legal bestätigt, spricht sich auch F.Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (Anm.6), S. 122 aus. H.Hill, Das fehlerhafte Verfahren (Anm.31), S.457 läßt an diesem Prinzip einen Folgenbeseitigungsanspruch auf Aufhebung einer verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Maßnahme scheitern, soweit §46 V w V f G den rechtswidrig geschaffenen Zustand sanktioniert. Zur geringen Relevanz von § 46 V w V f G für die auf rechtswidriger Verarbeitung personenbezogener Informationen beruhenden Verfahrensfehler vgl. aber unten Abschnitt IV. 2. - Zur Anwendbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht vgl. H.Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5.Auflage München 1986, § 1 0 Rdn.28f m . w . N . 49 Zum Grundrechtsverzicht vgl.}. Pietzcker, Der Staat 1978, S. 925 ff; G. Robbers, JuS 1985, S. 925 ff; B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 2. Auflage Heidelberg 1986, Rdn. 158-168. In der Rechtsprechung wird eine Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Informationen grundsätzlich für möglich gehalten, vgl. BayObLG DVB1. 1974, S. 598; O V G Bremen, N J W 1980, S . 6 0 6 f ; BVerwG NJW 1982, S.840; BVerfGE 65, S. 1/41, 43. 50 Ebenso F. Hufen, aaO (Anm. 47).
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2. Unbeachtlichkeit
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rechtswidriger Informationsverarbeitung nach §46 VwVfG?
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß grundrechtlich begründete Fehlerfolgen rechtswidriger Informationsverarbeitung durch verfahrensgesetzliche Regelungen modifiziert werden können51. Für das allgemeine Verwaltungsverfahren zählt hierzu insb. § 46 VwVfG, der einen Folgenbeseitigungsanspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsakts ausschließt, welcher unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Soweit diese Vorschrift also die Beseitigung der Folgen rechtswidriger Informationsverarbeitung ausschließt, trägt sie dazu bei, daß Verstöße gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht aufrechterhalten bleiben. Deshalb muß sie an den Maßstäben gemessen werden, die das Bundesverfassungsgericht für Normen aufgestellt hat, welche als Rechtsgrundlage für Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht dienen52. O b unter diesem Aspekt die Vorschrift dem Gebot der Normenklarheit genügt, mag bezweifelt werden, soweit ihre Auslegung ergibt, daß sie potentiell jeden Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht von seinen Fehlerfolgen befreien kann. Damit hebt sie die vom informationellen Selbstbestimmungsrecht intendierte Verhaltens- und Erwartungssicherheit der Betroffenen tendenziell auf. Indessen erscheint fraglich, ob sie Verfahrensfehler in der Form rechtswidriger Verarbeitung personenbezogener Informationen in gleicher Weise zu neutralisieren vermag wie sonstige Verfahrensverstöße. Die Verletzung von Verfahrensvorschriften ist nur dann unschädlich, wenn die gleiche Sachentscheidung auch unter Absehung von der Rechtsverletzung hätte ergehen müssen. Deshalb kommt es bei rechtswidriger Informationsverarbeitung darauf an, ob der Sachverhalt aufgrund der ermittelten Entscheidungsgrundlagen die Sachentscheidung auch dann noch trägt, wenn die auf rechtswidriger Informationsverarbeitung beruhenden Entscheidungsprämissen wegfallen. Daß diese informationellen Prämissen bei der Feststellung der materiellen Rechtslage nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, ergibt sich daraus, daß der negatorische Abwehranspruch, das Verwertungsverbot, unmittelbar Folge des Grundrechtsverstoßes ist und §46 VwVfG nicht diesen Grundrechtsverstoß aufhebt, sondern nur den sich anschließenden Fol-
51 52
Vgl. oben Abschnitt III. 2. a. E. B V e r f G E 65, S. 1/44, 46.
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genbeseitigungsanspruch auf Aufhebung der Sachentscheidung ausschließt53. Es dürfte nur selten der Fall sein, daß die Sachentscheidung auch nach Wegfall der mit dem Makel rechtswidriger Informationsverarbeitung behafteten Entscheidungsgrundlagen in den noch verbleibenden Ermittlungsergebnissen eine ausreichende Stütze findet. Dies folgt prinzipiell schon aus dem Ubermaß verbot, das bei der Verarbeitung personenbezogener Informationen zu beachten ist und aus dessen Anwendung sich ergibt, daß es bei der Sachentscheidung auf jede erhobene Information, also auch auf die rechtswidrig erlangte, ankommen muß. Deshalb führt wohl kein Weg daran vorbei, daß Verwaltungsakte, die auf rechtswidrig erlangten Informationen beruhen, in der Regel aufgehoben werden müssen. Im Ergebnis erweist sich also die Vorschrift des § 4 6 VwVfG als relativ wirkungslos gegenüber rechtswidriger Verarbeitung personenbezogener Informationen im Verwaltungsverfahren. Der mögliche Einwand, hier werde die Entscheidung des einfachen Gesetzgebers durch einen Rückgriff auf die Grundrechte überspielt, mag auf Versuche zutreffen, nach denen bestimmten Verfahrensvorschriften auf dogmatisch schwer nachvollziehbare Weise eine besondere Grundrechtsrelevanz zugesprochen wird, um sie so der Wirkung des § 4 6 VwVfG zu entziehen". Die angestellten Überlegungen bewegen sich dagegen auf den herkömmlichen Pfaden tradierter, am Eingriffs- und 53 Daß §46 VwVfG nicht die rechtswidrige Verfahrenshandlung beseitigt, sondern lediglich den an sich gegebenen Anspruch auf Aufhebung der Sachentscheidung versagt, ist auch überwiegende Meinung in der verwaltungsverfahrensrechtlichen Literatur, vgl. insb. J.Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens (Anm.37), S. 195 m. w.N. in Anm. 8; F.Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (Anm.6), S.419; H.Hill, Das fehlerhafte Verfahren (Anm. 31), S.427. Nach K.A. Bettermann in R. Städter/W.Thieme (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag (Anm. 39), S. 271/278 f ist §46 VwVfG auch einschlägig für Verfahrensfehler, welche die Sachverhaltsermittlungen betreffen, da die Verwaltung den Sachverhalt umfassend aufzuklären habe. Soweit dies möglich ist, kommt nach hier vertretener Ansicht schon gar kein Verwertungsverbot in Betracht, vgl. oben Abschnitt IV. 1. §46 VwVfG muß jedoch dann versagen, wenn keine ergänzende Sachaufklärung möglich ist, eine Fallkonstellation, zu der Bettermann nicht Stellung nimmt. 54 Vgl. dazu die berechtigte Kritik von F.Ossenbühl, NVwZ 1982, S. 465/471, A. v. Mutius, NJW 1982, S.2150/2159, J.Pietzcker, W D S t R L 41 (1983), S.193/224f und H. Hill, Das fehlerhafte Verwaltungsverfahren (Anm. 37), S. 243 f an der Entscheidung des VG Arnsberg DVB1. 1981, S. 648, wonach eine Verletzung grundrechtsgebotener Verfahrensvorschriften zwingend zu einem Aufhebungsanspruch führe, eine Ansicht, die allerdings auch im Schrifttum Zuspruch gefunden hat, vgl. die Nachweise bei J. Held, Der Grundrechtsbezug des Verfahrens (Anm. 31), S. 200 (mit Anm. 30). Held weist im übrigen auf überzeugende Weise nach, daß die Verletzung von Verfahrensvorschriften nicht notwendig zur Grundrechtsverletzung führt, soweit es sich um Grundrechtsschutz „durch" Verfahrensvorschriften handelt, anders aber bei Grundrechtsverstößen „im" Verfahren, vgl. aaO S. 228-241.
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Abwehrdenken orientierter Grundrechtsdogmatik, mit deren Hilfe allerdings versucht wird, den vom Bundesverfassungsgericht neu konkretisierten grundrechtlichen Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts im Verwaltungsverfahren zur Entfaltung zu bringen. In der rechtlichen Neubewertung der Verarbeitung personenbezogener Informationen im Gefolge der Verfassungsrechtsprechung liegt wohl auch der Schlüssel dafür, daß §46 V w V f G gegenüber rechtswidriger Informationsverarbeitung weitgehend ins Leere läuft. Aus kompetenzrechtlichen Gründen ist es jedoch allenfalls für eine Ubergangszeit tragbar, den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen, die für oder wider die Relevanz rechtswidriger Informationsverarbeitung für die Sachentscheidung streiten, im Einzelfall einer Abwägung durch die Verwaltung zu überlassen 55 . Der Gesetzesvorbehalt gebietet hier eine gesetzliche Regelung und läßt somit parlamentarischen Handlungsbedarf erkennen.
55
Vgl. d a z u schon H.H.
Rupp,
a a O ( A n m . 17).
Aufgabenplanung - Stadtentwicklungsplanung Versuch eines Rückblicks am Beispiel H a m b u r g s * DIETHER HAAS
Dieser Vortrag verfolgt nicht die Absicht, einen wissenschaftlichdogmatischen Abriß zu geben oder eine Systematik und Terminologie der vielfältigen Planung zu versuchen, mit denen wir alle ständig in Berührung kommen. Vielmehr sollen zunächst einige Grundgedanken mit angeschlossenen Reflexionen dargestellt werden, während ich mich im Hauptteil auf die Entwicklung des Planens in Hamburg von etwa 1946 bis heute konzentriere. Damit möchte ich zugleich einen Beitrag zu meinem Anliegen leisten, daß die Verwaltungsgeschichte Hamburgs für die Zeit seit dem zweiten Weltkrieg aufgearbeitet wird, solange es noch Mitwirkende und Mitwisser gibt. I.
Die Grundgedanken, Thesen und Reflexionen, mit denen ich beginne, sind subjektiv gehalten. Hinter jedem dieser Sätze steht eine Erfahrung, die ich auch mit Beispielen belegen möchte. Planung ist, wie das Wort es sagt, ein Prozeß, eine Tätigkeit 1 . Diese zielt auf ein Produkt, nämlich einen Plan oder ein Programm oder wie immer man es nennen mag. Häufig ist freilich Planung selbst als Produkt und damit als sich selbst genügend verstanden worden. Das liegt für den Planer vielleicht nahe; aber es kommt ja auf den einzelnen oder das Gremium an, die die Macht, die Kompetenz und die Kraft haben, aus Planung durch Entschluß einen Plan zu machen.
Der nachfolgende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines auf Tonträger aufgezeichneten Referates, daß der Verfasser am 26. Februar 1986 anläßlich einer Sitzung der Hamburger G r u p p e der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften gehalten hat. Für die druckfertige Erstellung dieses Aufsatzes dankt der Verfasser Herrn Assessor Detlev Czernotzki, Wiss. Mitarbeiter am Seminar für Verwaltungslehre der Universität Hamburg, der die Arbeit um die Anmerkungen ergänzt und Korrektur gelesen hat. 1 Zum Begriff „Planung" vgl.: K. Meyer, in: Handwörterbuch für Raumforschung und Raumordnung, Bd. II, 2. Aufl. 1970, hrsg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, S. 2351 f; W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1984, Rdn. 457.
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Diether Haas
„Planung" ist ein jüngeres Modewort geworden. Aber im Grunde ist Planung etwas Uraltes. Jeder von uns plant tagtäglich, und geplant worden ist in der Verwaltung immer, ob man das nun wichtig oder als selbstverständlich genommen hat. Und nie ist Planung unabhängig von externen Einflüssen. Selbst wo ich Planung nur für mich selbst betreibe, bin ich nicht immer wirklich frei. Planung in der Verwaltung ist, verglichen damit, viel komplexer; und vor allem ist der Planende hier nicht Herr der Zielvorgabe und nicht Herr des Produktes. Damit ist ein wesentlicher Punkt angesprochen: Zielvorgabe ist nötig, damit sinnvoll geplant werden kann. W o sie fehlt, ist das Planen ziellos und fast immer am Ende mit Konflikten und Enttäuschungen beladen. Es gibt Glücksfälle des Planens, nämlich wenn derjenige, der über den Plan zu disponieren hat, sich an der Planung beteiligt. Einen solchen Glücksfall habe ich in Hamburg erlebt. Das war die Entstehung des Bildungsberichtes 1970. Der damalige Schulsenator Schulz beteiligte sich unmittelbar und ständig an dem Planungsprozeß. Er war zugleich politisch eine Kraft, die sichern konnte, daß am Ende auch Senat und Bürgerschaft hinter diesem Programm standen. O b der Bildungsbericht gut oder schlecht war, ob er falsche Prognosen und irrige Prämissen zugrunde gelegt hat, darauf kommt es hier nicht an; hervorheben möchte ich die unmittelbare Verschränkung desjenigen, der die Macht hat, Planung zu einem Handlungskonzept zu bringen, mit denjenigen, die das Planen betreiben. O f t - „Zielvorgabe" ist noch immer das Stichwort - liegt dem Planen allerdings auch die Verlegenheit der Entscheider zugrunde, die das Planen in Gang setzen, um zu erfahren, was sie wollen sollten. Das macht das Planen mühsam und bringt es mit sich, daß wir häufig dem Typ des besserwissenden Planers begegnen, der sagt (oder denkt), er wisse, was „die da oben" wollen sollen. Dies ist für einen Verwaltungsbeamten eine reizvolle, vielleicht sogar in seiner Berufsstruktur angelegte Einstellung; es ist aber ein Zugang zum Problem, der - das haben wir in den letzten Jahren deutlich erfahren - in die Sackgasse führt. Planung beginnt mit Daten und setzt sich fort in Prognosen. Liegt beides vor, bedarf es einer Rückkoppelung auf die Zielebene. War das Ziel vorgegeben und schon leidlich präzisiert, so muß es mindestens in Frage gestellt, oft aber korrigiert werden. War das Ziel noch nicht deutlich festgelegt, so ist hier die Stelle, wo das Fehlen der Vorgabe noch fast gefahrlos ausgeglichen werden kann. Versäumt man in diesem Stadium die Rückkoppelung, so wird das Planen in aller Regel in die Irre gehen. Leider wird diese wichtige Feststellung oft mißachtet. Planung zielt nicht nur auf den Plan, den Entschluß, sondern auf Handlung. Hier will ich einen Einwand vorwegnehmen: Wenn wir von Flächenplanung sprechen - und am Anfang der fünfziger Jahre war
Aufgabenplanung — Stadtentwicklungsplanung
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Flächenplanung, wie wir noch sehen werden, der Ort, wo komplex geplant wurde - , dann wurde an eine räumliche Auffangplanung für Entwicklungen gedacht, während Erkenntnis und Beeinflussung gering waren. Ahnlich hat es die Unabhängige Kommission 1967 ausgedrückt. Ich glaube, dem lag ein Irrtum zugrunde. Auch in den Flächenplänen, also den Aufbauplänen Hamburgs 2 , war Handlung als Ergebnis vorgezeichnet. Handlung allerdings bezogen und beschränkt auf Infrastruktur und Wohnungsbau, entsprechend den damaligen Bedürfnissen. Zugleich wird deutlich, daß ein Plan unterschiedliche Handlungsideen enthalten oder auf unterschiedliche Handlungsweisen gerichtet sein kann: Seine Aussage kann lauten „So will ich handeln", sie kann aber auch meinen „Wenn x eintritt, will ich so handeln". Diese zwei unterschiedlichen Zugänge und Inhalte von Planung sollte man auseinanderhalten, wenn man zu planen beginnt. Wenn also alle Planung auf Handlung zielt, müssen aus Daten, Prognosen und Zieldefinitionen der Handlungsbedarf und die Handlungsmöglichkeiten abgeleitet und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Daraus folgt im günstigsten Falle eine Verfeinerung und Konkretisierung des Ziels; wobei auch aus einer Vergröberung, einer Abstraktion, eine Zielkonkretisierung folgen kann. Damit ist dann aber auch gesagt, daß ein Plan - wenn er diesen Namen verdienen soll - Ziel, Handlungsweg, Zeit und Ressourceneinschätzung umfassen muß. Insofern ist zuzugeben, daß ein Flächennutzungsplan oder ein Bebauungsplan nicht vollständig ist, sondern einer Ergänzung nach Zeit und Ressourcen bedarf; das ist seine Schwäche, weil damit häufig eine Korrektur notwendig wird. Daher müssen Planung und Plan flexibel sein. Daten ändern sich, Prognosen müssen korrigiert werden. Einflüsse von außen wirken ein, ja die Ziele können sich ändern. Wenn der Plan, und das ist bei der Planung bereits zu bedenken, nicht flexibel genug ist, entstehen Konflikte, in denen der Planer in aller Regel unterliegt. Es gibt, wie wir alle wissen, hochentwickelte Planungssysteme der verschiedensten Art, die verlangen und versprechen, daß sie ständig überprüft werden, teilweise aufgrund von Erfolgskontrollen. Meine Erfahrung ist, daß dies in der Verwaltung bei jeder komplexen Planung bisher nicht gelungen ist. Oft war schon, ehe die Planung zum Plan gediehen war, die Situation anders geworden; daraus wird häufig der Schluß gezogen, daß das System unbrauchbar sei. Ob das nötig wäre, bezweifle ich. Aber die Frage der Komplexität hängt eng zusammen mit dem Zeitbedarf für den Planungs2 Vgl. Gesetz ü. d. Aufbauplan der Hansestadt Hamburg vom 20. Juli 1950 (GVB1. S. 151); Gesetz ü . d . Aufbauplan der Freien und Hansestadt Hamburg v o m 1 6 . D e z . 1960 (GVB1. S. 463). Näheres s. u. unter II.
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prozeß und dieser wiederum mit der Frage, welche von außen wirkende Veränderungen berücksichtigt werden. Meistens sind die Systeme, die ich kennengelernt habe, unter den genannten Aspekten unbrauchbar. Wesentlich für die Planung und häufig für diese entscheidend ist, wer plant und wer daran beteiligt ist. Den Gesichtspunkt der Einbeziehung desjenigen, der die Ziele definiert und über den Plan entscheidet, habe ich bereits erwähnt. Daneben gibt es viele weitere Gesichtspunkte. Einige Beispiele dafür wird die Darstellung der Hamburger Geschichte zeigen, jedoch würden nähere Ausführungen hier den Rahmen sprengen. Es kommt jedenfalls darauf an, ständig im Auge zu behalten, daß die Planungsorganisation außerordentlich wichtig ist. Die folgende Schilderung läßt drei wesentliche Typen von Planung erkennen, die sich im Ausgangspunkt und im Blickwinkel unterscheiden: - Planung aus der Fläche und der Stadtgestaltung, - Planung aus den Finanzen und dem Personal, also aus den Ressourcen, und - Planung aus dem politischen Ziel. Auch die beiden ersten sind natürlich aus politischen Zielen gespeist worden, aber sie haben einen anderen Zugang zu dem Gegenstand. Das wirkt sich besonders im Zeithorizont aus. Der Flächenplaner braucht ein langes, oft Jahrzehnte überspannendes Vorstellungsvermögen und wird den Zeitplan großzügig gestalten; der Personalplaner in der Verwaltung muß ebenfalls einen längeren Zeitraum erfassen, aber die zeitlichen Schritte präziser bestimmen; der Finanzplaner wird in der Regel bestenfalls eine mittelfristige Vorstellung entwickeln können, auch wenn er mit Recht versucht, den Horizont hinauszuschieben; der politische Planer dagegen wird oft nur einen kurzen Atem haben können, wie es in unserem System der Vierjahresdemokratie angelegt ist. Aus diesen genannten, und aus manchen anderen Gründen, haben in den sechziger Jahren die Wissenschaft, die Verwaltung und auch aktive Reformpolitiker die sogenannte Aufgabenplanung oder „politische Planung" erfunden. Damit sollte versucht werden, eine rationale, wissenschaftlich abgesicherte, methodisch saubere Grundlage für politische Entscheidungen zu finden; manchmal auch, eine Begründung für eher irrationale politische Ziele und Vorgaben zu liefern; jedenfalls aber einen effektiveren Einsatz von Geld und Personal zu ermöglichen. Sobald man sich damit beschäftigte, wurde klar - wenn es nicht schon vorher einsichtig war - , daß dies einen unentrinnbaren Zwang zur Einrichtung systematischer Entscheidungsverfahren schon für die Ziele auslöst. Und damit ist hinlänglich angedeutet, wo das eigentliche Problem liegt. Wichtige Voraussetzung für Aufgabenplanung ist die Deckung des Informationsbedarfs. Diese mußte organisiert werden. Die Verwaltung
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bekam daher allmählich ihre Computer, die Parlamente entwickelten ihre Hilfsdienste. D a s alte Haushaltssystem sollte geändert werden. Man beklagte, daß bislang, ausgehend von den Ressourcen, die Anteile der Ressorts bestimmt wurden, die damit selbständig ihre Pläne und Programme entwickelten, zugleich aber festgefügte Besitzstände aufbauten. Man wollte aber auch die mehr output-orientierten neueren politischen Entwicklungen einfangen, bei denen es sich einbürgerte, einer Addition von Wünschen und Zielen die Ressourcen nachzuschieben. Zugleich sollten die Politiker und die Finanzleute auf mittel- und langfristiges Denken hin orientiert und gelegentlich sollte diesen beigebracht werden, wie sie denn wohl vernünftigerweise denken sollten. Dieser Versuch der Aufgabenplanung ist gescheitert; die G r ü n d e sollen uns später beschäftigen. Aber ich sollte doch an dieser Stelle sagen, daß er auch nachwirkende Erfolge gehabt hat. Planungsbewußtsein und systematisches Denken ist zumindest in der Verwaltung erheblich verbreitert worden - daß Planen notwendig ist, unterliegt für mich keinem Zweifel. Die Planungsmethodik, insbesondere die der Datenfeststellung und der Prognose, ist wesentlich verbessert worden; manches davon ist in das Denken der Verwaltung und der Politiker eingeflossen. Allerdings ist die psychologische Seite, insbesondere die des politischen Prozesses, meistens defizitär geblieben, jedenfalls nicht ausreichend bedacht worden, um zu verhindern, daß aus diesen Ansätzen am Ende ein Scherbenhaufen entstand. II. Wie hat sich die Entwicklung nun in H a m b u r g vollzogen? Im wesentlichen nicht viel anders als im Bundesgebiet, zeitweilig allerdings zeitversetzt. H a m b u r g hat Besonderheiten der Organisation, die ich hier nicht analysieren kann. Ich will im wesentlichen das Geschehen schildern. Dabei werde ich selten auf die Inhalte der Pläne eingehen; das ist nicht der Sinn meines Vortrags und würde zu jedem Zeitabschnitt einen ganzen Abend erfordern. Entsprechend der Entwicklung habe ich vier zeitliche Phasen gebildet, deren Einteilung mir plausibel erscheint. Die erste Phase überschreibe ich, etwas plakativ, mit „Kriegsfolgenbeseitigung und A u f b r u c h z u m Wirtschaftswunder", womit ihre Schwerpunkte angedeutet werden. O b man sie von 1946 bis 1960 oder nur bis 1955 ansetzt, lasse ich dahingestellt. Planende Instanz war die Baubehörde. Bei ihr waren auch fast alle damals wesentlichen Politikfelder angesiedelt. Daneben gab es Schwerpunkte eigentlich nur beim H a f e n , Strom- und Hafenbau, und in der Kultur. D a s ist die Zeit, in der D r . Nevermann Bausenator war (1946-1961), w o Herr Büch von 1954-1966 und zeitweilig H e r r Müller-Link von der F . D . P . jeweils Teile der
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Baubehörde leiteten, unterbrochen von den vier Jahren des sogenannten Blocksenates. Es ist die Zeit von Hebebrand, Speckter und Wrede, von Sill und Wienbeck. Staatsräte der Baubehörde waren die Herren Härder und Mestern. Innerhalb der Behörde gab es sehr selbständige und nicht immer aufeinander abgestimmte Planungsinstanzen: Die Enttrümmerungsplanung in den ersten Jahren, die Verkehrsplanung, die Stadtentwässerung, die Wohnungsbauplanung und natürlich die Landesplanung. Beim Landesplanungsamt lag das Hauptgewicht, jedenfalls sollte es hier liegen. Das war freilich nicht immer so, aus politischen Gründen — zwei Senatoren in einer Behörde! - , aber auch, weil die Leiter der Fachämter ihr Geschäft ausgezeichnet verstanden: Jeder für sich, jeder etwas anders, natürlich auch mit anderem Denken. Ingenieure denken anders als Architekten, aus denen sich mit der Zeit Städtebauer und Landesplaner entwickelt haben. So entstanden die Aufbaupläne von 19503 und i960 4 . Sie waren als Flächennutzungspläne entworfen, enthielten aber insbesondere in den Feldern Wohnungsversorgung und Infrastruktur auch deutliche Handlungsaspekte. Daneben gab es Ressortprogramme, mehr oder weniger qualifizierter Art, die kurzfristig oder mittelfristig konzipiert waren. Planungen im heutigen Sinne würde ich sie fast alle nicht nennen: Für die Wiederherstellung und Modernisierung der Krankenhäuser, für den Schulbau oder genauer zunächst für die Wiederherstellung von Schulen und dann den Schulbau - erinnern wir uns nur an den Schichtunterricht in bis zu drei Schichten - , für die Universität und für das Universitätskrankenhaus. Aber das Planungsbewußtsein und die Planungskapazität in den Ressorts war kaum entwickelt. In Ipsens Buch von 19565 kommt das Wort Planung, soweit ich sehe, überhaupt nicht vor. Wer Daten brauchte, zum Beispiel über die Bevölkerungsentwicklung, über Ist-Zustände, der ging wie selbstverständlich zum Landesplanungsamt der Baubehörde, denn dort war die Stelle, die Bescheid wissen mußte. Nur die Hafenplanung hatte im Strom- und Hafenbau eine sehr qualifizierte und sehr selbständige, aber doch auf ein begrenztes Territorium bezogene Planungskapazität. Die Finanzplanung war unausgeprägt. Die Steuerentwicklung ebenso wie der Finanzausgleich waren kaum vorhersehbar und
5 Vgl. Gesetz über den Aufbauplan der Hansestadt Hamburg vom 20. Juli 1950 (GVB1. S. 151). 4 Vgl. Gesetz über den Aufbauplan der Freien und Hansestadt Hamburg vom 16. Dez. 1960 (GVB1. S.463). Der Aufbauplan besteht aus der zeichnerischen Darstellung im Maßstab 1 :20 000 sowie dem Erläuterungsbericht; siehe auch: Unabhängige Kommission für den Aufbauplan der Freien und Hansestadt Hamburg, Stellungnahme zum Aufbauplan 1960 der Freien und Hansestadt Hamburg, hrsg. von der Baubehörde, 1967. 5 H. P. Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung - Von Weimar bis Bonn - , 1956.
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viel Kraft wurde auf die Finanz- und Steuergesetzgebung des Bundes sowie auf die Entwicklung einer neuen Haushaltsordnung konzentriert. Mit zunehmendem Verlauf dieser Jahre ergaben sich die stärksten Restriktionen aus dem Personalsektor. Nachdem die Arbeitsplatzsorge, die wir alle bis nach der Währungsreform zunächst hatten und die den Staatsdienst attraktiv machte, rasch schwand, wurde mit dem "Wachsen der Wirtschaft diese dominant; es wurde schwierig, geeignetes Personal zu bekommen. Viele der sogenannten 131er 6 und der ehemaligen Militärbeamten erwiesen sich als wenig brauchbar für die Anforderungen in dieser Zeit, und diejenigen, die in den Jahren 1945/46 als Verfolgte in die Verwaltung gekommen waren, verließen diese zum größten Teil. Politische Planung im später gebrauchten Sinne kannte man eigentlich nicht. Sie fand gleichwohl statt; aber trotz des viel berufenen Kollegialprinzips des Senates 7 wurde doch in der Hauptsache in den Fachbehörden gedacht. Wichtig war allerdings die Steuerungsklammer, die Bürgermeister Brauer mit dem „Syndikat" aufgebaut hatte. D o r t wurden politische Planungsansätze auch mittelfristiger Art entwickelt, die - nicht nur zum Vergnügen der Fachsenatoren - in die Fachbehörden hineinwirkten. Betrachtet man nun die Planung der Baubehörde, so war sie getragen vom Oberbaudirektor und dem Landesplanungsamt - stark ästhetisch geprägt, aber doch schon relativ modern, nämlich komplex und gesellschaftsbezogen. Der Geist von Schumacher, der mit solchen Gedanken schon in den zwanziger Jahren Neuland beschritten hatte, wirkte offensichtlich fort. Und der etwa im Jahre 1955 von Hebebrand und May, Dähn und Kresse entwickelte Neu-Altona-Plan enthält mit Zeit- und Finanzplanung schon alle wesentlichen Elemente einer komplexen Großprojektplanung 8 . 1955 war auch der gemeinsame Landesplanungsrat Hamburg-Schleswig-Holstein gegründet worden, innerhalb dessen das Achsenkonzept festgeschrieben wurde; dabei spielte das Pendler-Problem für beide Länder eine ausschlaggebende Rolle. 1957 kam die gemeinsame Planung mit Niedersachsen hinzu. Auf Bundesebene, das will ich nur streifen, entstand in diesen Jahren der Wissenschaftsrat 9 , zunächst als eine Institution, die die Forschungsfinanzierung steuern sollte. Damit ging die Nachkriegszeit allmählich in den zweiten Abschnitt des Aufbaus über, dem ich mich jetzt zuwenden will. Ich habe bislang Vgl. Art. 131 GG. Vgl. Art. 33 ff. Hmb. Verfassung vom 6. Juni 1952 (BL I 100-a). Zum Kollegialprinzip vgl. U. Becker, Das strukturelle Instrumentarium der Regierung und Verwaltungsführung der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Die Verwaltung, 2 (1969), S. 213 ff (221 f). 8 Vgl. Verordnung zur Gestaltung von Neu-Altona vom 13. Nov. 1956 (GVB1. S. 479). ' Vgl. das Verwaltungsabkommen über die Errichtung eines Wissenschaftsrates vom 5.Sept. 1957 (BAnz. vom 17.Okt. 1957, Nr.200, S. 1). 6
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nicht von Grundstücken gesprochen. O f t wird beim Planen das Problem der Grundstücksbeschaffung übersehen. Wie wichtig diese ist, ahnte ich schon, als ich 1954/55 mit den Herren Büch, Härder und Struve die Novelle zum Aufbaugesetz 10 durch die Bürgerschaft brachte, aus der die Kommission für Bodenordnung 11 als eines der wichtigsten, hilfreichsten Hamburger Instrumente hervorgegangen ist. Die Idee stammte, wenn ich recht erinnere, von Herrn Struve, und sie hat bis heute ihren Wert behalten. Als ich 1958 die Liegenschaftsverwaltung in der Finanzbehörde übernahm, die ich bis Ende 1966 geleitet habe, wurde mir natürlich die Bedeutung des Grundstücksgeschäfts für die Bereitstellung der überplanten Flächen hautnah deutlich. Das Planen blieb auch in dieser Phase im wesentlichen bei der Baubehörde. Aber die Liegenschaftsverwaltung drängte sich zunehmend in diese Aufgabe hinein. Sie stützte sich auf die Rolle des Finanzsenators, der beanspruchte, bei der Bauleitplanung (wie wir sie heute nennen) die finanziellen und grundstücksmäßigen Konsequenzen zu betrachten, vor allem aber darauf, daß hier der immer entscheidender werdende Zeitfaktor beherrscht wurde. Der Zeitbedarf für die Bereitstellung der Grundstücke erwies sich als der „kritische W e g " für fast alle Planungen. Darüber hinaus - ich muß es so hart sagen - übernahm die Liegenschaftsverwaltung im Grunde auch das Planen für die Wirtschaftsbehörde. Hier lag ein Schwachpunkt, den die Liegenschaftsverwaltung im Rahmen des Grundstücksgeschäfts schlecht und recht ausglich. Insbesondere die Grundstücksvergabe wurde, bis 1965 durch Prof. Deneffe eine gemeinsame Konferenz installiert wurde, in der Liegenschaftsverwaltung entschieden. Auch die Baubehörde kannte die Bedeutung dieser Funktion „Liegenschaften". Das führte dazu, daß im Jahre 1958 die Bausenatoren Nevermann und Büch mit Senatssyndicus Härder und Oberbaudirektor Hebebrand mit Nachdruck verlangten, daß die Liegenschaftsverwaltung aus der Finanzbehörde herausgelöst und in die Baubehörde integriert werden sollte, um auf diese Weise das planende Element ihrer Behörde zu stärken und sich der Kontrolle des Finanzsenators stärker zu entziehen. Das traf natürlich auf dessen heftigen Widerstand und auch den der Liegenschaftsverwaltung. Der Streit ist am Ende im Senat von dem Finanzsenator Weichmann mit Unterstützung des Bürgermeisters Brauer gewonnen worden. Aber die Flächen waren nicht das einzige Problem. In der Phase dieses Wohnungs- und Verkehrs-Baubooms gab es gleich drei weitere Engpässe, die genannt werden müssen: Mitteilg. des Senats an die Bürgerschaft Nr. 134 vom 10.4.1956. Vgl. hierzu: § § 6 9 - 7 1 der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über den Aufbau der Hansestadt Hamburg i . d . F . vom 12. April 1957 (GVB1. S.241). 10 11
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Zum einen den Arbeitskräftemangel, sowohl innerhalb der Verwaltung, bei den Planern, bei den Liegenschaftsleuten, bei den Hoch- und Tiefbauern, aber auch in der Bauwirtschaft. Zum zweiten, im internen Ablauf, das Problem der Verzettelung, der unkoordinierten Ressorts, auch innerhalb der Baubehörde. Zudem führte die Jährlichkeit der Haushalte dazu, daß während der Haushaltsberatungen im Senat der übliche Kampf um die Projekte der Ressorts stattfand und je nach politischem Gewicht des Senators gewonnen wurde, aber in der Regel ohne Rücksicht darauf, ob die zugrunde liegende Planung, die Grundstücksbeschaffung und die Folgefinanzierung klar und gesichert war. Das bedeutete natürlich im Inneren ständige Friktionen mit Rechtfertigungsproblemen desjenigen, der ein Projekt, einen Plan, ein Programm angekündigt hatte, und führte daher laufend zu einem „Schwarzer-Peter-Spiel". Und schließlich gab es nicht selten ein drittes Problem, nämlich daß das mit dem massierten Wohnungsbau nicht Schritt hielt, was man damals die Wohnfolgeeinrichtungen nannte. Die Verkehrs- und Abwassererschließung gelang in der Regel leidlich, weil man sie in der Baubehörde selbst steuern konnte. Aber Schulen, Sportstätten, Kindertagesheime und Läden fehlten meist noch, geplante Grünanlagen blieben Wüsten. Alles dies führte dazu, daß zu Recht der Vorwurf erhoben wurde, die Verwaltung, der Senat arbeite, für den Bürger schlecht erträglich, sehr unkoordiniert. Dieses dritte Problem versuchte das Landesplanungsamt dadurch zu beheben, daß es das System der Programmpläne12 erfand oder fortentwickelte und um die Ordnungspläne' 3 erweiterte. Programmpläne sind Pläne im räumlichen Rahmen unterhalb des Flächennutzungsplans, aber weiter gespannt als der einzelne Bebauungsplan, gedacht also für einen Stadtteil. Ordnungspläne sind solche Pläne, die die Entwicklung einzelner Elemente, also der Schulen oder der Häuser der Jugend oder der Läden oder des Gewerbes, für das ganze Stadtgebiet zu analysieren, zu prognostizieren und zu beeinflussen versuchen sowie Standorte dafür aufweisen. Damit griff die Baubehörde notwendigerweise in die Kompetenzen der Fachbehörden ein. Deren Reaktion war unterschiedlich. Einige Fachbehörden begrüßten dies, weil sie dadurch zum ersten Mal zu einem geordneten System des Denkens kamen; andere „mauerten" und man kam nicht voran. Gleichzeitig, das sollte man auch erwähnen, entwickelte das Landesplanungsamt das damals bundesweit anerkannte Standardwerk „Siedlungspla-
12 Vgl. hierzu: H. Jochimsen, Planen und Bauen, in: P. O. Vogel (Hrsg.), Hamburg Die Freie und Hansestadt, 1972, S. 92 ff (96). " Ebd., Anm. 1, S.96.
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nung" mit Richtwerten für alle Infrastruktureinheiten 14 . Das ist im wesentlichen das Verdienst von Hebebrand, Speckter und Nachtigall; aber viele haben daran mitgewirkt: Dahn und Farenholtz, SchmidtEichberg, Bentfeldt, Maldfeld, Jantzen, deren Namen hier als Stichworte für ganze Sachbereiche stehen. Währenddessen blieb jedoch die Zeitplanung im Grunde bei der Liegenschaftsverwaltung. Lassen Sie uns nun einen kurzen Blick auf die politischen Zusammenhänge Ende 1961 werfen. Dr. Nevermann bildete nach der Bürgerschaftswahl eine Koalition mit der F.D.P. Das führte dazu, daß in der Baubehörde Herr Müller-Link (F.D.P.) Senator wurde und das Landesplanungsamt übernahm, während das Tiefbauamt bei Herrn Büch blieb. Damit wurde die Innenkoordination dieser Behörde schwieriger. Wichtig ist, daß in derselben Phase ein erster Schritt zur Verwaltungsreform unternommen wurde. Helmut Schmidt war Senator geworden, und aus einer ganzen Reihe von organisatorisch unterschiedlich angesiedelten Einheiten wurde die Innenbehörde geschaffen; gleichzeitig wurde die Arbeitsbehörde mit der Sozialbehörde zusammengelegt. In dieselbe Zeit fällt 1960/61 das Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes 15 . Im wesentlichen motiviert durch den Streit um Art. 14 G G und die Planungsschädenproblematik, wurde das ganze Bauplanungswesen und das Erschließungsrecht bundeseinheitlich geordnet. Zwar wurde es damit zu einem Teil der Zufälligkeit der Rechtsprechung entzogen, aber ich behaupte noch heute, daß es verfassungswidrig war und ist, weil die Bundeskompetenz dazu fehlte. Zunächst brachte es uns die beinahe zwei Jahre in Anspruch nehmende Aufgabe, alle hamburgischen Verwaltungsteile, die mit dem Planen und Bauen zu tun hatten, umzuerziehen. Eine Phase, in der wir sehr unsicher waren und mit Schwierigkeiten kämpfen mußten. Dann will ich in Ihr Gedächtnis zurückrufen, daß im Frühjahr 1962 die Sturmflutkatastrophe einbrach, die allen Bereichen der Hamburger Exekutive einen schweren Schlag versetzte, weil Arbeitskraft, Intensität des Denkens und Geld auf das Ziel des neuen Deichsystems ausgerichtet werden mußten. Die Finanzen wurden neu geplant, in großem Umfang mußten Behelfsheime geräumt werden mit zusätzlichem Wohnungsbedarf, und gleichzeitig waren unzählige Grundstücke zu beschaffen und Betriebe zu verlagern. Die Erkenntnis wuchs, daß der Aufbauplan von 1960, der für 2,2 Millionen Einwohner Platz haben sollte, zu wenig Bauflächen enthielt, vor allem weil parallel dazu der Wohungsanspruch der Bevölkerung, also der Flächenbedarf pro Einwohner stark gewach-
14 Landesplanungsamt (Hrsg.), Handbuch für Siedlungsplanung. Städtebauliche Planungsgrundlagen für den Hamburger Raum, in: Hamburger Schriften zum Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen, Heft 37, 1962. 15 BBauG vom 23. Juni 1960 (BGBl. I S.341).
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sen war. Das führte zu einer Verdichtungswelle; geplante Objekte wurden aufgestockt, und es wurde dichter geplant. Der neue Wohnungsbauschub führte zu erneuten Erschließungsengpässen und Problemen mit den Wohnfolgeeinrichtungen. In dieselbe Zeit, auch das muß man sehen, fällt die weltweite städtebauliche Urbanitätsdiskussion - ich nenne die Namen Mitscherlich 16 , Jane Jacobs17, Bahrdt 18 - und die Diskussion über die Verödung der City Hamburgs, die trotz der inzwischen von Farenholtz und mir erfundenen City-Nord berechtigt blieb. Aus alledem entstand, als der Sturmflutschock überwunden und die neuen Maßnahmen ins Laufen gebracht waren, eine breite öffentliche Auseinandersetzung darüber, ob denn alles so richtig sei, wie man es in Hamburg plante und tat. Bernhard Wördehoff in der „WELT" war, teilweise von mir selbst mit Informationen versorgt, einer der Aktivisten unter denen, die verlangten, daß die Verwaltung reformiert werde, daß es einen neuen Planungsstab geben müsse, daß man sich städtebaulich neu orientieren solle; die Regierungsarbeit müsse besser geplant, das Ausschußwesen bekämpft werden; die Deputationen wurden in Frage gestellt. Diese Diskussion hat wesentliche Veränderungen im Denken herbeigeführt, so daß wir uns das Jahr 1964/65 als ein entscheidendes Umbruchsjahr für Hamburg vor Augen stellen müssen. Im März 1964 kam von der SPD (Paulig und anderen) das bürgerschaftliche Ersuchen, eine unabhängige Kommission einzusetzen, die sehr pauschal zusammengefaßt - prüfen sollte, ob der Aufbauplan von 1960, der ja eigentlich für zehn Jahre gedacht war, noch zeitgemäß sei; dazu sollten vor allem Wissenschaftler herangezogen werden". Im Juli 1964 gab es als Antwortversuch der Baubehörde auf manche dieser Probleme den Entwurf einer Senatsdrucksache von Herrn Büch und Herrn Mestern, in der gefordert wurde, daß unter der Regie der Baubehörde eine übergreifende Planung für alle Investitionsprojekte in zwei Stufen, von vier bis fünf Jahren und zehn bis zwölf Jahren, eingerichtet werden sollte. Dieser Ansatz ebenso wie die Idee eines Planungsstabes beim Bürgermeister erzeugten heftigen Widerstand. Aus der Drucksache der Baubehörde wurde nichts, sie wurde nicht einmal in den Senat eingebracht. Noch im November 1964 hatte Bürgermeister Nevermann öffentlich verkündet, einen Planungsstab brauche man nicht und wolle .er nicht. Kurz darauf jedoch hat er am 9. Dezember 1964 vor
" A. Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/M. 1965. J. Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Berlin 1963. 18 H.P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, Hamburg 1961. " Die Einsetzung der Unabhängigen Kommission erfolgte auf einstimmigen Beschluß der Hamburger Bürgerschaft am 11. März 1964 (Sten. Ber. der Bürgerschaft, 5. Sitzung am 11. März 1964, Tagesordnungspunkt 15, S. 97-106). 17
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der Bürgerschaft den Planungsstab angekündigt20. Was dazwischen vor sich gegangen ist, weiß ich nicht. Vielleicht mag mitgewirkt haben, daß ich selbst als Leiter der Liegenschaftsverwaltung meinen Präses, Senator Weichmann, immer wieder auf die Notwendigkeit übergreifender Planung hingewiesen hatte; denn die Liegenschafts Verwaltung war, ich deutete es früher schon an, einerseits Leidtragende der vielen unkoordinierten Anforderungen, andererseits war sie durch die Entscheidung darüber, wo sie ihre knappen Kräfte einsetzen wollte, um Grundstücke zu erwerben, illegitim zur Schlüsselstelle der Zeitplanung geworden eine ungute Situation. Darüber hinaus war Dr. Weichmann als Finanzsenator auch durchaus empfänglicher für das, was seine Haushaltsabteilung ihm sagte, nämlich daß es auch finanziell so nicht weitergehen könnte. So hat dann auch der damalige Abgeordnete Kern, der spätere Wirtschaftssenator, im Dezember 1964 in der Bürgerschaft mehrjährige Rahmenpläne für Investitionen, allerdings als Bürgerschaftsangelegenheit, gefordert21. 1965 beschleunigte sich die Entwicklung. Im Januar wurde die Unabhängige Kommission für den Aufbauplan der Freien und Hansestadt Hamburg eingesetzt, mit Oberlandesgerichtspräsident a.D. Görtz als Vorsitzendem und Prof. Jensen aus Braunschweig als federführendem Geschäftsführer22. Im April verstärkte ein externer Einfluß den Druck: Es wurde der Hessen-Plan 23 verkündet, ein Zehnjahresprogramm, das schon damals den Anspruch erhob, eine politische Planung zu sein. In der Wirtschaftsbehörde wurde Herr Deneffe mit dem Amt für Wirtschaftspolitik auf die Aufgabe angesetzt, die schwieriger gewordene, durch Grundstücksmangel und Betriebsabwanderungen beeinflußte Situation für Hamburg umzukehren. Wir gründeten, zunächst mit gegenseitigem Mißtrauen, zwei Arbeitsgruppen zur Gewerbeflächendisposition und zur Bereitstellung neuer Arbeitsstättenflächen, und wir versuchten, unsere Verhandlungen mit Unternehmern abzustimmen. Und dann kam es wieder zu einer Merkwürdigkeit: Bürgermeister Nevermann schrieb an den Wirtschaftssenator Bürgermeister Engelhardt (F.D.P.), er möge doch Nevermanns persönlichen Referenten Harald Schulze zu der zweiten Arbeitsgruppe, der auch der Oberbaudirektor
„DIE WELT", Nr. 261 vom 7.11.1964. „DIE WELT", Nr. 283 vom 4.12.1964. 22 Die konstituierende Sitzung war am 16. Febr. 1965. 23 Der Große Hessenplan, hrsg. vom Hess. Ministerpräsidenten, Schriften zum Großen Hessenplan, Heft 1-3, Wiesbaden 1965/68; zum Inhalt des Hessenplans vgl. einführend: W. Hüfner, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. I, 2. Aufl. 1970, S. 1202 ff m. w. N. 20 21
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Sill und Dr. Krüger-Spitta als Leiter der Haushaltabteilung angehörten, hinzuziehen, „dann können wir sagen, wir haben einen Planungsstab". Im Mai, wenige Tage danach, verkündete er öffentlich, der Planungsstab habe seine Arbeit aufgenommen, um die Wirtschaftspolitik zu fördern, Orientierungsrahmen der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu entwickeln und Gesamtplanung zu betreiben24. Ich weiß noch, wie entsetzt ich selbst, Herr Krüger-Spitta und Herr Sill über diese Erklärung waren. Denn nicht nur hatten wir nichts davon gewußt, vor allem hielten wir uns für völlig ungeeignet, neben der Leitung unserer Amter solche umfassende Planung zu betreiben; wir fanden das Ansinnen ziemlich unverschämt. Ich habe daher Senator Weichmann ein Organisationsmodell für einen Planungsstab des Bürgermeisters, der diesen Namen verdiente, entworfen; was aber konkret daraus geworden ist, weiß ich nicht. Herr Wördehoff schrieb - ohne mein Zutun - , „Hamburg gebar ein Mäuslein", und forderte einen richtigen Planungsstab25. Ehe dieses alles sich aber wirklich auswirkte, trat Dr. Nevermann am 8. Juni 1965 zurück, bekanntlich aus anderen Gründen, und Herr Weichmann wurde Bürgermeister. Dieser legte schon Anfang Juli dem Senat eine Drucksache mit dem Vorschlag vor, einen Planungsstab beim Ersten Bürgermeister zu schaffen26. Die Senatskommission für Verwaltungsaufbau wurde in Anspruch genommen, um ein Modell vorzubereiten und ein wenig abzusichern. Deren Entwurf entsprach nicht voll meinem Vorschlag; ich hatte das Organisationsamt, soweit es für die Personalplanung zuständig war27, und die Finanzbehörde (mit Haushalt und Liegenschaft) mit dem Planungsstab verzahnen wollen. Nach längerem Ringen, in denen die Ressorts, insbesondere die Baubehörde mit einem Gegenvorschlag, dem Bürgermeister Planungskompetenzen bestritten, hat der Senat trotzdem im September im Sinne des Bürgermeisters beschlossen28. Der Planungsstab wurde zweigliedrig gebildet: Es gab eine Gruppe, die auf konzeptionelle und finanzielle Planung - das hatte man nicht so genau gesagt, aber doch gemeint - und auf Koordination ausgerichtet war; sie wurde unter Dr. Schulze mit den Herren Zeidler und Kruse aufgebaut und arbeitete unter dem Staatsrat Dr. Blecke und später seinem Nachfolger Dr. Fahning als Chefs der Senatskanzlei. Eine zweite Gruppe sollte die Regionalplanung, also die Zusammenarbeit mit Schleswig-Holstein und
„DIE WELT", Nr. 103 vom 5. Mai 1965. „DIE WELT", Nr. 107 vom 10. Mai 1965. 26 Senats-Drs. 365/1965 (einschließlich 1. und 2. Ergänzung). 27 Das OrgA ist zuständig für die Personalbedarfsplanung/Personalentwicklungsplanung i.R.d. Stellenplanes und der mittelfristigen Finanzplanung, vgl.: Landesbericht Hamburg, in: K.König (Hrsg.), Koordination und integrierte Planung in den Staatskanzleien, Schriftenreihe d. HSch. Speyer, Bd. 60 (1976), S. 268 ff (286 f). 28 Senats-Beschluß vom 7. Sept. 1965. 24
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Niedersachsen betreiben; sie wurde unter Staatsrat Mestern mit den Herren Dr. Struve und Laude besetzt und ebenfalls dem Bürgermeister unterstellt. Unter der intensiv wahrgenommenen Aufsicht und Führung durch Herrn Weichmann nahm dieses für Hamburg revolutionär erscheinende Instrument seine Arbeit auf 2 '. Lassen Sie uns jetzt noch einen Blick über Hamburgs Grenzen hinwegwerfen. Inzwischen hatte die „ B i l d u n g s w e l l e " Deutschland erreicht und Bildungsplanung wurde gefordert, in Hamburg in Ansätzen auch betrieben. Damit war erstmals ein Politikfeld, das nicht primär mit Investitionen zusammenhing, aber erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen beanspruchte, wesentlich. Eigentlich hätte also diese neue Aufgabe mit dem, was herkömmlich in Hamburg wesentlich war, Infrastruktur und Wohnungsbau, im Planungsstab zusammengeführt werden und eine Gewichtsverlagerung auslösen müssen. Das war aber zu dieser Zeit noch nicht erkannt worden - wohl im Senat und den Zentralbehörden noch gar nicht gegenwärtig - , obwohl die Kultusministerkonferenz sich im Laufe des Jahres 1964 intensiv damit befaßt hatte. Immerhin hatte auch Herr Brandes, damals Fraktionsvorsitzender der SPD, in der Bürgerschaft Planungsstäbe in den Behörden gefordert 30 und sicher auch die Schulbehörde im Sinn gehabt. Der neue Planungsstab bestand aber vorerst auf dem Papier. Regionalplanung war nichts entscheidend Neues und diese Abteilung konnte dank der bereits eingespielten Zusammenarbeit von Finanz- und Baubehörde rasch über Irritationen hinweggeführt werden. Dagegen hatte der eigentliche, der neue Teil des Planungsstabs nun die Aufgabe, in einem kritischen Umfeld seinen Standort zu suchen und die Zügel in die Hand zu bekommen, was ihm anfangs sehr schwer fiel. Herrn Schulze gelang es, eine Lücke zu finden, die sich als zukunftsträchtig erwies, nämlich die mittelfristige Finanzplanung. Mit deren Hilfe hat der Planungsstab seine Rolle aufgebaut. Er hat auch andere Planungslücken ausgefüllt, wo die Ressorts nicht in Gang kamen und die Baubehörde, weil sie andere Schwerpunkte setzte, noch nicht eingesprungen war: Im Planungsstab wurde ein Programm für die Häuser der Jugend entwickelt, die völlig defizitäre Planung der Arbeits- und Sozialbehörde allmählich ersatzweise übernommen, es wurde die Frage des Standorts der gewünschten Technischen Universität aufgearbeitet und diskutiert, es wurde in diesem Zusammenhang der Slogan „Hamburgs Zukunft liegt im Süden der Elbe" erfunden. Aber im wesentlichen gewann der Planungsstab seine
29 Vgl. hierzu: U. Becker, Die Planungsfunktion in der Hamburgischen Senatskanzlei, in: Die Staatskanzlei: Aufgaben, Organisation und Arbeitsweise auf vergleichender Grundlage, Schriftenreihe d. H S c h Speyer, Bd. 34 (1967), S. 315 ff (316 f). 50 Sten. Ber. der Bürgerschaft, 20. Sitzung am 9. Dez. 1964, S.648.
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Position dadurch, daß er die mittelfristige Finanzplanung entwickelte. 1967, also nach längerer Vorarbeit, hat er eine erste „mifriFi" vorgelegt31. Wir kommen zur dritten Phase, nämlich der der Reform- und Planungseuphorie. Sie wissen, im Bund gab es im Dezember 1966 die große Koalition, Kiesinger und Schiller entwickelten Planungsstäbe. 1969 gewann die SPD die Wahl. Brandt, Ehmke und Jochimsen bauten im Bundeskanzleramt einen großen Apparat auf. Teilweise wurde Planung als Mittel zur Gesellschaftsveränderung verstanden. Die Bildungsplanung nahm enorme Umfänge an: Wissenschaftsrat, Bildungsrat, BundLänder-Kommission für Bildungsplanung begannen, Berge von Papier zu erzeugen. Es wurde sogar versucht, ein Bildungsbudget aufzustellen. Staatsrat Ranft spielte dabei eine wichtige Rolle. U n d es kam die Finanzreform von 196932, nach dem Stabilitätsgesetz von 1967, in dem die mittelfristige Finanzplanung als Aufgabe festgeschrieben wurde 33 . Die Gemeinschaftsaufgaben wurden erfunden und der Begriff „Planung" in das Grundgesetz aufgenommen 34 . In H a m b u r g baute der Planungsstab seinen Einfluß allmählich aus, und damit trat die Machtposition der Baubehörde schrittweise in den Hintergrund. Der Planungsstab zwang die Behörden mit Hilfe der mittelfristigen Finanzplanung, selbst zu planen. Es gab Behörden, die das schon gut konnten, die aber dazu neigten, sich nicht gerne in die Karten sehen zu lassen: Verkehrs-, Entwässerungs-, Hafenplanung. U n d es gab solche, in denen das Planungsdenken schwach ausgebildet war, teilweise noch heute ist, zum Beispiel die Wohnungsbedarfsplanung in der Baubehörde, die sozialen Bereiche (Altersheime, Übergangswohnungen) und andere. In der Schulbehörde haben Senator Schulz und ich erst 1970 einen Planungsstab einrichten können; in der Baubehörde haben Senator Meister und Staatsrat Rademacher sogar erst 1972 eine koordinierende Stelle in der Präsidialabteilung aufgebaut. Andere Behörden haben dies nicht geschafft, am wenigsten die Wirtschaftsbehörde. Die Gesundheitsbehörde hat erst 1975 unter dem Druck eines Bundesgesetzes 35 den ersten Krankenhausbedarfsplan vorgelegt 36 . Sie sehen also, wie unterschiedlich in Hamburg das Tempo war, aber
" Mitteilg. des Senats an die Bürgerschaft vom 20.6.1967; Bürgerschafts-Drs. 6/748. 21. Gesetz zur Änderung des G G vom 12. Mai 1969 (BGBl. I S.359). 33 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582). 34 Art.91a, 9 1 b G G eingefügt durch das 21.ÄndG zum G G (s.o. Fn.32). 35 Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz - K H G - ) vom 29. Juni 1972 (BGBl. I S. 1009). 36 Amtl. Anzeiger N r . 241 vom 15.12.1975, S. 1937. 32
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auch, wie segensreich die mittelfristige Finanzplanung sich auswirkte, mit der die Behörden allmählich zu gemeinsamem Denken gezwungen wurden. U n d doch blieb dies nur ein Teilstück: Es ist ein Mangel, daß die mifriFi sich nur mit den Investitionen, nicht dagegen mit dem Personal intensiver beschäftigte. Das hat sich später bitter gerächt. Parallel konnte die Baubehörde allerdings auf einem Sektor noch einmal ihren Planungsprimat herausstellen. Das war die Zeit nach der Wahl von 1966, als eine Reihe junger Abgeordneter in den Senat einrückte, unter ihnen Herr Meister als Bausenator. 1967 legte die Unabhängige Kommission ihren Bericht vor 37 . Der war sehr breit angelegt und hatte eine Fülle von wissenschaftlichen Gutachten einbezogen, insbesondere aus dem Felde der Wirtschaft, und - darauf müssen wir gleich noch zurückkommen — vor allem das Sondergutachten von Prof. Littmann 38 , in dem versucht worden war, die Bevölkerungsentwicklung darzustellen. In diesem Bericht der Unabhängigen Kommission wurde eine umfassende Entwicklungsplanung gefordert. Der regionale Verbund wurde deutlich herausgearbeitet; es wurde darauf hingewiesen, daß schon ab 1957 die Hamburger Wirtschaft Schwächezeichen erkennen ließ und sich unter dem Bundesdurchschnitt entwickelte 39 , die Wanderungsverluste wurden angesprochen, der abklingende Babyboom, die angespannten Finanzen, der verzettelte Infrastrukturaufwand, das unvollständige Bildungsangebot. Jedenfalls sollte der Planungsstab zu einem Instrument intergrierter Führung ausgebaut werden; der Aufbauplan als graphisch dargestelltes Entwicklungskonzept sei neu zu erarbeiten. Alle diese Empfehlungen führten dazu, daß Anfang 1968 die Baubehörde den Auftrag des Senats erhielt, ein Entwicklungsmodell für Hamburg und das Umland zu erarbeiten 40 . Eine interbehördliche Arbeitsgruppe wurde eingesetzt, in der unter der Federführung der Baubehörde der Planungsstab und die Finanzbehörde intensiv mitwirkten, und schon 1969 konnte dieses Entwicklungsmodell der Bürgerschaft vorgestellt werden 41 . D a s geschah jetzt aber durch Herrn Weichmann, also den Bürgermeister - man sieht, wo er das
37 Veröffentlicht von der Baubehörde der F H H - Referat für Öffentlichkeitsarbeit: Stellungnahme zum Aufbauplan 1960 der Freien und Hansestadt Hamburg, Okt. 1967. 3! K. Littmann (unter Mitarbeit von W. Bastam, M. Rose), Die Bevölkerungsentwicklung Hamburgs von 1951 bis 1979 - Sondergutachten zur Stellungnahme zum Aufbauplan 1960 erstattet auf Vorschlag der Unabhängigen Kommission, Hamburg 1966. 19 S.o. Fn.37, S.31. Hiernach blieb Hamburgs Wirtschaft im Vergleich zu anderen westdeutschen Großstädten mit einer Wirtschaftsbevölkerung von über 400 000 um 5 % zurück. , 0 Senats-Beschluß vom 30. April 1968. 41 Bürgerschafts-Drs. 6/2239 vom 10. Juni 1969; Einbringung durch den Ersten Bürgermeister Weichmann, Sten. Ber. der Bürgerschaft, 87. Sitzung vom 2. Juli 1969, S. 3985 ff.
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politische Schwergewicht sah. Dieses Entwicklungsmodell war konzipiert als eine unbefristete, langfristige Entwicklungsvorstellung, die in zeitlichen Stufen durch Flächennutzungspläne von etwa lOjähriger Blickweite ausgefüllt werden sollte. Zugleich wurde eine langfristige Investitionsplanung angekündigt, die damit erstmals 1969 in Hamburg auf den Weg gebracht werden sollte. Dieses Vorhaben hat damit länger auf sich warten lassen müssen als anderswo; und obwohl sie nach meiner Einschätzung (deshalb?) methodisch praktikabler und besser angelegt war, ist die „Langfristige Aufgabenplanung" (LAP) nie zu einem fertigen Produkt geworden. Entscheidend wichtig für die Rolle des Planungsstabes wurde die Basisdatenarbeit, d. h. also die Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung, aber auch die der Arbeitsplätze und der Arbeitsplatznachfrage42. Unter der Regie des Planungsstabes hat ein Ausschuß erstmals eine gemeinsame Grundlage für alle planenden Behörden erarbeitet und am Ende zur Anerkennung gebracht. Dabei ergab sich, wovor man vorher die Augen meist verschlossen hatte, und was auch Herr Littmann in seinem Sondergutachten noch nicht vollständig erkannt hatte, daß man mit sehr viel ungünstigeren Prognosezahlen auf fast allen Feldern rechnen mußte. Politisch spielten zu jener Zeit aber diese Erkenntnisse noch keine Rolle. Wohnungsbau und Bildungsaufgaben waren die politischen Themen. 1967 war die Aufnahmeprüfung für die Gymnasien abgeschafft worden; die Schülerzahlen, vor allem an den Gymnasien, explodierten, und die Bevölkerung interessierte sich für fast nichts anderes als die Schulfragen: Lehrermangel, hohe Klassenfrequenzen, unzulängliche Schulräume. Und dann kam die „Apo" und die Unruhe an den Universitäten, die die gespannte Aufmerksamkeit aller Parteien beanspruchten. In dieser Phase bearbeitete die Baubehörde den neuen Flächennutzungsplan, den sie 1972 vorlegte, noch auf der Linie des Entwicklungsmodells; Ende 1973 wurde er von der Bürgerschaft beschlossen43, obwohl Mitarbeiter der Baubehörde schon ein ungutes Gefühl dabei hatten und sich damit trösteten, daß ein Flächenplan ja nur eine Rahmenplanung (wenn - dann) sei. Offiziell befand sich die Baubehörde im Widerspruch zum Planungsstab; es gab Rivalitäten und Auseinandersetzungen, die aber noch unter der Decke blieben. Die Baubehörde plante auf Zuwachs, verwies auf die Flächenengpässe, darauf, daß die Wohnfläche pro Einwohner von 22 inzwischen auf 28-30 qm gestiegen war und
42 Ein Gutachten des H W A in Zusammenarbeit mit dem O r g A zur Bevölkerungsentwicklung 1 9 6 7 - 1 9 7 5 hatte bereits eine rückläufige Tendenz angekündigt. 43 Beschluß der Bürgerschaft v o m 21. D e z . 1973 (GVB1. S . 5 4 2 ) . Gleichzeitig wurde gem. Ziff. 2 des Beschlusses der Aufbauplan der F H H v o m 16. D e z . 1960 (GVB1. S . 4 6 3 ) aufgehoben.
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auf 35 qm weiter steigen würde, was zu einer stark wachsenden Anforderung an Wohnungen und Baugrundstücken führen müßte. Demgegenüber sah der Planungsstab zunehmend klarer, daß all dies bei der Entwicklung der Bevölkerung, vor allem aber der Arbeitsplätze und der Finanzen, die er nun auch längerfristig ins Blickfeld nahm, nicht stimmig sein konnte. Entsprechend der Ankündigung im Entwicklungsmodell wurde die langfristige Aufgabenplanung 1971 als Pflicht aller Behörden vom Senat beschlossen. Im Planungsstab waren Kruse, Gührs, dann Werdermann und Wrocklage darin engagiert. Sie brauchten aber noch bis 1973, ehe sie den Behörden ein ausreichendes Methoden- und Basisdatenpapier liefern konnten. Bitte achten Sie darauf: 1973 ist schon ganz dicht an der Zeit, in der es zu kriseln begann. In den Behörden herrschte freilich noch immer Euphorie, immer noch wurde auf Zuwachs geplant, jetzt allmählich in einander angenähertem Tempo und Schrittmaß. Die schon geschilderte Tatsache, daß die Behörden unterschiedlich qualifiziert waren, sei es im Willen, sei es in der Fähigkeit zu planen, machte einen neuen Erziehungsanlauf nötig, der eigentlich auf Umdenken hätte gerichtet sein müssen. Aber die öffentliche Stimmung, die die behördenleitenden Politiker beeinflußte, war eben immer noch euphorisch. Sie werden sich erinnern, daß der inzwischen Bürgermeister gewordene Senator Schulz 1972 mit dem Großprojekt Billwerder-Allermöhe auf den Plan trat, als Reaktion auf Abwanderung und aktuelle Wohn wünsche der Bevölkerung sowie den Mangel an Flächen für Gewerbe und Industrie. Dies Projekt wurde mit erheblichem Aufwand und viel gutem Willen als ein integriertes Planungsvorhaben betrieben. Ich betone das Wort „Projekt"; es war keine umfassende Aufgabenplanung, sondern Ziel und Aufgabe waren auf das Projekt begrenzt. Ich habe - als der damalige Senatsbeauftragte für Billwerder-Allermöhe - nicht soviel Abstand dazu, als daß ich die gemeinsam mit der Neuen Heimat und fast allen Behörden zwei Jahre lang betriebene Planung im einzelnen werten möchte. Der großen Projekte, an denen gearbeitet wurde, gab es noch mehr: Flughafen Kaltenkirchen, Vorhafen Neuwerk, Generalverkehrsplan, Hafenerweiterung, Flächensanierung. Obwohl 1971 der Beginn der Weltwirtschaftskrise anzusetzen ist, war die Diskussion im Elfenbeinturm von Politik und Verwaltung davon erstaunlich unberührt. In der Bevölkerung freilich begann das Pendel allmählich umzuschlagen, und dabei spielte das als Mammutprojekt einer Betonstadt diffamierte Vorhaben Billwerder-Allermöhe eine wichtige auslösende Rolle. Im linken Flügel der S P D , in der linken F.D.P. kam die Abkehr vom Bisherigen, kam die Nostalgie in ganzer Breite auf; es wurden die Stadtteile und die Ausländerprobleme entdeckt. U n d mit der Wahl von 1974, bei der die S P D die Mehrheit verlor und die Koalition mit der in
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sich gespaltenen F.D.P. (rechts Dr. Bialas, links Prof. Biallas) entstand, begann das Umdenken in Hamburg. Dazu trug bei, daß etwa gleichzeitig die Ölkrise, der Klunckersche Tarifabschluß für den öffentlichen Dienst sowie die Ablösung des Bundeskanzlers Brandt und damit auch das Ende der Planungsstäbe von Ehmke und Jochimsen eintrat. Hier sollte wohl der Beginn der vierten Phase, des Zusammenbruchs der Planungsfreuden, angesetzt werden. Der Planungsstab hatte seine Basisdaten inzwischen soweit fortgedacht, daß er mit seinen sorgenvollen Prognosen den Bürgermeister Schulz zu alarmieren versuchte. Das gelang zwar, aber mit dem Erfolg, daß sie im Panzerschrank verschwinden mußten. Immerhin, Hamburg mußte zu dieser Zeit ein erstes Sparprogramm beginnen, denn die Finanzen waren offensichtlich ganz problematisch geworden. So wurde im November 1974 Schulz durch Klose abgelöst. Herr Klose war entschlossen, das Steuer zunächst auf diesem Felde herumzureißen. Er intensivierte die Arbeit am Sparprogramm, die nun von dem Staatsrätekollegium unter meinem Vorsitz, mit Hilfe von Finanzverwaltung, Organisationsamt und Planungsstab und bei besonderem Einsatz der Staatsräte Rademacher und Dahrendorf, geleistet wurde. Das von Herrn Klose in der Bürgerschaft durchgesetzte Programm war damals bundesweit eine Neuheit. Zwar hatte Bremen bereits 1970 öffentlich auf die veränderte Situation hingewiesen, aber das hatte keinen nachhaltigen Eindruck gemacht. So war also das Hamburger Sparprogramm von Anfang 197544 ein Paukenschlag. Zugleich hatte der Planungsstab Bürgermeister Klose seine Prognosen vorgetragen, und dieser entschloß sich, sie zum Inhalt seiner Regierungserklärung zu machen. Mit ihr propagierte er im Januar die neue Denkweise: Nüchterne Darstellung, trotzdem einige positive Glanzlichter, und vor allem „wir müssen die Ärmel aufkrempeln"; kein Zuwachs, Konzentration auf Stadtteilentwicklung, Förderung des kleinen und mittleren Gewerbes, Ausländerkonzept 45 . In Verfolgung dessen wurde das Projekt Billwerder-Allermöhe vorerst und als erstes begraben; dahingestellt sei hier, ob mehr von der SPD oder der F.D.P. zu Fall gebracht. Auch alle anderen großen Projekte wurden nacheinander innerhalb von drei, vier Jahren eingestellt: Kaltenkirchen, Neuwerk, Generalverkehrsplanung mit ihren 44 In dem Zeitraum der Mittelfristigen Finanzplanung 1975 bis 1978 mußte bei einem Finanzbedarf von ca. 44 Mrd. DM eine Deckungslücke von ca. 1,9 Mrd. DM ( > 4 % ) geschlossen werden. Siehe hierzu: Sparprogramm und Stellenplan, Entwicklungstendenzen zu Aufgabenkritik und Rationalisierung in der hamburgischen Verwaltung, in: Mitteilungen für die Verwaltung Nr. 23 vom 10. Nov. 1976; Becker/Dieckmann, Aufgabenkritik am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Joosten/van Kaidenkerken (Hrsg.), Organisation und Effizienz der öffentlichen Verwaltung II, 1976, S. 3 ff. 45 Zur Regierungserklärung siehe: Sten. Ber. 8/20, Sitzung der Bürgerschaft vom 29. Jan. 1975, S. 1013 ff.
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Stadtautobahnen und maches andere mehr. Zugleich brachte die F.D.P. einige neue Aspekte ein, so den Einfamilienhausbedarf. Heftige Kämpfe wurden um eine Umstrukturierung in der Mieten- und Wohnungsbaupolitik ausgetragen. Dabei war die Finanzbehörde unter ihrem F.D.P.Senator Rau ausgesprochen stumm, obwohl oder weil deren Staatsrat Ranft Ende 1974, im wesentlichen aus diesen Gründen, Hamburg verlassen hatte. Die Bedeutung des Planungsstabs wuchs, während das Organisationsamt, das seit Jahren auf die Probleme des galoppierenden Personalzuwachses4' hingewiesen hatte, noch immer wenig Resonanz fand. Trotzdem blieb auch der Planungsstab in seiner Wirkung hinter den Erfordernissen zurück. Er hätte 1975 wohl die Weichen grundsätzlich neu stellen können. Das hätte allerdings zu klaren Entscheidungen über Prioritäten und vor allem Posterioritäten gezwungen. Zeitweilig wurde jedoch diese Notwendigkeit durch die SPD-F.D.P.-Rivalität im Senat überdeckt. Und als der Glaube an das Heilmittel Planung und mit ihm der Elan starb, als die Politik die Parole fand, der Finanzrahmen sei „unschätzbar", begann die Demoralisierung. Trotzdem fing der Planungsstab sich, steuerte die „Langfristige Aufgabenplanung", die 1975 hätte fertig werden können, um zur Aufgabenkritik und arbeitete nun ein bis anderthalb Jahre mit Organisationsamt, Finanzbehörde und Rechnungshof an diesem neuen Ansatz. Im Grunde war ja auch dies langfristige Aufgabenplanung, nur jetzt unter anderem Vorzeichen. Die Vorarbeiten waren weitgehend geleistet. Im Juni 1976 erteilte der Senat sogar formell den Auftrag, Aufgabenkritik zu betreiben47. Aber als Ende 1976 das Werk fertiggestellt war und dem Bürgermeister vorgelegt wurde, erlebten die Stabsstellen wieder einen Einbruch: die Reaktion war Sorge um die Stabilität der Koalition und „ich will doch nicht die Wahl verlieren". So kommt es, daß wir dies Werk nie zu sehen bekommen haben. Es soll nur in vier Exemplaren existieren; eines davon hatte allerdings Herr Bahnsen von der „WELT", der nicht locker ließ, damit zu arbeiten. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß auch dieses Papier im Panzerschrank blieb und die Demoralisierung fast aller Planenden in Hamburg deutlich fortschritt. In der Baubehörde hatte sie schon etwa 1974 eingesetzt, als diese sich auf einen neuen Senator mit anderer Parteizugehörigkeit einstellen
46 In dem Zeitraum 1970 bis 1980 hatte sich der Personalbestand um ca. 13400 von ca. 95 000 auf ca. 108 400 erhöht (Netto-Zuwachs). Der Brutto-Stellen-Mehrbedarf lag bei ca. 25 000 Stellen. Vgl. die Bürgerschafts-Drs. Nr. 9/2518 vom 2. Sept. 1980; Senatsamt für den Verwaltungsdienst: Personalbestand im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. Hamburg 1979; ausführlich hierzu: Dieckmann, Erste Bilanz der Aufgabenkritik in der Hamburger Verwaltung 1975-1982, in: Die Verwaltung, 16. Bd. (1983), S. 179ff. 47 Zur Aufgabenkritik vgl. KGSt-Bericht Nr. 21/1974; Dieckmann, aaO (Fn.46).
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mußte und zugleich die Mitarbeiter nicht wußten, wie sie sich mit dem traurigen Ende vieler mit Schwung betriebener Planungen zurechtfinden sollten. Ich war Staatsrat in der Baubehörde und nahm mir vor, die Mannschaft wieder aufzurichten und mit ihnen umzudenken. So habe ich mich mit dem Oberbaudirektor Müller-Ibold und dem Ersten Baudirektor Ebert im Ratskeller zusammengesetzt und mit ihnen verabredet, aus unserer Sicht ein Stadtentwicklungskonzept unter neuen Aspekten zu erarbeiten. Senator Bialas griff das gerne auf: Er sah den Sinn der Sache; er konnte sich für die F.D.P. profilieren; er erkannte die Chance, auf diese Weise die Wohnungspolitik umzupolen; und - das wollten wir alle - man konnte die Baubehörde gegen den Planungsstab ein bißchen herausheben, denn seine Sache wäre das eigentlich nach der Entwicklung der letzten Jahre gewesen. Erst heute weiß ich, wo die Gründe liegen, daß der Planungsstab gerade dies nicht machen konnte. In der Baubehörde wurden nun mehrere Entwürfe geschrieben und lange Diskussionsrunden veranstaltet; ein Entwurf stammte von Herrn Rahlfs, der spätere von Herrn Lindemann. Die - keineswegs ausgereifte - Schlußfassung, die sich auf die wesentlichen Politikbereiche beschränkte, wurde im Mai 1976 Herrn Klose vorgelegt. Der befürchtete Erfolg trat ein: Herr Klose sagte, so gehe es nicht. Der F.D.P.-Senator konnte nicht ein Entwicklungskonzept vorlegen, die Baubehörde durfte nicht in Bereichen anderer Ressorts konzeptionell planen, und inhaltlich fand er die Aussagen teilweise angreifbar - und es waren ja nicht alle Politikfelder erfaßt. Daher erhielt nun doch der Planungsstab den Auftrag, die Federführung an sich zu nehmen und seinerseits ein Entwicklungskonzept zu entwerfen. Dieser mußte aber alle Behörden beteiligen, so daß nach längerer Zeit riesige Papierberge entstanden, die verkürzt, aber immer noch voluminös, dem Senat vorgelegt wurden. Der Senat, der sich zu einer Klausursitzung zusammengefunden hatte, fand das Projekt ungenießbar, weniger aus inhaltlichen Gründen als wegen der Quantität und mangelnden Stringenz, und war lustlos: „Was soll das auch alles!". Daraufhin bekam der Planungsstab, der diese Entwicklung vorhergesehen hatte, von Herrn Klose den Auftrag, nun doch selbst ein Entwicklungskonzept zu schreiben. Aber nun war auch er endgültig ohne Schwung; er wußte auch kaum, was er schreiben sollte und - vor allemdurfte. So hat es bis 1980 gedauert, bis das „Stadtentwicklungskonzept" entstand48. Es ist mager, ein klägliches spätes Kind von hohen Träumen; aber das kann man jedenfalls nicht dem Planungsstab anlasten - vielmehr
48 Vgl. Senats-Beschluß vom 30. Sept. 1980. Veröffentlicht in: Senatskanzlei (Hrsg.), Freie und Hansestadt Hamburg, Stadtentwicklungskonzept, 1980.
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ist diese Erzählung ein Stück Beleg für den Bericht der späteren „HaasKommission" 4 '. Uber die jüngste Zeit zu sprechen, sollte sehr gerafft und nur versuchsweise geschehen - der Abstand ist zu gering. In Hamburg gab es ständig andere Punkte, über die man sich aufgeregt hat, als gerade die längerfristigen Aspekte. Die Umweltbehörde wurde 1978 gegründet50, das hat drei bis vier Jahre Kräfteverschleiß fast in der gesamten Verwaltung gekostet. Im September 1979 gab es die Stoltzenberg-Affäre mit Untersuchungsausschuß und Verwaltungsreform-Diskussion; dazu wurde im Juni 1980 die eben erwähnte Kommission eingesetzt51. Dann trat im Mai 1981 Bürgermeister Klose zurück und es kam Herr von Dohnanyi. Das Planungsinteresse richtete sich zeitweilig auf Fragen der Verwaltungsreform, freilich mehr der Organisations- und Kompetenzstruktur als der Führungsprobleme; aber ehe der Bericht meiner Kommission fertig wurde, waren die Zeichen schon wieder anders gesetzt. Es gab anderes, das viel wichtiger war, nämlich nun endgültig die Finanzen. Endlich hatte Hamburg erkannt, daß es mit der Haushaltspolitik im bisherigen Stile nicht weiterging. Und damit ist ab 1981 alle konzeptionelle Planung von der nackten Finanzplanung und Finanzsteuerung verdrängt worden. Auch diese wurde wieder von der Finanzbehörde unter Senator König intensiv aufgegriffen, aber leider zu spät begonnen und ohne das Fundament einer kritischen Aufgabenplanung und deren politischer Absicherung betrieben. Der Prozeß, das politische Umdenken herbeizuführen, ist so mühsam gewesen und hat so viele Kämpfe und auch Positionen gekostet, daß man den im Rahmen dieses Vortrags eigentlich erwähnenswerten SEP1, den Schulentwicklungsplan52, beinahe vergessen hat. Er hatte in der betroffenen Öffentlichkeit große Aufregungen verursacht und wurde politisch ziemlich schnell aus dem Verkehr gezogen, obwohl er die einzige längerfristige, möglicherweise zwar ideologisch eingefärbte, jedenfalls aber vernünftige Planung gewesen wäre.
49 Vgl. hierzu: Bericht der Kommission zur Überprüfung von Verbesserungsmöglichkeiten in der Hamburgischen Verwaltung, dem Senat vorgelegt im N o v e m b e r 1981. Die Kommission wurde aufgrund eines Senats-Beschlusses v o m 3. Juni 1980 eingesetzt. Den Vorsitz führte der Verfasser. 50 Vgl. 9. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Verwaltungsbehörden v o m 2 1 . N o v . 1978 (GVB1. S. 389). 51 Hierzu: „Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Uberprüfung der Ursachen und Konsequenzen des Giftgas- und Munitionsskandals in H a m b u r g " , Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drs. 9 / 2 1 2 1 vom 15. Mai 1980. 52 Der Referenten-Entwurf wurde im Herbst 1980 vorgelegt, die endgültige Fassung wurde am 4. N o v . 1981 von der Deputation der Behörde für Schule und Berufsbildung beschlossen.
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Der N a m e „Planungsstab" ist im Organisationsplan der Senatskanzlei heute gar nicht mehr vorhanden. Es wird zwar weiterhin dort geplant; aber Bürgermeister v. Dohnanyi hat aus personellen, aber auch aus sachlichen Gründen aus dem Planungsstab und Teilen der übrigen Senatskanzlei ein Amt mit sogenannten Spiegelreferaten gemacht, wie wir sie aus dem Bunde und einigen anderen Ländern kennen. O b der Planungsstab seine mit der mittelfristigen Finanzplanung erstrittene Machtposition wird behaupten können und sollen, halte ich bei dieser Konstruktion für offen. O b das Organisationsamt, das ja für fast die Hälfte des ganzen Haushalts, die Personalausgaben, planend zuständig ist, jetzt endlich eine angemessene Rolle wird spielen können, bleibt abzuwarten. Es war sechs Jahre lang, von 1970 bis 1976, nicht dem Bürgermeister unterstellt; aber nach Weichmann hat auch kein anderer Bürgermeister den jeweiligen Staatsrat so gestützt und das Organisationsamt - dann allerdings mit anderem Aufgabenzuschnitt - so stark gemacht, wie es als Planungs- und Steuerungsorgan hätte sein müssen. Ich möchte am Schluß einige Gedanken aus dem Dargestellten ableiten, ohne jedoch handhabbare Lehren daraus ziehen zu wollen. Vieles Grundsätzliche ist am Eingang gesagt. Daher hier nur Folgendes: Planung, und zwar im vollen Sinne der kritischen Aufgabenplanung, und die Koordination und Kontrolle des Planungsvollzugs sind nötiger denn je. Planung muß langfristig denken, auch wenn die verantwortlichen Politiker nur kurzfristige Ratschläge erwarten. Die Planer müssen ertragen können, daß ihre Ergebnisse im Panzerschrank verschwinden oder in der Tagespolitik zerrieben werden; aber sie dürfen dem verantwortlichen Politiker auch nichts versprechen, was nicht zu schaffen ist. Wir verdanken der euphorischen Phase viel, sowohl im Bereich der Daten und Prognosen sowie der Methodik, als auch bei der Erziehung einer Mitarbeitergeneration. Was intensiv bedacht und verarbeitet werden muß, ist die Psychologie des Zusammenwirkens mit den Entscheidern - in Regierung und Parlament. Ich bin überzeugt, daß hier der Schlüssel des Erfolges liegt, und halte es für denkbar, daß die Gewaltenteilungstheorie insoweit doch übersprungen werden muß. Verzagtheit wäre gefährlich. Mir scheint hierfür aber auch kein Anlaß zu bestehen: Aus den mittleren und größeren Städten kommen die Signale, daß längerfristiges Denken wieder wichtig genommen wird. Ich hoffe, auch die Großstädte werden dies bald erkennen. Für Hamburg wird ein neuer Ansatz aber nur erfolgreich sein, wenn die überfällige Reform der Verwaltung einschließlich ihrer Voraussetzungen im politischen System vorangegangen ist.
Arbeitsförderung für Sozialhilfeempfänger Rechtsfragen zu einem Hamburger Modell PETER IPSEN
In seiner bekannten Habilitationsschrift „Öffentlich als Rechtsbegriff" von 1969 hat Wolf gang Martens, dem dieses Gedenken gilt, sich auch mit der Indienstnahme Privater für Verwaltungsaufgaben und der überlieferten, rechtlich umstrittenen Figur der „Beleihung" befaßt. Dabei spielt der Einsatz des „Privatrechts als Mittel öffentlicher Verwaltung", die Verwendung im Eigentum der öffentlichen Hand stehender privater Rechtsträger zur Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben und ihre Abgrenzung zum fiskalischen Handeln des Staates ebenso eine Rolle wie die Frage, ob der Staat sich durch die „Flucht ins Privatrecht" von Bindungen befreien darf, die ihm bei eigener Wahrnehmung solcher „übertragenen" öffentlichen Aufgaben sonst obliegen. Derartige Fragestellungen ergeben sich in zahlreichen ganz unterschiedlichen Rechtsbereichen, ohne daß ihre gemeinsamen dogmatischen Grundlagen sogleich erkennbar sind. Ein hierfür einschlägiges Beispiel hat die Praxis der hamburgischen Sozialverwaltung hervorgebracht in Gestalt einer gemeinnützigen stadtstaat-eigenen „Hamburger Arbeit-Beschäftigungsgesellschaft mbh". Sie hat die Aufgabe, Sozialhilfeempfängern befristete, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsmöglichkeiten gemäß § 19 B S H G im Rahmen eines freiwillig eingegangenen Arbeitsverhältnisses bereitzustellen. Zumal Wolfgang Martens als Richter des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts, als akademischer Lehrer, als Autor, Gutachter und Prozeßbevollmächtigter in hamburgischen Verfassungsstreitigkeiten regen Anteil auch am Rechtsleben seiner Vaterstadt und Hamburgs Verwaltung genommen hat, mögen die folgenden Betrachtungen zur „Hamburger Arbeit" in dieser Gedächtnisschrift ihren angemessenen Platz finden. I. Die sogenannte „Hamburger Arbeit - eine gemeinnützige Beschäftigungsgesellschaft m b H " 1 - ist vom Senat der Freien und Hansestadt ' Gesellschaftsvertrag vom 19. 8.1983.
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Hamburg gegründet worden, um arbeitslosen Sozialhilfeempfängern befristete Arbeitsverträge anbieten zu können. Die Organisation dieser Einrichtung, ihre Zielsetzung sowie die Grundsätze ihrer Arbeit und Finanzierung sind im Jahre 1983 in einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft eingehend dargelegt worden 2 . Aus dem Gesellschaftsvertrag der „Hamburger Arbeit" (im Folgenden: Gesellschaft) und der Senatsmitteilung ergeben sich für die hier erörterten Rechtsfragen folgende Feststellungen: 1. Die Gesellschaft soll sich der ständig steigenden Zahl der Sozialhilfeempfänger annehmen, die zwar ohne Einschränkungen arbeitsfähig und arbeitsbereit sind, aber infolge Arbeitsplatzmangels, wegen der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit oder ohne weiteren Anspruch an die Arbeitslosenversicherung auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt i. S. des § 12 B S H G angewiesen sind. Die Hilfe zum Lebensunterhalt umfaßt nach §§ 18 ff B S H G nämlich auch die Arbeitsberatung und Arbeitsvermittlung sowie die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten. Durch Gründung und Einsatz der Gesellschaft wird das Ziel verfolgt, diese der Sozialverwaltung des Stadtstaates obliegende Aufgabe wirksam wahrzunehmen, um öffentliche Gelder zur Entlohnung sinnvoller Arbeit einzusetzen, im Bereich der Gesellschaft vorübergehend sozialversicherungspflichtig beschäftigte Sozialhilfeempfänger wieder in das System der sozialen Sicherung mit entsprechendem Versicherungsschutz zu integrieren und den so Beschäftigten die Chance zu verbessern, in regelmäßige Arbeitsverhältnisse zurückzukehren. 2. Organisatorisch stellt die Gründung der Gesellschaft, die (nach kaufmännischen Gesichtspunkten arbeitend, neben dem erforderlichen Stammpersonal) ausschließlich befristet beschäftigte Arbeitnehmer aus dem Kreis der Sozialhilfeempfänger einstellt, die „Schaffung einer Arbeitsgelegenheit . . . außerhalb der öffentlichen Verwaltung" i. S. des § 19 B S H G dar. Als einziger Gesellschafter fungiert die Freie und Hansestadt Hamburg, deren Gesellschafterrechte mehrheitlich von Aufsichtsratsmitgliedern wahrgenommen werden, die der Behörde für Arbeit, Jugend und Soziales angehören. Hamburg hat der Gesellschaft als Einlage die Funktionsbereiche und Betriebsstätten des Landessozialamtes überlassen, in denen bisher Arbeitsgelegenheiten nachgewiesen wurden und die Stammeinlage von 50 000 D M übernommen. 3. Die Senatsmitteilung vom 31. Mai 1983 hat im übrigen nähere Regelungen über die Organe der Gesellschaft, ihr Stammpersonal und Bil-
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Bürgerschafts-Drucks. 11/735 vom 31.5.1983. 7AR 1613/85/VARBf. 73/86.
A r b e i t s f ö r d e r u n g f ü r Sozialhilfe-Empfänger
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dung eines Betriebsrates vorgesehen, dessen Sonderregelung gemäß §3 Abs. 1 N r . 2 des Betriebsverfassungsgesetzes auch die Mitwirkung der in der Gesellschaft befristet Beschäftigten ermöglicht. Da die Gesellschaft Gewinn nicht erzielt, aus ihrer Tätigkeit auch keine volle Kostendekkung zu erwirtschaften vermag, bleibt sie auf Zuschüsse aus dem Haushalt des Stadtstaates angewiesen. Aus dem in Abschnitt II der Senatsmitteilung dargestellten Refinanzierungsmechanismus ergibt sich auch, daß der Sozialhilfeetat Hamburgs insoweit entlastet wird, als die in der Gesellschaft Beschäftigten wieder Lohnempfänger werden und zugleich einen Anspruch auf Wiedergewährung von Arbeitslosengeld oder -hilfe erwerben, folglich auf Sozialhilfe zu Lasten Hamburgs im Falle einer erneuten Arbeitslosigkeit nicht angewiesen sind. 4. Zu der Rechtsfrage, ob und inwieweit die Gesellschaft in Verbindung mit den Sozialämtern eine Vermittlungstätigkeit wahrnimmt, hebt Abschnitt I 3.2.1 der Bürgerschaftsdrucksache bestimmte Zielsetzungen der Gesellschafts-Aufgabe hervor. Danach bestehen sie u. a. in „der Erfüllung des Gesetzesauftrages, ,nach Möglichkeit' - und auf Zeit — Hilfesuchenden, die keine Arbeit finden können, Arbeitsgelegenheiten zu schaffen", „die Vermittlungschancen für die Beschäftigten nach einer gewissen Zeitdauer - ggf. auch mit aktiver Hilfestellung des Personals der G m b H , speziell der dort tätigen Sozialarbeiter - zu heben, wenn möglich sogar bei der konkreten Arbeitsvermittlung zu helfen". Während diese Zielsetzungen eher auf die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten durch die Gesellschaft und die spätere Vermittlung durch die Arbeitsverwaltung gerichtet sind, regelt Abschnitt 15.1 der Drucksache (unter „Einstellung und Beschäftigung der Hilfeempfänger") „Vermittlung und Vertragsabschluß". Die Vermittlung der Sozialhilfeempfänger, die einen Arbeitsvertrag (mit der Gesellschaft) abschließen, „erfolgt in enger Kooperation zwischen den Sozialdienststellen der Bezirke und der G m b H " . Hierzu werden in Betracht kommende Hilfeempfänger „an die G m b H verwiesen", wo aufgrund eines Gesprächs gemeinsam ermittelt wird, „ob und ggf. in welchem Gewerk der G m b H eine Beschäftigungsmöglichkeit gegeben ist". Ein Merkblatt der Gesellschaft „über das Angebot der Hilfe zur Arbeit bei der Hamburger Arbeit" formuliert in Ziff. V „wie wird man Mitarbeiter der G m b H ? " : „Interessenten für eine Arbeit in der G m b H wenden sich an den für sie zuständigen Sachbearbeiter in der Sozialdienststelle beim Bezirksamt. Dieser vermittelt Interessenten an die G m b H " . 5. Die zur Gründung der Gesellschaft, ihrer Aufgabenstellung und Tätigkeit u. a. wesentlichen Rechtsfragen aus dem Bereich des Sozialhilfe- und Arbeitsförderungs-Rechts betreffen einmal die jeweils gesetzlich geregelten Zuständigkeiten zur Arbeitsvermittlung und ihre „Verla-
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gerung" von der öffentlichen Verwaltung auf die privat-rechtliche Gesellschaft angesichts des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit, zum anderen die gesetzliche Regelung über die Beschäftigungsrangfolge zwischen Deutschen und Ausländern (§19 AFG) sowie die Frage, ob die Gesellschaft sich von dieser Regelung emanzipieren kann. Zur Verdeutlichung dieser Fragestellungen dient zunächst die nachfolgende Darlegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen. a) Die nach § 19 BSHG in Betracht kommenden, von der Gesellschaft wahrzunehmenden „Leistungen der Arbeitsförderung" gehören nach § 3 Abs. 2 AFG zur Zuständigkeit der Arbeitsämter und sonstigen Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit. Indes ist diese Zuständigkeitsausweisung insoweit unvollständig, als §3 der auf §23 Abs. 3 AFG gestützten Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeitsvermittlung im Auftrage der Bundesanstalt für Arbeit (AViAAnordnung) vom 18. Mai 1978 (ANBA S. 839) eine „Arbeitsvermittlung durch Einrichtungen in besonderen Fällen" vorsieht, denen eine etwaige Vermittlertätigkeit der Gesellschaft zugerechnet werden könnte. Denn danach können Aufträge zur nicht auf Gewinn gerichteten Arbeitsvermittlung Einrichtungen auch erteilt werden, „wenn es aufgrund besonderer Umstände zweckmäßig ist, namentlich, wenn die Vermittlungstätigkeit im Rahmen einer fürsorgerischen oder caritativen Tätigkeit ausgeübt werden soll". Der Antrag auf Auftragserteilung ist beim örtlich zuständigen Landesarbeitsamt zu stellen (§ 6 aaO), über den der Präsident der Bundesanstalt entscheidet (§7 aaO). Inhalt und Dauer des Auftrages bestimmen sich nach §§ 8 bis 10 aaO. Nach § 11 aaO darf auch eine solche Arbeitsvermittlung im Auftrage nur „nach Maßgabe des AFG" durchgeführt werden, ein Vorbehalt, der für die Beachtung des § 19 AFG durch die Gesellschaft von Belang sein kann. Sie hat die Stellung eines Antrages gemäß § 3 aaO bisher aber nicht für erforderlich gehalten. Abgesehen von dieser Frage einer zulässigen etwaigen Vermittlertätigkeit der Gesellschaft bleibt § 13 Abs. 3 Nr. 1 AFG zu beachten. Danach sind nicht Arbeitsvermittlung und damit erlaubnisfrei i. S. des Gesetzes „Maßnahmen öffentlich-rechtlicher Träger der sozialen Sicherung zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses, soweit sie zur Durchführung der ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben im Einzelfall erforderlich sind". Selbst wenn die Schaffung der Gesellschaft als solche mit der ihr zugewiesenen Aufgabe inhaltlich als Maßnahme i.S. dieser Vorschrift angesehen werden würde, stellt sich dennoch die Frage, ob die der hamburgischen Sozialverwaltung als öffentlich-rechtlichem Träger der sozialen Sicherung an sich durch § 13 Abs. 3 Nr. 1 AFG effektiv eingeräumte Freistellung vom Vermittlungsmonopol der Arbeitsverwaltung
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dadurch „verwirkt" ist, daß die Arbeitsförderung insoweit „privatisiert", nämlich der Gesellschaft übertragen worden ist. b) Nach §19 A F G bedürfen nicht-deutsche Arbeitnehmer i. S. des Art. 116 G G zur Beschäftigung einer Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit. Arbeitgeber dürfen Nicht-Deutsche nur beschäftigen, wenn sie eine Arbeitserlaubnis besitzen (§19 Abs. 1 S. 5 A F G ) . Die Gesellschaft fühlt sich an diese Beschäftigungsvoraussetzung nicht gebunden, wie sich aus Verfahren ergibt, die derzeit beim Sozial- und Landessozialgericht Hamburg anhängig sind 3 . Es fragt sich, ob die Gesellschaft trotz ihrer privat-rechtlichen Gestaltung aus der ihr gegebenen Zielsetzung oder aus anderen rechtfertigenden Gründen die von § 19 A F G statuierte Beschäftigungs-Rangordnung außer acht lassen darf, was positiv-rechtlich jedenfalls nicht vorgesehen ist. Zu dieser für die Arbeit der Gesellschaft als wesentlich erachteten Rechtsfrage bedarf es eingehender Prüfung ihrer Rechtsstellung und Funktionsbestimmung (dazu unten: II).
II. Die Emanzipation vom Vermittlungsmonopol der Arbeitsverwaltung (soweit die Tätigkeit der Gesellschaft dem Vermittlungsbegriff des A F G entspricht oder §13 Abs. 3 N r . 1 A F G nicht einschlägig ist) sowie die Selbst-Entbindung von der gesetzlichen Beschäftigungs-Rangordnung zwischen Nicht-Deutschen und Deutschen i. S. des §19 A F G stünden dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung entgegen, falls auch die Gesellschaft trotz ihrer privat-rechtlichen Gestaltung diesem Prinzip verpflichtet ist. Die Beantwortung dieser Frage setzt die dogmatische Einordnung der Gesellschaft und ihre Placierung im Rechtssystem voraus. 1. Im Hamburger Modell der Gesellschaft, ihrer Errichtung durch staatlichen Akt und bei ihrem Einsatz zur Wahrnehmung an sich der Sozialverwaltung (bzw. der Arbeitsverwaltung) obliegender Aufgaben handelt es sich um die „Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private" 4 . „Die Beispiele für solches Handeln in Privatrechtsformen sind Legion. Wohl am weitesten verbreitet ist die Rechtsform der G m b H " 5 . Das Hamburger Modell zählt unter den vielfachen Gestaltungsmöglichkeiten einer Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch einen privat4 Dies das verwaltungsrechtliche Thema der Staatsrechtslehrertagung 1970 (Speyer) mit den Referaten von Ossenbühl und Gallwas, W D S t R L 29 (1971) S. 137ff, 211 ff. 5 Ossenbühl (Fn. 4) S. 145: „Der Staat . . . bedient sich zur Aufgabenerfüllung nicht der . . . bereitstehenden öffentlich-rechtlichen Organisation, sondern schlüpft in das Gewand eines Privatrechtssubjekts, um als . . . Gesellschafter mit beschränkter Hafung . . . unmittelbar staatliche Verwaltungsaufgaben zu vollziehen".
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rechtlich organisierten Träger insoweit zu einer eindeutig klassifizierbaren Gruppe, als die fraglichen Aufgaben unbezweifelbar solche staatlicher Natur sind, nicht nur „öffentliche" im weiteren Sinne, an deren Wahrnehmung zwar ein öffentliches Interesse besteht, deren Erfüllung aber nicht Sache des Staates ist6. Denn Sozialfürsorge ist ebenso wie Arbeitsförderung einschließlich Arbeitsvermittlung durch die einschlägigen Regelungen des B S H G und des A F G als staatliche Verwaltungsaufgabe qualifiziert7. Zahlreiche Rechtsfragen, die sich aus anderen Gestaltungen einer Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private ergeben8, stellen sich deshalb für das Hamburger Modell nicht. Auch ist es nicht erforderlich, diese Übertragungsfigur nach Maßstäben des überlieferten Rechtsinstituts der „Beleihung" beurteilen zu wollen. Abgesehen davon, daß die „Beleihung" in der neueren Theorie des Verwaltungsrechts wegen ihrer fehlenden Begriffsschärfe vernachlässigt wird und den zahlreichen Differenzierungen des Einsatzes Privater für Verwaltungsaufgaben nicht mehr genügt', erlaubt die Eindeutigkeit des Ubertragungsaktes und des staatlichen Charakters der übertragenen Aufgaben ebenso wie die Rechtsnatur der „Hamburger Arbeit G m b H " hinreichend klare Rechtserkenntnisse über Zulässigkeit und Auswirkungen des Vorgangs. 2. An der rechtlichen Zulässigkeit der Gründung und des Einsatzes der Gesellschaft bestehen keine Zweifel. a) Die hierfür maßgeblichen Motive - intensivere Arbeitsförderung, Lösung aus dem Sozialhilfeempfängerstatus, Anbahnung normaler Beschäftigung und eine Re-Integration in den Arbeitsprozeß, höhere Elastizität nicht-bürokratischer privater Wirksamkeit der Gesellschaft, Kostenersparnis auf längere Sicht - sind legitim. Der Stadtstaat ist berufen und befugt, sie wahrzunehmen. Auch wenn das Motiv der Kostenersparnis im Sozialhilfeetat Vorrang gehabt haben sollte, würde sich an der Legitimität des Modells nichts ändern. b) Nach hamburgischem Verfassungsrecht verfügt der Senat „kraft ungeschriebenen Rechts" über die Organisationshoheit, wie sie durch
Zu dieser Klarstellung vgl. W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff (1969) S. 117 ff. Vgl. nur für die Arbeitsvermittlung: Ossenbiihl ( F n . 4 ) S. 152: „wesensmäßig staatliche Daseinsvorsorge". 8 Z u ihnen aus dem zahlreichen Schrifttum - außer den in Fn. 4 genannten - vgl. nur: Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private (1975), insbes. S. 251 ff; Püttner, Die öffentlichen Unternehmen (2. Aufl.) 1985, insbes. S. 76 ff, 215 ff; Pestalozza, Formenmißbrauch des Staates (1973), insbes. S. 166 ff zur „Wahl" zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht; Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht I (9. Aufl.) 1974 S. 106ff. ' Vgl. dazu u. a. Steiner (Fn. 8) S. 41 ff. 6
1
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Spezialvorschriften (§ 1 Abs. 1, 2 und § 4 Abs. 2 Behördengesetz) bestätigt wird. Wenn der Senat danach über die Bildung und die Einrichtung von Senatsämtern und Senatskommissionen sowie über die Zuständigkeit der Fachbehörden entscheidet und sich damit einer organisatorischen Kompetenz-Kompetenz annähert10, muß diese Organisationshoheit auch die Befugnis umfassen, im Stil des Hamburger Modells einzelne Verwaltungsaufgaben einer staatseigenen Gesellschaft privaten Rechts zur Wahrnehmung zu übertragen. Daß andere Verwaltungsaufgaben - wie etwa Polizei und Strafvollzug - wegen ihres spezifischen Hoheitscharakters nicht übertragbar sind, wird dabei nicht übersehen. Obwohl nicht zu verkennen ist, daß solche „Abbürdung" gegenüber innerstaatlichen Organisationsentscheidungen über Behördenzuständigkeiten und Ämtereinrichtung ein aliud darstellt, muß der staatlichen Organisationshoheit auch die hier fragliche Abbürdungsbefugnis zugerechnet werden, wenn jedenfalls hinreichende staatliche Aufsicht über die privat-rechtliche Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben gesichert bleibt und der private Aufgabenträger nicht lediglich deshalb eingesetzt wird, um (oder auch nur mit der Wirkung, daß) ihn dabei von öffentlich-rechtlichen Bindungen zu befreien, die der Verwaltung selbst bei solcher Aufgabenwahrnehmung obliegen. aa) Nach dem Gesellschaftsvertrag vom 19.8.1983 wird durch vollen Kapitalbesitz der Hansestadt (§ 3), durch ihren Einfluß auf die Organbestellung ( § 7 Abs. 1), durch den gesetzlichen Prüfungsvorbehalt für den Rechnungshof (§15 Abs. 2) sowie das Finanzierungssystem, das die Gesellschaft verwaltungsabhängig macht, in Übereinstimmung mit der Bürgerschaftsdrucksache vom 3 1 . 5 . 1 9 8 3 gesichert, daß die Gesellschaft in allen wesentlichen Funktionen effektiv staatlicher Aufsicht unterworfen ist. Der Gefahr mißbräuchlicher Verwendung der Privatrechtsgestaltung ist damit hinreichend begegnet. bb) Es entspricht im übrigen allgemeinen Verfassungs- und Rechtsgrundsätzen, wie sie aus Gerichtspraxis und Lehrmeinungen als „Indikatoren eines allgemeinen Prinzips" abgeleitet werden können und das im hier fraglichen Zusammenhang speziell auch in § 3 der (oben unter: I5a) zitierten Anordnung vom 18. Mai 1978 zum Ausdruck kommt, wenn von Gallwas11 formuliert worden ist: „Die Organe des Gemeinwesens
bleiben grundsätzlich auch dann für die Einhaltung der öffentlichrechtlichen Vorschriften verantwortlich, wenn sie Aufgaben von Privaten erfüllen
lassen. Mit der Übertragung rücken sie im Verhältnis zu den
10 Dazu: H.P. Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung (1956) S. 301/323 und 364 zur Rechtsform von Organisationsmaßnahmen. 11 Gallwas (Fn. 4) S. 228.
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einzelnen Bürgern und der Allgemeinheit in eine Garantenstellung ein". Die daraus entstehende Bindung erwächst für die Gesellschaft, die sich ausschließlich in öffentlicher Hand befindet, aus dem „Durchgriff", der den Organen des Stadtstaates auch bereits zivil-rechtlich zusteht 12 . Die viel beschworene „Flucht ins Privatrecht" - eine Kennzeichnung, die der Gesellschaft im Hamburger Modell nicht gerecht würde - , mit der der Staat sich speziell im Wirtschaftsrecht vor allem den Bindungen der Grundrechte zu entziehen versucht hat, wird mit der Anerkennung des hier vorgestellten allgemeinen Prinzips verhindert. c) In welcher Rechtsform die Schaffung der Gesellschaft und die Abbürdung der Sozialaufgaben auf sie zu erfolgen hatte, wird vom hamburgischen Verfassungsrecht nicht geregelt. Auch wenn i. S. der Leitentscheidung des Art. 3 Verf. 1952 rechtsstaatliche Gründe dafür sprechen, daß der Senat seine Organisationsgewalt an sich durch Erlaß von Rechtsverordnungen wahrnimmt, die auf §§ 1 Abs. 4, 4 Abs. 2 Behördengesetz zu stützen wären 13 , mag die Gründung der Gesellschaft durch Abschluß des Gesellschaftsvertrages vom 1 9 . 8 . 1 9 8 3 hingenommen werden, da die Gesellschaft mit ihrer Eintragung in das Handelsregister beim Amtsgericht Hamburg am 2 6 . 1 0 . 1 9 8 3 unter B 31603 und durch Veröffentlichung im Amtlichen Anzeiger Teil II 1983 S. 1881 hinreichende Publizität erlangt hat und die innerbehördliche Aufgabenübertragung auf diese Weise publik wird. 3. Im Ergebnis ist danach festzustellen, daß a) die Gründung der Gesellschaft und ihr Einsatz zur Wahrnehmung staatlich-öffentlicher Aufgaben der Sozialverwaltung inhaltlich und in der Wahl des Mittels rechtlich nicht zu beanstanden ist, b) die Gesellschaft als Privatrechtssubjekt gleichen öffentlich-rechtlichen Regelungen in der Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben unterliegt wie die Verwaltung selbst, c) die Verwaltung des Stadtstaates die Erfüllung der unter b) dargelegten Bindungen zu gewährleisten verpflichtet ist. III. Die Praxis der Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß sie Vermittlungsaufträge an die Arbeitsverwaltung nicht erteilt und sich an die Beschäftigungsvorrang-Regelung des § 19 A F G nicht gebunden erachtet, indem sie auch nicht-deutsche Sozialhilfeempfänger vor Deutschen und sonst bevorrechtigten Arbeitsuchenden in Beschäftigung bringt, da sie 12 Speziell hierzu: Gallwas (Fn.4) S.229 Anm. 63 unter Bezugnahme auf Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft (1967) S. 414 ff. 13 Dazu: H.P. Ipsen (Fn. 10) S.364.
Rüfner,
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die Erteilung einer Arbeitserlaubnis für diese Sozialhilfeempfänger nicht für erforderlich hält. Nach dem in der Bürgerschaftsdrucksache vom 31. Mai 1983 in Ziff. I 5.1 vorgesehenen Verfahren erfolgt „die Vermittlung der Sozialhilfeempfänger, mit denen ein Arbeitsvertrag abgeschlossen wird, in enger Kooperation zwischen den Sozialdienststellen der Bezirke und der Gesellschaft, indem sie an die Gesellschaft verwiesen werden". Durch ein Merkblatt werden die Sozialhilfeempfänger im Aushang der Sozialdienststellen auf die Beschäftigungsmöglichkeit bei der Gesellschaft hingewiesen. Diese Praxis wirft zunächst die Rechtsfrage auf, ob im Rahmen der Tätigkeit der Gesellschaft Arbeitsvermittlung stattfindet. 1. Nach §4 AFG darf Arbeitsvermittlung grundsätzlich nur von der Bundesanstalt für Arbeit betrieben werden. Die Verfassungsmäßigkeit dieses Monopols steht außer Frage. „Die Arbeitsvermittlung ist . . . letztlich darauf gerichtet, daß zwischen einem eine Arbeit suchenden Arbeitnehmer und einem einen Arbeitsplatz anbietenden Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis zustande kommt. Dementsprechend erschöpft sie sich darin, daß der Vermittler einen arbeitsuchenden Arbeitnehmer einem Arbeitgeber mit dem Ziel der Begründung eines Arbeitsverhältnisses zuführt" 14 . a) O b die Gesellschaft in diesem Sinne Arbeitsvermittlung betreibt, bedürfte keiner weiteren Analyse, wenn solche Vermittlung nach den einschlägigen Regelungen des AFG zulässig wäre. Da der Gesellschaft ein - an sich möglicher - Vermittlungsauftrag gemäß § 23 AFG und der Anordnung vom 16. Mai 1978 (vgl. oben: I5a) nicht erteilt worden ist, steht allein in Frage, ob ihre einschlägige Tätigkeit deshalb vom Vermittlungsmonopol der Arbeitsverwaltung ausgenommen ist, weil sie gemäß §13 Abs. 3 Ziff. 1 AFG nicht als „Arbeitsvermittlung i. S. dieses Gesetzes" anzusehen ist. Das ist der Fall für „Maßnahmen öffentlich-rechtlicher Träger der sozialen Sicherung zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses, soweit sie zur Durchführung der ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben im Einzelfall erforderlich sind". b) Mit dieser einschränkenden Begriffsbestimmung werden Anbahnungsmaßnahmen der Sozialverwaltung im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenzuweisung vom Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt ausgenommen und ihre Wahrnehmung durch die Sozialverwaltung zugelassen15. Soweit also hamburgische Sozialdienststellen in der geschilderten H
BVerfGE Bd. 21 S.261 [268], Gagel/Steimeyer, AFG-Komm., Anm.25 zu §13 A F G ; BSGE Bd. 43 S. 75 [81]; Hennig/Kühl/Heuer, AFG-Komm., A n m . 6 zu §13 AFG. 15
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Weise Sozialhilfeempfänger der Gesellschaft - in der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts - „zuführen" mit dem Ziel der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, handelt es sich dabei folglich i. S. des § 1 3 A F G nicht um der Arbeitsverwaltung vorbehaltene Arbeitsvermittlung. c) Entscheidend ist hier indes nicht dieser Anteil der Sozialdienststellen am Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses, sondern derjenige der Gesellschaft. Gleichviel, ob dieser Anteil begrifflich der Definition des § 1 3 Abs. 1 A F G unterfällt oder nicht - jedenfalls können ihre auch als Vermittlung zu qualifizierenden Anbahnungsmaßnahmen vom Vermittlungsmonopol der Anstalt nicht bereits gemäß § 1 3 Abs. 3 Ziff. 1 A F G ausgenommen werden, weil die Gesellschaft als Rechtsträger privaten Rechts nicht als „öffentlich-rechtlicher Träger der sozialen Sicherung" angesehen werden kann. Mit der Schaffung der Gesellschaft ist die Trägerschaft der sozialen Sicherung im Rahmen ihrer Aufgabenstellung aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung ausgeschieden, und kann die Gesellschaft das „Privileg" des § 1 3 Abs. 3 Ziff. 1 A F G nicht in Anspruch nehmen. Dadurch ist mit der „Privatisierung" der Trägerschaft eine sonst kaum zu beobachtende Wirkung eingetreten, die eine öffentlich-rechtliche „Privilegierung" auflebt, während Vorgänge der sogenannten „Flucht in das Privatrecht" sonst ursprünglich dahin zielten, von öffentlich-rechtlichen Bindungen befreit zu werden. Auch die Erwägung, daß die „Privatisierung" der Arbeitsförderung für Sozialhilfeempfänger gerade das Ziel verfolgte, ihre Wahrnehmung in privat-rechtlicher Form elastischer zu gestalten, dürfte nicht rechtfertigen, die Privilegierung aus § 13 Abs. 3 Ziff. 1 A F G auch der Gesellschaft zuzuerkennen. Denn ihre gesetzgeberische Motivation liegt in der Sicherung unmittelbarer Verwaltungsverantwortung für die fragliche Anbahnungstätigkeit, die in dieser Schärfe nach der Aufgabenübertragung auf die Gesellschaft nicht mehr gegeben ist. Gleiche Gründe sprechen gegen eine etwaige analoge Anwendbarkeit des Privilegs auf die Gesellschaft. 2. Ohne zulässige Inanspruchnahme der erörterten Privilegierung bleibt der Gesellschaft alle Betätigung verwehrt, die als Arbeitsvermittlung zu qualifizieren ist. Da zur Arbeitsvermittlung „alle Vorgänge gehören, die auf den Vermittlungserfolg hinführen sollen" 16 , hat § 13 Abs. 2 A F G als Arbeitsvermittlung auch den Aushang von Listen über Stellenangebote definiert. Das bereits erwähnte, von der Gesellschaft in den Sozialdienststellen vertriebene, bereitgestellte und im Aushang bekanntgegebene 16
BSG vom 11.5.1976, SozR 4100 §4 N r . 2 S.3.
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„Merkblatt" über das Angebot der Hilfe zur Arbeit wird deshalb als Maßnahme der Arbeitsvermittlung i. S. des Gesetzes anzusehen sein. Abgesehen von dieser auf die äußeren Merkmale des Vorgangs gestützte Folgerung ergibt auch der Inhalt des Merkblattes mit hinreichender Deutlichkeit, daß die Gesellschaft in ihm auf die verfügbaren Beschäftigungsmöglichkeiten hinweist und das Verfahren der Beschäftigungsvermittlung darlegt. Die für den Vermittlungsbegriff wesentliche „Selbständigkeit des Handelns zwischen Arbeitsuchendem und Arbeitgeber" 1 7 liegt in der Eigenart der hier fraglichen Vorgänge: auch wenn die Gesellschaft selbst diejenige ist, die als etwaiger Arbeitgeber auftritt, das Beschäftigungsangebot eines Arbeitgebers allein an sich keine Vermittlung darstellt und zulässig ist, liegt in der Tätigkeit der Gesellschaft dennoch Arbeitsvermittlung. Denn sie ist es, die als Arbeitgeber innerhalb ihrer Organisation Beschäftigungsmöglichkeiten bereitstellt und im Zusammenwirken mit den Dienststellen der Sozialverwaltung zur „Zusammenführung von Sozialhilfeempfängern" mit ihr tätig wird. Vom Eigenangebot einer Beschäftigung durch einen sonstigen Arbeitgeber, das keine Vermittlung darstellt, unterscheidet sich das Verfahren der Gesellschaft auch dadurch, daß sie gezielt und aussondernd nur den Kreis der Sozialhilfeempfänger werbend anspricht und sich zuführt.
IV. Die Gründung der Gesellschaft wirft die für ihre Praxis wesentliche weitere Rechtsfrage auf, ob die bei ihr beschäftigten Sozialhilfeempfänger, die nicht Deutsche i. S. des Art. 116 G G sind, von der Regelung des § 1 9 A F G freigestellt sind, nachdem unter Einführung des Arbeitserlaubnis-Vorbehalts für Nicht-Deutsche ein Beschäftigungs-Vorrang für Deutsche und andere Bevorrechtigte statuiert worden ist. Nach der Kennzeichnung der Gesellschaft (oben: II 1) als eines für die Wahrnehmung übertragener Staatsaufgaben rechtmäßig instituierten privaten Rechtsträgers unterliegt ihre Wirkungsweise einerseits einer staatlichen Garantie und bleibt sie solchen öffentlich-rechtlichen Bedingungen unterworfen, die der übertragenden Verwaltung obliegen (oben: II 2b) bb)). Andererseits hat die Gesellschaft auch den allgemein privaten Rechtsträgern obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen zu genügen. Es bedarf daher näherer Prüfung, ob besondere Gründe gleichwohl die Freistellung der Gesellschaft und der bei ihr beschäftigten Nicht-Deutschen von dem Erlaubnisvorbehalt des § 19 A F G rechtfertigen können. 1. Die von der Gesellschaft angestrebte Beschäftigung auch von sozialhilfeberechtigten Nicht-Deutschen gehört zu den ausdrücklich von ihr 17
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(Fn. 15) A n m . 5 zu § 4 A F G .
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verfolgten Zielsetzungen. Indes können solche Motivierung und die staatliche Duldung die § 19 A F G widersprechende Praxis - mag sie sozial-politisch und im Interesse der Entlastung des Sozialhilfeetats noch so billigenswert oder erstrebenswert sein - nicht legitimieren. Sinn und Zweck des § 19 A F G in Verbindung mit dem Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt ist die Erfassung des gesamten einheitlichen Arbeitsmarktes mit allen seinen Beschäftigungsmöglichkeiten und die durch den Erlaubnisvorbehalt steuerbare vorrangige Arbeitsplatzsicherung für Deutsche18. Die Erlaubnis wird nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der Verhältnisse des einzelnen (Vermittlungs-)falles erteilt. Das Vorrangprinzip entfällt nicht, wenn die Bundesanstalt für Arbeit, wie in Hamburg von der Gesellschaft, bei der Besetzung von Arbeitsplätzen nicht eingeschaltet ist. Die Arbeitserlaubnis ist nämlich gemäß § 19 A F G unabhängig von der Einschaltung der Arbeitsämter für die Ausübung der Beschäftigung erforderlich19. Desgleichen sind Nicht-Deutsche allein wegen ihres Status als Sozialhilfeempfänger von der Anwendbarkeit des § 19 A F G schon deshalb nicht ausgenommen, weil der Erlaubnisvorbehalt auch deutschen Sozialhilfeempfängern zur vorrangigen Beschäftigung verhelfen soll. Die von der Gesellschaft verfolgte Aufgabe, nicht-deutschen Sozialhilfeempfängern eine Beschäftigung zu verschaffen, steht auch nicht in einem Zielkonflikt mit der Intention des § 19 AFG, in dem die Zielsetzung der Gesellschaft Vorrang beanspruchen könnte. Ihre Anerkennung würde der Gesellschaft das Privileg einräumen, für diesen Kreis von Sozialhilfeempfängern einen speziellen Arbeitsmarkt zu bilden, über dessen Beschäftigungsmöglichkeiten sie ohne die gesetzliche Bindung an § 19 A F G zu disponieren imstande wäre. Eine solche Folgerung wäre weder durch Wortlaut und ratio legis des § 19 A F G zu begründen noch aus dem Einsatz der Gesellschaft in ihrer privat-rechtlichen Gestaltung, der eben keine Empanzipation vom einschlägigen öffentlichen Recht bewirken konnte. 2. Von diesen Erwägungen abgesehen, hat das Arbeitsförderungsrecht selbst Vorsorge dafür getroffen, daß § 19 A F G mit seiner Beschäftigungs-Rangordnung in allen Bereichen der Arbeitsvermittlung wirksam ist und bleibt, und dies insbesondere unter vergleichbaren konstruktiven Voraussetzungen, wie sie im Falle der Gesellschafts-Errichtung gegeben sind. Das ergibt sich eindeutig aus dem (unter 15a) bereits zitierten § 11 Abs. 1 der Anordnung vom 18. Mai 1978, wonach auch im Auftrage der Bundesanstalt stattfindende Arbeitsvermittlung „nur nach Maßgabe des 18 BSG vom 2 3 . 6 . 1 9 8 2 , 7 RAr 106/81 S. 14. " Vgl. SG Hamburg vom 2 2 . 9 . 1 9 8 6 , 7 AR 1613/85 S. 7/8.
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A F G " erfolgen darf. Selbst wenn die Gesellschaft also derart auftragsgemäß handeln würde, wird ihre Bindung an § 1 9 A F G damit eindeutig festgestellt. Die Annahme, die Gesellschaft könnte ohne derartige Beauftragung von der Bindung an § 19 A F G freigestellt sein, also bindungsloser fungieren als eine beauftragte und unter Aufsicht der Bundesanstalt stehende Einrichtung, verbietet sich schlechterdings. 3. Die der dogmatischen Einordnung der Gesellschaft in den Kreis der mit staatlich-öffentlichen Aufgaben betrauten Privatrechtsträger zu entnehmenden Folgerungen (vgl. oben vor 1) und II 2) können also durch keine Erwägung entkräftet werden. Die Gesellschaft bleibt in der Wahrnehmung der ihr zugewiesenen staatlichen Aufgaben der Arbeitsförderung an die einschlägigen, für die öffentliche Verwaltung selbst geltenden öffentlich-rechtlichen Regelungen gebunden, mithin auch an § 19 A F G . Auch ihre Berufung auf ihre Privatrechtsqualität ändert hieran nichts. Diese Erkenntnisse entsprechen dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, wonach im Zweifel auch anzunehmen ist, „daß solche Verwaltungsmittler im Bereich des öffentlichen Rechts tätig werden und infolgedessen auch den Schranken des öffentlichen Rechts unmittelbar unterworfen sind" 20,21 .
20 Kopp, W D S t R L 29 (1971) S. 264 in der Aussprache zum Thema: „Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private". Im gleichen Sinne zuletzt: Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht (1986) S.460. 21 Das Manuskript wurde am 15.1.1987 abgeschlossen.
Der Verzicht im Verwaltungsrecht und auf Grundrechte H E L M U T QUARITSCH Als wir Kinder waren, gingen wir zum Meister eine Zeitlang, eine Zeitlang waren wir betört von eigener Meisterschaft; höre das Ende der Geschichte, die uns widerfuhr: Wie Wasser strömten wir und verschmolzen mit dem Wind. Omar Chajjam
I. Gegenstand und Anwendungsbereich Das öffentliche Recht kennt das einseitige Rechtsgeschäft des Verzichts seit jeher; 1880 meinte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sogar ausgehen zu können von einem „allgemeingültigen Rechtssatz, daß niemand genötigt werden kann, im Genüsse von Rechten zu bleiben, die er nicht mehr haben will" 1 . Der Verzicht als allgemeiner Rechtsgrundsatz ist im römischen Recht entwickelt worden: Cuique licet his quae pro se introducta sunt renuntiare 2 . Das kirchliche Recht des Mittelalters hat dieses Prinzip erneuert: Jeder kann auf sein Recht verzichten 3 . Das geschriebene deutsche Staats- und Verwaltungsrecht enthält diesen Rechtssatz nicht. Es beschränkt sich darauf, den Verzicht in einzelnen Fällen ausdrücklich zu erlauben oder zu verbieten. So kann auf die (gesetzlich erworbene) Staatsangehörigkeit durch „Ausschlagung" verzichtet werden, aber auch auf dieses Ausschlagungsrecht selbst 4 . Verzichtet werden kann auf Erlaubnisse und Bewilligungen (§ 3 ApothG), auf Bestallungen (§ 9 BÄrzteO usw.), im Staatsrecht auf das Abgeordnetenmandat (§46 I Nr. 4 BWahlG). Unzulässig ist hingegen der Verzicht auf Dienst- und Versorgungsbezüge (§ 2 III B B e s G , § 3 III BeamtenVG) und die Entschädigung der Abgeordneten (§31 AbgG).
Reger Bd. 1, S.234 (235). Cod. Just. 2, 3, 29 § 1 ; Nov. 136, 1. 3 Quisque potest renuntiare juri suo, Damasus, Regulae canonicae (Basel 1567), Nr. 128; s. auch D.Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (3.Aufl. 1983), S. 176. 4 Nach § § l f f . , 18 ff. des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (BGBl. 1955 I, S. 65 = BGBl. III, 102-5). 1
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Aus den besonderen Regelungen läßt sich der Verzicht nur als formelles Rechtsinstitut ableiten: Verzicht ist eine einseitige, empfangsbedürftige, unwiderrufliche Willenserklärung, mit deren Zugang der Rechtsvorteil erlischt. Uber die Zulässigkeit des Verzichts ist damit noch nicht befunden. Neben dem einseitig erklärten Verzicht ist die vereinbarte Aufhebung eines Rechtsvorteils möglich; Zulässigkeit und Folgen dieses öffentlich-rechtlichen Vertrages bestimmen dann die Vorschriften der §§54ff. VwVfG. Beispiel: Die Baugesellschaft verzichtet in einem sog. Folgekosten-Vertrag mit der Gemeinde auf Rechtsmittel gegen gemeindliche Planungsentscheidungen 5 . Gegenstand des Verzichts sind Rechtsvorteile des öffentlichen Rechts, über die der Rechtsinhaber verfügen darf6. Diese zweite Voraussetzung verdeutlicht, daß die Behörde nur ausnahmsweise auf die Ausübung ihrer Kompetenzen und Zuständigkeiten verzichten kann. Dazu ist regelmäßig eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung notwendig. Der Verzicht als rechtsgeschäftliche Erklärung ist abzugrenzen von ähnlichen Tatbeständen. So wird nicht „verzichtet", sondern Recht angewendet, schreitet die Polizei wegen Inopportunität gegen eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht ein. Wer am Wahltage zu Hause bleibt, verzichtet nicht einmal ad hoc auf sein Wahlrecht; er übt es nicht aus. Generell ist die Nichtausübung eines Rechts noch kein Verzicht auf das Recht selbst. Lehnt die Bundesregierung ein Auslieferungsersuchen ab, so verzichtet sie gegenüber dem Ausländer nicht auf die Ausübung des Auslieferungsrechts; das Verbot, das Auslieferungsverfahren wegen desselben Delikts wiederaufzunehmen, ergibt sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes 7 . Es hängt von dem erklärten Willen und den Umständen ab, ob eine behördliche Erklärung als Zusicherung künftigen Verzichts oder als sofort wirkender „Vorausverzicht" anzusehen ist8. Hier zu unterscheiden ist wichtig: Es kann auch mündlich verzichtet werden, die Zusicherung ist nur schriftlich gültig (§38 I 1 VwVfG). Auch wenn der Private „ein Recht nicht mehr haben will", ist stets zu prüfen, ob seine Erklärung die ihm eingeräumte Rechtsposition beseitigt oder nur Voraussetzung für den Widerruf oder einen anderen Aufhebungsakt der Behörde ist. Die Staatsangehörigkeit ist unverzichtbar; die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit muß beantragt und bewilligt werden (§§17 ff. RuStAG). Dasselbe gilt für die Rechtsstellung des 5
BVerwGE Bd. 42, S.331 (335). BayVGHE n.F. Bd. 2, S. 1 (5); BVerwG D Ö V 1960, S.391; Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht (7. Aufl. 1985), S. 157 m. w. Nachw. Anm. 174. 7 BVerfGE Bd. 50, S. 244 (250). 8 BVerwG, D Ö V 1984, S.589. 6
Der Verzicht im Verwaltungsrecht und auf Grundrechte
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Beamten, Richters, Berufssoldaten und Notars, aber auch für Bundeskanzler und Minister: Der Hoheitsträger muß mitwirken, weil diese Rechtspositionen mit intensiven öffentlich-rechtlichen Pflichten verbunden sind' und weil nur durch förmliche Verfügung die veränderte Rechtslage eindeutig festzustellen ist. Auch der „Verzicht" des Rechtsanwalts auf seine Zulassung (§14 1 Nr. 5 B R A O ) ist nur ein Antrag an die Landesjustizverwaltung auf Rücknahme (§ 34 Nr. 2 B R A O ) . Ärzte, Apotheker, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sind hingegen nicht so in die Staatsapparatur eingebunden, daher können sie auf ihre Bestallung im Rechtssinne verzichten.
II. Wirksamkeitsbedingungen 1. Behördliche
Verzichte
Eine Behörde darf nur dann auf die Ausübung von Kompetenzen und Zuständigkeiten verzichten, wenn das Gesetz dazu ausdrücklich ermächtigt. Ist eine Fahrerlaubnis entzogen worden, kann die Behörde u. U . auf die grundsätzlich notwendige neue Fahrerlaubnisprüfung verzichten, jedoch dann nicht, sind seit der Entziehung mehr als zwei Jahre verstrichen (§ 15 c II StVZO). Ebenso kann die Behörde einen Rechtsmittelverzicht erklären, dazu ist sie durch die prozessuale Dispositionsmaxime ermächtigt. Auch der Billigkeitserlaß auf Steuern und Abgaben (z. B. § 227 A O ) rechnet zu diesen Ermächtigungen. Wegen fehlender Ermächtigung und Verstoßes gegen das Prinzip der gesetzmäßigen und gleichen Besteuerung unwirksam, nämlich nichtig (§44 I VwVfG), ist der Verzicht auf künftige Steuern10 oder der Gemeinde auf Erschließungsbeiträge 11 . Der gesetzwidrige Verzicht auf andere Beiträge und Gebühren ist jedoch nur rechtswidrig; auf die Rücknahme des Verzichts ist § 48 VwVfG anzuwenden mit der Folge, daß u. U. wegen Zeitablaufs (§48 IV V w V f G ) der Verzicht bestehenbleiben muß12. 2. Verzichte des Privaten Der Private muß weder ausdrücklich noch schlüssig zum Verzicht ermächtigt sein. Aber auf sein subjektives Recht kann er nur verzichten, wenn es ihm überwiegend in seinem individuellen Interesse eingeräumt 9 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Fn. 1) begründete 1880 die Verzichtbarkeit einer Gewerbeerlaubnis mit den auf ihr ruhenden Pflichten und Lasten; diese extrem liberale Ansicht wird heute nicht mehr vertreten werden können. 10 B V e r w G E Bd. 8, S. 239. In dem einen wie dem anderen Punkt war das alte Verwaltungsrecht großzügiger, s. P r O V G E Bd. 53, S. 119 (121); Bd. 67, S. 2 7 7 (278); W.Jellinek, Verwaltungsrecht (3. Aufl. 1931, Neudr. 1966), S . 2 1 5 .
" B V e r w G , D Ö V 1978, S. 611. 12 O V G Lüneburg, D Ö V 1986, S. 382.
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ist. W o der Bestand der subjektiven Rechte lückenlos sein muß, um eine als notwendig angesehene objektive Ordnung aufrechtzuerhalten, die schon durch Ausnahmen gefährdet würde, ist auch dem Privaten verboten zu verzichten 13 . Eine stärkere Differenzierung und Konkretisierung dieser allgemeinen Regel erscheint wenig erfolgversprechend, wie die Erörterungen des sog. Grundrechtsverzichts zeigen 14 . Das öffentliche Interesse an der Grundrechtsverwirklichung durch jedermann kann nur zu diesen Thesen führen: D e r Verzicht auf ein Grundrecht schlechthin ist ebenso unwirksam wie der Dauerverzicht auf die Ausübung des Grundrechts in bestimmten Formen seiner Realisierung. Im übrigen hängt die Dispositionsbefugnis ab von der Art des Grundrechts, von den Motiven des Verzichtenden, von der etwa erlangten Gegenleistung, kurz: von den tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhängen, allgemein wie im konkreten Einzelfall. Das Grundrechtsverständnis als solches - die Grundrechtstheorie — mag individualistischer oder institutioneller oder auf „objektive Wertordnung" ausgerichtet sein15 und daher die Möglichkeit des Verzichts enger oder weiter bestimmen wollen 16 . Jede Grundrechtstheorie aber muß berücksichtigen: Der Verzichtende übt ein Grundrecht aus (Art. 2 I G G ) , infolgedessen muß jede Grundrechtstheorie dem Verzicht einen angemessenen Platz anweisen. Einige Einzelfälle mögen diese Feststellungen verdeutlichen. Verzichtbar sind persönliche Ehrungen - das Bundesverdienstkreuz oder der D r . h. c. - , aber der durch Dissertation und Rigorosum erworbene Doktortitel ist ein Fähigkeits- und Leistungsnachweis, daher unverzichtbar 17 . Wer sich des regulären Doktortitels entledigen will, kann auf Führung und Verwendung des Titels in Verbindung mit seinem Namen verzichten und andere darum ersuchen; dieser tatsächliche „Verzicht" schützt sein persönliches Interesse ausreichend. Verzichtbar ist die Innehaltung nachbarschützender Bestimmungen im Baurecht 18 , die Fahrerlaubnis, unzulässig aber ist der Verzicht auf die künftige Fahrerlaubnis, weil die eigene Handlungsfreiheit (Art. 2 I G G ) zu stark beschränkend". Eine Baugesellschaft kann vorweg auf Einspruchsrechte und Rechtsmittel gegen Planungsentscheidungen verzichten, also auf ihr
15 Bereits W.Jellinek (Fn. 10, S.215) sprach davon, daß „gewisse Rechte . . . vom Gesetz so unbedingt gewollt [seien], daß auch die Einwilligung des Betroffenen an der Unzulässigkeit eines Eingriffs nichts ändert". 14 S. J. Pietzcker, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 527 ff. 15 Einen vorzüglichen Uberblick gewährt Christine Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung (1986). 16 Pietzcker (Fn. 14), S. 540-542. 17 W.Jellinek (Fn. 10), S.217. 18 Bad-WürttVGH, NVwZ 1983, S.229. 19 Bussfeld, DÖV 1976, S. 765.
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konkretes Recht aus Art. 19 IV G G , wenn sie dafür faire Vorteile erhält 20 . Beamte und Soldaten können auf das Recht des Arbeitsplatzwechsels verzichten (Art. 12 G G ) , wenn sie dafür ein Ausbildungsstipendium (Fernmeldeaspirant) oder eine besonders kostspielige Ausbildung (Flugzeugführer) erhalten; die Bindung an den öffentlichen Dienst darf nur nicht übermäßig lang sein21. Verzichtbar ist auch das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 I G G ) : Die Bundespost legt auf Antrag des Anschlußinhabers eine Fangschaltung an, um einen nächtlichen Anrufer zu ermitteln 22 . Ebenso kann der Beamte partiell auf Art. 10 G G verzichten, soweit seine Gespräche auf dem Diensttelefon nach Telefonnummer des Angerufenen, Datum und Uhrzeit elektronisch gespeichert werden 23 . Unverzichtbar ist das Wahlgeheimnis 24 . Das Benachrichtigungsrecht des Art. 104 IV G G soll wegen des zwingenden Charakters dieser Vorschrift auch dann unverzichtbar sein, will der Untersuchungshäftling das Bekanntwerden seiner Verhaftung bei seinen Angehörigen vermeiden25. Das Ergebnis ist herzlos, ins Juristische übersetzt: das objektive Interesse an der ausnahmslosen Durchsetzung der Regel gilt alles. Es ist dieser Fall aber dem des Wahlgeheimnisses nicht vergleichbar. Im Einzelfall kann durchaus ein schutzwürdiges Interesse des Untersuchungshäftlings daran bestehen, daß die zu seinem Schutz geschaffene Regel des Art. 104 IV G G nicht, oder jedenfalls nicht wörtlich, angewendet wird. Die Begründung - Vermeidung von Geheimprozessen - ist rückwärts gerichtet und realitätsfremd. In bundesrepublikanischer Gegenwart verschwinden die Häftlinge nicht spurlos hinter Gefängnismauern 26 , sondern während des Hafturlaubs oder beim resozialisierenden Einkaufsbummel, wenn diese naheliegende, nicht ganz die Sache treffende Bemerkung verstattet ist; der fast schon tragikomische Fall der beiden Inhaftierten, die in Polizeigewahrsam schlicht vergessen wurden und nach sieben Tagen fast verdurstet und verhungert waren, ereignete sich in Osterreich - Schlamperei kann offenbar schlimmer sein als Inquisition. Der Häftling wird nicht nur aus Scham oder zur Wahrung sonstiger eigener Interessen die Benachrichtigung seiner Angehörigen verhindern wollen; vielleicht muß er wegen psychischer Labilität seiner Näch-
B G H Z Bd. 26, S.84; BVerwGE Bd. 42, S.335. BVerwGE Bd. 42, S.233; BVerfGE Bd. 39, S. 141. 22 BayOLG, DVB1. 1974, S.598. 23 BVerwG, N J W 1982, S. 840. 24 Häufiger entschieden, z . B . OVG Lüneburg, D Ö V 1964, S.355. 25 H. M., s. Pietzcker (Fn. 14), S. 549, und die Angaben zum Streitstand bei Ph. Kunig, in: v.Münch, GGK Bd. 3 (2. Aufl. 1983), Art. 104, Rdn.39. 26 Vgl. die dramatischen Formulierungen bei v. MangoldtlKlein, Art. 104 A n m . 2 ; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 104 Rdn.43. 20
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sten Schlimmes besorgen 27 . Eine „Person seines Vertrauens", auf deren Verschwiegenheit er sich verlassen könnte, kennt er vielleicht nicht. Art. 104 IV G G ist im Falle des Verzichts genügt, wenn ein Anwalt benachrichtigt wird. Auf diese Weise kann dem „Vergessen" von Inhaftierten vorgebeugt werden (so nicht auch Art. 104 IV G G vergessen wird). Die etwa zusätzlichen Kosten muß der Verzichtende als Kosten seines Verzichts in Kauf nehmen. Will er das nicht, ist nach dem Wortlaut des Art. 104 IV G G zu verfahren. In der Haft soll sich ein gesunder Häftling generell nicht für medizinische Versuche zur Verfügung stellen, also nicht auf Art. 2 II G G verzichten dürfen; Haftvergünstigungen als Gegenleistung sollen sittenwidrig sein28. Es ist wohl keine grundlose Unterstellung, diese Empfindsamkeit auf „historische Erfahrungen" zurückzuführen. Aber überlieferte Erfahrungen sind das eine, Vergleichbarkeit ist das andere. Der Strafvollzug der westdeutschen Gegenwart und Himmlers Konzentrationslager sind nun wirklich nicht kommensurabel. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb Häftlingen eine zusätzliche Sühnechance von vornherein genommen werden muß. Sollte dieser Gedanke veraltet oder psychologisch ganz und stets unrealistisch sein: In den Vereinigten Staaten hat man zuweilen zum Tode Verurteilten die Gelegenheit gegeben, sich für medizinische Experimente zur Verfügung zu stellen, und ihnen Straferlaß im Falle des Uberlebens (!) versprochen 2 '. So unbefangenes do-ut-des-Denken mag hierzulande allzu pragmatisch erscheinen. Solange aber auch in der Bundesrepublik forschende Mediziner und Pharmazie-Unternehmen stolz auf die Erfolge ihrer „Doppel-BlindVersuche" sind, d. h. auf Versuchsreihen, von deren Durchführung weder Patienten noch Ärzte genau wissen, solange ist die Sorge um die Willensfreiheit von Strafgefangenen falsch plaziert - ganz abgesehen von dem juristischen Gleichmut gegenüber Tierversuchen, bei denen die Versuchsobjekte weder gefragt noch belohnt werden. In der H a f t ist nur die Einwilligung in ernsthafte Gesundheitsschäden oder Lebensgefährdungen ein unzulässiger Grundrechtsverzicht; insoweit ist die besondere psychische Situation des Häftlings zu berücksichtigen. Unzulässig ist auch ein Verzicht zu Lasten Dritter, z. B. auf Sozialleistungsansprüche, läßt der Verzicht Leistungspflichten anderer Personen oder Leistungsträger entstehen (§46 II SGB-AT). 27 Hans Günter Sohl berichtet über eine Folge des „automatic arrest", in den die Besatzungsmächte 1945 auch die deutschen Stahlindustriellen einschlössen: „Meine Mutter war am 17.März 1946 aus dem Leben geschieden; sie hatte meine Internierung nicht überwinden können" (Notizen. Privatdruck 1983, S. 108). 28 Pietzcker (Fn. 14), S.550, Anm.95: „versteht sich von selbst". 29 Nach dem Bericht des Medizinhistorikers H. Staudinger, „Die Welt" v. 10.1.1987, S.10.
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III. Die Verzichtserklärung Der Verzicht muß freiwillig und in voller Kenntnis seiner Tragweite erklärt werden. Die Ansprüche an Freiwilligkeit und Kenntnis sind hoch geschraubt. Der Verzicht, der auf falschen Auskünften der Behörde beruht, ist als öffentlich-rechtliche Willenserklärung anfechtbar wegen Täuschung (dazu unter IV.), als Verfahrenshandlung unwirksam 30 . Unwirksam ist auch der Rechtsmittel-Verzicht, der älteren Antragstellern formularmäßig bei Aushändigung eines Entschädigungsbescheides vorgelegt wird31. Der Verzicht ist als Verfahrenshandlung unwirksam, als sonstige Willenserklärung anfechtbar, wenn die Behörde ihre Machtmittel mißbraucht, damit der Private verzichtet. Beispiel: Das Bauamt erteilt eine dem Antrag nicht voll entsprechende Bauerlaubnis mit Dispens nur nach vorherigem Rechtsmittel-Verzicht. „Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist nicht zu bezweifeln, daß die Kl. bei einer Verzögerung der Bauerlaubnis . . . um die Dauer des RM-Verfahrens ganz erhebliche, wenn nicht untragbare Nachteile, u. a. durch Verfall befristeter Kreditbereitstellungen, erlitten hätten. Sie mußten sich also schlechterdings genötigt sehen, den RM-Verzicht zu erklären, um die Bauerlaubnis ohne Zeitverlust zu erhalten32." Anfechtbar ist auch der Verzicht auf künftige Bauanträge, wird dieser Verzicht zur Voraussetzung einer Bauerlaubnis gemacht, auf die ein Rechtsanspruch besteht33. Der Verzicht ist formfrei, also mündlich oder schriftlich zulässig, muß in der Regel jedoch ausdrücklich erklärt werden 34 : renuntiatio non praesumitur. Gelegentlich schreibt das Gesetz eine schriftliche Erklärung vor (§46 I SGB-AT). In Ausnahmefällen ist der Verzichtswille auch schlüssigem Verhalten zu entnehmen. Beispiel: Das dem Beamten bekannte „Merkblatt über die Benutzung des Diensttelefons" weist auf die elektronische Registrierung der Telefonnummer des Angerufenen, von Datum und Uhrzeit des Anrufs hin. Telefoniert der Beamte, stimmt er der Registrierung zu, verzichtet er also insoweit auf die Ausübung seines Rechts aus Art. 10 GG 35 . Auf ein Recht kann erst verzichtet werden, wenn es entstanden ist. Diese nur scheinbar selbstverständliche Regel gilt jedenfalls bei Rechtsmitteln. Ein vor Erlaß des Verwaltungsakts erklärter Verzicht auf das Widerspruchsrecht würde die Rechtsmittel-Belehrung leerlaufen las-
30 31 32 33 34 35
O L G Hamm, N J W 1976, S. 1952, betr. Rechtsmittel-Verzicht im Strafverfahren. O V G Hamburg, DVB1. 1955, S.265. BVerwGE Bd. 19, S. 161. O V G Lüneburg, D Ö V 1978, S.220. BVerwG, D Ö V 1960, S.391; BVerwGE Bd. 20, S.306. BVerwG, N J W 1982, S. 840.
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sen36. Das Verbot des „Vorausverzichts" gilt jedoch nicht stets. So kann auf das Rechtsmittel unter der auflösenden Bedingung verzichtet werden, daß die Entscheidung einen bestimmten Inhalt hat". Diese Regel verallgemeinert die steuerrechtliche Zulässigkeit des Vorausverzichts auf das Widerspruchsrecht unter der Bedingung, daß die Steuer nicht abweichend von den Angaben in der Steueranmeldung festgesetzt wird (§ 354 I A O ) . Auch in öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vergleichen kann vorweg auf Rechtsmittel verzichtet werden 38 . Ebenso ist ein behördlicher Vorausverzicht auf einen künftig fällig werdenden Beitrag rechtlich möglich 39 . IV. Rechtsfolgen des Verzichts Ist die Verzichtserklärung der zuständigen Behörde zugegangen, so erlischt das Recht. Die Behörde kann das Erlöschen nur noch registrieren. Streitig ist, ob daraufhin ein etwa bereits eingeleitetes Verfahren auf Entziehung des Rechts stets gegenstandslos wird. Das wäre von vornherein zu verneinen, würde der Verzicht den Bestand der Erlaubnis als einen hoheitlichen Akt gar nicht berühren und erfassen können; der Verzicht wäre dann stets als Antrag auf behördlichen Widerruf anzusehen40. Dieser klaren Lösung steht nicht nur eine über 100jährige gewerberechtliche Rechtsprechung entgegen41. Die Erlaubnis z . B . ist nur eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit 42 , sie kann daher nicht als Bremse für eine weitere Grundrechtsbetätigung, den Verzicht als actus contrarius, begriffen werden. Es sind aber Fälle denkbar, in denen das Erlöschen als Verzichtswirkung gegen das öffentliche Interesse verstieße und daher ausgeschlossen sein muß 43 . So unverzichtbar das „öffentliche Interesse" als Mittel der Steuerung und Schrankenziehung staatlichen, aber auch privaten Handelns sein mag44, für die Blockade des Verzichts ist es zu konkretisieren, nämlich: Der
BVerwG, DVB1. 1964, S. 874. BVerwGE Bd. 19, S. 159. 38 S. Fn. 20. 3 ' BVerwG, DÖV 1984, S. 589. 40 E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts (10. Aufl. 1973), S.288; die für dieses Verständnis zit. Literatur bezieht sich indes auf den angeblichen Rechteverzicht beim sog. Verwaltungsakt auf Unterwerfung. 41 Die Fn. 1 zit. Entscheidung des BayVGH betraf eine gewerberechtliche Erlaubnis. Die einschlägige ständige Rspr. des PrOVG zur Wirkung des Verzichts auf die gewerberechtliche Erlaubnis ist im Urteil vom 19.10.1939 nachgewiesen (OVGE Bd. 105, S. 189/ 191). 42 Das hat dogmatisch gründlich ausgeführt W. Henke, DVB1. 1983, S. 984 ff. 43 OVG Münster, Urt. v. 19.5.1971, OVGE Bd. 26, S. 265 ff. 44 W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff (1969), S. 192 ff. 36 37
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Verzicht äußert keine Erlöschenswirkung, wenn der Verzichtende der Entziehung entgehen will, die Feststellung der Entziehung aber im öffentlichen Interesse liegt. Zwar kann der Ruhestandsbeamte auf seinen Beamtenstatus insgesamt verzichten und dadurch die Einstellung eines gegen ihn anhängigen Disziplinarverfahrens erreichen (§ 64 I N r . 5 B D O ) . Dieser Ausnahmetatbestand läßt sich jedoch nicht auf andersartige Fälle übertragen, in denen ein dringendes Interesse an der Durchführung des Entziehungsverfahrens besteht. Beispiel: Wegen sittenwidriger Ausnutzung einer sog. Singspielerlaubnis ( § 3 3 a G e w O a. F.) forderte die Behörde den Barbesitzer zur Stellungnahme auf, weil sie beabsichtigte, ihm die Erlaubnis zu entziehen. B. verzichtete auf die Erlaubnis (er hatte den Barbetrieb schleunigst auf eine G m b H übertragen), die Behörde nahm die Erlaubnis zurück. Die Rücknahme der Erlaubnis soll rechtswidrig sein, weil die Erlaubnis durch Verzicht des Erlaubnisinhabers vorher erloschen sei45. Dieses Resultat mag durch seine Begriffslogik die Verfasser von Examensklausuren entzücken; rechts- und verwaltungspolitisch war und ist es nicht zu verantworten. Der so interpretierte Verzicht verhinderte die Eintragung der Entziehung gewerberechtlicher Erlaubnisse in das Strafregister. Gedeckt durch diese Rechtsprechung verzichtete in der Praxis ca. ein Drittel der Gewerbetreibenden nach Einleitung des Untersagungsverfahrens, um der drohenden Untersagung zu entgehen; sie konnten ihr Gewerbe an demselben oder an einem anderen O r t ungehindert neu beginnen, bis sie erneut auffielen und das nächste Untersagungsverfahren eingeleitet wurde 46 . 1974 griff der Gesetzgeber ein: „Das Untersagungsverfahren kann fortgesetzt werden, auch wenn der Betrieb des Gewerbes während des Verfahrens aufgegeben wird" ( § 3 5 1 3 G e w O ) . Verzichte auf Zulassungen während eines Rücknahme- oder Widerrufsverfahrens sind in das Gewerbezentralregister einzutragen (§149 II N r . 2 G e w O ) . Eine teleologische, statt der begriffsjuristischen, Interpretation hätte der Verwaltungswirklichkeit ausgebreiteten Mißbrauch der Rechtsformen und dem Gesetzgeber das Eingreifen erspart. Die Fahrerlaubnis kann im strafgerichtlichen Verfahren auch nach Verzicht des Inhabers entzogen werden ( § 6 9 S t G B ) . Für das Verwaltungsverfahren wird die Verzichtsfolge des Erlöschens zwar anerkannt, deren negative Folge aber auf andere Weise vermieden: Der Verzicht auf die Fahrerlaubnis und die Fahrlehrererlaubnis während des Entziehungsverfahrens wird in das Verkehrszentralregister eingetragen ( § 1 3 I Nr. 4 S t V Z O , § 2 8 N r . 6 StVG). Bei einem späteren Antrag auf Zulassung zur Prüfung und Neuerteilung der Fahrerlaubnis kann die 45 46
O V G Münster, O V G E 26, S. 265 ff. BT Drucks. 7/111 v. 5.2.1973, S.6; P. Mareks, GewArch. 1974, S. 80.
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Behörde, gewarnt durch die Eintragung des Verzichts im Zentralregister, die Eignung des Antragstellers besonders sorgfältig prüfen, allerdings nur zehn Jahre lang; danach wird die Eintragung des Verzichts gelöscht (§ 13 a II N r . 3 S t V Z O ) . Fehlt es an solchen speziellen Normierungen, so ist die Regel des § 46 II S G B - A T zu verallgemeinern: Ein Verzicht zur Umgehung gesetzlicher Vorschriften ist unzulässig. Verzichtet die Behörde und ist in diesem behördlichen Verzicht eine Verfügung im Sinne des § 35 V w V f G zu erblicken, so erläßt sie einen Verwaltungsakt. Rücknahme und Widerruf dieses Verwaltungsakts richten sich nach §§ 48, 49 V w V f G , im Steuerrecht nach § 130 A O . Allerdings wird hier sorgfältig zu prüfen sein, ob Rücknahme und Widerruf nicht schon deshalb ausgeschlossen sind, weil der behördliche Verzicht die Voraussetzung für den Fall der Verwirkung geschaffen hat47. Verzichtet der Private, so gibt er eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung ab. Dasselbe gilt für behördliche Verzichte, die - wie die behördliche Aufrechnungserklärung 48 - nicht als Verwaltungsakte zu qualifizieren sind. Ist der Verzicht eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung, also der Verzicht des Privaten sowie der behördliche Verzicht ohne Verwaltungsaktsqualität, so kann die Verzichtserklärung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten entsprechend §§ 134, 138 B G B nichtig sein. Diese Rechtsfolge tritt z . B . in jenen vorn angesprochenen Fällen ein, in denen der Rechtsinhaber über sein subjektives Recht wegen des überwiegenden öffentlichen Interesses an dem lückenlosen Bestand der objektiven Ordnung nicht verfügen darf. Wegen Irrtums, Täuschung oder Drohung kann der Verzicht als öffentlich-rechtliche Willenserklärung nur in entsprechender Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften angefochten werden 49 . Die Anfechtung ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Verzicht eine förmliche Verfahrenshandlung ist oder betrifft, z. B. der Verzicht auf den Widerspruch (§ 70 V w G O ) . Die Verfahrenshandlungen im Vorverfahren nach § § 4 8 ff. V w G O werden wie Prozeßhandlungen bewertet, die wegen ihrer prozessualen Gestaltungswirkung aus Gründen der Rechtssicherheit wegen Irrtums oder anderer Willensmängel nicht nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts angefochten werden können 50 . Dieser Grundsatz muß allgemein für behördliche Beteiligungsverfahren gelten.
Vgl. den Sachverhalt BVerwG, DVB1. 1972, S.226f. » BVerwGE Bd. 66, S.218; zuletzt Urt. v. 13.6.1985, DVB1. 1986, S. 146. 49 E. Forsthoff (Fn. 40), S. 289; s. bereits Art. 36 des Entwurfs einer „Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg" (1931). 50 BVerwGE Bd. 57, S.342 (345 ff.). 47 4
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Der Anspruch der Beteiligten auf klare Verhältnisse und die Notwendigkeit eines zügigen und ökonomischen Verfahrens schließen die Anfechtung oder den Widerruf solcher Verzichtserklärungen aus51.
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Bad.-WümVGH, N V w Z 1983, S.229.
Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen bei Eingriffsgesetzen J Ü R G E N SCHWABE
Wolf gang Martens' freundliche und stetige Bereitschaft zum Gespräch und zur Diskussion habe ich oft und gern genutzt. Ihr danke ich manche klärende und weiterführende Unterhaltung und aufschlußreiche Briefwechsel. Anregungen und Einwände zu dem von Wolfgang Martens und Klaus Vogel verfaßten Polizeirechtslehrbuch konnten dabei nicht fehlen, u. a. auch knapp formulierte Zweifel an der Behandlung der Anscheinsgefahr. Sie haben W. Martens, wie sich nach seinem Tode an der noch fertiggestellten Neuauflage zeigte, nicht überzeugt. O b es eine genauere Begründung dieser Zweifel vermocht hätte, bleibt leider ungewiß. D a W. Martens zur Anscheinsgefahr und zum Gefahrenverdacht nur die fast einhellige herrschende Lehre mitgetragen, aber weder begründet noch auch nur monographisch verteidigt hat, ist es gut möglich - und der Akzent muß hier auf „gut" liegen - daß er sich ausführlicheren Bedenken nicht verschlossen hätte. Deshalb werden, wie ich hoffe, solche Bedenken in der ihm gewidmeten Gedächtnisschrift nicht deplaziert wirken. I. Anscheinsgefahr, Putativgefahr, Gefahrenverdacht *Mit W. Martens1 und anderen ist sorgfältig zwischen der Anscheinsgefahr (mit ihrer Unterart, der Putativgefahr) und dem Gefahrenverdacht zu unterscheiden. Zu Unrecht bezeichnet Riegel1 das als überflüssige Subtilität, weil beides Unterarten der Gefahr seien. Bis in die jüngste Zeit leidet die wissenschaftliche Diskussion darunter, daß Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht nicht unterschieden oder miteinander vermengt und verwechselt werden 5 ; auf Beispiele wird noch hinzuweisen sein. 1
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S.226. DVB1. 1982, 1006. Ebenso Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S.386 Fn.29. 3 Ich nenne nur als gewichtigste Beispiele: den vielzitierten Aufsatz von HoffmannRiem über „.Anscheinsgefahr' und ,Anscheinsverursachung' im Polizeirecht" in: Verfassung, Verwaltung, Finanzen, Wdc&e-Festschrift, 1972, S. 327, sowie die Monographien 2
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Bei der Anscheinsgefahr nimmt der handelnde Beamte zu Unrecht gefahrbegründende Tatsachen an, mögen diese gegenständlicher4 oder rein psychischer Natur sein wie beispielsweise eine verbrecherische Gesinnung. Voraussetzung ist aber, daß der Irrtum vertretbar erscheint. Bei einem auf Nachlässigkeit beruhenden Irrtum spricht man von Putativgefahr5, ein unglücklicher Begriff ohne Prägnanz und Unterscheidungskraft. Während die Anscheinsgefahr zum polizeilichen Zugriff berechtigt, soll das bei der Putativgefahr nicht der Fall sein. Ein Irrtum ist vertretbar, wenn er sich einem „fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalter" 6 aufdrängen konnte oder „einem optimal ausgebildeten Polizeibeamten durchschnittlicher Intelligenz" 7 . Offen bleibt die Einordnung eines Irrtums, dem zwar ein solcher Beamter erliegen durfte, nicht aber der eingreifende Beamte, der trotz einer Spezialausbildung die Sachlage fahrlässig verkannte. Wichtig ist das Abstellen auf den handelnden Beamten. Auf sein Erkenntnisvermögen soll es offenbar auch dann ankommen, wenn sein verständlicher Irrtum von Behördenseite fahrlässig verursacht wurde, beispielsweise durch Aushändigung falscher Unterlagen, Fehlinformationen etc. 8 . Voreilig wäre der Einwand, mit einem objektiven Sorgfaltsmaßstab würden systemwidrig Schuldelemente für ein Rechtmäßigkeitsmerkmal verwendet. Wenn ein Gesetz ausdrücklich auf einen Anschein oder von Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 78 ff, und Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, wo erst auf S. 93 ff der Gefahrenverdacht vorgestellt, aber zuvor auf S. 88 ff ein Fall des Gefahrenverdachts als ein solcher der Anscheinsgefahr falsch analysiert wird. 4 Zu den gegenständlichen aktuellen Tatsachen zählt auch das Vermögen einer Sache, einen schadenstiftenden Kausalverlauf in Gang zu setzen. 5 Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 59, unterscheidet auf nicht einsichtige Weise zwischen dem Irrtum bei der Putativgefahr und der „fehlerhaften Beurteilung" (aber eben nicht dem Irrtum) bei der Anscheinsgefahr. Kickartz, Ermittlungsmaßnahmen zur Gefahrerforschung und einstweilige polizeiliche Anordnungen, 1984, S. 156, will offenbar nur noch zwischen Gefahrenverdacht und Irrtum unterscheiden, also beim Irrtum nicht mehr zwischen Anscheins- und Putativgefahr. ' Martens (Fn. 1), S.226. 7 Triffterer, Ein rechtfertigender (Erlaubnistatbestands-)Irrtum? - Irrtumsmöglichkeiten beim polizeilichen Einsatz und deren dogmatische Einordnung, Mallmartn-V estschrih, 1978, S. 373/398, der hinzufügt, „optimal" und „durchschnittlich" seien hier sehr ähnlich. Sehr subtile Überlegungen zur Vorwerfbarkeit des Irrtums finden sich bei Erbel, Öffentl.-rechtl. Klausurenlehre, Bd. II, 2. Aufl. 1983, S. 301 ff. ' Im Fall BVerwGE 49, 36 (Schahbesuch) berief sich die eingreifende Stelle auf ein Schreiben des Bundeskriminalamtes, was das BVerwG für ausreichend erachtete. Dagegen Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Auflage 1985, Rdn. 127; zustimmend Kickartz (Fn. 5), S. 38.
Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen
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einen Verdacht als Eingriffsbedingung abhebt, ist das unvermeidbar. Entsprechendes muß dann hinsichtlich eines nicht ausdrücklich normierten, aber gleichwohl in das Gesetz hineingelesenen Anscheins gelten. Während bei Anscheins- und Putativgefahr der handelnde Beamte gefahrbegründende Tatsachen zu Unrecht annimmt, ist er sich ihrer beim Gefahrenverdacht nicht sicher, sondern hält sie nur für möglich. Von einem gewissen Möglichkeitsgrad an handelt es sich hierbei um ein Wahrscheinlichkeitsurteil bezüglich gegenwärtiger Tatsachen. Dieses muß aber vom Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich zukünftiger Schäden unterschieden werden9. II. Anscheinsstörung, Putativstörung, Störungsverdacht Eine der nicht recht erklärlichen Merkwürdigkeiten ist es, daß in der Diskussion des hier erörterten Problemkreises nur höchst selten die Anscheins- und Putativsiör«wg und der Störungsverdacht auftauchen. Erst die neueren Polizeigesetze in Anlehnung an den Musterentwurf (ME) haben ja die Gefahrenbekämpfung als ausreichend angesehen und deshalb zur Störungsbekämpfung nicht mehr ermächtigt. Nur insoweit ist es also neuerdings gerechtfertigt, sich mit dem Anschein oder Verdacht einer Gefahr zu begnügen. Dabei hat Hoffmann-Riem schon 1972 die Anscheinsstörung neben der Anscheinsgefahr miterörtert. Freilich konnten seine Ausführungen den Eindruck erwecken, als handele es sich hierbei um etwas sehr Seltenes: „Gelegentlich . . . ist der Polizei nicht sicher bekannt, ob ein Rechtsgut wirklich verletzt worden ist."10 Dergleichen geschieht jedoch ' Auf diese Unterscheidung ist weiter unten zurückzukommen. Gegen sie wendet sich Neil (Fn. 3) S. 83: „Die Unterscheidung von prognostischem und diagnostischem Wahrscheinlichkeitsurteil ist zwar theoretisch möglich, aber praktisch bedeutungslos." Ahnlich Murswiek (Fn.2), S.384. Murswiek behauptet auf S. 386 Fn. 29: „Genau genommen beruht jede Anscheinsgefahr auf einem Gefahrenverdacht, nämlich einem diagnostischen Wahrscheinlichkeitsurteil über den Sachverhalt, auch wenn der handelnde Amtswalter sich dessen nicht bewußt ist." Bei der typischen Anscheinsgefahr ist sich jedoch der Beamte eines Sachverhalts sicher, hält ihn nicht nur für wahrscheinlich. Was hätte es dann mit einem unbewußten Wahrscheinlichkeitsurteil auf sich? Auch Kickartz (Fn. 5), passim und S.39 sowie 145 ff, hat die verfehlte Tendenz, möglichst alle Fälle zum Gefahrenverdacht hin aufzulösen. 10 AaO (Fn. 3), S. 328/329. Hoffmann-Riem illustriert diese Fallgruppe mit einem wenig glücklichen Beispiel: „Ein Schuß aus einem Luftgewehr ertönt, ein Junge fällt auf den Boden. Ist er getroffen oder spielt er nur den Tod?" Da Hoffmann-Riem zwischen Anschein und Verdacht nicht trennt, darf man zwar sein Etikett Anscbeinsstörung nicht tadeln. Indessen geht es auch nicht um Störungs-, sondern um Gefahrenbekämpfung. Die Störung in Form des Todes wäre gar nicht mehr, die in Form der Körperverletzung nur vom Chirurgen zu beseitigen. Die Polizei dürfte bestenfalls weitergehenden Schaden, eine Ausweitung der Verletzung oder den Tod, abwenden, also eine Gefahr bekämpfen.
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nicht gelegentlich, sondern tagtäglich und insgesamt millionenfach, und zwar einfach deshalb, weil jeder Normverstoß eine Störung der öffentlichen Sicherheit ist. 1978 hat dann Triffterer11 in zutreffender Weise seine Ausführungen zu Anschein und Verdacht in gleicher Weise der Gefahr wie der Störung gewidmet, während die übrige Literatur Anschein oder Verdacht einer Störung durchweg vernachlässigt. Überhaupt kommt Triffterer das Verdienst zu, das hier einschlägige Problem generalisiert und aus seiner viel zu engen Bindung an den Gefahrenbegriff gelöst zu haben. Er diskutiert aüch den Irrtum über die Erforderlichkeit der polizeilichen Maßnahme 12 sowie über ihre Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne13 und weist folgerichtig darauf hin, daß sich gleiche Probleme bei allen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit polizeilicher Eingriffe stellen14. Das betrifft insbesondere die - von Triffterer nicht mehr einzeln analysierten Ermächtigungen zu Standardmaßnahmen sowie zu Vollstreckungsmaßnahmen' 5 . 1. Bei den Standardbefugnissen wird durchweg eine Gefahrenlage als Eingriffsvoraussetzung erfordert, sei es mit, sei es ohne Verwendung des Gefahrenbegriffs 16 . Aber auch über andere Tatbestandsmerkmale kann leicht eine Fehlvorstellung bestehen. So kann beispielsweise die Polizei über das Vorliegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit irren, zu deren Aufklärung sie die Identität einer Person feststellen darf' 7 . Sie kann eine Wohnung in der falschen Annahme betreten, daß dort der Prostitution nachgegangen wird18, oder zu Unrecht einen Ort annehmen, „an denen Personen der Prostitution nachgehen", was mannigfache Eingriffsmöglichkeiten nach sich zieht (Identitätsfeststellung 19 , Per-
" Fn. 7, S. 403 ff. 12 S. 404 ff. 13 S. 408 ff. 14 S. 404 oben, S.412, 413, 415. 15 O b und inwieweit Standardmaßnahmen der Vollstreckung zuzurechnen sind (dazu Martern, S. 216 f; kritisch dagegen Götz, Die Verwaltung 1986, 538) muß in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden. 16 Beispiele für letzteres: Drohen einer Straftat als Voraussetzung des Polizeigewahrsams in § 1 3 I N r . 2 M E und N W PolG = § 1 6 I N r . 2 N d s . S O G = Art. 16 I N r . 2 B a y . P A G ; drohender Verlust oder Beschädigung einer Sache als Voraussetzung einer Sicherstellung in § 21 N r . 3 M E = § 21 N r . 2 N W PolG = § 24 I N r . 2 Nds.SOG = Art. 24 I N r . 2 Bay.PAG. 17 § 9 I N r . 2 M E = § 1 5 I N r . 2 Bln.ASOG. " So die Begriffsvoraussetzung in § 1 9 II N r . 2 M E = § 19 III Nr. 2 N W PolG = § 2 2 V Nr. 2 N d s . S O G = Art. 22 III N r . 3 Bay.PAG. " § 9 I N r . 3 b M E = § 12 I N r . 2 b N d s . S O G = Art. 12 I Nr. 2 b Bay.PAG.
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sonendurchsuchung20, Sachdurchsuchung21). Ein Polizeigewahrsam kann auf einem Irrtum darüber beruhen, daß sich Minderjährige der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben oder daß eine Person aus der Haft entwichen ist22. bietet sich ein ganz entsprechendes Bild. 2. Im Vollstreckungsrecht Beispielsweise wird Schußwaffengebrauch gegen Personen wegen einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erlaubt oder zur Abwendung eines Verbrechens oder qualifizierten Vergehens oder zur Ergreifung derer, gegen die ein Haftbefehl wegen Verbrechens u. a. erging, oder zur Verhinderung einer Flucht, außer aus einem Straf- oder Jugendarrest oder aus einer offenen Anstalt23. Uber alle diese Eingriffsbedingungen kann ein Polizist sich irren. Ebenso kann er sich nur in einer Notwehrlage wähnen, was ihn in Hamburg beispielsweise zum Schußwaffengebrauch ohne Warnung befähigt24. Schließlich kann in allen Fällen statt der Fehlvorstellung sich nur ein Zweifel, ein Verdacht festgesetzt haben. 3. Gesonderte Erwähnung verdient noch eine polizeirechtliche Eingriffsvoraussetzung, nämlich die Verantwortlichkeit für eine Gefahr oder Störung. Auch in bezug auf sie kann ein bloßer Verdacht oder ein falscher Anschein entstehen, sei es, daß die Gefahr oder Störung gleichfalls nur vermutet oder falsch angenommen wird, sei es, daß Gefahr oder Störung tatsächlich bestehen. Beispiel für letzteres: Man glaubt oder ist sich fälschlich sicher, daß ein Fischsterben auf Abwässer der Fabrik F zurückzuführen ist25. Adäquate, wenngleich nicht sehr schöne Sammelbegriffe hierfür wären Anscheinsverantwortlichkeit und Verantwortlichkeitsverdacht. III. Ein generelles Problem 1. Es bedarf kaum noch des Hinweises, daß sich das Problem der Rechtsfolgen behördlicher Fehlvorstellungen nicht auf das Polizei- und Ordnungsrecht beschränken läßt. Es stellt sich vielmehr für die Eingriffsverwaltung generell. Es gibt bislang keine Versuche, das Privileg zugunsten der Anscheinsgefahr auf Fälle besonderer Dringlichkeit zu
§17 I Nr. 4 ME = §20 I Nr. 4 Nds.SOG = Art. 20 I Nr. 3 Bay.PAG. §18 I Nr.4 ME = §21 I Nr.4 Nds.SOG = Art.21 I Nr.4 Bay.PAG. 22 § 13 II, III ME und NW PolG = § 16 II, III Nds.SOG = Art. 16 II, III Bay.PAG. 23 §42 ME und NW PolG = §55 Nds.SOG = Art. 46 Bay.PAG. 24 §22 II 1 Hbg.SOG. 25 Beispiel von Hoffmann-Riem (Fn. 3), S. 329/336 ff. Über die m. E. anfechtbare Einordnung der Anscheinsverantwortlichkeit durch Hoffmann-Riem s. unten Fn. 73. Die Anscheinsverursachung erwähnen auch Triffterer (Fn. 7), S. 403 und Kickartz (Fn. 5), S. 81. 20 21
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beschränken oder aber - noch enger - nur auf den Polizeivollzugsdienst. Was demgemäß den allgemeinen Ordnungsbehörden recht ist, muß den zahllosen Sonderbehörden, die spezielles Gefahrenabwehrrecht anwenden, billig sein. Wegen der völligen Irrelevanz des Gefahrbegriffs für die Lösung des hier diskutierten Problems ist auch kein Ansatzpunkt erkennbar, der die Erstreckung dieses Problems auf die gesamte Eingriffsverwaltung hindern könnte. 2. Zu erörtern bleibt nur noch, ob im Ergebnis ein Unterschied zwischen der Fehleinschätzung bei Fakten und bei Rechtsfragen besteht. Triffterer2b kommt bei einer Fehlbewertung der Rechtslage zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs und gesteht hier auch dem vertretbaren Irrtum anders als beim Tatsachenirrtum keine Rechtfertigungswirkung zu. Er sieht dafür auch keinen großen Bedarf, weil „Fehlvorstellungen rechtlicher Art in der Regel für jeden optimal ausgebildeten Polizeibeamten vermeidbar" seien, bei rechtlichen Zweifelsfällen könne der Beamte auch infolge seines Entschließungsermessens untätig bleiben. Wenn aber gleichwohl einmal die Fehlbewertung nicht vorwerfbar sei, gehe das zu Lasten des Staates, der seine Beamten für korrekte rechtliche Bewertungen ausreichend schulen müsse. Der Staat, für den der Beamte handelt, dürfe sich bei der rechtlichen Subsumtion nicht irren, weshalb menschliche Schwächen hier unerheblich seien. Das nötige ihn auch, „klare und hinreichend präzise Gesetze zu machen". Keines dieser Argumente kann überzeugen, am wenigsten das von der Vermeidbarkeit rechtlicher Fehleinschätzungen. Sie unterlaufen selbst hochspezialisierten Verwaltungsgerichten, also sind Polizeivollzugsbeamte ihnen noch ungleich häufiger ausgesetzt. Das Polizeirecht 27 bezieht ja über den Mechanismus „Gesetzwidrigkeit = Störung der Sicherheit" in seine Ermächtigungsgrundlage unzählige andere Gesetze mit ein, nicht zuletzt das S t G B , dessen Auslegung auch Triffterer nicht als einfach wird bezeichnen wollen. Und so wünschenswert klare und eindeutige Gesetze auch sind, so sehr hat sich der Traum der Aufklärung von einem zweifelsfreien und keiner Erläuterung bedürftigen Gesetz als Illusion erwiesen. Sich bei Zweifeln für das Nichtstun entscheiden darf der Beamte in den häufigen Fällen einer Ermessensreduzierung überhaupt nicht, und wo er es darf, ist dies keine Besonderheit des Rechtszweifels. Weshalb sich der Staat zwar über Fakten, nicht aber über das Gesetz irren darf, ist gleichfalls nicht überzeugend dargetan. Daß das Objekt des Irrtums sein eigenes Erzeugnis ist, macht nur vordergründig
S. 398 ff. Zustimmend Amelung, JuS 1986, 329/335 Fn. 86. Mit dem allein sich Triffterer befaßt. Das Problem ist aber, wie gerade dargelegt, nicht auf das Polizeirecht beschränkt. 26
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einen Unterschied. Denn es wird eben nicht auf das Abstraktum Staat, sondern auf den handelnden Beamten abgestellt, und ihm kommt ein nicht vorwerfbarer Irrtum auch dann zugute, wenn er von seinen Vorgesetzten fahrlässig falsche Informationen erhielt. Eine Verschiedenbehandlung von Rechts- und Tatsachenirrtum ist nach alledem verfehlt28. IV. Zum strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß die hier behandelten Probleme um Zweifel und Irrtum eingreifender Hoheitsträger in gar keiner Weise an dem Gefahrenmerkmal haften und also durch irgendwelche tatsächlichen oder vorgeblichen Eigenarten der Gefahr nicht erklärt werden können. Die Verkennung dessen entwertet nicht nur die Mehrzahl der herangezogenen Begründungen, sie hat beispielsweise im Strafrecht nachgerade absurde Lösungswidersprüche zur Folge. Dort gilt nämlich ein sehr umstrittener strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff, der vor allem, aber nicht nur, bei §113 StGB (Widerstand) erarbeitet wurde und demzufolge Hoheitshandeln auch dann rechtmäßig sein soll, „wenn die sachlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten zwar fehlen, der Amtsträger aber nach (objektiv) pflichtgemäßer Prüfung von deren Vorliegen ausgehen durfte" 29 . Die Gegner dieser unhaltbaren Doktrin beharren auf Folgendem: „Nur die objektive Sach- und Rechtslage, nicht die subjektive Vorstellung des Hoheitsträgers kann und darf für die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit der Amtsausübung ausschlaggebend sein."30 Sie verweisen jedoch gleich anschließend darauf, daß u. a. „bei den auf Gefahrenlagen gestützten Polizeimaßregeln . . . die vom Gesetz verlang-
28 Ebenso H.Wagner, JuS 1975, 224/227, l.Abs.; Thiele, JR 1975, 353: „Die . . . Differenzierung ist inkonsequent, denn rechtliche Irrtümer sind unter dem situationsbedingten Druck (zumeist) polizeilicher Vollzugstätigkeit ebenso verzeihlich wie tatsächliche Fehleinschätzungen, zumal die Vollstreckungsbeamten keine studierten Juristen sind." Zustimmend Spendel, LK, 10. Aufl., Rdn.67 zu §32: „Ob der einfache Polizeibeamte, der im Krankenhaus zwecks Blutentnahme bei dem einer Trunkenheitsfahrt Verdächtigen nach einem Arzt gefragt hat, den noch nicht bestallten (früher: approbierten) Mediziner tatsächlich dafür hält, weil dieser auf die Nachfrage hin erschienen ist und sich als „Doktor . . v o r g e s t e l l t hat, oder ob er den Medizinalassistenten, der sich als solcher zu erkennen gegeben hat, rechtlich ebenfalls als „Arzt" ansieht, weil er als Polizist eine falsche Rechtsvorstellung von diesem Begriff des §81 a StPO hat, macht keinen wesentlichen Unterschied." 29 Lenckner in: Schönke/Schröder StGB, 22. Aufl., Rdn. 86 vor §32. 30 Spendel, aaO, Rdn. 68 zu §32 m.w.Nachw., ferner Amelung, JuS 1986, 329/334 f.
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ten äußeren Anzeichen genügen"31, daß bei der Anscheinsgefahr „Rechtmäßigkeit trotz materieller Unrichtigkeit" gegeben sei32. In der Illusion befangen, das Anscheins- und Verdachtsproblem sei eine Besonderheit des Gefahrenbegriffs und auf diesen zu beschränken, in Verkennung dessen, daß die Bejahung der Anscheinsgefahr zur Hinnahme jeden Anscheins nötigt, merken die betreffenden Autoren nicht, daß sie dem Staat mit der einen Hand zurückgeben, was sie ihm mit der anderen gerade entreißen wollten33. V. Zur Argumentation der herrschenden Lehre mit dem Gefahrenbegriff Die Einsicht in die Allgemeinheit des Problems ist jedoch kein zwingender Grund, die weit verbreitete Argumentation mit dem Gefahrenbegriff nicht wenigstens teilweise kritisch zu mustern und gleichsam systemimmanent auf ihre Schlüssigkeit zu untersuchen. 1. a) Dabei muß, vor jeder Erörterung zum Anschein und zum Verdacht einer Gefahr, erst der Gefahrbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts selbst präzisiert werden. § 2 Nr. 1 a des Nds. SOG definiert die Gefahr als „eine Sachlage, bei der . . . die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, daß in absehbarer Zeit ein Schaden . . . eintreten wird". Hier wird, wie auch sonst durchweg, mit dem Begriff der 'Wahrscheinlichkeit operiert. Untrennbar mit diesem verbunden ist der Begriff der Möglichkeit. Wahrscheinlich und möglich, Begriffe, mit denen die Polizeirechtsdogmatik recht unbefangen zu jonglieren pflegt34, wie stehen sie zueinander? Ihnen beiden ist gemeinsam, daß sie zwischen zwei Polen liegen, nämlich zwischen „ausgeschlossen" (oder „unmöglich") und „sicher" (oder „gewiß"). Sie unterscheiden sich darin, daß nur „wahrscheinlich" ein steigerungsfähiger Begriff ist. Etwas kann recht, sehr oder außerordentlich wahrscheinlich sein und wahrscheinlicher als etwas anderes, aber nicht recht, sehr oder außerordentlich möglich oder 31
Spendet, Rdn. 69. " Schünemann, JA 1972, 710, ihm folgend H. Wagner, JuS 1975, 224/226 bei Fn.29. Ebenso Thiele, JR 1975, 353, Ostendorf, JZ 1981, 165/153 und Amelung, JuS 1986, 329. 33 Aus der oben (bei Fn.30) zitierten Wendung von Spendet geht nicht mit letzter Sicherheit hervor, ob er die Anscheinsgefahr anerkennt. Wenn ja, dann wäre es zumindest beim Polizeibeamten nutzlos, so energisch - und prinzipiell zutreffend - wie Spendet in Rdn. 66 die rechtfertigende Putativnotwehr des Beamten zu bekämpfen; man gelangt ja über die Anscheinsgefahr doch zur Rechtmäßigkeit. 34 Vgl. auch den - eher zu mild formulierten - Befund von Darnstädt (Fn. 3), S. 26: Die Definitionen des Gefahrbegriffs mit Hilfe der Wahrscheinlichkeit und der Möglichkeit „regieren die Literatur so friedlich nebeneinander, daß die Vermutung besteht, die Dogmatiker des besonderen Polizeirechts wollten mit diesem unterschiedlichen Sprachgebrauch überhaupt keine verschiedenen Standpunkte einnehmen".
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möglicher 35 . Weiterhin ist zwar alles Wahrscheinliche möglich, aber eben auch noch das Nicht-Wahrscheinliche oder Unwahrscheinliche. Die Wahrscheinlichkeit kann also den Bereich des Möglichen nur teilweise abdecken 36 . Es liegt nahe, auf einer Skala zwischen null (= ausgeschlossen/unmöglich) und eins (= sicher) den Bereich der Wahrscheinlichkeit oberhalb 0,51 anzusetzen. Dem fügt sich die Umschreibung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit dahingehend, es müsse nach der Lebenserfahrung mehr für als gegen den Eintritt des Schadens sprechen 37 . Jedoch ist ein so enges Verständnis der Wahrscheinlichkeit im Polizeirecht ungebräuchlich 38 . Die allgemein übliche weite Auffassung von diesem Begriff kann sich insoweit auf eine Sprachunschärfe berufen, als wir auch dort von „sehr" oder gar „äußerst geringer Wahrscheinlichkeit" oder von „sehr wenig wahrscheinlich" reden, wo wir in Wahrheit den Bereich des Nichtmehrwahrscheinlichen, also des Unwahrscheinlichen kennzeichnen wollen. Offenbar haben wir keinen passenden Ersatzbegriff zur Graduierung der Möglichkeit, so daß die Wahrscheinlichkeit universell eingesetzt wird, d. h. auch in dem von ihr recht eigentlich gar nicht erfaßten Bereich. Auch dort, w o wir bei Konfrontation mit der Frage: Wahrscheinlichkeit, ja oder nein? uns ohne Zögern für „nein" entscheiden würden, bejahen wir gleichwohl die Wahrscheinlichkeit, freilich mit dem - im Grunde paradoxen - Adjektiv „minimale". Die h. L. faßt die als maßgeblich erachtete „hinreichende Wahrscheinlichkeit" so weit, daß darunter auch die „entfernte" oder „entferntere Möglichkeit" fällt, die bei einem sehr erheblichen Schaden anerkanntermaßen eine Gefahr begründen kann 39 . Im Grunde muß aber selbst die 35
Neil (Fn. 3), S. 122. Vermutlich anders, aber insgesamt nicht unzweideutig genug, Neil (Fn. 3), S. 121 f. 37 Schumann, Grundriß des Polizei- und Ordnungsrechts, 1978, S. 30; die Definition ist ersichtlich viel zu eng. 38 Vgl. schon Scholz, VerwArch. 27, 1/29. 39 a) Beispielsweise rechnet Martens, S. 224, auch die „entferntere Möglichkeit" noch zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Ebenso wird die entfernte Möglichkeit klassifiziert bei Friauf in: von Münch (Hrsg.) Bes. VerwR, 7. Aufl. 1984, S. 181/202; Schenke, in: Steiner (Hrsg.), Bes. VerwR, 2. Aufl. 1986, S. 143 ff, Rdn. 29 und 34, und in der sonstigen Literatur sowie beim BVerwG, insbesondere in N J W 1970, 1890/92: „Das bedeutet, daß bei der Gefahr besonders großer Schäden ausnahmsweise zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit' in der erwähnten Faustformel auch die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts gehört." Ein Satz zuvor hieß es freilich, in solchen Konstellationen könne der Schaden nur „entgegen aller Wahrscheinlichkeit" eintreten! Also gemäß hinreichender Wahrscheinlichkeit entgegen aller Wahrscheinlichkeit? b) Götz (Fn. 8), Rdn. 117, trennt zwischen hinreichender Wahrscheinlichkeit und entfernter Möglichkeit, bei der er aber in den allgemein anerkannten Ausnahmefällen die Polizei gleichfalls für eingriffsbefugt hält. Wie das bei Definition der Gefahr mit Hilfe der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gehen soll, erfährt man nicht. 36
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„sehr entfernte Möglichkeit" - unterstellt, das „sehr" lasse sich messen in extremen Fällen die Annahme einer Gefahr rechtfertigen. Wenn gegen Risiken der Atomenergie nur mit einer Generalklausel der Gefahrenabwehr vorgegangen werden müßte, wären zumindest leicht vermeidbare Apparaturen, Bauweisen oder Anordnungen, die nur eine sehr, sehr entfernte Möglichkeit sehr großer Strahlenschäden in sich bergen, verbietbar. In Anbetracht dessen macht es nicht sehr viel Sinn, „hinreichende Wahrscheinlichkeit" und „Möglichkeit" voneinander abzugrenzen und zu betonen, die bloße Möglichkeit eines Schadens begründe keine Gefahr. Das Subsumieren unter den Gefahrenbegriff bedeutet ja noch kein Zugriffsrecht der Behörden. Bei einer sehr entfernten Möglichkeit eines geringen Schadens wird schon bei mittlerer Eingriffsschwere 40 das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfehlt41. Darüber hinaus kann man mit guten Gründen das öffentliche Interesse42 am behördlichen Einschreiten verneinen. Ein weiter Gefahrenbegriff zieht also nicht zwangsläufig die Gefahr eines Polizeistaats nach sich43. Von hier aus ist es hinnehmbar, wenn im Schrifttum häufig die Gefahr schlicht mit der Möglichkeit eines Schadens umschrieben bzw. Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit gleichgesetzt werden 44 .
Ähnlich Schumann (Fn. 37), S. 30 f, der zwar die entfernte Möglichkeit noch zur Wahrscheinlichkeit rechnet, aber nicht zu der gefahrenbegründenden „hinreichenden Wahrscheinlichkeit". Auch bei ihm muß man sich fragen, wo dann die Eingriffsermächtigung liegt. Auch Wolff/Bachof, VerwR III, 4. Aufl. 1978, §125 Rdn.25, sondert Wahrscheinlichkeit und entfernte Möglichkeit. 40 Sie ist in diesem Zusammenhang ein drittes, nicht zu vernachlässigendes Kriterium. Vgl. hierzu Scholz, VerwArch. 27, 1/27 f, und Hansen-Dix (Fn.5), S. 38 ff. 41 Vgl. Erichsen, W D S t R L 35, 187 Fn. 102: „Es dürfte sich in der Tat empfehlen, den Gefahrenbegriff im Wege teleologischer Extension für die Möglichkeit eines Schadenseintritts zu öffnen und gegenüber dem bisherigen Verständnis zu erweitern . . . Die Möglichkeit der Gegensteuerung liegt dann im Rechtsfolgebereich, wo das Verhältnismäßigkeitsprinzip seine freiheitsichernde Wirkung entfalten kann." 42 Hierzu Martens, S. 228 ff. 43 Dies gegen Darnstädt (Fn. 3), S. 72. 44 a) Beispielsweise umschreibt Schenke (Fn. 39), Rdn. 28, die Gefahr als Sachlage, „die im Einzelfall erkennbar die objektive Möglichkeit eines Schadens in sich birgt", wozu er in einer Fn. § 2 Nr. 1 a Nds.SOG zitiert, wo aber statt von Möglichkeit von „hinreichender Wahrscheinlichkeit" die Rede ist. In Rdn. 34 identifiziert Schenke dann Möglichkeit mit „gewisse Wahrscheinlichkeit". Gleich anschließend wird die Ausgangsdefinition dahingehend eingeschränkt, daß nun doch nicht jede Möglichkeit ausreichen soll; unzureichend ist „eine nur ganz entfernte und unwahrscheinliche Möglichkeit". b) Nicht ganz klar auch Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 8.Aufl. 1986. Einerseits: „Eine Gefahr liegt vor, wenn der Schaden in der Zukunft eintreten könnte." (Rdn. 132.) Andererseits: „Die Gefahr muß . . . ,bestehen'". Eine Gefahr besteht nur, wenn die Schädigung hinreichend wahrscheinlich ist." (Rdn. 133.)
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b) Während wir uns bislang an dem auf null zulaufenden Ende der Skala bewegt haben, erweist sich am anderen Ende das allgemein übliche Abstellen auf die Wahrscheinlichkeit insofern als zu eng, als zweifelsohne auch45 der sichere Schadenseintritt zu verhindern ist, die Sicherheit eines Ereignisses aber jenseits der Wahrscheinlichkeit liegt46. Die zu enge Definition nötigt also zu einem Schluß a minore ad maius.
c) Gefahr als (objektive) Möglichkeit eines Schadens findet man auch beispielsweise bei Kuhn, SH LVwG, 1968, Anm. 11 zu §171, und Rietdorf/Heise/Böckenförde/Strehlau, Ordnungs- und Polizeirecht in NW, 2. Aufl. 1972, § 1 OBG, Rdn. 5. d) BVerwG, DVB1. 1969, 586, auf das sich das Schrifttum vielfach berufen hat, umschreibt die Gefahr mit der objektiven Möglichkeit eines Schadens. Das beruht auf einer Verkürzung von PrOVG 77, 332/338. Die vielzitierte Entscheidung führte aus: „Die polizeirechtliche Gefahr stellt sich dar als eine die erkennbare objektive Möglichkeit eines Schadens enthaltende Sachlage, der nach verständigem Ermessen vorzubeugen ist (Scholz, ,Die polizeirechtliche Gefahr' im VerwArch. 27, 35)." Bei Scholz lautet der Relativsatz freilich so: „ . . . der - unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts und des Wertes des bedrohten Gutes einerseits, sowie der Interessen an der Nichtverhinderung der Schadensmöglichkeit andererseits - nach verständigem Ermessen vorzubeugen ist." Allerdings läßt auch noch das Kriterium der Vorbeugung „nach Maßgabe verständigen Ermessens" deutlich genug erkennen, daß nicht jede Möglichkeit eines Schadens schon als eine Gefahr bezeichnet werden soll. Das geht bei der Verkürzung durch das BVerwG verloren. e) Darnstädt (Fn. 3), S. 24 ff, versucht die objektive Möglichkeit des Schadenseintritts einem „allgemeinen" Gefahrenbegriff - der die Aufgaben bestimmt - zuzuweisen, die hinreichende Wahrscheinlichkeit hingegen der Gefahr in einer Eingriffsermächtigung. Ganz ähnlich die Konzeption von Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 1985, Rdn. 61 ff. 45 In der Literatur wird häufig der falsche Eindruck erweckt, nur bei sicherem Schadenseintritt sei eine Gefahr gegeben. So definiert beispielsweise Friauf (Fn.39), S. 201, Gefahr als „Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf erkennbar zu einem Schaden . . . führen würde". Friauf bezeichnet das ganz zu Unrecht als „klassische Formulierung des PrOVG, die noch heute als maßgeblich gilt". Seine hierfür angebotenen Belege sind alle unergiebig. Die Definition von Friauf wird (mit einem „führt" statt „führen würde") bspw. von Saipa, Nds.SOG, 1982, Anm. 1.1 zu §2, samt den falschen Belegstellen unter zusätzlicher und ebenso unzutreffender Berufung auf Martens und Götz übernommen. Unpräzise auch bspw. Samper/Honnacker, Bay.PAG, 13. Aufl. 1984, Anm. 3 zu Art. 2: „Gefahr im engeren Sinne ist ein Zustand, der nach verständiger, auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhender Beurteilung in nächster Zeit den Eintritt einer Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erwarten läßt." Ebenso Wöhrle/Belz, PolG für BW, 4. Aufl. 1985, Rdn. 7 zu §1. Ganz ähnlich Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 1981, S. 33, und Knemeyer, (Fn.44), Rdn. 61. Das Verfehlte dieser Definition erweist sich auch, wenn man sie auf Alltagsfälle wie eine gefährliche Autofahrt oder Erkrankung bezieht. Eine gefährliche Krankheit läßt keineswegs in nächster Zeit den Tod erwarten; das trifft nur auf die tödliche Krankheit zu. 46 Vgl. auch Neil (Fn.3), S. 121 f. Unzutreffend daher Hansen-Dix (Fn.5), S.35: Wahrscheinlichkeit als Maß für den Grad der Sicherheit.
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2. Wie ist es nun um die Schlüssigkeit der h. L. bestellt, wonach Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht echte Gefahren sind? Unbezweifelbar ist, daß diese Begrifflichkeit nur eine polizeirechtsspezifische sein kann und den Sprachgebrauch des Alltags verfehlt. Wenn ein Arzt für möglich hält, daß eine Verschattung im Röntgenbild von einem Karzinom herrührt, hat er den Verdacht auf eine Lebensgefahr. Würde er bei diesem Befund über den Patienten sagen, dieser sei in Lebensgefahr, oder gar später nach einer Entkräftung des Verdachts, der Patient sei in Lebensgefahr gewesen, zöge das zu Recht nur Kopfschütteln über soviel sprachliche Unlogik nach sich. Nichts anderes gälte, wenn eine Fehldiagnose vorliegt, an die der Patient glaubt. Dann wähnt er sich in Lebensgefahr, er ist es aber nicht, und er würde nach Widerruf der falschen Diagnose über die Behauptung staunen, während vier Wochen habe bei ihm Lebensgefahr bestanden. Bestanden hat vielmehr nur der Anschein einer Lebensgefahr, und danach richtet sich der übliche Sprachgebrauch ganz selbstverständlich' 17 . Ganz offenkundig wird damit das Nebeneinander einer objektiven und einer subjektiven Gefahr 48 zugrunde gelegt. Gefahr meint - wie dargelegt - eine Sachlage, aufgrund derer die Entstehung eines zukünftigen Schadens sicher oder möglich ist. Wenn eine Schadensverursachung objektiv unmöglich ist, wie der Tod infolge eines falsch gedeuteten Schattens, fehlt es an einer objektiven Gefahr, und für den Glauben an bestimmte schadensstiftende Fakten bleibt nur die eingebildete, mithin subjektive Gefahr übrig. Abwegig wäre jede Erwägung etwa dahingehend, bei der Gefahreneinschätzung gehe es um Wahrscheinlichkeitsurteile, die immer an ein urteilendes Subjekt gebunden seien, weshalb auch die Gefahr nur subjektgebunden begriffen werden könne. Denn Unmöglichkeit, die jede Gefahr zunichte macht, ist eine objektive Größe 4 9 . O. Schneider50 will mit Hilfe eines Beispiels unwiderleglich beweisen, daß man Gefahr nicht objektiv verstehen dürfe. Dieses Beispiel hat zwei Varianten, die beide im Tatsächlichen (objektiv) gleich sind, sich aber im Wissen des eingreifenden Polizisten (subjektiv) unterscheiden. Wenn 47 Entgegen Götz (Fn. 8), Rdn. 127, war eine Schneemasse für einen Ort nicht gefährlich, wenn sie als Lawine auf der anderen Seite des Berges abging und - wie sich danach erweist - nur dort abgehen konnte. Vielmehr schien sie gefährlich. Der Fall gleicht weitläufig dem, daß ein Pilot von seinen Instrumenten genarrt wird und an einen extremen Treibstoffverlust glaubt. Dann wähnt er sich in der Gefahr des Absturzes wegen Treibstoffmangels, jedoch besteht eine solche Gefahr nicht. 48 Vgl. hierzu Martens, S.223; Neil (Fn.3), S.76f.; Samper, Bay.PAG, 4. Aufl. 1975, Rdn. 33 zu Art. 2. 49 Mit Selbstverständlichkeit wird deshalb häufig die Gefahr mit der objektiven Möglichkeit eines Schadens umschrieben, vgl. Fn. 44. Abweichend Murswiek (Fn.2), S.388. 50 DVB1. 1980, 406/407.
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sich herausstelle, daß nur in einer Variante eine Gefahr vorliege, sei ihre Verknüpfung mit der (allein variierten) subjektiven Einschätzung bewiesen. A, heimlich von P beobachtet, kündigt gegenüber einem Freund an, er werde einen einzigen Schuß auf den Fußgänger F abgeben. In seinem sechsschüssigen Revolver hat A eine einzige Patrone nach Art des „Russischen Roulettes" geladen, d. h. die Trommel blind gedreht. Daß die Kugel unten, also nicht im Lauf steckt, kann in der ersten Variante jedermann, also auch der P, erkennen. Hier liege keine Gefahr für das Leben des F vor. Das ist richtig. In der zweiten Variante kann die Lage der Kugel von niemandem geortet werden, P ist also im Ungewissen. Schneider meint nun: „Hier stimmen alle überein, daß eine Gefahr vorliegt. Nur wer für die objektive Gefahr die Gewißheit des Schadenseintritts verlangen würde, müßte eine Gefahr verneinen und bloßen Gefahrenverdacht annehmen. So weit geht aber niemand. Das Russische Roulette ist gefährlich, nicht bloß gefahrenverdächtig." Dem ist zu widersprechen. Zu beanstanden ist zunächst die - dem Verfasser günstige - Schwammigkeit des letzten zitierten Satzes: Es geht nicht um die Gefährlichkeit „des Russischen Roulettes", sondern um die Gefährlichkeit des einen Drucks auf den Abzug. Und hinsichtlich dieser Handlung mußte man zwar für möglich halten, daß sie eine Patrone zündete und dadurch eine Lebensgefahr herbeiführte, mußte also an eine Gefahr denken, es bestand folglich Verdacht auf eine Gefahr. Aber da objektiv eine Verletzung des F gar nicht möglich war, fehlte es an einer Wahrscheinlichkeit des Schadens und damit an einer Gefahr. Deshalb würde es der F wohl auch gar nicht verstehen, wenn man ihm erklärte: „Eben wurde aus einem leeren Revolver auf Sie abgedrückt, also waren Sie in Lebensgefahr!" 3. Von diesem allgemein üblichen Verständnis des Gefahrenbegriffs weicht das der - fast unangefochten - herrschenden Lehre entscheidend ab. Gefahrenverdacht und Anscheinsgefahr sind ihr zufolge Erscheinungsformen der Gefahr 51 . a) Ersichtlich kann jedoch bei der Gleichung: Anschein einer Gefahr = Gefahr nicht auf beiden Seiten derselbe Gefahrenbegriff gelten. Die reale Existenz und der Anschein einer Sache sind ja logisch zweierlei; „es regnet" ist nicht identisch mit „anscheinend regnet es". Auf der linken Seite der Gleichung muß folglich das allgemeine Verständnis von Gefahr zugrunde gelegt werden, auf der rechten Seite das polizeirechtliche, 51 Abweichend nur Götz (Fn.39), R d n . l 2 5 f f , sowie NVwZ 1984, S.211/214, und Kickartz (Fn. 5), passim, der bei einem Irrtum zur Rechtswidrigkeit des Polizeihandelns gelangt (S. 157), hingegen Gefahrerforschungseingriffe für zulässig hält. Die Begründung hierfür hat sich mir nicht ganz klar erschlossen.
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juristische. Gefahr im Sinne des Polizeirechts wäre demnach eine reale oder eine für möglich erachtete oder eine in vertretbarer Weise eingebildete Sachlage, aus der sich zukünftig ein Schaden entwickeln wird oder entwickeln kann, wobei der h. L. zufolge entfernte Möglichkeiten je nach Intensität des drohenden Schadens außer Betracht bleiben. Die h. L. würde kürzer - aber anfechtbarer — formulieren: . . . Sachlage, aus der sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden ergibt. b) Dieses Ergebnis der h. L. hat man durch subtilste Untersuchungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff 52 zu untermauern gesucht. Dabei wird insbesondere darauf hingewiesen, daß bei der Gefahrenprognose ein Wahrscheinlichkeitsurteil erforderlich sei und es sich deshalb anbiete, ein solches auch hinsichtlich des schadenstiftenden Sachverhalts anzuerkennen. Das überzeugt aber nicht. Erstens sind das prognostische, auf den zukünftigen Schaden bezogene, und das diagnostische, dem gegenwärtigen Sachverhalt geltende Wahrscheinlichkeitsurteil" zweierlei 54 . Zweitens muß es bei der überaus häufigen Sicherheit des Schadenseintritts gar kein prognostisches Wahrscheinlichkeitsurteil geben 55 . Und drittens liegt ein diagnostisches Wahrscheinlichkeitsurteil überhaupt nur beim Gefahrenverdacht, jedoch nicht bei der Anscheinsgefahr vor. Im übrigen ist es ohne Ertrag, sich mit den sonstigen Darlegungen zum Wahrscheinlichkeits- und Gefahrenbegriff und mit den darin enthaltenen Fehlschlüssen auseinanderzusetzen. Die ganze kunstvolle Beweisführung zur Gefahr ist ja bei der von den betreffenden Autoren ignorierten Anscheins5io'r««g weithin nutzlos und kann daher zur Lösung des - eben nicht auf die Gefahr beschränkten - Problems insgesamt überhaupt nichts beitragen 56 .
52 Insbesondere Damstädt und Neil (Fn. 3), in minderem Umfang auch Murswiek (Fn.2), S. 384 ff. 53 Ausdrücke von Hoffmann-Riem (Fn. 3), S.328. 54 Vgl. aber oben Fn. 9. 55 Um ein beliebiges Beispiel zu nehmen: Wenn ein Polizist wegen eines überlauten Radios bemüht wird, kann er im Moment des Einschreitens meist sicher sein, daß auch in der nächsten Zukunft (und das sind schon die nächsten Sekunden) ein (Lärm-)Schaden entstehen wird; die Möglichkeit des Stromausfalls (und auch die nur bei einem netzgespeisten Gerät) kann hier außer acht bleiben. W o Gummireste verbrannt werden, ist es sicher, daß ohne die Verbotsverfügung weiterhin ein Schaden entstehen wird. Interessanterweise begreifen wir solche Fälle unter den „alten" Gesetzen als Störung, bei der es von vornherein auf prognostische Wahrscheinlichkeitsurteile nicht ankommt. Nach den neueren Gesetzen, die nur noch auf die Gefahr abheben, ist hier auf den sicheren zukünftigen Schaden = die Gefahr abzustellen, gleichfalls ohne prognostisches Wahrscheinlichkeitsurteil. 56 Anders und unzutreffend Hoffmann-Riem (Fn.3), S.331, der zwar die Anscheinsstörung bedenkt, jedoch behauptet: „Die Tatbestandsmerkmale ,Gefahr, Störung' u.ä. verweisen auf notwendige Wahrscheinlichkeitsurteile." Das ist hinsichtlich der Anscheins-
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c) Ist es nun gerechtfertigt, im Polizeirecht auf den Gefahrbegriff der h. L. statt auf den sonst üblichen abzustellen? Das weitläufige Problem einer zulässigen Divergenz zwischen dem tagtäglichen und dem juristischen Sprachverständnis, dem nicht nur Prinzipien der Auslegungsmethodik, sondern auch das der Gesetzmäßigkeit und der Normbestimmtheit entgegenstehen können, muß hier nicht aufgerollt werden". Denn eine solche Divergenz hat jedenfalls dann grundlegende Bedenken gegen sich, wenn in demselben Gesetz, das angeblich mit dem Begriff der Gefahr stillschweigend auch Anschein und Verdacht meint, diese beiden Merkmale vielfach ausdrücklich aufgeführt werden. Die neueren Gesetze bedienen sich hierbei überwiegend der Wendung „Wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen". Beispielsweise darf eine Person gefesselt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie fliehen wird58, und Schußwaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, u. a. um eine fliehende Person festzunehmen, die eines Vergehens dringend verdächtigt ist und wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie Schußwaffen oder Explosivmittel bei sich führt59. Wie in anderen Vorschriften auch, bezieht sich hier die Annahme mal auf Zukünftiges, mal auf Gegenwärtiges, jedenfalls dem Wortlaut zufolge. Die Annahme gegenwärtiger Tatsachen (im Beispiel das Mitführen von Schußwaffen) deckt den Anschein eines Faktums (Grundlage einer Anscheinsgefahr), muß aber auch den begründeten Verdacht erfassen. Denn es wäre widersinnig, „Annahme" mit Fürgewißhalten gleichzusetzen; ein Beamter muß auch dann handeln können, wenn er ein Faktum nur für hochwahrscheinlich hält60. Die (feste) Annahme von Zukünftigem - im obigen Beispiel: die Flucht - ist gleichfalls ein zu enges Kriterium, weil ein Fürsicherhalten (der Flucht) vernünftigerweise nicht erfordert sein kann, ein Fürwahrscheinlichhalten muß genügen. Insoweit fallen die neueren Gesetze hinter weit zutreffenderen älteren Formulierungen zurück: „Wenn besondere Umstände die Besorgnis begründen, daß sie (die Person) sich . . . befreien wird" 61 oder „wenn bei Würdigung aller Tatsachen zu befürch-
störung nicht haltbar; bei ihr geht es nicht um Fürwahrscheinlichhalten, sondern um ein Fürwahrhalten. - Bei Hoffmann-Riem fließen allerdings Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ineinander, vgl. das Zitat in Fn. 73. 57 Hierzu Larenz, Methodenlehre, 5. Aufl. 1983, S. 196, 305 ff; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 189 ff. 58 § 5 3 N d s . S O G = Art. 44 B a y . P A G = § 4 0 N W PolG. 59 § 55 I Nr. 3 b N d s . S O G = Art. 46 I Nr. 3 b B a y . P A G = § 4 2 I Nr. 3 N W PolG. 60 Unzureichend ist es andererseits, wenn er den Waffenbesitz nur ganz entfernt für möglich hält. W o genau die Grenze liegt, läßt sich schwer sagen. " § 2 3 I Buchst, b) H b g . S O G .
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ten ist, daß er sich . . . befreien wird" 62 . Bei genauerem Hinsehen bezieht sich die Annahme auch hier fast stets auf „Gegenwärtiges", nämlich den bereits vorhandenen Vorsatz eines Menschen zur späteren Störung. Wenn man diesen Vorsatz für gewiß hält (Annahme im strengen Sinne), dann deckt das Gesetz hier auch die Anscheinsgefahr, wobei allerdings meist nur der potentielle Täter wissen kann, ob Gefahr bestand oder es nur so schien. Wenn man den Vorsatz nur für wahrscheinlich hält (gebotener weiter Begriff der Annahme), dann wird dadurch der Gefahrenverdacht erfaßt. Die Wendung von den Tatsachen, die eine Annahme rechtfertigen, findet sich noch in den Vorschriften über die Identitätsfeststellung 63 , die Durchsuchung von Sachen und Personen 64 und das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen 65 . Sie zielt allein auf den Fall einer falschen Annahme, andernfalls wäre sie entbehrlich. Da aber der h. L. zufolge einer als Eingriffsvoraussetzung erforderten Tatsache schon ihr Anschein, also auch die falsche Annahme dieser Tatsache, gleichsteht, müßte daraus eigentlich geschlossen werden, daß der Gesetzgeber Überflüssiges getan hat. Beispielsweise erlaubt § 2 5 I Ziffer 2 c Hbg.SOG den Schußwaffengebrauch bei der Festnahme einer Person, „die sich der Festnahme . . . durch die Flucht zu entziehen versucht, wenn sie eines Vergehens dringend verdächtigt ist und Anhaltspunkte befürchten lassen, daß sie von einer Schußwaffe oder einem Sprengstoff Gebrauch machen werde". Danach darf ein Polizist auf einen flüchtenden Dieb schießen, den er beim Einstecken einer Pistole beobachtete, ohne erkennen zu können, daß es sich um ein Waffenimitat handelte. Wie aber ist die Rechtslage, wenn der stehengebliebene Dieb auf das Kommando „Hände hoch!" die Arme zwecks Ergebung so rasch hochreißt, daß der Polizist dies als Widerstandsversuch mißdeutet und schießt? Dann fehlt es am Tatbestandsmerkmal „durch die Flucht zu entziehen versucht". Für die h. L. ist das jedoch ganz unschädlich, weil hier auch der vertretbare Anschein eines solchen Merkmals genügt 66 . Sie liest die zitierte Passage einfach als:
§ 8 Nr. 2 B U Z w G . § 12 I Nr. 2 a, 3 Nds.SOG = § 9 I Nr. 2 N W PolG = Art. 12 I Nr. 2 a, 3 Bay.PAG. 64 § § 2 0 I Nr. 2 und 5, 21 I Nr. 1 - 3 und 5 Nds.SOG = §§ 17 I Nr. 2 und 5, 18 I Nr. 1 - 3 und 5 N W PolG = Art. 20 I Nr. 1 und 4, 21 I Nr. 1 - 3 und 5 Bay.PAG. 45 § 2 2 II Nr. 1 und 2, III, V Nr. 1 Nds.SOG = § 19 I Nr. 1 und 2, III N W PolG = Art. 22 I Nr. 1 und 2, III Nr. 1 Bay.PAG. 66 Das ist kaum zweifelhaft, auch wenn man selten auf die ausdrückliche Feststellung trifft, daß auch der Anschein eines zur Vollstreckung ermächtigenden Tatbestandsmerkmals genügt. Außer Triffterer (oben II) weist darauf nur Schumann (Fn. 37), S. 170, hin, Lobsei van der Felden, JuS 1975, 580 ff, und Moll, JuS 1976, 44 ff, praktizieren es - recht unreflektiert - in einer Fallösung. 62
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„ . . . eine Person, hinsichtlich derer Anhaltspunkte befürchten lassen, daß sie sich der Festnahme durch die Flucht zu entziehen versucht" 67 . Wenn das jedoch so einfach ginge, hätte der Gesetzgeber hinsichtlich des Waffengebrauchs auch nur formulieren müssen „ . . . und die Gefahr eines Schußwaffengebrauchs besteht". Noch kein Vertreter der h. L. hat je eine Erklärung dafür angeboten, aufgrund welcher Auslegungsgrundsätze diese sehr bewußte Differenzierung des Gesetzgebers zwischen Fakten und der bloßen Annahme von Fakten eingeebnet werden darf. Sollte dafür die - oftmals gewiß richtige - Feststellung ausreichen, daß die Differenzierung unüberlegt vorgenommen wurde 68 ? Ich meine, nein. Ebensowenig überzeugt die gelegentlich anzutreffende Annahme 69 , mit der ausdrücklichen Normierung des Gefahrenverdachts ziehe der Gesetzgeber nur „die Konsequenzen aus der verbreiteten Auffassung, der Gefahrverdacht sei keine Gefahr im Sinne des Polizeirechts". Denn so verbreitet ist die Auffassung gar nicht, und wie wenig Absicherungsbedürfnis man empfunden hat, zeigt sich an der erstaunlichen Indolenz des Musterentwurfs gegenüber Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht, für die man einen Regelungsbedarf schlicht verneinte70.
67 Der Sachverhalt ist zugleich noch unter § 25 I Nr. 1 H b g . S O G zu subsumieren. Auch dort, bei der Schußwaffengebrauchserlaubnis, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung einer rechtswidrigen Tat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt", muß an sich eine rechtswidrige Tat bekämpft werden, nicht nur deren Anschein. (Die Wendung von „den Umständen nach" bezieht sich nur auf die Klassifizierung der objektiv vorliegenden Straftat als Verbrechen.) Die h. L. muß jedoch erneut erweiternd auslegen, um Tatsache und Anschein gleichzubehandeln. Konsequenterweise muß das dann auch für die in §25 II Hbg.SOG angesprochene Notwehr gelten: die Anscheinsnotwehr des Polizisten rechtfertigt. Damit wird die überwiegende Strafrechtslehre bestätigt, die mittels des sogenannten strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs zum selben Ergebnis gelangt und damit zur Ungleichbehandlung im Vergleich zu einem Nichtbeamten, dessen Glauben an eine Notwehrlage bestenfalls den Vorsatz ausschließt. Vgl. auch schon oben IV a. E. 68 Ein weiteres Beispiel für solche Ungereimtheiten bieten die §§ 1 II und 1 a M E = § 1 I 2 und II N W PolG = § 1 II und III Nds.SOG, wonach die Polizei zuständig ist, wenn die Gefahrenabwehr durch eine andere Behörde „nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint" und wenn gerichtlicher Schutz „nicht rechtzeitig zu erlangen ist". Ein Grund für diese Verschiedenbehandlung ist nicht ersichtlich, die Annahme absurd, der Irrtum über die Erreichbarkeit eines Richters mache eine sichernde Polizeimaßnahme rechtswidrig. Die Systemlosigkeit erhellt aus der Begründung zu § 1 II des M E : „Die Vorschrift verdeutlicht für den Bereich ,Schutz privater Rechte' die subsidiäre Zuständigkeit der Polizei, wie sie in § 1 a allgemein geregelt ist." Daß allgemeine und spezielle Regelung divergieren, wurde offenbar überhaupt nicht wahrgenommen. " Hansen-Dix (Fn. 5), S. 67, Fn. 226. Das dort gewählte Beispiel eines Bundesgesetzes (§ 10 I BSeuchenG) läßt im übrigen keinen Rückschluß auf den Willen der Landesgesetzgeber zu. 70 Das ist nicht nur - was ich hier nachzuweisen versuche - dogmatisch gründlich verfehlt. Es zeigt auch einen frappierenden Mangel an Gespür für das, was auch quasi
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VI. Unhaltbarkeit der herrschenden Lehre Die vorstehenden Darlegungen waren der Gefahr gewidmet. Die zuletzt analysierten Beispiele aus der Gesetzgebung haben aber schon Veranlassung gegeben, auch Fälle mitzubedenken, in denen es nicht um eine Anscheinsgefahr oder einen Gefahrenverdacht ging, sondern um Anschein oder Vermutung von Gegenwärtigem. Das erleichtert es, das Thema wieder von dem - letztlich unmaßgeblichen - Gefahrenmerkmal abzulösen und angemessen zu generalisieren: Es geht um die Frage, ob für einen Eingriff das bloße Fürmöglichhalten oder die irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen der Ermächtigungsnorm genügt. Diese Frage kann nicht anders als mit nein beantwortet werden. Ein normatives Tatbestandsmerkmal muß vorliegen, der bloße Glaube der eingreifenden Behörde oder ein Verdacht auf Vorliegen des Merkmals kann nicht genügen71. Wo dergleichen ausreichen soll, und zuweilen ist das unerläßlich, muß das der Gesetzgeber bestimmen, und er hat es vielfach getan. Wer des Mordes verdächtigt ist oder gar den Anschein einer Mordtat erweckt hat, darf in Untersuchungshaft genommen, aber nur wer gemordet hat, darf mit „Lebenslang" bestraft werden. Solange ein Verdachtsmerkmal im Gesetz fehlt, muß das Tatbestandselement objektiv vorliegen72 und die bloße Uberzeugung eines Beamten genügt mitnichten73. Die Einberufung eines zum Wehrdienst Untauglichen ist
sicherheitshalber in ein so grundlegendes Gesetz wie das Polizeigesetz hineingeschrieben werden müßte. Den praktischen wie den Ausbildungswert einer schwarz auf weiß verfügbaren Regelung der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts kann nur ein Dünkel von hochspezialisierten Ministerialbeamten verkennen. 71 Es gibt auch keine Möglichkeit, mittels des in den Generalklauseln enthaltenen „um zu" (nämlich: . . . Maßnahmen, um Gefahren abzuwehren . . . ) schon das Abzielen auf die Bekämpfung von Gefahren, und sei es irrtümlich angenommener, als maßgeblich hinzustellen. Das wäre nicht schlüssig. Die Finalität der Maßnahme kann auch auf ein Faktum gerichtet sein, und ein Gesetz kann dies erfordern. Daß die Polizeigesetze das tun, erscheint mir sicher. Die zu ergreifenden „notwendigen" Maßnahmen haben eine objektivierende Tendenz, erst recht eine Wendung wie „eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr" (§8 1 M E = Art. I I I Bay.PAG). Zudem wäre eine gegenteilige Annahme auch gar nicht im Sinne der h. L., denn dadurch würde auch das Vorgehen bei Putativgefahren uneingeschränkt gerechtfertigt. 72 Spendel, LK, 10. Aufl., Rdn.68 zu §32 m.w.Nachw. (vgl. das Zitat bei Fn.30). n Zutreffend Schünemann, J A 1972, 707 und 709: „Daß eine im Gesetz aufgeführte objektive Eingriffsvoraussetzung nicht durch den guten Glauben des Beamten ersetzt werden kann, steht in verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Hinsicht außer jedem Zweifel. Bei Lichte besehen bedeutet der strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff daher nichts anderes als die praeter legem erfolgende Statuierung einer Duldungspflicht gegenüber nicht grob schuldhaftem, rechtswidrigem Amtshandeln." Unzutreffend hingegen Hoffmann-Riem (Fn.3), S. 330: „Tatsachen werden in unserer Rechtsordnung nicht schon wegen ihres Vorhandenseins, sondern erst aufgrund ihres Bewiesenseins als rechtserheblich anerkannt. Das Bewiesensein knüpft - wie z . B . §286
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rechtswidrig und ex tunc aufzuheben ungeachtet dessen, daß die Einberufungsbehörde schuldlos einem falschen Arztgutachten vertraute. Ein Steuerbescheid ist nicht deshalb rechtmäßig, weil das Finanzamt in vertretbarer Weise, vielleicht aufgrund mißverständlicher Angaben des Pflichtigen, sich über den Steuertatbestand irrte. Und wenn dem Gewerbeaufsichtsamt durch falsche, aber überaus glaubhafte Zeugenaussagen die Unzuverlässigkeit eines Betriebsinhabers suggeriert wurde, ist die Untersagungsverfügung gleichwohl ex tunc als rechtswidrig aufzuheben. All dies ist außer Streit. Aber wenn in § 35 G e w O nur das Erfordernis der Zuverlässigkeit und keine Eingriffsbefugnis stünde, müßte man hierfür auf die Generalklausel zurückgreifen und dann an eine Anscheinsgefahr oder -Störung denken. Warum nur hier und nicht dort, weiß niemand zu sagen. Mit gutem Grund, weil hier ein generelles Problem um behördliches Irren und Fürmöglichhalten bei Tatbestandselementen von Eingriffsnormen ansteht. Auch Triffterer beispielsweise begründet nicht, weshalb statt einer Eingriffsvoraussetzung der gute Glaube an sie ausreichen soll. Er geht vielmehr mit der h. L. von der Rechtmäßigkeit einer Bekämpfung von Anscheinsgefahren aus und rechtfertigt das nur damit, daß beim Anschein einer Gefahr eine „echte Gefahr im Sinne des Polizeirechts" vorliege. Wie mehrfach betont, hilft jedoch das Operieren mit dem Gefahrenbegriff nicht weiter. Man müßte dann auch noch begründen, wieso die nur eingebildete Störung eine echte Störung, mithin der nur eingebildete Normverstoß ein echter Normverstoß ist. Wenn Triffterer auf die ordnungspolitischen Funktionen des Staates und seine Schutzpflichten abhebt, die ein Zuwarten bei unsicherem Sachverhalt nicht erlaubten 74 , so ist das nur von rechtspolitischer Bedeutung.
ZPO deutlich ausspricht, aber auch für das Verwaltungsverfahren anerkannt ist - an die ,Überzeugung* der zur Beweiswürdigung kompetenten Personen an. Die als Maßstab angerufene .Überzeugung' kann nur auf einem Wahrscheinlichkeitsurteil fußen. Ein bestimmter Grad von Wahrscheinlichkeit wird als Wahrheit fingiert. Der Wahrheitsbeweis wird zum Wahrscheinlichkeitsbeweis. Wahrscheinlichkeitsbeweise jedoch sind auf Erfahrungssätze - deren Ermittlung und Anwendung im konkreten Fall - angewiesen." Von hier aus ist mir nicht klar geworden, weshalb Hoffmann-Riem auf S. 336 den Anschein der Verursachung (dazu oben 113) nicht genügen lassen möchte: „Die Polizeirechtsnormen, die eine polizeiliche Haftung an die Verursachung einer Gefahr knüpfen, enthalten keinen Hinweis darauf, daß der nicht den Gewißheitsgrad erreichende Anschein der Verursachung ausreichen soll." Überzeugender dann allerdings: „Auch die teleologische Normenbefragung belegt nicht die Notwendigkeit, den Wahrscheinlichkeitsgrad zu mildern. Die polizeiliche Aufgabe kann auch erfüllt werden, wenn keine Möglichkeit besteht, den Anscheinverursacher in die Rubrik der Störer zu ordnen", nämlich über die Inanspruchnahme des Nichtstörers. 74 S. 393 f.
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Dabei ist es nicht angängig, rechtspolitische Wünschbarkeiten derart in ein Auslegungsergebnis umzusetzen, daß man eine bestimmte „Funktion" des Tatbestandsmerkmals unterstellt und dieser Funktion wegen den guten Glauben an das Tatbestandsmerkmal genügen läßt. So aber verfährt letztlich Frauke Hansen-Dix: „Da es die Funktion gerade des Gefahrbegriffs ist, die Voraussetzungen für polizeiliches Eingreifen so festzulegen, daß ein Ausgleich zwischen dem Schutzinteresse einzelner und der Allgemeinheit, d.h. einem effektiven präventiv-polizeilichen Tätigwerden, und den Belangen des Eingriffsgutes hergestellt wird, erscheint es nur konsequent, dann von einer Gefahr im Sinne der Eingriffsnormen zu sprechen, wenn die Bewertung der maßgeblichen Gesichtspunkte ergibt, daß polizeiliches Eingreifen zur Herstellung eben dieses Gleichgewichts erforderlich ist75." Solche Erforderlichkeit bestehe bei hinreichend begründetem Verdacht, weshalb dann eine Gefahr angenommen werden müsse. Es wäre vordergründig, dieser Deduktion gegenüber einzuwenden, auch diese Verfasserin habe wie andere den Blick fälschlich auf die Gefahr verengt, und alle Operationen mit dem Gefahrbegriff seien letztlich nutzlos, weil es generell um Verdacht oder Anschein bei Tatbestandselementen, nicht nur bei der Gefahr, gehe. Denn bei der zitierten Argumentation läßt sich mit Leichtigkeit beispielsweise die Gefahr gegen die Störung austauschen und aus der „Funktion" des Störungsbegriffs behaupten, bereits der Verdacht auf eine Störung müsse ausreichen. Aber gerade dieser generellen Umpolung von objektiv erforderten Tatbestandselementen in geglaubte oder vermutete ist entschieden zu widersprechen. Wenn es rechtspolitisch angezeigt ist, bereits bei Verdacht auf ein bestimmtes Vorkommnis einzuschreiten, hat das der Gesetzgeber zu normieren. Wenn er es nicht getan, sondern ein tatsächliches Ereignis zur Eingriffsvoraussetzung gemacht hat, dann darf das nicht unter Berufung auf eine angebliche Funktion des Tatbestandes aufgeweicht werden. Sonst wäre von hier an kein Halten mehr. Götz, der auf dem hier abgeschrittenen Terrain sich so vorsichtig bewegt wie kaum ein anderer und der voller berechtigter Vorbehalte gegenüber Anschein und Verdacht einer Gefahr ist, konzediert immerhin: „Der Gefahrerforschungseingriff ist in der Ermächtigung, konkrete Gefahren abzuwehren, sinngemäß mitenthalten76." Das klingt verführerisch plausibel und ist doch bedenklich. Ins Abstrakte gewendet, bedeutet dies: Eine gesetzliche Ermächtigung umfaßt automatisch auch die Befugnis, jenen Sachverhalt zu erforschen, der unter ein Tatbestands-
75 76
Fn.5, S. 66. Götz (Fn. 8), Rdn. 130.
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merkmal der Ermächtigung paßt. Die Brisanz einer so weitgefaßten Formel erkennt man spätestens dann, wenn man sie auf einen Straftatbestand projiziert. Die Ermächtigung, das Verhalten V zu bestrafen, würde dann auch die Befugnis umfassen, V im konkreten Fall zu erforschen. Mit einiger Überspitzung ließe sich dann sagen, daß jedenfalls ein gut Teil von StPO-Befugnissen im StGB schon stillschweigend enthalten ist. Wenn das zu weit hergeholt erscheint, sei der Blick wieder auf das Polizeirecht gelenkt. Ein wichtiger Fall des Gefahrenverdachts ist der, daß man eine böse Absicht nur vermutet, ohne Sicherheit gewinnen zu können. Wie weit sollen hier die in der Generalklausel stillschweigend mitenthaltenen Erforschungsbefugnisse reichen? Was alles darf getan werden, um einen vermuteten Vorsatz zu einer Straftat abzuklären? Dürfte hierzu vielleicht auch gelauscht oder beschattet werden, und wenn ja, wie lange? Dem Gefahrerforschungseingriff muß der Störungserforschungseingriff gleichstehen - nach alten wie nach neuen Gesetzen, in denen ja die Störung von der Gefahr absorbiert wurde. Wegen der Gleichung: Normverstoß = Störung der öffentlichen Sicherheit führt das zum Eingriff zwecks Erforschung von Normverstößen. Sollte dergleichen von der Generalklausel gedeckt sein, ein unschwer zu gewinnender und oftmals naheliegender Verdacht vorausgesetzt? Eine solche Annahme widerspricht den Regeln der Auslegung und den Erfordernissen der Normklarheit. Wenn die Rechtsordnung in unzähligen Vorschriften des speziellen wie des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts besondere Ermächtigungen für Verdachtskonstellationen geschaffen hat77, kann etwas Entsprechendes nicht einfach in die Generalklausel hineingelesen werden. VII. Praktische Folgen Welche praktischen Konsequenzen hat nun das bislang gewonnene Ergebnis, daß Tatbestandsmerkmale von Eingriffsgesetzen objektiv vorliegen müssen und es vorbehaltlich einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht ausreicht, wenn ein Amtsträger an sie nur glaubt oder sie für möglich hält? 1. In einem solchen Fall des bloßen Anscheins oder Verdachts fehlt es an der Ermächtigung für eine Verfügung. Die Rechtswidrigkeit der Verfügung ist ein Makel für die Behörde; über das Gewicht dieses Faktors läßt sich streiten. Die Rechtswidrigkeit führt ferner zur Aufhebung ex nunc, falls die Verfügung vor Erledigung angegriffen werden kann. Schließlich
77
Zu einigen Sonderrechtsermächtigungen Götz, Rdn. 129.
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kann zuweilen die Rechtswidrigkeit auch zur Strafbarkeit führen, jedoch sind das keine praktisch bedeutsamen Fallgestaltungen. 2. Gehorsam durch Befolgung verlangt die rechtswidrige Verfügung kraft ihrer Wirksamkeit in gleicher Weise wie ein rechtmäßiger Verwaltungsakt. Freilich könnte sie entweder generell oder aber nach ihrer Aufhebung rückwirkend der strafrechtlichen Sanktion entbehren 78 . 3. Dem Vollzug der rechtswidrigen, aber wirksamen Verfügung steht nichts entgegen; dieser Vollzug ist bei Beachtung des Vollstreckungsrechts rechtmäßig, der Widerstand eines Betroffenen folglich unzulässig. Diese ganz h. L. wird gelegentlich bestritten. Ostendorf meint, auch die Vollstreckung sei rechtswidrig, falls gegen den vollstreckenden Akt de facto kein Rechtsschutz (insbesondere nach § 8 0 V V w G O ) bestehe". Das würde nicht nur zu größter Rechtsunsicherheit, sondern auch zu dem Ergebnis führen, daß fehlerhafte Verfügungen von Polizeivollzugsbeamten fast niemals rechtmäßig vollzogen werden könnten und Widerstand dagegen fast stets zulässig wäre. Das will mir bei aller Skepsis gegen ein Irrtumsprivileg des Staates wenig sachgerecht erscheinen und entspricht erkennbar nicht dem Willen der Gesetzgeber. Deshalb überzeugt auch der „Konnexitätsgrundsatz" nicht, gemäß dem Knemeyer-80 die Rechtmäßigkeit des polizeilichen (nicht auch des ordnungsbehördlichen) Vollzugs an die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung binden will. 4. Schwierigkeiten ergeben sich freilich bei verkürztem Vollzug. Beispielsweise dispensiert § 2 7 Hbg.VwVG von verschiedenen normativen Vollzugsvoraussetzungen, u. a. „wenn dies zum Schutz der Allgemeinheit oder des einzelnen vor einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist". Zwecks „Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr" darf gem. § 34 13 M E und N W
78 Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte ist bekanntlich ein so problemhaltiger Komplex, daß er hier nicht mitbehandelt werden kann. Ich gehe deshalb davon aus, daß eine Verneinung der Anscheinsgefahr sich nicht allein deshalb verbietet, weil dann Verfügungen nicht ausreichend strafbewehrt wären. 79 J Z 1981, 165/1/2 f. In Fn. 115 beruft sich Ostendorf zu Unrecht auf Thiele, J R 1975, 353/356, der keineswegs so weit geht wie er. Auf S. 173 resümiert Ostendorf: Es „sind nur Vollstreckungsakte rechtsverbindlich, gegen die ein Rechtsbehelf praktisch möglich ist". Damit kann zwecks Vermeidung absurder Ergebnisse nur gemeint sein: . . . , gegen deren Grundverfügung . . . Ähnlich wie Ostendorf offenbar Amelung, JuS 1986, 329/336: „Bei der Vollstreckung von Titeln" (dazu zählen auch Verwaltungsakte) „hat die stärkere Belastung des Bürgers darin ihren Grund, daß die Garantien des rechtlichen Gehörs und der Rechtswege ihm bereits vor der zwangsweisen Durchsetzung Einfluß auf die Rechtmäßigkeit gewähren." 80 Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 1985, Rdn.279. Ebenso augenscheinlich Riegel (Fn. 45), S. 159. Über die Befugnis zur Gegenwehr äußern sich beide Autoren leider nicht.
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PolG = § 4 8 13 N d s . S O G von der Androhung der Zwangsmittel abgesehen werden. Für den hier zu untersuchenden Fall, daß man die Anscheinsgefahr nicht als Gefahr qualifiziert, führt das zum Ausfall dieser Vollstreckungserleichterung und damit zur Rechtswidrigkeit des Vollzugs als solchem. Dieses vom Wortlaut her nahegelegte Ergebnis wäre jedoch unsinnig, weil die Rechtmäßigkeit einer Vollstreckung nicht davon abhängen kann, ob die M a ß n a h m e unter größerem oder geringerem Zeitdruck erfolgt. Wenn trotz falscher A n n a h m e einer Gefahr eine Verfügung überhaupt rechtmäßig vollstreckt werden darf, dann auch dann, wenn die eingebildete Gefahr besonders „gegenwärtig" ist. Hier m u ß gleichsam die Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit der Grundverfügung insoweit auf Vollstreckungsvoraussetzungen durchschlagen, als diese ein Tatbestandsmerkmal für die Grundverfügung nur repetieren. 5. W e n n man dies zugesteht, m u ß Gleiches für den Fall gelten, daß die Dramatik eines Geschehens nicht nur die Androhung einer Zwangsmaßnahme, sondern bereits die Grundverfügung unmöglich macht. Allerdings ergeben sich hier etliche schwierige Probleme. Sie sollen im folgenden z w a r angeschnitten werden. Doch ist dem die Feststellung vorauszuschicken, daß der praktische W e r t einer solchen Erörterung sehr zweifelhaft ist. Denn angesichts der äußerst seltenen Fälle, in denen der irrende Beamte sich strafbar macht, ist die Qualifizierung seines Handelns als rechtmäßig oder rechtswidrig vorwiegend für die Notwehrberechtigung des betroffenen Bürgers bedeutsam. Die Schnelligkeit eines Sofortvollzugs, dem noch nicht einmal eine Kurzverfügung in Form eines knappen Befehls (etwa: A u f h ö r e n ! ) vorausgeht, läßt jedoch einen Widerstand k a u m jemals zu, so daß es in der Praxis nur höchst selten auf die Einstufung des sofortigen Vollzugs ankommen wird. Für diesen folglich höchst seltenen Fall stellt sich die Frage, ob es einen plausiblen Grund gibt, die Rechtmäßigkeit des Vollzugs von der Existenz einer auch noch so knappen und kurzfristig vorausgehenden Grundverfügung abhängig zu machen. W e n n ein Polizist jemandem, der nur scheinbar einen anderen angreift, in den A r m fällt, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, solches Tun bei einem vorausgeschickten „ H a l t ! " oder „Aufhören!" für erlaubt zu halten, hingegen für rechtswidrig, falls der Zuruf der Eile wegen unterbleiben mußte. Freilich gerät man dabei in Schwierigkeiten, weil im allgemeinen für die Rechtmäßigkeit der unmittelbaren Ausführung verlangt wird, daß die gleichsam eingesparte Grundverfügung rechtmäßig hätte erlassen werden dürfen. M i t dieser Begründung hält etwa Thiele81 bei Verfehlung des Eingriffs-
JR 1975, 353/356. Zustimmend offenbar Spendel,
LK, 10. Aufl., Rdn. 73 zu §32.
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tatbestandes eine unmittelbare Ausführung - anders als die Vollstrekkung im normalen, „gestreckten" Verfahren - für rechtswidrig und Widerstand für erlaubt. Zu erwägen wäre, ob man dieser Konsequenz durch die sehr umstrittene und problematische Fiktion einer — rechtswidrigen, aber wirksamen und vollstreckbaren - Grundverfügung entgehen könnte. Aber selbst wenn man einer solchen Konstruktion nicht folgen wollte, wäre es doch unabweisbar, eine Duldungspflicht hinsichtlich der Zwangsmaßnahmen oder jedenfalls die Unzulässigkeit von Gegenwehr anzunehmen, obwohl man - primär des Rechtsschutzes willen - die unmittelbare Ausführung als rechtswidrig qualifiziert. Das klingt widersprüchlich, gewiß. Aber vielleicht reflektieren sich hier nur jene Schwierigkeiten, die seit jeher bei der Qualifizierung von Vollzugsmaßnahmen bestanden. Auch beim ganz normalen Vollstreckungsverfahren bezeichnen wir den Vollzug einer rechtswidrigen Verfügung als rechtmäßig, zuweilen mit dem Zusatz „formell". Und diese Rechtmäßigkeit steht der Feststellung nicht im Wege, daß zum Ausgleich der Vollstreckungsfolgen Ersatz wegen rechtswidrigen Staatshandelns gefordert werden kann. In diesem Fall wird die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung akzentuiert, und man läßt sie auf die Vollzugsfolgen durchschlagen 82 . Bei unbefangener Betrachtung müßte man die Durchsetzung einer rechtswidrigen Verfügung ohne weiteres als gleichfalls rechtswidrig qualifizieren, ja man ist versucht zu sagen „erst recht", weil erst die Vollstreckung dem papiernen Gebot zur Realität verhilft und die Rechtswidrigkeit in die Tat umsetzt. Wenn das Gesetz eine solche Wertung ausschließt, verfügt es für den Vollstreckungsbestandteil einer insgesamt rechtswidrigen Maßnahme letztlich eine Duldungspflicht. Etwas Entsprechendes hätte dann bei der unmittelbaren Ausführung zu gelten85,84. 82 Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S. 127: „Ebensowenig ist der durch die rechtmäßige Vollziehung eines rechtswidrigen Aktes geschaffene Zustand rechtmäßig, denn er beruht ja nicht nur auf der rechtmäßigen Vollziehung, sondern gleichzeitig und sogar in erster Linie auf dem rechtswidrigen Verwaltungsakt. Allenfalls könnte man diesen Zustand als ,vorläufig rechtmäßig' bezeichnen; dann wird er aber jedenfalls mit der rechtskräftigen Aufhebung des vollzogenen Aktes rechtswidrig, und es wird darüber hinaus festgestellt, daß der Zustand von Anfang an zum materiellen Recht im Widerspruch stand." Thiele, J R 1975, 353/357: „Ferner ist unbedingt zu beachten, daß unter den aufgeführten Voraussetzungen im Falle der objektiven Rechtswidrigkeit des vollstreckten Hoheitsaktes nur die Vollstreckungsmaßnahme als solche, also die Anwendung von Zwang gerechtfertigt ist. Rechtswidrig ist und bleibt dagegen die Verwirklichung des Inhaltes des vollstreckten rechtswidrigen Hoheitsaktes, also der durch die Vollstreckung herbeigeführte Zustand." 83 Genau die gleichen Fragen stellen sich bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen. Hier will bspw. Spendel, L K , 10. Aufl., Rdn. 73 zu § 32, zwar eine Duldungspflicht bei der Vollstreckung rechtswidriger Verwaltungsakte anerkennen, nicht aber bei der Verhaftung einer falschen Person, weshalb N o t w e h r erlaubt sei. Wenn das letztgenannte Ergebnis nur
Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen
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Wer das nicht überzeugend findet, sei auf Überlegungen von Amelung>b verwiesen, der für bestimmte Fälle Notwehreinschränkungen auch bei rechtswidrigen Staatsakten erwägt. 6. Vollstreckungskosten können bei einer nicht als Gefahr gewerteten Anscheinsgefahr nicht gefordert werden. Allerdings führt auch die h. L. nicht zwingend zur Kostenpflichtigkeit, weil man eine zum Einschreiten berechtigende Anscheinsgefahr bejahen und gleichwohl die Störereigenschaft verneinen kann 86 . 7. Wenn nach alledem bei der Handlungsbefugnis der Behörden keine nennenswerten Hindernisse entstünden, gewinnt die Frage an Gewicht, ob nach einem Eingriff sich bei der Entschädigung markante Unterschiede zeigen. Läßt man die Anscheinsgefahr für einen behördlichen Zugriff nicht ausreichen, muß grundsätzlich für den insgesamt rechtswidrigen Eingriff entschädigt werden. Allerdings kann die Entschädigungspflicht wegen Mitverschuldens desjenigen, der den Anschein erweckte, gemildert oder ausgeschlossen sein. Ferner wäre in vielen Fällen zu erwägen, einen Anspruch deshalb zu verneinen, weil die Behörde zwar irrig, aber - ganz oder überwiegend — im Interesse des Betroffenen eingegriffen hat, etwa bei einem falschen Bombenalarm. Bei der Inanspruchnahme von Nichtstörern ist uns dergleichen von jeher geläufig87, und die neueren Gesetze haben dieses Prinzip verallgemeinert und sogar auf rechtswidrige Eingriffe bezogen 88 . Allerdings lautet die Formulierung: „ . . . o b der Geschädigte oder sein Vermögen durch die Maßnahme . . . geschützt worden ist (!)", weshalb man sie analog auf den Fall übertragen müßte, daß . . . geschützt werden sollte. Umgekehrt führt auch die h. L. nicht zwingend zum Ausschluß einer Entschädigung. Evident ist das bei dem schon eingangs erwähnten Fall,
dadurch begründet wäre, daß die Verfügung „Ich verhafte Sie!" kein der Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit fähiger Akt ist, so würde diese ohnehin fragwürdige Verschiedenbehandlung noch weniger einleuchten. Hier wirkt sich das Verhängnis aus, daß über Fehlerfolgen bei und Wirksamkeit von Staatsakten schwergewichtig beim Verwaltungsakt debattiert wird. 84 Für den Extremfall des sofortigen Vollzugs durch Schußwaffengebrauch bei vermeintlichem Angriff ist noch folgendes zu bedenken: Eine zu fingierende Grundverfügung könnte sinnvollerweise nur lauten: „Nicht schießen!" (oder „Nicht zustechen!"). Hier führt deshalb der Irrtum - ein Gegenstand wird fälschlich für eine Pistole gehalten - dazu, daß in Wahrheit diese gedachte Verfügung gar nicht vollstreckt wird, weil gegen sie nicht verstoßen wurde. Die Verfügung könnte hier also niemals den Vollzug rechtfertigen. »5 JuS 1986, 329/335. " Triffterer (Fn. 7), S.395; Schenke (Fn.39), Rdn.232. 87 Bspw. §10 III 2 Hbg.SOG. 88 §46 V 1 ME, §39 II Buchst, b) N W O B G , §59 V 1 Nds.SOG. Vgl. auch schon §30 II Hess.SOG.
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daß zwar der handelnde Beamte in vertretbarer Weise an eine Gefahr glauben durfte, jedoch von behördlicher Seite fahrlässig irregeleitet wurde. Dann ist ein Entschädigungsanspruch wegen des Verhaltens des anderen, meist übergeordneten Amtswalters unvermeidlich. Aber auch dann, wenn die Verantwortung nicht weitergeleitet werden kann, ist der Ausschluß einer Entschädigung unangemessen, jedenfalls im Grundsatz. Es gibt keine plausible Begründung dafür, weshalb derjenige, der den Anschein einer Gefahr in keiner Weise verursacht hat, das Risiko eines - vertretbaren - Behördenirrtums tragen soll. Deshalb ist jenen zuzustimmen, die hier die Möglichkeit einer Entschädigung bejahen, vorbehaltlich der Berücksichtigung von Mitverschulden und Schutzrichtung der Maßnahme".
" Götz (Fn.8), Rdn.288; Schenke (Fn.39), Rdn.232; vorsichtiger hingegen Vogel, D-W-V-M, 9. Aufl., S. 669: „Noch eher zu erwägen ist . . . die Gewährung einer Entschädigung an den Anscheinsstörer, soweit weder er durch sein Handeln noch eine ihm gehörende Sache den Anschein einer Gefahr oder Störung verursacht hat." Hoffmann-Riem (Fn.3), S.337, will den Anscheinsverursacher (dazu oben II 3) entschädigen, also den, der für eine tatsächliche Störung oder Gefahr verantwortlich schien. Dann muß wohl erst recht derjenige entschädigt werden, der für eine nur scheinbare Störung oder Gefahr verantwortlich war; das ist bei Hoffmann-Riem, S. 336 Fn. 42, nicht ganz klar erkennbar.
„Leichtigkeit des Verkehrs" als Grenze der Demonstrationsfreiheit GUNTHER
SCHWERDTFEGER
I. Einführung 1. Vor allem in innerstädtischen Ballungsbereichen beeinträchtigen Demonstrationen die „Leichtigkeit des Verkehrs". Nach der Intensität der Beeinträchtigung lassen sich idealtypisch drei Problemkonstellationen unterscheiden. In der Problemkonstellation A (Demonstration als einfaches Verkehrshindernis) entstehen durch die Demonstration nur kleinere Behinderungen, einerseits für den Verkehr auf den Straßen, welche der Demonstrationszug wählt, andererseits für den Q u e r verkehr. Auf dem Demonstrationsweg bleibt der Gegenverkehr unbehindert. Weil der Gegenverkehr nicht sonderlich stark ist, besteht die Möglichkeit, den Demonstrationszug zu überholen. D e m Querverkehr werden nur geringe Wartezeiten abverlangt. In der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) sind der Verkehr auf dem Demonstrationsweg und/oder der Querverkehr so stark behindert, daß längere Wartezeiten in Kauf genommen werden müssen. Absolut gilt das allerdings nur für die Verkehrsteilnehmer, welche in das Demonstrationsgebiet hineinfahren oder aus diesem Gebiet fortfahren möchten. D e r „Durchgangsverkehr" hat die Möglichkeit, den Verkehrsstockungen ohne größere Belastungen durch kurzräumiges Umfahren auszuweichen. In der Problemkonstellation C (Demonstration als Auslöser für ein weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) bricht der Verkehr derart zusammen, daß die Verkehrsteilnehmer, welche sich in einem größeren Umkreis vom Demonstrationsort befinden, „eingekeilt" werden und erst nach längeren Wartezeiten ihre Fahrt fortsetzen können. Den nicht eingekeilten Verkehrsteilnehmern kann nur das „weiträumige Umfahren" des Demonstrationsgebietes empfohlen werden.
O b die Problemkonstellationen B und C entstehen, hängt in innerstädtischen Ballungsbereichen vor allem von der Größe der Demonstration ab. Aber auch andere Faktoren können eine Rolle spielen, so der Zustand des Straßennetzes im Ballungsbereich (enge, winklige Straßen), die allgemeine Verkehrssituation (Verkehrsspitzenzeiten) sowie die Wahl des Demonstrationsweges im einzelnen (über neuralgische Verkehrsknotenpunkte). 2. In Literatur und Rechtsprechung 1 ist nicht abschließend geklärt, ob und wann die Demonstrationsfreiheit in den Problemkonstellationen A, 1 Zusammenfassend zuletzt Ulrich Bairl-Vaslin, Das Verhältnis der Versammlungsfreiheit zum Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht, 1985. Näheres zum Meinungsstand nachfolgend bei F n . 5 1 ff.
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B und C in der „Leichtigkeit des Verkehrs" ihre Grenzen finden kann. Inzwischen sind die beiden ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 8 I GG ergangen, der Brokdorf-Beschluß 2 und das Sitzblockaden-Urteil3. Diese Entscheidungen enthalten für das Thema gewisse Vorgaben. Der Brokdorf-Beschluß stellt den abstrakt gesehen hohen Rang der Demonstrationsfreiheit besonders heraus4. Dieser hohe Rang gebührt der Demonstrationsfreiheit schon individualrechtlich in ihrer Freiheitsgewährleistung. Er ergibt sich aber zusätzlich und insbesondere auch objektiv-rechtlich aus der institutionellen Bedeutung der Demonstrationsfreiheit für die Demokratie des Grundgesetzes. Der hohe Rang der Demonstrationsfreiheit schlägt voll durch gegenüber Totalverboten. Sie sind nur „zum Schutz elementarer Rechtsgüter" bzw. „wichtiger Gemeinschaftsgüter" zulässig5. Demgemäß kommen Versammlungsferbote „aus bloßen verkehrstechnischen Gründen" in der Regel nicht in Betracht6. Aber im gleichen Satz weist der Brokdorf-Beschluß darauf hin, daß „in aller Regel ein Nebeneinander der Straßenbenutzung durch Demonstranten und fließenden Verkehr durch Auflagen erreichbar ist". Auflagen zugunsten der „Leichtigkeit des Verkehrs" sind also möglich. Welche Auflagen das konkret sein können, sagt das Bundesverfassungsgericht zwar nicht. Weil das Gericht das Nebeneinander „in aller Regel" durch Auflagen erreichbar sieht, wird man aber nicht annehmen können, daß es nur so „harmlose" Auflagen im Auge hat wie ein Gebot, die rechte Fahrbahnseite zu benutzen. Mit derartigen Auflagen ließe sich nur die Problemkonstellation A (Demonstration als einfaches Verkehrshindernis), nicht aber die Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) oder gar die Problemkonstellation C (Demonstration als Auslöser für ein weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) lösen oder auch nur entschärfen. Für die Problemkonstellationen B und C müssen auch Auflagen zur Streckenführung (Abkürzung oder teilweise Verlegung der Demonstrationsroute) oder zum Beginn der Demonstration (kurzzeitige Verschiebung aus einer Verkehrsspitzenzeit hinaus) in die Betrachtungen einbezogen werden. Vor allem auch für derartige Auflagen ist bedeutsam, daß der Brokdorf-Beschluß bei Art. 8 I GG die „Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechtsausübung" besonders betont und die „schon unmittelbar aus der Grundrechtsgewährleistung und deren Abstimmung mit den Grundrechten anderer"
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BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
69, 73, 69, 69, 69,
315. 206 (249). 315 (343 ff). 315 (353, 354). 315 (353).
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folgende „Pflicht" der Demonstranten, „die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu minimalisieren", hervorhebt 7 . Belästigungen und Behinderungen, „die sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben", müssen Dritte zwar im allgemeinen ertragen. Auch das gilt aber nur, wenn diese „sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck" bzw. „durch zumutbare Auflagen" „nicht vermeiden lassen"8. Mit all diesen Formulierungen unterwirft das Bundesverfassungsgericht die Demonstrationsfreiheit einer Sozialbindung. Art. 8 II G G schafft für den Gesetzgeber und „auf Grund eines Gesetzes" für die Verwaltung (§15 1 VersG) die Möglichkeit, diese Sozialbindung zugunsten der im Brokdorf-Beschluß immer wieder erwähnten 9 kollidierenden Interessen Dritter zu aktualisieren. Diese Interessen brauchen nur „gleichgewichtig", „gleichwertig", 10 nicht etwa höhergewichtig zu sein. Dabei sind die Belange der Demonstranten und die Interessen Dritter bzw. die Gemeinschaftsinteressen aufeinander abzustimmen". Das ist die Herstellung „praktischer Kondordanz" im Sinne von Konrad Hesse12. Die Rechte und Interessen beider Seiten sind zu optimaler Wirksamkeit zu bringen. Die Belange der Demonstranten stehen also nicht absolut. Unter Beachtung ihres abstrakt hohen Ranges dürfen sie nur nicht einseitig zugunsten der Drittinteressen zurückgestellt werde. - Das Sitzblockaden-Urteil äußert sich zu einer Spezialfrage. Es stellt klar, daß die Polizei nach § 15 VersG gegen gezielte Verkehrsblockaden einschreiten darf13. 3. Der vorliegende Beitrag nimmt den Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zum Anlaß, das Verhältnis der Demonstrationsfreiheit zur „Leichtigkeit des Verkehrs" insgesamt neu abzutasten. Im Anschluß an die vorangestellten Problemkonstellationen wird dabei für die Bedürfnisse der Praxis auch herausgearbeitet, in welchen konkreten Fällen und unter welchen £mze/voraussetzungen die „Leichtigkeit des Verkehrs" gegen die Demonstrationsfreiheit durchgesetzt werden kann. II. Straßenrechtliche Aspekte 14
In der Literatur hat eine ausführliche Diskussion darüber stattgefunden, ob eine Demonstration straßenrechtlich/wegerechtlich als „Sonder7
BVerfGE 69, 315 (356 f). BVerfGE 69, 315 (353); BVerfGE 73, 206 (250). ' BVerfGE 69, 315 (348 ff). 10 BVerfGE 69, 315 (349, 353). " BVerfGE 69, 315 (350). 12 Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Auflage 1985, Rdn.72, 315 ff. 13 BVerfGE 73, 206 (249). 14 Überblick bei Bairl-Vaslin (Fn. 1), S. 8 ff. 8
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nutzung" angesehen werden müßte. Diese Diskussion ist spätestens seit dem Sitzblockaden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erledigt: Die Versammlungsfreiheit umfaßt „grundsätzlich die Selbstbestimmung über Art und Ort der Veranstaltung" und schließt „insoweit ein Recht zur Mitbenutzung der im Allgemeingebrauch stehenden Straße" ein15. Immerhin besteht das Benutzungsrecht aber nur für die im Allgemeingebrauch stehenden Straßen. Ebenso wie Privatgrundstücke stehen Straßen mit eingeschränktem Widmungszweck für eine Demonstration nicht zur Verfügung, wenn der Demonstrationszug vom Widmungszweck nicht abgedeckt wäre (Demonstration auf einer „nur für den Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen" bestimmten Bundesautobahn [§ 1 III BFStrG]; Kraftfahrzeug-Demonstration in einer Fußgängerzone) 16 . Eine solche Demonstration wäre erst nach Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis zulässig. Die Erteilung steht im Ermessen der zuständigen Behörde. Ein Anspruch auf die Erlaubnis aus Art. 8 I G G ist allenfalls denkbar, wenn eine Demonstration ihren Inhalt nicht verwirklichen könnte, ohne die Straße zu benutzen (beabsichtigte Kraftfahrzeug-Demonstration zu einer in einer Fußgängerzone gelegenen Geschäftsstelle des ADAC). III. Anwendungsfeld des Straßenverkehrsrechts 1. Auf den im Allgemeingebrauch stehenden Straßen ist eine Demonstration (nach Maßgabe später folgender Einschränkungen) nur unter Bindung an das Straßenverkehrsrecht zulässig. Wegen der weiten Fassung des Gesetzesvorbehaltes in Art. 8 II G G ist die Demonstrationsfreiheit nicht nur durch spezifisch gegen sie gerichtete Gesetze wie das Versammlungsgesetz, sondern auch durch „allgemeine" Gesetze wie das Straßenverkehrsrecht einschränkbar17. Das Straßenverkehrsrecht geht von einem weiten Begriff des Verkehrsteilnehmers aus18. Im Straßenverkehrsrecht und im Versammlungsrecht finden sich keine Anhaltspunkte dafür, daß Demonstranten keine Verkehrsteilnehmer im Sinne des Straßenverkehrsrecht sein und so generell von der Beachtung der StVO ausgenommen sein könnten. Also ist die StVO im Grundsatz auf Demonstrationen anwendbar. Das gilt insbesondere auch für die Generalklausel des § 1 II StVO, wonach sich „jeder Verkehrsteilnehmer so zu 15
BVerfGE 73, 206 (249). " Frowein, N J W 1969, 1081 (1084); Merten, in: Das Recht auf Demonstration, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, 1969, S. 60 f; Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 172 f. 17 S. BVerfGE 69, 315 (348); a.A. W.Müller, Wirkungsbereich und "Schranken der Versammlungsfreiheit, 1974, S. 122, 130 ff. 18 BGH St 14, 24.
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verhalten" hat, „daß kein anderer . . . mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird". Besteht die Gefahr, daß etwa eine Demonstration der Problemkonstellation A (einfaches Verkehrshindernis) nicht hinreichend die rechte Fahrbahnseite benutzen und so unnötig den Uberhol- und Gegenverkehr behindern könnte, kann die Einhaltung der insoweit einschlägigen Vorschriften der StVO durch eine Auflage nach §15 I VersG abgesichert werden19. 2. Die Anwendung einzelner Vorschriften der StVO kann durch Art. 8 I G G suspendiert sein. Würde die Anwendung einer Vorschrift der StVO nach den später im einzelnen darzustellenden Grundsätzen der Grundrechtsprüfung gegen Art. 8 I GG verstoßen, ist diese Vorschrift von Verfassungs wegen ohne weiteres unanwendbar; das „Verwerfungsmonopol" des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 I G G gilt nicht für die StVO als Rechtsverordnung. Im einzelnen: Gemäß §25 StVO haben kleine Demonstrationsgruppen die Gehwege zu benutzen. Erreicht die Gruppe der Demonstranten die Größe eines „geschlossenen Verbandes" i. S. von §27 I StVO, kann die Fahrbahn in Anspruch genommen werden. Ist der Gehweg so beschaffen, daß auch eine kleine Gruppe von Demonstranten auf ihm nicht angemessen demonstrieren kann, darf sie unmittelbar auf Art. 8 I G G gestützt die Fahrbahn benutzen. Gemäß §27 I 1 StVO gelten bei Inanspruchnahme der Fahrbahn „die für den gesamten Fahrverkehr einheitlich bestehenden Verkehrsregeln". Hieraus folgt die schon erwähnte Verpflichtung der Demonstranten, die rechte Fahrbahnseite zu benutzen ( § 1 1 StVO). Erst wenn das etwa wegen der Größe der Demonstration oder wegen der Enge der Fahrbahn nicht möglich ist, darf unmittelbar auf Art. 8 I G G gestützt die gesamte Fahrbahn in Anspruch genommen werden. Der Demonstrationszug hat die Richtung von Einbahnstraßen zu beachten. Vor roten Ampeln hat er anzuhalten. Wegen der sonst entstehenden Gefahren für Leib und Leben kann man nicht annehmen, Art. 8 I G G suspendiere von der Beachtung des Ampelrotes. Bei größeren Demonstrationen, deren Zusammenhang durch das Umspringen der Ampeln auseinandergerissen werden kann, mag aus Art. 8 I GG aber eine Verpflichtung der Verkehrspolizei folgen können, über § 36 StVO regelnd einzugreifen. Im Halteverbot darf der Demonstrationszug nicht anhalten. Gemäß Art. 8 I G G besteht aber beispielsweise eine Ausnahme, wenn im Halteverbot vor einem ausländischen Konsulat demonstriert werden soll. Unmittelbar auf Art. 8 I GG gestützte Freistellungen mögen vor allem in Betracht kommen, wenn eine Vorschrift der StVO - entsprechend der 19
S. etwa VGH
München,
N J W 1984, 2116.
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Ermächtigung durch § 6 I N r . 3 S t V G - bloß der „Verhütung von Belästigungen" dient 20 . Demonstrationen sind von Vorschriften der Belästigungsabwehr aber nicht generell freigestellt. Wie schon ausgeführt wurde 21 , mutet der Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts Dritten Belästigungen nur zu, wenn sie sich „ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck" nicht vermeiden lassen. Insoweit vermeidbare Verstöße gegen StVO-Vorschriften der Belästigungsabwehr sind den Demonstranten durch Art. 8 I G G nicht gestattet. 3. Nach § 1 II S t V O haben sich die Demonstranten nur so zu verhalten, daß kein anderer Verkehrsteilnehmer „mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird". Jedenfalls in der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) und C (Demonstration als Auslöser für ein weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) sind die Behinderungen unvermeidbar. Durch § 1 II S t V O sind sie also nicht verboten. Allerdings handelt es sich um Veranstaltungen, durch welche „die Benutzung der Straße für den Verkehr wegen der Zahl und des Verhaltens der Teilnehmer eingeschränkt" und damit „mehr als verkehrsüblich in Anspruch genommen" wird. Derartige Veranstaltungen sind (an sich) nach §29 II StVO verboten und erst auf Grund einer ermessensmäßigen Erlaubnis der zuständigen Behörde möglich. Vor dem Hintergrund des Art. 8 I G G liegt hier das Einfallstor des Versammlungsgesetzes in die S t V O . An die Stelle des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt aus § 2 9 II S t V O setzen § § 1 , 14 VersG eine (von Gesetzes wegen vorhandene) Erlaubnis mit dem Verbotst orbehalt des § 1 5 1 VersG. Gleichwohl ist die Grundaufgabe der Verwaltung im Rahmen von § 1 5 I VersG die gleiche wie im Rahmen von § 2 9 II S t V O . Weil die Straße „mehr als verkehrsüblich in Anspruch genommen" wird, ist der Bereich des vom Gesetzgeber (Verordnungsgeber) selbst nach seinem Ermessen generell-abstrakt vorgenommenen Interessenausgleichs zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmern verlassen. Dieser Ausgleich obliegt jetzt der Verwaltung für den konkreten Einzelfall, „handgesteuert" nach ihrem Ermessen. Allerdings ist diese Ermessensentscheidung der zuständigen Behörde nur eröffnet, wenn die in § 1 5 I VersG genannten einfachgesetzlichen Einzelvoraussetzungen vorliegen. In vorschnellen Grundrechtsabwägungen wird das häufig übersehen.
20 21
Ähnlich Ossenbühl, Bei Fn. 8.
Staat 10 (1971), S. 53 (70).
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IV. Anwendungsfeld des § 15 I VersG 1. Die in §15 I VersG genannten Eingriffsvoraussetzungen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung" entsprechen den Rechtsbegriffen des allgemeinen Rechts der Gefahrenabwehr 22 . In der Begründung zu §14 PrPVG 23 heißt es: „Zur öffentlichen Ordnung gehört insbesondere die Leichtigkeit des Verkehrs." Zwar hat das Straßenverkehrsrecht das Verhalten im Straßenverkehr mittlerweile normativ geregelt und damit dem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit (Unversehrtheit der Rechtsordnung) zugeordnet 24 . Aber das gilt nach dem Gesagten eben gerade nicht für den Normbereich des §29 II StVO, welcher nach § 15 I VersG nur „handgesteuert" für den Einzelfall durch die zuständige Behörde austariert werden kann. Demgemäß liegt es zunächst nahe, Beeinträchtigungen der Leichtigkeit des Verkehrs im Rahmen von § 15 I VersG nach wie vor bei der „öffentlichen Ordnung" anzusiedeln 25 . Neben der Unversehrtheit der Rechtsordnung gehört zur öffentlichen Sicherheit indessen auch der Schutz der individuellen Freiheit. Dieser Schutz „bezieht sich nicht nur auf die körperliche Bewegungsfreiheit, schließt vielmehr nach der heutigen Verfassungsrechtslage die ungestörte Ausübung aller grundrechtlichen Freiheiten ein"26. „Ganz in diesem Sinne weist § 1 I 2 BW PG der Polizei ausdrücklich die Aufgabe zu, die ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zu gewährleisten27." Die dem allgemeinen Verkehr gewidmete Straße ist der Ort, wo nicht nur die Demonstranten, sondern auch alle anderen Verkehrsteilnehmer ihre grundrechtlichen Freiheiten ausüben. Bei Verkehrsteilnehmern, welche sich aus beruflichen Gründen im Verkehr bewegen, geht es um Art. 12 1 GG2S. Alle anderen Verkehrsteilnehmer nehmen auf der Straße jedenfalls das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) in Anspruch 29 . Die allgemeine Handlungsfreiheit umfaßt
22
BVerfGE 69, 315 (352). Abgedr. bei Wolfgang Martens, in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 259. 24 Wolfgang Martens (Fn.23), S.259. 25 So verfährt etwa Schwäble (Fn. 16), S.212. 26 So Wolfgang Martens (Fn.23), S.235 m . w . N a c h w . ; Merten (Fn.16), S.59; H.H. Klein, DVB1. 1971, 237. 27 Wolfgang Martens (Fn.23), S.235. 28 BVerfGE 26, 259 (263) - Fahrverbot für Lastkraftwagen zur Erleichterung des Reiseverkehrs; 40, 371 (382) - Verbot von Werbefahrten durch das Straßenverkehrsrecht. 29 Wolfgang Martens, VVDStRL 30 (1972), S. 52; BVerfGE 67, 229 (327); BVerwGE 4, 342 (346) - Parkgebühren; 27, 181 (185) - Parkverbot; OVG Koblenz, N J W 1986, 2659. 23
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die Möglichkeit, „sich auf vorhandenen öffentlichen Straßen von einem O r t zu jedem gewünschten anderen zu begeben" 30 . 2. Entsprechend den allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen können die Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer bei Durchführung des Aufzuges im Sinne des § 15 I VersG nur dann „gefährdet" sein, wenn an ihnen ein Schaden eintreten kann. „Als Schaden ist nur eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung eines polizeilichen Schutzgutes anzusehen, bloße Belästigungen, Nachteile, Unbequemlichkeiten und Geschmacklosigkeiten genügen nicht"". Anders als teilweise die StVO 3 1 ' erfaßt § 1 5 I VersG also nicht die Abwehr bloßer Belästigungen. Als Bezugspunkte und Kriterien für die Abgrenzung zwischen Schaden und Belästigung werden in der Rechtsprechung insbesondere die örtliche Umgebung, die Tageszeit, die Art und die Dauer der Beeinträchtigung sowie eine örtliche oder zeitliche Häufung von Einflüssen angesehen 32 . Im Einzelfall ist die Abgrenzung aber nur wertend möglich. Es geht um die Frage der Zumutbarkeit 33 . Auch insoweit gelten für § 15 I VersG die allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätze. In der Problemkonstellation A (Demonstration als einfaches Verkehrshindernis) werden die anderen Verkehrsteilnehmer (bei Beachtung des § 1 II S t V O ) lediglich (unvermeidbar) belästigt. Diese Konstellation scheidet damit für die weiteren Untersuchungen aus; schon die einfachgesetzlichen Voraussetzungen des § 15 I VersG sind nicht erfüllt. In der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) ist die Grenze von der bloßen Belästigung zum Schadenseintritt überschritten. Allerdings gilt das nur für die Verkehrsteilnehmer, welche den langen Wartezeiten nicht ausweichen können, weil das Problemgebiet Anfahrtsziel oder Ausgangspunkt für die Abfahrt ist. Der Durchgangsverkehr wird nur belästigt, weil er der Verkehrsstockung durch kurzräumiges Umfahren ohne weiteres ausweichen kann. In der Problemkonstellation C (Demonstration als Auslöser für ein weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) ist die Grenze zum Schaden für alle betroffenen Verkehrsteilnehmer überschritten. Allerdings kann ein Zusammenbrechen des Verkehrs im Sinne der Problemkonstellation B oder sogar der Problemkonstellation C in inner-
30 So Salzwedel, in: Ericbsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage 1986, S. 445. 31 Wolfgang Martens ( F n . 2 3 ) , S.221 mit allen Nachw. 31" S. bei F n . 2 0 f . 32 Wolfgang Martens (Fn.23), S . 2 2 1 ; Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S.29. 33 So Hansen-Dix (Fn. 32), S. 25 ff im Anschluß an eine umfassende Analyse der einschlägigen Rechtsprechung.
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städtischen Ballungsbereichen bei Verkehrsunfällen, in Verkehrsspitzenzeiten oder bei schlechten Witterungsverhältnissen durchaus typisch sein. Aber die Frage der Zumutbarkeit, nach welcher sich die Abgrenzung zwischen Schaden und Belästigung bemißt, entscheidet sich nicht alleine danach, ob die anderen Verkehrsteilnehmer quantitativ überlastet werden. Wesentlich ist auch, ob sie qualitativ überfordert werden 34 . Die zuletzt genannten Verkehrsprobleme beruhen gleichsam auf „höherer Gewalt", sind mehr oder minder notwendig schon mit dem „täglichen" Verkehr als solchem verbunden und daher qualitativ gesehen keine Uberforderung. Bei Demonstrationen (oder bei Genehmigungen nach § 2 9 II S t V O ) beruht die Beeinträchtigung der anderen Verkehrsteilnehmer demgegenüber auf konkreter menschlicher Entscheidung, welche die Belastung Dritter ganz bewußt in Kauf nimmt. So veranlaßt ist die Belastung qualitativ gesehen eine Uberforderung, welche die Grenze von der bloßen Belästigung zum Schaden überschreitet 35 . 3. Schließlich ist für ein Einschreiten nach § 15 I VersG erforderlich, daß die öffentliche Sicherheit „nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist". Das Unmittelbarkeitserfordernis hat seine Parallele bei der polizeilichen Inanspruchnahme des Nichtstörers und bei bestimmten polizeilichen Standardmaßnahmen (Ingewahrsamnahme einer Person, Betreten und Durchsuchen von Wohnungen, Sicherstellung von Sachen) 36 . Es bedeutet 37 , daß der Schadenseintritt in besonderer zeitlicher Nähe zur Polizeiverfügung und - akzessorisch dazu - mit einer gegenüber der „einfachen" Wahrscheinlichkeit des Polizeirechts erhöhten Wahrscheinlichkeit („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit") 38 erwartet werden muß. Anders als in den genannten Fällen des allgemeinen Rechts der Gefahrenabwehr ist das Unmittelbarkeitserfordernis in § 15 I VersG allerdings nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung (Auflage), sondern auf den Demonstrationszeitpunkt bezogen. Das folgt schon aus dem Gesetzeswortlaut. Außerdem stände die Forderung nach möglichst enger zeitlicher Nähe der behördlichen Ver-
34 Zu dieser Unterscheidung s. Ossenbühl, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, in: Festgabe zum zehnjährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S . 3 1 5 . 35 Entsprechend enthält § 2 9 II StVO in Abweichung von den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen die Ermächtigung, eine Erlaubnis zu erteilen, auch wenn dadurch über eine bloße Belästigung hinausgehend eine Störung der öffentlichen Sicherheit entsteht (Beispiel: „Berlin-Marathon"). 36 Synonym ( B V e r w G E 45, 51 [57]) sprechen die Polizeigesetze teilweise von „gegenwärtiger Gefahr". 37 Wolfgang Martens (Fn. 6), S. 332 mit allen N a c h w . 31 So speziell zu § 15 I der Bericht des BT-Rechtsausschusses zur Gesetzesnovelle 1978, B T - D r u c k s . 8 / 1 8 4 5 , S.lOf.
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fügung zum Schadenseintritt im Widerspruch zum Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts. Nach ihm entstehen der Behörde prozessuale Nachteile, wenn sie ihre Entscheidung ohne zwingende Gründe verzögert 39 . Im Zeitpunkt der Verfügung ist damit eine gestufte Prognose erforderlich. Nach den zu dieser Zeit erkennbaren Umständen 40 muß die Behörde prognostizieren, wie viele Teilnehmer die Demonstration haben wird. Für diese erste Stufe der Prognose zu den Gegebenheiten der Demonstration reicht im Prinzip41 die „einfache" Wahrscheinlichkeit der herkömmlichen polizeirechtlichen Gefahrenprognose aus. In der zweiten Stufe der Prognose ist dann zu beurteilen, ob die Demonstration bei der in der ersten Stufe angenommenen Teilnehmerzahl Verkehrsprobleme (mindestens) der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) hervorrufen wird. Hier geht es um die unmittelbare Gefahr eines Schadenseintritts. Diese Prognose muß sich daher „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" stellen lassen. V. Insbesondere: Art. 8 I G G als Ermessensgrenze 1. Liegen die einfachgesetzlichen Voraussetzungen des § 15 I VersG vor, entscheidet die Behörde nach ihrem Ermessen, ob sie und wie sie zugunsten der Leichtigkeit des Verkehrs einschreitet. Diese Ermessensentscheidung findet aber in Art. 8 I G G ihre Grenze. a) Der Brokdorf-Beschluß 42 gibt an, wie diese Grenze zu bestimmen ist: nach der ursprünglich zu Art. 5 II G G entwickelten, heute aber für alle Grundrechte einschlägigen43 „Wechselwirkungslehre" des Bundesverfassungsgerichts. Nach ihr ist der Eingriff in Art. 8 I G G im Lichte der Bedeutung des Grundrechts zu sehen. Deshalb muß der Eingriff erstens geeignet sein, um die Verkehrsprobleme zu lösen oder jedenfalls zu mildern. Zweitens darf es kein milderes Mittel geben, um das gleiche Ergebnis erreichen zu können. Drittens muß „bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs" (in Art. 8 I G G ) „und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe" (Leichtigkeit des Verkehrs = Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer) „die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt sein" 44 ( = Proportio39
BVerfGE 69, 315 (364). BVerfGE 69, 315 (354) betont besonders, daß insoweit „auf Tatsachen, Sachverhalte und sonstige Einzelheiten" abzustellen ist, bloßer Verdacht oder Vermutungen aber nicht ausreichen können. 41 Zu Fällen, in welchen sich aus Art. 8 I G G höhere Anforderungen ergeben, s. später den Text. 42 BVerfGE 69, 315 (348 f). 43 Zusammenfassend etwa BVerfGE 67, 157 (172ff). 44 BVerfGE 30, 292 (316); 61, 291 (312); 68, 155 (171); 68, 272 (282). 40
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nalität, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Nachfolgend geht es allein um die Proportionalität. b) Gem. § 15 I VersG obliegt die „Gesamtabwägung" zwischen der Schwere des Eingriffs in Art. 8 I G G und dem Gewicht und der Dringlichkeit der Verkehrsinteressen zunächst der zuständigen Behörde. Hierbei nimmt sie die zweite Seite45 ihrer Ermessensaufgabe wahr, welche unerwähnt bleibt, wenn man Ermessen herkömmlich mit Zweckmäßigkeitserwägungen gleichsetzt. Die zweite Seite der Ermessensaufgabe ist die Herstellung von Emzeliallgerecbtigkeit. Wie bei jeder Ermessensentscheidung sind die Gerichte nach §114 V w G O auch hier gehindert, ihre Vorstellung von der „richtigen" Ermessensentscheidung und damit vom „richtigen" Ins-Verhältnis-Setzen der kollidierenden Belange an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltung zu setzen. Gem. Art. 20 II 2 G G ist auch die eigene Gerechtigkeitsentsche'idung der Ermessensverwaltung demokratisch legitimiert. Wie fast alle Ländergesetze zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Anschluß an BVerwGE 26, 305 (309) formulieren, können die Gerichte einen Verstoß gegen den verfassungskräftigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur feststellen, wenn der Eingriff „erkennbar außer" Verhältnis zum zu schützenden Rechtsgut steht. Demgemäß haben die Gerichte in den Worten des Bundesverfassungsgerichts die Gesamtabwägung der zuständigen Behörde nur daraufhin zu überprüfen, ob im Entscheidungsergebnis für die Demonstranten46 die „Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist". c) Im Zusammenhang mit § 15 I VersG hat besonders Wolf gang Martens" darauf hingewiesen, daß die Gesamtabwägung „in concreto" und nicht abstrakt zu erfolgen hat. Dabei muß die konkrete Betroffenheit beider Seiten sorgfältig analysiert werden. Wie sich zeigen wird, ist das Grundrecht der Demonstranten aus Art. 8 I G G zumeist nicht in seiner vollen Breite und seinem gesamten Gehalt, sondern nur in bestimmten Sektoren und Schichtungen betroffen48. Für das Gewicht der Belange der anderen Verkehrsteilnehmer ist mit erheblich, mit welchem Grad von Wahrscheinlichkeit die Demonstration eine Teilnehmerzahl erreichen könnte, durch welche die Problemkonstellation B oder C entsteht. 2. Als Mittel kommen zunächst sowohl in der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) als auch in der ProblemkonZu ihr besonders Bachof, JZ 1972, 641 (642). Bei der Angrenzung zwischen Schaden und Belästigung ging es umgekehrt um die Zumutbarkeit für die anderen Verkehrsteilnehmer. 47 In: Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn.23), S. 178 f. 4» S. dazu allgemein Wendt, AöR 104 (1979), S.415 (458 ff, 462 f). 45
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stellation C (Demonstration als Auslöser für ein weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) die eingangs schon erwähnten Auflagen zur Streckenführung (Abkürzung oder partielle Verlegung der Demonstrationsroute) und/oder zum Demonstrationsbeginn (Verlegung aus einer Verkehrsspitzenzeit hinaus) in Betracht. Das gilt auch, wenn diese Auflagen die Problemkonstellation nicht beseitigen, sondern nur mildern. Solche Auflagen sind in Anwendung der Wechselwirkungslehre unproblematisch, auch wenn die Demonstration nur mit einfacher Wahrscheinlichkeit eine Größenordnung erreichen wird, welche die Problemkonstellation B oder C im Gefolge hat. Allerdings: (1) Die Auflage darf sich nur auf einen kleineren Teil der Wegstrecke beschränken bzw. den Demonstrations^eg*«« nur um einen kürzeren Zeitraum hinausschieben. (2) Für den Demonstrationszug muß insgesamt gesehen eine durchschnittliche Öffentlichkeit erhalten bleiben. (3) Der Demonstrationsinhalt muß unbeeinträchtigt bleiben. Nach B V e r f G E 69, 315 (343) „gewährleistet Art. 8 G G den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung". Zentraler Bezugspunkt ist der Inhalt der Veranstaltung, der Demonstrationsgegewstand, der Demonstrationszweck. Auflagen, welche den vorgesehenen Inhalt der Veranstaltung unberührt lassen, sind insoweit unverfänglich. Daß Auflagen der genannten Art eine Demonstration zum vorgesehenen Inhalt unmöglich machen würden und also der Vorbehalt (3) einschlägig wäre, ist selten. Zu nennen sind etwa Fälle, in welchen die Demonstration darauf ausgerichtet ist, protestierend gerade ein bestimmtes Gebäude anzusteuern oder an einem bestimmten Gebäude vorbeizuziehen (Sitz einer Behörde, Amerikahaus, ausländische Vertretung), oder in welchen zeitgleich mit einem bestimmten Ereignis (Parlamentsdebatte, Tarifverhandlung) demonstriert werden soll. In der Selbstbestimmung zum Ort der Veranstaltung findet das Recht der Demonstranten seinen Ausdruck, „auf die Straße" gehen, die Öffentlichkeit ansprechen zu können. Dieses Recht umfaßt neben dem abstrakten Rechtswert der Se/^sfbestimmung als solcher zwei weitere Aspekte. Die Demonstranten haben das Recht, sich die anzusprechende Öffentlichkeit qualitativ selbst aussuchen zu können. Sie haben ferner das Recht, den Demonstrationsort so aussuchen zu können, daß quantitativ möglichst viel Öffentlichkeit erreicht wird. Beschränkt sich die Auflage auf einen kleineren Teil der Streckenführung oder schiebt sie den Demonstrationsbeginn nur um einen kürzeren Zeitraum hinaus (1), werden der abstrakte Rechtswert und das qualitative Moment des örtlichen Selbstbestimmungsrechts nicht entscheidend eingeschränkt. Wenn der Demonstrationsweg verkürzt wird, ein Teil der Demonstrationsroute in eine weniger belebte Nebenstraße verlegt wird oder der Demonstrationsbeginn aus einer Verkehrsspitzen-
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zeit hinausverlegt wird, steht der quantitative Verlust an Öffentlichkeit (2) ganz im Vordergrund. Verloren geht aber nur die von den Demonstranten angestrebte Möglichkeit, die maximale Öffentlichkeit anzusprechen. Nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz kann von den Demonstranten ohne weiteres verlangt werden, auf diese Maximierung zu verzichten. Das gilt geradezu selbstverständlich für die Problemkonstellation C (totales Zusammenbrechen des Verkehrs). Es gilt aber auch in der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre), in welcher mit dem an- und abfließenden Verkehr eine geringere Zahl von Verkehrsteilnehmern beeinträchtigt wird. Denn diese Beeinträchtigung ist durchaus intensiv. Allerdings ist jedenfalls in der Problemkonstellation B erforderlich, daß für den Demonstrationszug eine durchschnittliche Öffentlichkeit erhalten bleibt. Dann ist für die Demonstranten die (bloße) Grenze der Zumutbarkeit nicht überschritten. Bei einer zeitlichen Verlegung bleibt die durchschnittliche Öffentlichkeit ohne weiteres erhalten, wenn der Demonstrationsbeginn aus einer Zeit des Spitzenverkehrs in eine „normale" Verkehrszeit verlegt wird. Bei einer Streckenabkürzung oder Streckenverlegung kommt es darauf an, ob auf der Demonstrationsroute insgesamt gesehen noch eine für eine typische Innenstadtdemonstration durchschnittliche Öffentlichkeit erhalten bleibt. Wird nur ein kleiner Teil des Demonstrationsweges von einer stark belebten Hauptgeschäftsstraße in eine wenig belebte Nebenstraße verlegt, erscheint der Verlust an Öffentlichkeit bei isolierter Betrachtung des betroffenen Streckenabschnittes sehr groß. Bezieht man diesen Verlust in der erforderlichen Weise auf den gesamten Demonstrationsweg, fällt er hingegen meist nicht entscheidend ins Gewicht. Sind die zu (1), (2) und (3) angedeuteten Voraussetzungen für Auflagen der bezeichneten Art nicht erfüllt, müssen an die Verfassungsmäßigkeit der Auflage gesteigerte Anforderungen gestellt werden. Diese können auf einer steigenden Linie bis zu den Anforderungen reichen, welche nachfolgend an ein Verbot der gesamten Wegstrecke und/oder an ein Verbot zu stellen sind, mit welchem die Demonstration zum vorgesehenen Zeitpunkt als solchem untersagt wird. 3. Verbote für die gesamte vorgesehene Wegstrecke und/oder für den Demonstrationszeitpunkt als solchen (für einen „verkaufsoffenen Sonnabend" mit seinen besonders großen Verkehrsproblemen) müssen differenziert beurteilt werden. a) Würde bereits eine Auflage nach soeben 2. jedenfalls eine Entlastung bringen, kann ein Verbot der jetzt behandelten Art nur zulässig sein, wenn die trotz der Entlastung verbleibende Belastung so gewichtig ist,
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daß sie für sich gesehen nach Maßgabe der nachfolgenden Grundsätze den Eingriff in die Demonstrationsfreiheit zu rechtfertigen vermag. b) In Großstädten mit ausgedehnten innerstädtischen Ballungsbereichen und gleichzeitig mehreren cityartigen Ortskernen wie Hamburg oder Berlin bedeutet ein Verbot der gesamten Wegstrecke zumeist nicht, daß die Demonstration zum vorgesehenen Inhalt unmöglich wird. Gleiches gilt zumeist für ein Verbot zum Zeitpunkt der Demonstration („verkaufsoffener Sonnabend"). Es kommen andere Streckenführungen oder ein anderer Demonstrationszeitpunkt in Betracht, mit welchen auch eine jedenfalls durchschnittliche Öffentlichkeit erreicht werden kann, die Problemkonstellation C oder auch nur die Problemkonstellation B aber nicht entstehen würde. Hier trifft das Verbot den Art. 8 I G G nicht insgesamt und total, sondern „nur" in dem im Grundrecht wfienthaltenen Selbstbestimmungsrecht zur Wahl des Demonstrationsortes als abstraktem Rechtswert, verbunden mit dem für die Demonstranten qualitativen Aspekt, sich die anzusprechende Öffentlichkeit selbst aussuchen zu können. Ein Eingriff „nur" in diese Schicht des Art. 8 I G G ist schon schwerwiegend, aber nicht so schwerwiegend wie der nachfolgend c) zu behandelnde Eingriff, welcher die Demonstration zum vorgesehenen Inhalt insgesamt unmöglich macht. In der Problemkonstellation C (weiträumiges Zusammenbrechen des Verkehrs) erscheint der beschriebene Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Demonstranten zulässig, wenn eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, daß die Demonstration eine Größenordnung erreicht, welche diese Problemkonstellation hervorruft. Jetzt ist für die Demonstranten die „ G r e n z e der Zumutbarkeit" nicht überschritten. Zwar haben die Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer (Art. 2 I G G , Art. 12 I G G ) abstrakt gesehen nicht einen so hohen Rang wie die betroffenen „Schichten" im Grundrecht der Demonstranten. Aber das wird durch die große Zahl der betroffenen Verkehrsteilnehmer ausgeglichen. Das gilt auch dann, wenn sich der selbst bei einer kleinen Zahl von Demonstranten schon vorhandene hohe Rang des Art. 8 I G G als Minderbeitengruridrecht" durch eine große Zahl von Demonstrationsteilnehmern potenziert. Zumal nach dem Brokdorf-Beschluß 5 0 schon unmittelbar aus Art. 8 I G G die Pflicht der Demonstranten folgt, „die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu minimalisieren", ist für die Demonstranten die „Grenze der Zumutbarkeit" auch jetzt nicht überschritten. In der Problemkonstellation B (Demonstration als lokale Verkehrssperre) sind demgegenüber ein Verbot der gesamten Wegstrecke oder ein
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BVerfGE BVerfGE
69, 315 (346 f). 69, 315 (356).
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Verbot zum Demonstrationszeitpunkt in der Regel nicht zulässig. Die (geringere) Zahl der im an- und abfließenden Verkehr betroffenen Verkehrsteilnehmer reicht nicht aus, um diese Verbote zu legitimieren. Eine Ausnahme besteht, wenn die Problemkonstellation B auf einer im wesentlichen gleichen Streckenführung oder zu einer besonders sensiblen Verkehrszeit in kurzen Zeitabständen wiederholt aufgetreten ist. c) Haben die Demonstranten in weniger großen Städten nicht die angedeuteten Ausweichmöglichkeiten auf andere Demonstrationsrouten oder steht und fällt der Demonstrationsinhalt mit dem Demonstrationszeitpunkt (Jahrestag des „Nato-Nachrüstungsbeschlusses"), machen die beschriebenen Verbote die Demonstration mit dem vorgesehenen Inhalt insgesamt unmöglich. Die Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer und die Demonstrationsfreiheit stehen sich ohne jede Ausgleichsmöglichkeit in einem Entweder-Oder gegenüber. (Erst) jetzt schlägt der abstrakt hohe Rang des Art. 8 I G G auch konkret voll durch. Die Grundrechte der anderen Verkehrsteilnehmer haben zurückzustehen. Anderes gilt allerdings auch hier, wenn Demonstrationen die gleichen Verkehrsprobleme in kurzen Zeitabständen bereits wiederholt hervorgerufen haben. VI. Bisheriger Meinungsstand Es verbleibt die Aufgabe, die vorstehenden Ausführungen und Ergebnisse zu den Äußerungen in Beziehung zu setzen, welche sich in Literatur und Rechtsprechung zum Problemkreis finden. Dabei sind zwei Richtungen zu unterscheiden. Mit der ersten Richtung, welcher auch Wolfgang Martens zuzurechnen ist51, liegen die Bemühungen des Beitrages auf der gleichen Linie. Denn sie empfiehlt die Einzelabwägung nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles. Teilweise wird auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz hingewiesen. Mit der zweiten Richtung in Literatur und Rechtsprechung sind die vorstehenden Ausführungen und Ergebnisse hingegen teilweise nicht vereinbar. Diese Richtung geht von einer grundsätzlichen rechtlichen Privilegierung der Demonstration gegenüber dem sonstigen Straßenverkehr aus. Die Möglichkeiten der Behörde zum Einschreiten nach §15 1 VersG beschränken sie mehr oder minder auf Ausnahmefälle52, mitunter
51
In: Drews/Wacke/Vogel/Martens (Fn. 23), S. 178 f. S. ferner etwa Merten (Fn. 16), S.65f; Schwäble (Fn. 16), S. 222 ff; Dietel/Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 8. Auflage, 1985, §15 Rdn.62; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 8 Rdn.81; von Münch, G G , 3. Auflage 1985, Art. 8 Rdn.35.
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eher auf Extremkonstellationen53. Soweit irgend möglich und vertretbar muß der Verkehr und nicht die Demonstration umgeleitet werden. Dieser Richtung kann aus methodischen Gründen nicht gefolgt werden. Denn ihre Aussagen beruhen nicht auf der überkommenen Methode der Grundrechtsprüfung. Teilweise wird alleine eine abstrakte Wertabwägung vorgenommen54. In ihr setzt sich die hochwertige Demonstrationsfreiheit gegenüber den bloßen „Ordnungsbedürfnissen" der „Leichtigkeit des Verkehrs" durch. Soweit - im Ansatz richtig - auch die Umstände des konkreten Einzelfalles in die Abwägung einbezogen werden, geschieht das alleine für die Seite der nachteilig betroffenen Verkehrsteilnehmer (Art und Intensität der Beeinträchtigung). Daß gleichzeitig auch untersucht werden muß, wie mehr oder weniger intensiv eine in Betracht kommende staatliche Maßnahme in das Grundrecht der Demonstranten eingreifen würde, bleibt unberücksichtigt. Unbesehen wird jedem Eingriff in die Demonstrationsfreiheit höchstes Gewicht beigemessen. Der Hinweis auf die Möglichkeiten, den Verkehr umzuleiten, übersieht schließlich, daß es nicht nur um den Durchgangsverkehr, sondern auch um den an- und abfließenden Verkehr geht.
52 Hartmut Vogel, in: Das Recht auf Demonstration (Fn. 16), S.30; Ott, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 4. Auflage 1983, Einl. Rdn.20, §15 Rdn.9; VGH München, NJW 1984, 2116 (Innenstadtdemonstration in Würzburg am verkaufsoffenen Sonnabend). 53 Quilisch, Die demokratische Versammlung, 1970, S. 178 f; Bairl-Vaslirt (Fn. 1), S. 209. 54 Das kritisiert auch Schwäble (Fn. 16), S.218.
Baurecht"" und Immissionsschutz O T F R I E D SEEWALD
I. E i n l e i t u n g , 1. D e r
Umweltschutz
ist z u
Problemstellung
einer
Schicksalsaufgabe
des
modernen
Staates1 g e w o r d e n . D i e s e Feststellung läßt sich w o h l k a u m
ernsthaft
b e s t r e i t e n , u n d h i e r z u b e d a r f es a u c h k e i n e r a u s d r ü c k l i c h e n v e r f a s s u n g s rechtlichen Staatsziel- o d e r Aufgabenstellung2. D e r Staat hat sich dieser A u f g a b e seit e i n i g e r Z e i t a n g e n o m m e n ; e n t s p r e c h e n d d e n A n f o r d e r u n g e n des R e c h t s s t a a t e s ist u. a. ein u m f a n g r e i c h e s r e c h t l i c h e s I n s t r u m e n t a r i u m e n t w i c k e l t w o r d e n , m i t d e s s e n H i l f e die ö k o l o g i s c h e n u n d ö k o n o m i s c h e n P r o b l e m e 3 bewältigt w e r d e n sollen. D i e A u s d i f f e r e n z i e r u n g des U m w e l t r e c h t s in e i n e V i e l z a h l s p e z i e l l e r R e g e l u n g e n ( G e s e t z e , R e c h t s verordnungen,
Satzungen,
Verwaltungsvorschriften)4
führt
zu
einem
I n s t r u m e n t a r i u m , d a s b e r e i c h s s p e z i f i s c h die s p e z i e l l e n G e f a h r e n f ü r d i e U m w e l t b e n e n n t und m i t e i n e m relativ h o h e m G r a d an B e s t i m m t h e i t Maßnahmen
zur Beseitigung von Gefahren und Schäden
ermöglicht.
* Dieser Beitrag ist im Februar 1986 abgeschlossen worden. Inzwischen ist das BBauG erweitert und umbenannt worden (G. v. 8.12.1986, BGBl. I S. 2191) und als Baugesetzbuch (BauGB) bekannt gemacht worden (aaO, S. 2253). Eine Synopse von BBauG und BauGB findet sich bei Bröll/Dölker, Das neue Baugesetzbuch, 1987, 3/1. Der Gesetzgeber hat das hier abgehandelte Problem nicht gelöst, vgl. Lohr, Jura 1986, S. 465 ff, 468 sowie NVwZ 1987, S. 361 ff, 364. ' Breuer, Umweltschutzrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Hrsg. v. Münch), 7. Aufl. 1985, S. 535 ff, 542. 2 Vgl. Art. 141 BV (neu gefaßt durch G. v. 20.6.1984, GVB1. S.223) sowie - aus dem Schrifttum - : Rupp, Die verfassungsrechtliche Seite des Umweltschutzes, J Z 1971, S.401 ff; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978. 3 Vgl. zu den volkswirtschaftlichen Aspekten des Umweltschutzes bereits das Umweltgutachten 1978 (des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen) Ziff. 3, S. 522 ff; nach Angaben des Umweltbundesamtes sind in den Jahren 1980-1985 440000 neue Arbeitsplätze durch Investitionen im Umweltschutz geschaffen worden, SZ 25.10.1985, S. 1; daß die Ausgaben für den Umweltschutz Aufwendungen für Verluste in ähnlicher Höhe ersparen, wurde schätzungsweise ermittelt, vgl. SZ v. 6.5.1980, S. 4 („Wenn Rost das Wachstum frißt") m . w . N . auf einschlägige Untersuchungen; Schlichter, Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsfeld zwischen Umweltschutz und Wirtschaft, GewArch. 1978, S. 313 ff. 4 Vgl. Kloepfer, Umweltschutzrecht, Textsammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1981 ff (Loseblatt-Sammlung).
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Positiv an dieser Auffächerung des Umweltrechts ist die damit erreichte Genauigkeit, die im übrigen auch verfassungsrechtlich geboten sein dürfte zumindest hinsichtlich solcher Regelungen, die eine Beeinträchtigung von Rechtspositionen gestatten, die durch das bisherige Recht eingeräumt worden sind 5 . Weiterhin wird eine derartige Spezialisierung unumgänglich sein angesichts der Vielfalt der tatsächlichen Gefährdungen der Umwelt und der Notwendigkeit des Staates, einerseits wirksam, andererseits aber auch möglichst schonend 6 die umweltrechtlichen Ziele zu verfolgen. Nicht unbedenklich ist die Zersplitterung des Umweltrechts auf eine Vielzahl von Einzelgesetzen insoweit, als dadurch u . U . wesentliche Hauptziele des Umweltschutzes aus den Augen verloren werden. Der Umweltschutz dient in erster Linie dem Leben und der Gesundheit des Menschen, weiterhin dem menschlichen Wohlbefinden und wirtschaftlichen, durch Umweltbelastungen betroffenen Interessen. Dieser sog. anthropozentrische Interessenschutz 7 kommt in einer Vielzahl von Regelungen des Umweltschutzes zum Ausdruck. In einigen umweltrechtlichen Gesetzen wird als Ziel dieser Regelungen der Schutz von Leben und Gesundheit ausdrücklich genannt; beispielsweise ermächtigt das Chemikaliengesetz die Verwaltung zum Eingreifen, insbesondere zu Verordnungen, „soweit es zum Schutze von Leben und Gesundheit des Menschen erforderlich ist" (§§4 A b s . 6 ; 17 Abs. 1; 18 Abs. 1; 19 Abs. 1 sowie §§11 Abs. 1; 23 Abs. 2) mit dem Ziel, „durch besondere giftrechtliche und arbeitsschutzrechtliche Regelungen den Menschen und die Umwelt von schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe zu schützen" (§ 1). Teilweise wird die Gesundheit allein ausdrücklich als Schutzziel genannt, z . B . der Gesundheitsschutz des „Verbrauchers" (in § § 8 ; 9; 21 Abs. 1; 24; 16; 37 Abs. 3 L M B G ) 8 . Auch ohne ausdrückliche Erwähnung des Begriffs „Gesundheit" kann der Schutz auch dieses Rechtsgutes gemeint sein; so wird z . B . die „Gefahr" in §§1, 3 u. 5 N r . 1
5 Entsprechend der „Wesentlichkeitslehre" des BVerfG, derzufolge der Gesetzgeber „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst . . . treffen muß" - zuletzt E61, S.260ff, 275. 6 Soweit damit Eingriffe insb. in das Eigentum verbunden sind, ergibt sich das aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (hierzu Ossenbühl, Festgabe Gesellschaft für Rechtspolitik 1984, S. 315 ff) und der daraus folgenden Notwendigkeit „weicher" Übergangsregelungen (BVerfG in std. Rspr., z . B . E58, S.300ff, 338); zur Bedeutung des Eigentums vgl. Broß, Umweltbelastende Betriebe und Eigentumsschutz, D Ö V 1978, S. 283 ff; die Spannungslage zwischen Eigentum und Leben (Gesundheit) wird letztlich auch in BVerfGE 20, S. 351 ff, 361 ff zugunsten der Gesundheit gelöst. 7 Breuer, aaO, S.544 mit Hinweis auf Rehbinder, RabelsZ 40 (1976) S. 369 ff. 8 V. 15. 8.1974 (BGBl. I S. 1945, 1946; mit Ber. u. Änd. - BGBl. III 2125 - 40).
Baurecht und Immissionsschutz
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BImSchG - ebenso wie im traditionellen Polizeirecht' - als eine Bedrohung auch von Leben und Gesundheit des Menschen definiert10 bestätigt wird das durch § 25 Abs. 2 BImSchG, nach dem nicht-genehmigungsbedürftige Anlagen bei Gefahren für das Leben oder die Gesundheit von Menschen untersagt werden können. Eine derartige anthropozentrische Ausrichtung umweltrechtlicher Regelungen finden sich auch in untergesetzlichen Bestimmungen, die ausdrücklich dem Gesundheitsschutz dienen. So definiert z.B. §2 StörfallVO (12. BImSchVO)11 die „Gemeingefahr" im Sinn der Verordnung als „eine Gefahr für Leben oder hinsichtlich schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen für Menschen, die nicht zum Bedienungspersonal des gestörten Anlageteils gehören" und „für die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen...". Weiterhin wird der Gesundheitsschutz in gleicher Weise in Verwaltungsvorschriften konkretisiert; z.B. dient die Festlegung der Immissionswerte durch die „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft - TA Luft"12 dem „Schutz vor Gesundheitsgefahren" (Ziff. 2.5.1). Ahnliches gilt - um ein weiteres Beispiel zu nennen - für die Festlegung von Grenzwerten von Rückständen von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln (§14 Abs. 2 LMBG und die darauf beruhende „HöchstmengenVO"). In gleiche Richtung gehen auch die Bestimmungen des sog. medialen Umweltschutzes", deren Anliegen es in erster Linie ist, die Natur und Landschaft zu schützen, um damit die „Lebensgrundlagen des Menschen" zu sichern (vgl. § 1 Abs. 1 BNatSchG); auch insoweit ist Umweltschutz kein Selbstzweck, sondern letztlich auf den Menschen bezogen. Somit scheinen Leben und Gesundheit des Menschen gleichsam als ein Bindeglied, möglicherweise als das wichtigste Bindeglied, zwischen den verschiedenen Bereichen des Umweltschutzes zu funktionieren. Mit den folgenden Ausführungen soll der Frage nachgegangen werden, ob der damit bewerkstelligte Zusammenhang des Umweltrechtes sich lediglich in der Ebene verhältnismäßig unverbindlicher Zielsetzungen abspielt unverbindlich insoweit, als die jeweils nachfolgenden konkreten Maß' Für alle Martens, in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 2. Bd., 8. Aufl. 1977, S. 120 sowie Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 22. 10 Für alle Jarass, BImSchG Kommentar 1983, § 3 Rdn. 15, 21 ff, 26 (Gesundheitsschäden, m. zahlreichen Nachweisen); ebenso Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 84. 11 V. 2 7 . 6 . 1 9 8 0 (BGBl. I S.772, geänd. durch V O v. 2 4 . 7 . 1 9 8 5 , BGBl. I S. 1586 BGBl. III 2129-8-1-12). 12 T A Luft v. 2 3 . 2 . 1 9 8 3 (GMB1. S. 93). 13 Hierzu Breuer, aaO, S. 555 f m. w. N.
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Stäbe d e r e n t s p r e c h e n d e n R e g e l u n g in erster Linie u n d häufig abschließ e n d a n z u w e n d e n sind
o d e r o b sich L e b e n u n d G e s u n d h e i t
des
M e n s c h e n d a r ü b e r hinaus als R e c h t s m a ß s t ä b e erweisen, die z u einer V e r k n ü p f u n g u m w e l t r e c h t l i c h e r R e g e l u n g e n in der E b e n e u n m i t t e l b a r e r V e r b i n d l i c h k e i t v o n R e c h t s n o r m e n führt. D i e s e r F r a g e soll n a c h g e g a n gen w e r d e n i m H i n b l i c k auf die B e z i e h u n g e n z w i s c h e n
Immissions-
s c h u t z r e c h t u n d d e m B a u p l a n u n g s r e c h t 1 4 - beide R e c h t s g e b i e t e w e r d e n dem U m w e l t r e c h t zugeordnet15. 2. D a s N e b e n e i n a n d e r , m ö g l i c h e r w e i s e die V e r k n ü p f u n g v o n B a u p l a n u n g s r e c h t u n d I m m i s s i o n s s c h u t z r e c h t 1 6 w i r d in d e m A u g e n b l i c k
zu
einem p r a k t i s c h e n P r o b l e m , in d e m L u f t m e s s u n g e n in einer G e m e i n d e v o r g e n o m m e n w o r d e n sind u n d festgestellt w o r d e n ist, d a ß die L u f t q u a lität n i c h t den A n f o r d e r u n g e n i m m i s s i o n s s c h u t z r e c h t l i c h e r B e s t i m m u n gen, i n s b e s o n d e r e n i c h t den A n f o r d e r u n g e n d e r T A L u f t genügen 1 7 . In w e l c h e m U m f a n g e e n t s p r e c h e n d e M e s s u n g e n i n s b e s o n d e r e in G r o ß s t ä d ten u n d B a l l u n g s g e b i e t e n z u e i n e m derartigen E r g e b n i s f ü h r e n w ü r d e n , d a r ü b e r lassen sich z. Z t . n u r V e r m u t u n g e n anstellen. D i e
Annahme,
d a ß die L u f t q u a l i t ä t in diesen G e b i e t e n n i c h t selten u n t e r d e m S t a n d a r d liegt, den die T A L u f t v o r s c h r e i b t , ist d u r c h a u s gerechtfertigt 1 8 . A u s der Sicht des I m m i s s i o n s s c h u t z r e c h t e s stellt sich das P r o b l e m bei der A n w e n d u n g d e r B e s t i m m u n g e n des 5. Teils des B I m S c h G ( § § 4 4 — 4 7 ; 14 Der Schutz von Leben und Gesundheit durch das Zusammenwirken von Immissionsschutz und Bauordnungsrecht soll hier nicht behandelt werden; bemerkt sei allerdings, daß gesundheitsschädliche Immissionen als Störungen der öffentlichen Sicherheit bewertet werden, vgl. z.B. für das nds. BauO-Recht Grosse-Suchsdorf/Schmaltz/Wiechert, Niedersächsische Bauordnung Kommentar, 2. Aufl. 1978, §1 Rdn. 11; Simon, Bayerische Bauordnung Kommentar, Stand: Mai 1985 Art. 3 Rdn. 10. 15 Z. B. die Zusammenfassung der umweltrechtlichen Materien bei Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, 1978, sowie ders., s.o. Fn.4. " Der Zusammenhang von raumbedeutsamen Planungen und dem Umweltschutz wird in folgenden Werken behandelt: Boese/Gutsch/Hanke/Ruosch/Wicht, Planungsfaktor Umweltschutz, 1976; Kühl, Umweltschutz im materiellen Raumordnungsrecht, 1977, Umweltgutachten 1978, Ziff. 1.31 (Stadtentwicklung und Umweltschutz); Heimerl, Umweltschutz in der Bauleitplanung unter besonderer Berücksichtigung des bayerischen Rechts, 1979; Stich/Porger/Steinebach, Planen und Bauen in immissionsbelasteten Gemengelagen, 1983; Menke, Bauleitplanung in städtebaulichen Gemengelagen, 1984. 17 Z.B.: „Luftmessungen im Hamburg-Zwischenbericht", Mitt. d. Senats an die Bürgerschaft v. 3.6.1980 (Drs. 9/2371, nebst Kartenwerk, Anlage zu dieser Bürgerschaftsdrucksache) vgl. auch schon OVG Hamburg DVB1. 1975, S.207 (Fall „Reynolds"). 18 Vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NW, Luftreinhalteplan Ruhrgebiet West 1978-1982 (Duisburg-Oberhausen-Mühlheim), 1977, sowie Luftreinhalteplan Ruhrgebiet Ost (Dortmund), 1978 - beide gemäß §47 BImSchG; für mindestens 9 der 27 Belastungsregionen, für die die Vorbedingungen für die Aufstellung eines Luftreinhalteplanes schon seit Mitte der 70er Jahre gegeben sind, hatten 1975 die Arbeiten noch nicht begonnen, WZB-Mitteilungen 1985, M. 30, S. 33; die - ausgewiesenen - Belastungsgebiete zu Beginn 1977 sind in Umwelt 1977, S. 235 aufgefüht.
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465
darüber hinaus wohl auch: §49). Denkbar ist aber weiterhin, daß derartige Feststellungen Auswirkungen auch auf die baurechtliche Situation in den betreffenden Gebieten hat; es scheint nicht ausgeschlossen, daß in diesen Fällen sowohl die Tätigkeit der Gemeinde auf dem Gebiete der Bauleitplanung beeinträchtigt ist als auch die Zulässigkeit einzelner baulicher Vorhaben „innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile" (nicht-qualifiziert-beplanter Innenbereich) 19 und auch im Außenbereich20 berührt werden. Die Verknüpfung von Umweltrecht und Baurecht wird z.B. aus der Sicht des Immissionsschutzrechtes durch §50 BImSchG vorgenommen; danach sind bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen die für eine Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, daß schädliche Umwelteinwirkungen auf die ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienende Gebiete sowie auf sonstige schutzbedürftige Gebiete soweit wie möglich vermieden werden. Und aus dem Blickwinkel des Baurechts werden gleichsam komplementär und verhältnismäßig umfangreich umweltrechtliche Maßstäbe als baurechtliche Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Bauleitplanung und baulichen Einzelmaßnahmen normiert. Für die Bauleitplanung allgemein, also sowohl für den Flächennutzungsplan und den Bebauungsplan (§ 1 Abs. 2 BBauG), sind diese Anforderungen in den Planungsgrundsätzen des § 1 Abs. 6 S. 2 BBauG enthalten; danach sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne insbesondere zu berücksichtigen die natürlichen Gegebenheiten sowie die Entwicklung der Landschaft und die Landschaft als Erholungsraum, die Belange des Umweltschutzes, die Erhaltung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere des Bodens einschließlich mineralischer Rohstoffvorkommen, des Wassers, des Klimas und der Luft, die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege, die Belange der Land- und Forstwirtschaft. Dementsprechend sind im Flächennutzungsplan insbesondere darzustellen die Flächen für Versorgungsanlagen, für die Verwertung oder Beseitigung von Abwasser und festen Abfallstoffen sowie für Hauptversorgungs- und Hauptabwasserleitungen, die Grünflächen, die Flächen für Nutzungsbeschränkungen oder für Vorkehrungen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des BImSchG sowie die Flächen für die Landwirtschaft und für die Forstwirtschaft 21 . Und die entsprechende Regelung für die Festset-
" So die gängige Bezeichnung, für alle: Ernst/Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, 2. Auflage 1981, Rdn.333, 336; Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, 1981, S. 181. 20 Definition in §19 Abs. 1 N r . 3 BBauG. 21 §1 Abs. 6 S. 3, 8., 12.-14. und 16. Spiegelstrich BBauG.
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zungen im Bebauungsplan läßt ebenfalls Rückschlüsse zu auf die N o t wendigkeit der Berücksichtigung umweltrechtlicher Belange, indem der Bebauungsplan - soweit es erforderlich ist - folgende Festsetzungen enthalten muß: Flächen für die Verwertung oder Beseitigung von Abwasser und festen Abfallstoffen sowie für Ablagerungen, öffentliche und private Grünflächen, Wasserflächen sowie Flächen für die Wasserwirtschaft, Flächen für die Landwirtschaft und für die Forstwirtschaft, Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung der Landschaft, soweit solche Festsetzungen nicht nach anderen Vorschriften getroffen werden können, die Gebiete, in denen bestimmte, die Luft erheblich verunreinigende Stoffe nicht verwendet werden dürfen, die von der Bebauung freizuhaltenden Schutzflächen und ihre Nutzung, die Flächen für besondere Anlagen und Vorkehrungen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des BImSchG sowie die zum Schutz vor Seucheneinwirkungen oder zur Vermeidung oder Minderung solcher Einwirkungen zu treffenden Vorkehrungen 22 . Die Zulässigkeit von Vorhaben im Innenbereich ist nicht in der gleichen Weise ausdrücklich normiert; über das Merkmal der „sonstigen öffentlichen Belange", die einem derartigen Bauvorhaben nicht entgegen stehen dürfen, werden jedoch die in § 1 Abs. 6 S. 2 BBauG enthaltenen öffentlichen Belange in § 34 Abs. 1 BBauG einbezogen 23 . Für die Zulässigkeit von Baumaßnahmen im Außenbereich nennt das BBauG ausdrücklich eine Anzahl umweltrechtlicher Gesichtspunkte als „öffentliche Belange"; diese Belange sind beeinträchtigt und führen zu einer Unzulässigkeit von Baumaßnahmen im Außenbereich, wenn diese schädliche Umwelteinwirkungen hervorrufen können oder ihnen ausgesetzt werden, wenn die Wasserwirtschaft gefährdet wird, wenn Belange des Natur- und Landschaftsschutzes beeinträchtigt werden, wenn die natürliche Eigenart der Landschaft oder ihre Aufgabe als Erholungsgebiet beeinträchtigt wird24. Weiterhin sind die bauplanungsrechtlichen Maßnahmen von einem Erfordernis abhängig, das ebenfalls sowohl für die Bauleitplanung als auch für die Zulässigkeit einzelner Vorhaben durchgehend normiert ist; es handelt sich um die „allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnund Arbeitsverhältnisse", die in § 1 Abs. 6 S. 2 als (erster) Planungsgrundsatz aufgeführt sind; diese Anforderungen dürfen auch von Vorhaben im Innenbereich nicht beeinträchtigt werden (§ 34 Abs. 1 letzter 22
§5 Abs. 2 N r . 4-6, 9 BBauG. Ernst/Hoppe, aaO, Rdn. 387 mit Hinweis auf Bielenberg/Dyong, Die Novellen zum Bundesbaugesetz, Die neue Baunutzungsverordnung, Das neue Städtebauförderungsgesetz, 3.Aufl. 1979, Rdn. 142; Finkelnburg/Ortloff, aaO, S. 186; Sckrödter, in: ders., BBauG, 4. Aufl. 1980, §34 Rdn. 12. 24 § 35 Abs. 3, 2., 4. u. 7. Spiegelstrich BBauG. 23
Baurecht und Immissionsschutz
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HS), und auch für das Bauen im Außenbereich ist die „Gesundheit" ein planungsrechtlich verbindlicher öffentlicher Belang; aus §35 Abs. 3 3. BBauG läßt sich entnehmen, daß die Gesundheit durch die erforderlichen Aufwendungen geschützt werden muß; auch falls derartige Aufwendungen nach Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten nicht mehr vertretbar wären, ist ein entsprechendes Vorhaben gleichwohl unzulässig25. Vor dem Hintergrund dieser hier dargelegten Verknüpfung zwischen Baurecht und Umweltrecht ist nun die Frage zu stellen, welche baurechtliche Bedeutung die Feststellung hat, daß die Luftqualität nicht den Anforderungen der TA Luft und somit nicht den Anforderungen des BImSchG genügt. Ziel dieser Untersuchung ist es im besonderen, der Frage nachzugehen, ob der baurechtliche Schutz der Gesundheit im Rahmen der Abwägung der verbindlichen planungsrechtlichen Gesichtspunkte gem. § 1 Abs. 7 BBauG oder auch im Rahmen der Genehmigung von Vorhaben im Innenbereich sowie im Außenbereich relativiert werden kann oder ob es sich um einen rechtlich verbindlichen Maßstab handelt, der absolute Grenzen kennt, wobei diese Grenzen auch im Rahmen einer bauplanungsrechtlichen Abwägung nicht unterschritten werden dürfen. Dieser Frage soll zunächst nicht für alle Gebietstypen des BBauG26 nachgegangen werden; vielmehr soll geprüft werden, inwieweit die Gemeinde unter dem hier genannten Gesichtspunkt Bindungen unterliegt bei der Schaffung ihres baurechtlichen Ortsrechtes 27 , also bei der Bauleitplanung, und dabei in erster Linie wieder hinsichtlich ihrer Bebauungspläne; denn die Gemeinde wird im Regelfall bemüht sein, einen — qualifizierten - Bebauungsplan zu erstellen angesichts der zahlreichen Vorteile, die ein solcher Plan bietet (vgl. §§19 ff, 24 ff, 39b ff, 45ff, 85ff BBauG!). II. Die Maßstäbe des einfach-gesetzlichen Rechtes Die Beantwortung der hier gestellten Frage nach der Bedeutung des Umweltschutzes und des Gesundheitsschutzes für die verbindliche Bauleitplanung der Gemeinde führt zunächst zu der weiteren Frage, welches konkret die Maßstäbe sind, nach denen man die „Belange" des Umweltschutzes - hier im Hinblick auf die Luftqualität - bestimmen kann. Die Regelungstechnik des BImSchG, vor allem die Festlegung der Grenzwerte in der TA Luft und der Methoden zur Ermittlung dieser Grenz-
25 Das folgt bereits aus dem Gesetzestext; vgl. auch Schrödter, aaO, §35 Rdn. 14; Dyong, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BBauG, Stand: 15.4.1985, §35 Rdn. 87-90; ebenso Menke, aaO (Fn. 16), S. 193. 26 Dazu Ernst/Hoppe, aaO, Rdn. 332. 27 § 10 BBauG; dazu auch BVerwG DBV1. 1972, S. 119ff m. Anm. Blümel.
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werte deuten darauf hin, daß man die Frage der Belange des Umweltschutzes, vor allem der Erhaltung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere der Luft, wahrscheinlich sehr präzise beantworten kann 28 . Und mit einer weiteren Anschlußfrage geht es um das Problem, ob für den Begriff der „ungesunden W o h n - und Arbeitsverhältnisse" ebenfalls die Möglichkeit einer Konkretisierung besteht, die zumindest teilweise und in Grenzbereichen eine exakte Aussage darüber zuläßt, ob diese Voraussetzung erfüllt ist". Schließlich führt diese Fragestellung zu einem dritten weiteren Problem: Gesetzt den Fall, man kommt zu dem Ergebnis, daß ein geplantes Vorhaben zu ungesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen führt — bedeutet das dann ein absolutes Verbot eines solchen Vorhabens und demnach die Unzulässigkeit einer entsprechenden planerischen Ausweisung? Nicht völlig ausgeschlossen scheint insoweit die Möglichkeit einer Abwägung mit einer entsprechenden Relativierung der Bedeutung dieses Planungsgrundsatzes zu sein; denn in § 1 Abs. 6 B B a u G heißt es ja lediglich, daß „die allgemeinen Anforderungen an gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse . . . zu berücksichtigen" sind. Und in § 1 Abs. 7 B B a u G , in diesem Drehkreuz der bauplanerischen Entscheidung, heißt es, daß „bei der Aufstellung der Bauleitpläne . . . die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen" sind; das läßt auf den ersten Blick die Vermutung zu, daß auch die Belange des Umweltschutzes und des Gesundheitsschutzes abwägungsfähig sind, daß also diese Belange möglicherweise keine absoluten, festen Grenzen der Bauleitplanung darstellen 30 .
28 Zu den qualitativen und den quantitativen Aspekten dieses Problems vgl. z.B. „Medizinische, biologische und ökologische Grundlagen zur Bewertung schädlicher Luftverunreinigungen", Sachverständigenanhörung des BMinI v. 2 0 . - 2 4 . 2 . 1 9 7 8 (Hrsg. Umweltbundesamt, 1978). 29 Ähnlich wohl: Schrödter, aaO, § 1 Rdn. 9 c letzter Abs., Rdn. 10 a; unklar: SchmidtAßmann, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, aaO, § 1 Rdn. 191, 193. 30 In diese Richtung sind grundsätzlich sowohl die Rechtsprechung - vgl. z . B . B V e r w G v. 1 . 1 . 1 9 7 4 B R S B d . 2 8 N r . 6 als auch das Schrifttum zu verstehen - vgl. z . B . Schrödter, a a O , Rdn. 2 6 ; Schmidt-Aßmann, aaO, Rdn. 3 2 0 ; auch noch Menke, aaO, S. 2 1 2 ; danach schließt einerseits das Rücksichtnahmegebot eine rein schematische Anwendung der in der T A L ä r m und der T A Luft niedergelegten Immissionswerte aus; andererseits (aaO, S. 2 1 4 ) soll angesichts des materiellen Gleichklangs zwischen Immissionsschutz und Bauplanungsrecht „an sich keine Divergenz zwischen den nach § 6 N r . 2 B I m S c h G zu beachtenden bauplanerischen Festsetzungen und den Anforderungen des immissionsschutzrechtlichen Schutzprinzips ( § § 6 N r . 1, 5 BImSchG) ergeben"; außerdem seien die entsprechenden Korrekturmöglichkeiten „äußerst begrenzt" (aaO, S. 100, im Hinblick auf die Problematik in sog. Gemengelagen).
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Baurecht und Immissionsschutz
D i e s e V e r m u t u n g m u ß m a n ü b e r p r ü f e n ; i m m e r h i n ist es ja a u c h d e n k b a r , daß v o r allem der S c h u t z der m e n s c h l i c h e n G e s u n d h e i t v o n R e c h t s w e g e n eine gewisse G r e n z e n i c h t u n t e r s c h r e i t e n darf 3 1 . 1. Die Regelungen
des Umweltrechts,
insbesondere
des
BImSchG
A h n l i c h w i e a n d e r e B e s t i m m u n g e n des U m w e l t r e c h t e s k o n k r e t i s i e r t das B I m S c h G seine Z i e l s e t z u n g e n - vgl. i m einzelnen § 1 B I m S c h G
-
d u r c h R e c h t s n o r m e n , m i t denen b e s t i m m t e G e f a h r e n q u e l l e n erfaßt w e r den m i t d e m Ziel, U m w e l t g e f ä h r d u n g e n u n d - b e e i n t r ä c h t i g u n g e n bei ihren U r s a c h e n z u p a c k e n , u m gleichsam a m A u s g a n g s p u n k t U m w e l t schäden
vorsorglich
Umweltschutzes
33
zu
begegnen 3 2 .
Diese
Methode
des
kausalen
führt z u einer R e g e l u n g s t e c h n i k , n a c h der M e ß v e r -
fahren u n d G r e n z w e r t e für eine b e s t i m m t e A n z a h l gefährlicher Stoffe festgelegt w e r d e n .
Dabei wird
überwiegend
naturwissenschaftliches,
m e d i z i n i s c h e s u n d technisches W i s s e n in r e c h t l i c h h a n d h a b b a r e R e g e l u n g e n u m g e s e t z t , u n d diese R e g e l u n g s t e c h n i k gestattet es, den t y p i schen G e f a h r e n eines u m w e l t r e c h t l i c h e n Regelungsbereiches 3 4 z u b e g e g nen. U n d m i t der F e s t l e g u n g v o n M e ß m e t h o d e n u n d
Grenzwerten35
w e r d e n zugleich a u c h die G e f a h r e n l a g e n v e r h ä l t n i s m ä ß i g präzise defi-
51 Nämlich z. B. dann nicht, wenn der in den Grundrechten steckende „Menschenwürdegehalt" („Menschenwürdekern") einen verfassungsrechtlichen Minimalschutz unabdingbar fordert, vgl. hierzu allgemein z.B. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II 1985, Rdn.415, S. 92. 32 Zum „Vorsorge"-Prinzip des BImSchG vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 341 mit Hinweis auf Feldhaus, Der Vorsorgegrundsatz des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, DVB1. 1980. S. 133 ff, 136 und Seilner, Zum Vorsorgegrundsatz im Bundes-Immissionsschutzgesetz, NJW 1980, S. 1255 ff, 1257. 53 Breuer, aaO, S. 556 ff. 34 Definiert werden diese spezifischen Gefahren durch die jeweiligen quantitativen und qualitativen Maßstäbe des betreffenden Rechtsgebietes; das führt zur Frage nach dem Sinn eines einheitlichen, allgemeinen Gefahrbegriffs, vgl. hierzu Hansen-Dix, passim sowie Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982, S. 89 ff; hinzuweisen ist auf die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Vollzugs entsprechender rechtlicher Vorgaben, vgl. hierzu: Plesch/Tölg, Darf die Legislative die Analytik festlegen? Umwelt 1976, S. 183 ff; Vallendar, Ermittlung und Beurteilung von Immissionen nach der TA Luft - statistische Methoden als Problem des Untersuchungsgrundsatzes, GewArch. 1981, S. 281 ff; in diesem Zusammenhang ist außerdem zu bemerken, daß die Problematik synergetischer Wirkungen verschiedener Schadstoffe offensichtlich eine offene medizinisch-naturwissenschaftliche Frage ist und (deshalb) bislang rechtlich nicht geregelt werden konnte; vgl. auch Rengeling, Der Stand der Technik zur Bekämpfung der Luftverunreinigung, 1985. 35 Insoweit sind Gesetzgeber und Rechtsanwender weitgehend auf das Urteil nichtjuristischer Fachleute angewiesen - insbesondere also auch auf die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit z. B. hinsichtlich der Bestimmung von Krankheitsursachen oder der Nachweisbarkeit von Schadstoffen, zu dem gesamten Problem auch Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, passim, insb. S. 327 ff.
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Otfried Seewald
niert; denn wenn die Anforderungen z. B. des BImSchG durch Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften verbindlich konkretisiert werden, dann führt eine Überschreitung der Grenzwerte zugleich auch zu der Feststellung, daß der Zweck des Gesetzes, nämlich die Abwehr von Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen durch Umwelteinwirkungen nicht erreicht wird und daß offensichtlich schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des Gesetzes vorliegen36. Von rechtlicher Bedeutung ist dabei das Maß an Verbindlichkeit, das untergesetzliche Regelungen besitzt. Handelt es sich lediglich um Verwaltungsvorschriften, so wird man darauf beruhenden Feststellungen auch nur die Bedeutung von „antezipierten Sachverständigengutachten" zuerkennen dürfen"; das läßt theoretisch den (auf umweltrechtliche Bestimmungen gestützten) Gegenbeweis zu, daß in Wahrheit eine Gefährdung oder Beeinträchtigung der Umwelt nicht vorliege38. Werden jedoch derartige Festlegungen von Grenzwerten und Meßmethoden als Rechtsverordnung erlassen - Beispiele hierfür: die HöchstmengenVO gem. §14 Abs. 2 LMBG und die StrahlenschutzVO 3 ' nach dem Atomgesetz 40 - dann ist für die Verwaltung in diesen Fällen eine abstrakte Gefahr verbindlich normiert mit der Folge, daß bei Eintreten der Tatbestandsmerkmale dieser Rechtsverordnungen nicht rechtserheblich eingewendet werden kann, daß eine konkrete Gefährdung nicht gegeben sei. Als Folge derartiger Feststellungen von Überschreitung der immissionsschutzrechtlichen Grenzwerte kommt - aus bauplanungsrechtlicher Sicht - die Ausweisung von „Flächen für Nutzungsbeschränkungen oder für Vorkehrungen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des BImSchG" gem. § 5 Abs. 2 Nr. 6 u. § 9 Abs. 1
36 Hierzu schon Breuer, Direkte und indirekte Rezeption technischer Regeln durch die Rechtsordnung, AöR Bd. 101 (1976), S. 46 ff m. w . N . insb. in Fn. 1. 37 Breuer (Fn. 36), S.82 m.w. H. in Fn. 191; das BVerwG ist diesem Gedankengang weitgehend gefolgt: E55, S. 250ff, LS2, S.256 - „Voerde"; differenzierend Marburger, aaO, S. 298, 347, 426; zweifelnd Menke, aaO, S. 84 mit zahlreichen Nachw. in Fn. 2 sowie (aaO, S. 86 in Fn. 1) mit Hinweis auf Breuer, der selbst insoweit von einer „Notlösung" gesprochen habe (Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach §48 BImSchG, DVB1. 1978, S. 28 ff, 36 f). 3' Praktisch wird dieser Gegenbeweis kaum gelingen; zu bedenken ist vielmehr, daß die Einhaltung der Grenzwerte der TA Luft keine Garantie für gesunde Umweltbedingungen darstellt - beispielsweise ersichtlicherweise dann, wenn einschlägige DIN-Vorschriften nicht beachtet sind: vgl. Schmidt-Aßmann, aaO, § 1 Rdn. 193, S. 144 und Menke, aaO, S. 82 m. w. H. auf die Rspr. in Fn. 3 und 4; letzterer verweist zu Recht auf die bislang nicht lückenhaften Kenntnisse hinsichtlich sog. synergetischer Wirkungen von Schadstoffen, aaO, S. 84 in Fn. 3. 39 V. 1 3 . 1 0 . 1 9 7 6 (BGBl. I S. 2905 - BGBl. III 751-1-1). 40 I.d.F. v. 3 1 . 1 0 . 1 9 7 6 (BGBl. I S.3053 - BGBl. III 751-1).
Baurecht und Immissionsschutz
471
N r . 24 B B a u G in Frage. Allerdings stehen die Belange des Umweltschutzes und die Erhaltung und Sicherung der Luft ausweislich der Notwendigkeit, aber auch der Zulässigkeit der Abwägung dieser Belange gem. § 1 Abs. 7 B B a u G in gewissem Umfang möglicherweise zur Disposition im Rahmen bauplanerischer Festsetzungen, so daß möglicherweise unter diesem Aspekt eine Ausweisung von Freiflächen für die Bereiche, in denen die Uberschreitungen der T A Luft gemessen worden sind, u. U . nicht zwingend erforderlich ist.
2. Gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse als Maßstab für das Bauplanungsrecht Möglicherweise führt der Maßstab der „allgemeinen Anforderungen an gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse" zu Restriktionen der Bauleitplanung im Sinne fester Grenzen in den Gebieten, in denen die Luftqualität das durch die T A Luft festgesetzte Minimum unterschreitet.
a) Baurechtlicher
Gesundheitsbegriff
Zunächst ist zu fragen, was das B B a u G wohl mit diesem Begriff „gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse" meint. Grundsätzlich kann jedes Gesetz seine eigene Begrifflichkeit beanspruchen; demnach ist es nicht ausgeschlossen, daß das B B a u G hier einen speziellen bauplanungsrechtlichen Gesundheitsbegriff verwendet. Soweit ersichtlich, ist das bisher weder im Schrifttum 41 noch in der Rechtsprechung 42 jemals behauptet worden; auch aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich kein entsprechender Hinweis. Vielmehr wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Planung nicht Gefahrentatbestände im Sinne des allgemeinen Polizeirechts hervorrufen darf43. Somit kann zunächst davon ausgegangen werden, daß die in diesem Begriff angesprochene „Gesundheit" sich mit Sicherheit und zunächst auf den Menschen bezieht. Das ist keineswegs selbstverständlich; denn in zahlreichen Bestimmungen des Umweltrechts werden gleichsam in einem Atemzug die Gesundheit von bei-
41 Vgl. z. B. Stich, Immissionsschutz als Teil der „Anforderungen an gesunde Wohnund Arbeitsverhältnisse" in §34 Abs. 1 BBauG 1976, GewArch. 1979, S. 41 ff m . w . N . S.42, 43; Schrödter, aaO, §1 Rdn.lOa; Schmidt-Aßmann, aaO, §1 Rdn.l86ff. 42 Die Inkorporierung der Maßstäbe z. B. der TA Luft auf dem Weg des „antezipierten Sachverständigengutachtens" (BVerwGE 55, S. 250 ff, 256 ff) deutet eher in die Richtung eines im BBauG und dem BImSchG einheitlich zu verstehenden Begriffs von „Gesundheit". 43 Z. B. Stich, aaO, S. 47; in quantitativer Hinsicht ist der Gesundheitsschutz im allgemeinen Polizeirecht (etwas) weniger intensiv als im Bau- und Umweltrecht, vgl. Schmidt-Aßmann, aaO, § 1 Rdn. 194 mit Hinweis auf die Rspr. des BGH.
472
Otfried Seewald
spielsweise Mensch und Tier geschützt 4 4 ; demnach ist das Verständnis von „Gesundheit" im Umweltrecht keineswegs automatisch auf die Befindlichkeit von Menschen beschränkt. Weiterhin ist zu bedenken, daß das Umweltrecht nicht nur Mensch und Tier schützt, sondern darüber hinaus auch Pflanzen 4 5 ; es ist bislang zwar in der Rechtssprache ungebräuchlich, auch insoweit von Gesundheit zu sprechen; in der Umgangssprache ist jedoch eine entsprechende Terminologie durchaus gebräuchlich („gesunder" oder „kranker, sterbender" Wald u. ä.)46. Schließlich wird in der Gesetzessprache der Begriff „ g e s u n d " auch verwendet ohne jegliche Beziehung zur Befindlichkeit von Lebewesen, wenn beispielsweise die Genehmigung zu einer Veräußerung von landwirtschaftlichen Grundstücken davon abhängig gemacht wird, daß die Veräußerung „eine ungesunde Verteilung des G r u n d und B o d e n s " bedeutet (§ 9 A b s . 1 N r . 1 GrdstVG) 4 7 . b) Rückgriff auf außerrechtliche Maßstäbe Bei der Suche nach dem zutreffenden Verständnis von „Gesundheit" im Bauplanungsrecht bietet sich der Rückgriff auf außerrechtliche D e finitionen an, auch auf solche in rechtspolitischen Forderungen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Präambel der W H O ; danach ist „Gesundheit . . . ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen" 4 8 . Diese Definition ist generell insoweit aufschlußreich, als sie „Gesundheit" und „Krankheit" nicht nur als gleichsam komplementäre Erscheinungen versteht. Unklar bleibt gleichwohl, von welchem Krankheitsbegriff diese Formel ausgeht 49 . D a s Bundesverfassungsgericht hat im übrigen die Bedeutung dieses Gesundheitsverständnisses für den U m f a n g der staatlichen Schutzpflicht zugunsten der durch Art. 2 Abs. 2 G G geschützten körperlichen Unversehrtheit erörtert, ohne sich allerdings klar für oder gegen die Möglichkeit einer Inkorporierung dieses Begriffes in das Recht entschieden zu haben 50 . 44 Z . B . §§ 1 Abs. 1 N r . 4 ; 5 Abs.2; 8 Abs. 1 N r . 2 u . 3 PflSchG; §§36 Abs. 1; 71 Abs. 1 ArzneimittelG. 45 Z. B. ausdrücklich in §§ 1; 3 Abs. 2 BImSchG. 44 Z . B . SZ v. 30.10.1985, S . l : „Das Waldsterben geht weiter - Zunahme aber verlangsamt" - Bericht über den „Waldschadensbericht 1985" der Bundesregierung. 47 V. 28.7.1961 (BGBl. I S. 1091, ber. S. 1652 u. 2000 - BGBl. III 7810-1). 41 Deutsche Übersetzung der „Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht" der Universität Hamburg, in: Dokumente, H . VI, hrsg. von der „Forschungsstelle...", 1955. 49 Zu den nicht-juristischen, medizinischen und politischen Krankheitsbegriffen: Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 14-36. 50 BVerfGE 56, S. 54 ff, 73.
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Dieser weitgehende Gesundheitsbegriff ist dem Umweltrecht zumindest nicht allgemein zugrunde zu legen; denn andernfalls wäre der besonders ausgewiesene Schutz vor (erheblichen) Belästigungen (z. B. in §§ 1; 3 Abs. 1 - nicht aber in § 25 N r . 2 - BImSchG) oder des „Wohlbefindens" der Menschen (§2 Abs. 1 AbfG) 51 unverständlich. Das Baurecht bietet insoweit keine verläßlichen Hinweise; dementsprechend wäre wohl auch die Meinung vertretbar, daß die Anforderung an gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse bereits begrifflich auch die Vorsorge gegen erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen einbezieht, die an sich nach dem Immissionsschutzrecht nur im Hinblick auf genehmigungsbedürftige Anlagen geschützt sind. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts hinzuweisen, wonach die durch Art. 2 Abs. 2 G G geschützte Gesundheit im Prinzip nicht weniger als das durch Art. 14 Abs. 1 G G geschützte Eigentum geeignet sei, einer sog. Nachbarklage als Grundlage zu dienen 52 . Das Gericht hat dabei auf die Schwierigkeiten hingewiesen, das Rechtsgut der „Gesundheit" in einer Weise greifbar abzugrenzen, die es gestattet, daraus in Fällen der sog. Nachbarklage Konsequenzen zu ziehen; weiterhin hat das Gericht daraufhingewiesen, daß bei der Verwendung eines weiten Begriffs der „Gesundheit" Beeinträchtigungen u. U. als „sozialadäquat" hingenommen werden müßten. Diese Überlegungen, die das Bundesverwaltungsgericht zum verfassungsrechtlichen Begriff der „Gesundheit" angestellt hat, gelten in gleicher Weise für die Frage, ob man sich bei der Ermittlung eines spezifisch-baurechtlichen Gesundheitsbegriffes für eine weite Auslegung dieses Begriffs - etwa im Sinne der W H O - D e f i n i t i o n - entscheiden soll oder ob ein engerer Gesundheitsbegriff vorzugswürdig erscheint. c) Konkretisierung durch Regelungen des Immissionsschutzrechts Denkbar erscheint es auch, den Begriff der „Gesundheit" im BBauG in gleicher Weise zu verstehen, wie es das Immissionsschutzrecht f ü r „seinen" Gesundheitsbegriff tut. Daß die Regelungen des Immissionsschutzrechts dem Schutz der Gesundheit dienen, läßt sich unschwer nachweisen. Die in §§ 1, 3 u. 5 Abs. 1 BImSchG genannte „Gefahr" ist wie im traditionellen Polizeirecht als eine Bedrohung von Leben und Gesundheit des Menschen zu verstehen; konkretisiert und verfeinert wird dieser Gesundheitsschutz durch die Festlegungen von Grenzwer-
51 52
I . d . F . v. 5.1.1977 (BGBl. I S.41, ber. S.288). BVerwGE 54, S. 211 ff, 222 f.
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ten durch die T A Luft, die dem „Schutz vor Gesundheitsgefahren" (so ausdrücklich: Ziff. 2.2.1.1 a) und 2.5.1) 53 dient. Daß die Gesundheit aus baurechtlicher Sicht als gefährdet betrachtet werden muß in den Bereichen, in denen die immissionsschutzrechtlichen Maßstäbe nicht eingehalten werden, ergibt sich aus einer Reihe von Gründen. Zunächst spricht aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung des Umweltrechts 54 eine Vermutung dafür, daß die Gesundheit des Menschen sowohl als Ziel umweltrechtlicher Regelungen sowie auch als Maßstab für die Effektivität entsprechender Bemühungen nicht in von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet unterschiedlicher Bedeutung verstanden werden sollte. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die Art und Weise des Schutzes der Gesundheit in Teilbereichen dieses Rechtsgebietes bereichsspezifisch ausgestaltet werden kann und daß sich dementsprechend die konkreten Maßnahmen tatsächlich und in ihrer rechtlichen Gestaltung ggf. sehr unterschiedlich darstellen. Ein weiterer Gesichtspunkt für ein übereinstimmendes Verständnis von „Gesundheit" in verschiedenen Bereichen des Umweltschutzrechtes läßt sich aus der Verfassung ableiten55. Wie noch zu zeigen sein wird, läßt sich aus dem Grundgesetz das Minimum an verfassungsrechtlich gebotenem Gesundheitsschutz abstrakt-generell relativ sicher bestimmen, und zwar auch im Hinblick auf die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Gesundheit der Bürger. An diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sind auch die Regelungen des Umweltschutzrechtes (und auch deren Anwendung durch die Verwaltung) zu messen56. Zumindest insoweit, als umweltrechtliche Regelungen diesen verfassungsrechtlichen Mindestschutz im Hinblick auf die Gesundheit der Bürger durch bereichsspezifische Maßnahmen anstreben, läge eine auch materiellinhaltlich identische Zielsetzung vor mit der Folge, daß insoweit ein
53 U n d zwar auch in der neuesten Fassung: Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundesimmissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft - T A Luft) v o m 2 7 . 2 . 1 9 8 6 , GMB1. N r . 7, S. 95 ff. 54 Gerade darin kann ein Ergebnis der rechtssystematischen Überlegungen zur Frage der Gemeinsamkeiten eines einheitlichen Rechtsgebietes „Umweltrecht" gesehen werden; allgemein zum Problem „Einheit der (oder einer) Rechtsordnung" Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe 1983, S. 53, 124 f, 310, 358 f; gegen eine solche einheitliche Sicht von Bauplanungs- und Immissionsschutzrecht Krause, Genehmigungsbedürftige Anlagen im Mischgebiet, B a u R 1980, S. 318 ff. 319 ff; für eine solche einheitliche Betrachtungsweise, zumindest grundsätzlich, Menke, aaO, S. 210 f, 213. 55 Vgl. dazu auch Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 G G im Immissionsschutzrecht, A ö R 106 (1981) S. 2 0 5 ff. 56 Entsprechend dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, B V e r f G in std. Rspr., seit E 8 , S . 2 1 0 f f , 2 2 1 ; zuletzt E 4 6 , S. 166ff, 184.
Baurecht und Immissionsschutz
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einheitlicher Gesundheitsbegriff, und zwar der verfassungsrechtliche Gesundheitsbegriff, zugrunde gelegt werden müßte. Für das Verhältnis von B B a u G und B I m S c h G ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der Einbeziehung immissionsschutzrechtlicher Maßstäbe zur Ausfüllung des baurechtlichen Begriffs der „Gesundheit" aus den zahlreichen, gesetzlich angeordneten Verknüpfungen dieser beiden Rechtsmaterien miteinander 57 . Diese sowohl im Baurecht als auch im Immissionsschutzrecht angeordnete Beachtung des Immissionsschutzrechtes im Bauplanungsrecht ließe sich im Rahmen der Rechtsanwendung schlechterdings nicht befolgen, wenn nicht gemeinsame Bezugspunkte - rechtlich gesprochen: ein übereinstimmendes Verständnis hinsichtlich der verbindenden Rechtsbegriffe - vorhanden wäre. Konkret gesprochen: Die im Bundesimmissionsschutzrecht normierten Anforderungen an die Abwehr von Gesundheitsgefahren für den Menschen und die in der T A Luft erfolgte Konkretisierung dieses Ziels wäre für die Berücksichtigung dieser - abstrakten und konkreten — Anforderungen nicht zu verwerten, wenn nicht ein gemeinsamer Bezugspunkt gleichsam als gedankliches, juristisch-konstruktives Verbindungsglied in Gestalt eines gleichlautenden Gesundheitsbegriffes bestände. Infolgedessen kann davon ausgegangen werden, daß das Immissionsschutzrecht, vor allem die T A Luft 58 , der hinreichende und verläßliche Maßstab auch für die Frage ist, ob man von „gesunden W o h n - und Arbeitsverhältnissen" sprechen kann 59 . Damit ist der Weg eröffnet zu der Verwertung der im Immissionsschutzrecht praktizierten und rechtlich anerkannten Methoden 60 zur näheren Bestimmung der sowohl immissionsschutzrechtlich als auch baurechtlich relevanten Gesetzesbegriffe. Wenn man davon ausgeht, daß die T A Luft regelmäßig zutreffend die Schädlichkeit von Luftverunreinigungen definiert, dann gelangt man auf diesem Wege auch für das Baurecht zu denselben Minimalanforderungen an die Luftqualität, so wie sie in der T A Luft definiert sind. Infolgedessen kann man davon ausgehen, daß die T A Luft der hinreichende und verläßliche Maßstab
57 A . A . wohl Stich, aaO ( F n . 4 1 ) , S . 4 4 unter Berufung auf die unterschiedlichen Gesetzeszwecke zwischen Immissionsschutzrecht und Baurecht. 58 U n d zwar in der jeweils geltenden Fassung, z . Z t . vgl. Fn. 53); zu bedenken ist freilich, daß die Immissionen, für die bislang Grenzwerte festgelegt wurden, möglicherweise nur einen (kleinen) Teil der schädlichen Fremdstoffe umfassen, vgl. Bückmann, Problembereich Gesundheit und Umwelt, Demokratische Gemeinde 1978, S. 96 ff, 97. 59 In die gleiche Richtung gehen die Erwägungen des O V G Rheinland-Pfalz v. 8 . 1 2 . 1 9 7 7 - 1 A 6 1 / 7 7 - B a u R 1978, S . 4 2 . 60 Dazu im einzelnen die Regelungen der T A Luft, z. B. Ziff. 2.6 (Ermittlung der Immissionskenngrößen), 3 (Begrenzung und Feststellung der Emissionen).
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auch für die Frage ist, ob man von „gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen" sprechen kann. Das würde bedeuten, daß in den Gebieten, in denen diese Anforderungen nicht eingehalten werden, einer Bauleitplanung die mangelnde Berücksichtigung dieses planungserheblichen Belanges entgegengehalten werden könnte". Entsprechendes gälte im übrigen auch für die Zulässigkeit von Bauvorhaben im Innenbereich 62 sowie auch im Außenbereich. d) Berücksichtigung von Maßstäben des Arbeitsschutzrechtes Denkbar ist es, insbesondere den Begriff der ungesunden Arbeitsverhältnisse" näher zu bestimmen unter Rückgriff auf Bestimmungen des Arbeitsschutzrechtes 64 . Dabei ist in erster Linie an die Arbeitsstättenverordnung, § 565, zu denken sowie die dazu ergangene Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 566. Nach dieser Vorschrift muß in Arbeitsräumen unter Berücksichtigung der angewandten Arbeitsverfahren und der körperlichen Beanspruchung der Arbeitnehmer während der Arbeitszeit eine ausreichend gesundheitlich zuträgliche Atemluft vorhanden sein. Hierbei handelt es sich um zwingendes Recht. Die Arbeitsstätten-Richtlinie (ASR 5) besagt hierzu allgemein, daß ausreichend gesundheitlich zuträgliche Atemluft in Arbeitsräumen dann vorhanden ist, wenn die Luftqualität im wesentlichen der Außenluftqualität entspricht, es sei denn, daß außergewöhnliche Umstände die Außenluftqualität beeinträchtigen.
Zur (Un-)Möglichkeit einer Reduzierung dieser Mindestanforderungen s. u. III. A. A. im Ergebnis wohl Roters, Baufreiheit und Immissionsschutz im unbeplanten Innenbereich, D Ö V 1980, S. 701 ff, insb. im Hinblick auf sog. Gemengelagen (S. 706 ff) sowie DÖV 1982, S. 71 ff - dazu auch Holleben, Die Sicherung bestehender gewerblicher Standorte bei der Uberplanung dicht bebauter Gebiete, GewArch. 1978, S.41 ff, Söfker, Lösung städtebaulicher Probleme in Gebieten mit Gemengelagen, BBauBl. 1980, S. 628 ff, Hoppe, Planungsrechtliche Grundsätze für die Uberplanung gewachsener Strukturen und zur Lösung von Standortkonflikten, in: Festschrift Ernst, 1980, S. 215 ff; SchmidtAßmann, aaO, §9 Rdn.5aff. 63 §§ 1 Abs. 6 S. 2, 34 Abs. 1 a. E. BBauG; ähnlich im übrigen auch die Bestimmungen der Landesbauordnungen, vgl. z. B. § 1 Abs. 2 S. 1 nds. BauO. 64 Mit dieser Bezeichnung wird ein umfangreiches Rechtsgebiet bezeichnet, vgl. im einzelnen: Arbeitsschutzsystem (Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland), hrsg. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (Forschungsbericht Nr. 232) 1980, Bd. 2, S. 491 f. 65 V. 20.3.1975 (BGBl. I S. 729) geänd. d. VO v. 2.1.1982 (BGBl. I S. 1) und d. VO v. 1. 8.1983 (BGBl. I S. 1057) - § 5: Lüftung (von Arbeitsräumen); während der Arbeitszeit muß „ausreichend gesundheitlich zuträgliche Atemluft vorhanden sein". " „Lüftung" (Ausgabe Okt. 1979), abgedruckt in „Arbeitsstätten-Vorschriften und Richtlinien 1985", Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz Rw 2, 1985. 61
62
Baurecht und Immissionsschutz
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D i e Qualität der A u ß e n l u f t - ermittelt z. B . nach der T A Luit67 - m u ß j e d o c h n i c h t e n t s c h e i d e n d s e i n ; v i e l m e h r g i b t es f ü r die A r b e i t s s t ä t t e n b e s o n d e r e V e r f a h r e n u n d G r e n z w e r t e , m i t d e n e n die L u f t q u a l i t ä t in Arbeitsräumen
verbindlich
definiert
wird.
S i n d diese
MAK-Werte68
nicht eingehalten, so müssen besondere M a ß n a h m e n vorgesehen w e r d e n , z . B . V e r b e s s e r u n g d e r L u f t in der A r b e i t s s t ä t t e d u r c h A b s a u g u n g und Zuführung -
ggfs. g e r e i n i g t e r - A u ß e n l u f t (vgl. § 14 A r b e i t s s t ä t -
tenVO). M a n k a n n a l s o v e r m u t e n , d a ß die F r a g e d e r g e s u n d e n A r b e i t s v e r h ä l t nisse z u m i n d e s t a u c h v o n d e r a r t i g e n R e g e l u n g e n des
Arbeitsschutzes
m i t b e s t i m m t w i r d , u n d z w a r s o w o h l bei d e r P l a n u n g v o n e n t s p r e c h e n d e n G e b i e t e n als a u c h b e i d e r G e n e h m i g u n g v o n b a u l i c h e n V o r h a b e n i m Innenbereich6',
bei
denen
beispielsweise
Absaugvorrichtungen
nicht
v o r g e s e h e n sind. D i e s e F r a g e soll h i e r a l l e r d i n g s n i c h t w e i t e r v e r f o l g t w e r d e n 7 0 . I I I . R e l a t i v i e r u n g des i m m i s s i o n s r e c h t l i c h e n
Gesundheitsschutzes
durch baurechtliche A b w ä g u n g M i t der Möglichkeit der Inkorporierung von immissionsschutzrechtl i c h e n M a ß s t ä b e n in das B a u r e c h t ist f r e i l i c h n o c h n i c h t das l e t z t e W o r t d a r ü b e r g e s a g t , o b e i n e r e c h t l i c h e i n w a n d f r e i e B a u l e i t p l a n u n g f ü r die
" Daneben kommt z. B. eine Beurteilung gemäß der Richtlinie „Maximale ImmissionsKonzentrationen" (MIK) des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI 2306) in Betracht (vgl. dazu OVG Lüneburg v. 12.6.1978 - VII OVG B 43/75 - GewArch. 1978, S. 344 ff), die von Sachverständigen mit dem Ziel bestimmt worden sind, „eine Gesundheitsbeschädigung des Menschen, insbesondere auch von Kindern, Alten und Kranken, selbst bei langfristiger Einwirkung zu vermeiden und einen Schutz vor Schädigungen von Tieren, Pflanzen und Sachgütern zu gewährleisten", ohne dabei die technische Realisierbarkeit zu berücksichtigen (VDI 2310 v. Sept. 1974 - „Maximale Immissions-Werte"); zur Berücksichtigung der VDI-Richtlinien (als sog. antezipierte Sachverständigengutachten oder -aussage) vgl. weiterhin OVG Münster v. 12.4.1978 - VII A 1112/74 - NJW 1979, S. 772 f und BayVGH v. 24.7.1981 - 22 Cs 81 A. 1080 - VPR 1982, S.97f. 68 „Maximale Arbeitsplatz-Konzentration" - zur Berücksichtigung dieser Werte zur Bestimmung der zulässigen Umgebungsbelastung und zur Festsetzung von Emissionsgrenzwerten s. OVG Lüneburg, aaO; ausführlich: Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen und Biologische Arbeitsstofftoleranzwerte 1985, Mitteilung X X I der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe, Deutsche Forschungsgemeinschaft 1985. " Zumindest jeweils insoweit, als Bauwerke mit Arbeitsstätten vorgesehen sind. 70 Offensichtlich dürfte es jedoch fragwürdig sein, eine Wohnbebauung in einer Gegend zuzulassen, die nach den Maßstäben des Arbeitsschutzrechtes über eine rechtlich definiert ungesunde Luftqualität verfügt - die Heranziehung dieser Bestimmungen auch für die Frage der Gesundheit im bauplanungsrechtlichen Sinne drängt sich auf; für eine Berücksichtigung der DIN-Vorschriften auch Schmidt-Aßmann, aaO, § 1 Rdn. 193, S. 144.
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betreffenden immissionsbelasteten Gebiete unmöglich ist. Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind immerhin die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen 71 - das könnte dahingehend verstanden werden, daß keiner der normierten Belange stets in vollem Umfang berücksichtigt werden kann mit der Schlußfolgerung, daß ggfs. auch Abstriche hinsichtlich der „Anforderungen an gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse" gemacht werden dürfen 72 . U n d auch § 50 BImSchG könnte in diese Richtung verstanden werden, da schädliche Umwelteinwirkungen nur „soweit wie möglich" vermieden werden sollen73. Die Möglichkeiten einer Bauleitplanung spitzen sich demnach in den Gebieten, in denen die Luftqualität nicht den Mindestanforderungen der T A Luft genügt, auf die Frage zu, ob in diesen Gebieten eine Bauleitplanung gleichwohl möglich bleiben muß - mit dem Argument, daß der Mindeststandard an Luftqualität aus baurechtlicher Sicht einer irgendwie „abgewogenen Reduzierung" zugänglich ist. 1. Widersprüchlichkeit
im einfach-gesetzlichen
Recht
Folgt man dem Argument von der Relativität der Anforderungen der T A Luft im Baurecht 74 , dann kann man in den hier angedeuteten Problemfällen weiterbauen, schafft allerdings ungesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse. Es ist offensichtlich, daß eine solche Meinung und die darauf aufbauenden bauplanerischen Entscheidungen bereits gemeindepolitisch kaum zu vertreten sind. Diese Meinung ist aber auch rechtlich nicht zu halten; sie führt bereits auf der Ebene des „einfachen" Rechts zu Widersprüchen.
71 § 1 Abs. 7 BBauG; vgl. hierzu die vom BVerwG in std. Rspr. entwickelte subtile Abwägungsdogmatik, dargestellt z. B. bei Ernst/Hoppe, aaO, Rdn. 282 ff m. zahlreichen Nachweisen. 72 Daß die Anforderungen nicht in allen konkreten Plangebieten die gleichen sein müssen, ergibt sich grundsätzlich weiterhin daraus, daß es sich um „allgemeine" Anforderungen handelt, vgl. Schmidt-Aßmann, aaO, § 1 Rdn. 193. 75 Für alle Jarass, BImSchG Kommentar 1983, § 50 Rdn. 9 („Reichweite der Verpflichtung") m. w. N . : besonderes Gewicht dieses Gebotes, aber kein genereller Vorrang (aaO, Fn. 1); in „gravierenden Fällen kommt allerdings eine Grundrechtsverletzung in Betracht" (aaO, Rdn. 11). 74 Ein Zurückstellen der „Gesundheit der Wohnbevölkerung" wird ausnahmslos abgelehnt von Müller, Umweltschutz gegen Industrieansiedlung: Die Grenzen kommunaler Planungshoheit - BVerwG N J W 1975, 70, JuS 1975, S. 228 ff, 231 unter Berufung auf weiteres Schrifttum in Fn. 29; auch bei Schmidt-Aßmann wird die Vorstellung von einer festen (Mindest-)Grenze hinsichtlich des Gesundheitsschutzes deutlich („Gefahrenschwelle", vgl. aaO, §1 Rdn. 194, § 9 Rdn. 5 c, S. 19); ähnlich („Mindestanforderungen") Geizer, aaO, Rdn. 1061.
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Die Ziele des BImSchG würden dadurch faktisch unterlaufen, wenn einerseits eine immissionsrechtlich-rechtswidrige Situation diagnostiziert werden kann (Überschreitung der Höchstwerte der T A Luft), wenn andererseits diese objektiv-rechtswidrige Situation gleichwohl quantitativ in der Weise ausgeweitet wird, daß eine (zusätzliche) Bebauung in derartig belasteten Gebieten zugelassen wird. Mit der Schaffung derartig immissionsbelasteter Wohn- und Arbeitsgebiete würden die Zielsetzungen und Anforderungen des Immissionsschutzes offensichtlich verhindert. Das bedeutet weiterhin, daß damit die Konflikte geschaffen werden, die durch eine Bauleitplanung gerade vermieden werden sollen75, wie sich aus § 50 BImSchG ohne weiteres ergibt76. 2. Mißachtung verfassungsrechtlicher Mindestanforderungen Weiterhin bestehen verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Unterschreitung von gesundheitlichen Anforderungen, die von Rechts wegen59 als notwendiges Minimum staatlicher Gesundheitsvorsorge und als Minimum staatlicher Abwehr von vermeidbaren Gesundheitsgefahren definiert worden sind. a) Umfang und Intensität des verfassungsrechtlichen Gesundheitsschutzes Das Grundgesetz schützt die menschliche Gesundheit vor allem durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 - Recht auf körperliche Unversehrtheit und Recht auf Leben - und Art. 1 Abs. 1 - Unantastbarkeit der Menschenwürde 77 . Die Frage, ob damit der Schutz der körperlichen Unversehrtheit lediglich im biologisch-physiologischen Sinne gemeint ist oder ob einbezogen auch der geistig-seelische Bereich ist, also das psychische Wohlbefinden und möglicherweise sogar das soziale Wohlbefinden, ist vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht abschließend geklärt worden 78 . In der Sache ist freilich ein weitgehender Schutz der Gesundheit dadurch eingeräumt worden, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gefahr für die Gesundheit (im engeren Sinne) einer bereits erfolgten
75 Das für § 3 4 B B a u G - G e b i e t e geltende „Konflikterzeugungsverbot" - „vorhandene Spannungen dürfen nicht erhöht, neue Spannungen dürfen nicht begründet werden", B V e r w G E 55, S. 369 ff, 386 m. Hinweis auf E 54, S. 73 ff, 79 - muß wohl erst recht für Bebauungspläne gelten. 76 U b e r diese Funktion des § 50 B I m S c h G besteht Einigkeit, vgl. für alle Jarass, aaO, Rdn. 1 („Bedeutung"). 77 Hierzu sowie zur zusätzlichen Möglichkeit einer Ableitung des verfassungsrechtlichen Gesundheitsschutzes aus den Schrankenregelungen der Grundrechte vgl. Seewald, a a O , S. 47 ff, 83 ff. 78 E 5 6 , S. 54 ff, 73 ff.
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Beeinträchtigung gleichgeachtet werden kann79 - das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von einer „Grundrechtsverletzung im weiteren Sinne" 80 . Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Gesundheitsschutzes liegt weiterhin darin, daß dieses Grundrecht nur unter den Voraussetzungen einschränkbar ist, in denen auch das Grundrecht auf Leben eingeschränkt werden kann; die nicht näher begrenzte Möglichkeit des Gesetzgebers, diese Grundrechte zu beschränken, spricht nicht dagegen. Das ergibt sich aus einer Betrachtung der bisherigen Rechtsprechung und des Schrifttums zur Frage der Einschränkbarkeit des Grundrechts auf Gesundheit 81 . b) Auswirkungen
für Gesetzgebung
und
Rechtsanwendung
Die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gesundheitsschutzes entfaltet sich bei der Gestaltung von Gesetzen u. a. dahingehend, daß dem Bürger Abwehrrechte eingeräumt werden für den Fall, daß rechtswidrige Gesetzesanwendungen zu einer Gefährdung von Leben und Gesundheit führen. Derartige Abwehrrechte sind nicht nur gegenüber staatlichen Organen einzuräumen, sondern auch gegenüber rechtswidrigen Eingriffen von anderer Seite82. Inhaltlich ist der Gesetzgeber zu einem bestmöglichen Gesundheitsschutz verpflichtet 83 , der Gefährdungen nach dem Stand der Wissenschaft und Technik praktisch ausschließt; lediglich „Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft" sind „unentrinnbar und insofern als soziale Lasten von allen Bürgern zu tragen"; dieses „Restrisiko" ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden84.
BVerfGE 49, S. 89 ff, 141 f (Kalkar); 53, S. 30 ff, 49 ff, 52 ff (Mühlheim-Kärlich). BVerfGE 51, S.324ff, 347, vgl. auch E 5 2 , S.214ff, 219ff. 81 Seewald, aaO, S. 118 ff. 82 Zur daraus sich ergebenden Spannungslage zwischen Freiheit und Sicherheit vgl. Murswiek, aaO, § 8 S. 138 ff; grundsätzlich ist auch ein Anspruch gegen den Staat auf menschenwürdiges Verhalten angenommen worden, was im Einzelfall fragwürdig sein kann, vgl. BVerwGE 64, S. 264 ff, dazu: Gusy, DVB1. 1982, S. 1982 und v.Olshausen, N J W 1982, S.2221; vgl. weiterhin Baltes, Immissionsgrenzwerte und Art. 2 Abs. 2 GG, BB 1978, S. 130 ff, 131; hinsichtlich der Verletzung der Gesundheit durch Dritte soll die staatliche Schutzpflicht allerdings „erst bei nicht unerheblichen Gefahren" greifen, vgl. Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 GG im Immissionsschutzrecht, AöR 106 (1981) S. 205 ff, 216. 15 Allgemein hierzu Seewald, Gesundheit als Grundrecht - Grundrechte als Grundlagen von Ansprüchen auf gesundheitsschützende staatliche Leistungen, 1982. 84 BVerfGE 49, S. 89ff, 137f; zu den Begriffen „Restrisiko" und „Risikorest" vgl. auch Storm, Restrisiko - ein interdisziplinäres Gespräch im Umweltbundesamt, ZfU 1980, S. 903 ff; Wagner, Die Risiken von Wissenschaft und Technik als Rechtsproblem, N J W 1980, S. 665 ff; Murswiek, aaO, S.87. 79
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Baurecht und Immissionsschutz
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Bei der Gesetzesanwendung erfordert dieser verfassungsrechtlich gebotene Gesundheitsschutz u . U . eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung dort, wo die Gesetzesanwendung verschiedene vertretbare Auslegungsalternativen zuläßt, die jedoch nicht in gleicher Weise der Verfassung entsprechen 85 . Für die Frage der Bedeutung des BImSchG und der T A Luft für das Baurecht ergibt sich hieraus folgendes: Wenn man davon ausgeht, daß die T A Luft nach wissenschaftlicher Erkenntnis, insbesondere unter Berücksichtigung medizinisch-naturwissenschaftlicher Erfahrungen 86 , das Minimum an Gesundheitsschutz für den Menschen regelt, dann gebietet die Verfassung die unbedingte Berücksichtigung dieser Bestimmungen; eine Reduzierung dieses auch verfassungsrechtlich gebotenen Minimums im Rahmen einer baurechtlichen Abwägung wäre demnach unzulässig - mit anderen Worten: Das Gebot der verfassungskonformen Auslegung hindert in diesem Falle daran, im Rahmen einer Abwägung nach § 1 Abs. 7 BBauG diese Restriktion der Bauleitplanung durch das BImSchG in Verbindung mit der T A Luft zu relativieren. Damit ist im übrigen nicht gesagt, daß die T A Luft auch bereits einen Schutz der Gesundheit des Bürgers bewirkt, der den Anforderungen der Verfassung in jeder Hinsicht genügt87. I V . Ergebnis Demnach hält das Argument von der Relativität der Mindestanforderungen der T A Luft im Bauplanungsrecht einer näheren Uberprüfung nicht stand. Man muß vielmehr die Anforderungen der T A Luft als absolute, nicht abwägungsfähige „Grundbedingungen" für gesundes Wohnen und Arbeiten werten — mit der Folge, daß solange auf eine Bauleitplanung in den bereits überlasteten Gebieten verzichtet werden muß, bis die Luftqualität (insbesondere durch Maßnahmen nach dem BImSchG) wieder verbessert worden ist. Entsprechendes gilt auch für die Zulässigkeit von Baumaßnahmen im Innenbereich 88 und im Außenbereich 8 '. 85 Von mehreren Auslegungen „verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht" (BVerfGE 8, S. 210 ff, 221; zuletzt E 4 6 , S. 166 ff, 184). 86 Dazu schon BVerfGE 55, S. 250 ff, 259 ff m. w . N . 87 Hinzuweisen ist z. B. auf die Maßstäbe der VDI-Richtlinien, vgl. oben Fn. 38, 67,
68.
A . A . wohl Roters, aaO (Fn.62). Der verfassungsrechtlich verbürgte minimale Gesundheitsschutz darf auch für diesen Bereich nicht reduziert werden; allerdings dürfte sich zur Lösung der Standortkonflikte für diesen Bereich noch am ehesten der Grundsatz der räumlich angemessenen Trennung von unverträglicher Nutzung verwirklichen lassen (vgl. Ernst/Hoppe, aaO, Rdn. 305 unter 88 89
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Dieses Problem kann im übrigen nicht dadurch gelöst werden, daß man - möglicherweise punktuell und nur vorübergehend - die Voraussetzungen für die Bauleitplanung ändert, um Baumaßnahmen in den heutigen Problemgebieten zu ermöglichen 90 . In diesem Falle müßte man wohl beim Immissionsschutzrecht ansetzen, letztlich also die Anforderungen an die Luftqualität senken. Damit würde eine im wesentlichen einmütige Meinung im Bereich der Naturwissenschaft und Medizin - und sicherlich auch im politischen Bereich beiseite schieben, derzufolge die derzeitigen Grenzwerte der T A Luft als ein unverzichtbarer Mindeststandard im Hinblick auf die Luftqualität anzusehen sind. Weiterhin würde eine derartige Senkung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen vor der Verfassung keinen Stand haben. Den gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken würde eine Änderung des Bauplanungsrechts unterliegen, mit der auf die „allgemeinen Anforderungen an gesunde W o h n - und Arbeitsverhältnisse" verzichtet würde - abgesehen davon, daß sich eine Mehrheit für eine solche Gesetzeskorrektur nicht finden würde. Demnach kann die kommunale Handlungsfreiheit im Bereich der Bauleitplanung dort, wo sie aus Gründen des Immissionsschutzrechts z. Zt. verlorengegangen ist, nur dadurch zurückgewonnen werden, daß zunächst einmal mit dem Immissionsschutz nach den Maßstäben des B I m S c h G und der T A Luft Ernst gemacht wird.
Hinweis auf B V e r w G E 45, S. 3 0 9 ff, 327) - dieser Grundsatz hat letztlich zu den Erlassen betr. „Abstände zwischen Industrie- bzw. Gewerbegebieten und Wohngebieten im Rahmen der Bauleitplanung" geführt ( z . B . RdErl. d. Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales - III B 1 - 8 8 0 4 - v. 2 5 . 7 . 1 9 7 4 , MinBl. N W 1974, S. 992 ff und - 8 8 0 4 . 2 5 - v. 2 . 1 1 . 1 9 7 7 , MinBl. N W 1977, S. 1688 ff. 90 Söfker, Lösung von Standortkonflikten bei engem Nebeneinander von Industrie und Wohnen, Z R P 1980, S. 321 ff, sieht das im Ergebnis ebenso: „Nach geltendem Recht müßte . . . entweder auf die Aufstellung des Bebauungsplanes verzichtet oder aber die Beseitigung der Ursachen der schädlichen Umwelteinwirkungen sofort eingeleitet werden" ( S . 3 2 4 ) ; vgl. auch Ritter, Problemfelder einer neuen Baugesetzgebung, D Ö V 1984, S. 905 ff, 9 1 5 : „Erweiterter Bestandsschutz bei wesentlicher Verbesserung der Immissionssituation" - also letztlich ohne Berücksichtigung absoluter Gesundheitsgefährdungen und -beeinträchtigungen.
Gedanken zur polizeirechtlichen Verhaltensverantwortlichkeit Zugleich ein Beitrag zur angeblichen Dichotomie Störer/Nichtstörer PETER SELMER
In seinen zahlreichen Beiträgen zum Polizei- und Ordnungsrecht ist Wolfgang Martens den ständigen „Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr" 1 stets auf der Spur geblieben 2 . Dabei hat er jeweils sehr sorgfältig abgewogen, ob und inwieweit neuere Entwicklungen - etwa im Bereich der Risiken des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts eine Modifizierung bisher eingenommener Standpunkte nahelegten. In Grundfragen der Gefahrenabwehr, die als bereichsübergreifende staatliche Grundfunktion herauszuarbeiten Wolfgang Martens mit besonderem Nachdruck bestrebt war, neigte er bei aller wissenschaftlichen Aufgeschlossenheit eher zu vorsichtiger Zurückhaltung. Er war sich der großen Ausstrahlungskraft des von ihm seit der 8. Auflage - zusammen mit Klaus Vogel - betreuten Standardwerks zur „Gefahrenabwehr", des altrenommierten Drews/Wacke\ und der aus ihr resultierenden Verantwortung für die Rechtspraxis sehr wohl bewußt. Das gilt auch für das Problem der polizeirechtlichen Pflichtigkeiten und des in diesem Zusammenhang maßgeblichen Verursachungsbegriffs: Hier bot ihm ungeachtet mancher in andere Richtung weisenden neueren Tendenz die Theorie der unmittelbaren Verursachung in einer gewissermaßen wertungsoffenen Ausprägung auch in der jüngsten Auflage der „Gefahrenabwehr" nach wie vor „in der Regel eine sachgerechte Erfolgszurechnung" 4 ; den
Vgl. Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, D Ö V 1982, 89. Vgl. neben dem in Fn. 1 genannten Beitrag ferner insb. Martens, Rechtsfragen der Anlagen-Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, in: Festschrift für H a n s Peter Ipsen, 1977, S. 449; ders., Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597; ders., Tendenzen der Rechtsprechung zum Sofortvollzug der Zulassung von großtechnischen Anlagen, DVB1. 1985, 541. 3 Vgl. zuletzt Drews/Wacke/Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl., 1986; s. dazu etwa die Besprechung von Götz, Die Verwaltung 1986, 537. 4 Martens, a a O (o. Fn. 3), S . 3 1 3 , 315. 1
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Begriff der Unmittelbarkeit „preiszugeben oder zu denaturieren", hielt er in keinem Falle für geboten5. Im vorliegenden Beitrag kann es schwerlich darum gehen, das Thema der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit grundlegend und umfassend aufzubereiten. Anlaß und Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet vielmehr vor allem der Umstand, daß die Polizeipflicht sich zunehmend als Kostentragungsfrage stellt und in dieser Form heute nicht selten in Dimensionen hineinwächst, die sich der vom Gesetzgeber ursprünglich vorgestellten Normsituation offenbar entziehen; die gefahrenrechtliche Bewältigung der sogenannten Altlasten bildet in diesem Zusammenhang ein besonders anschauliches Beispiel6. Das zwingt zur nochmaligen Uberprüfung auch verfestigter Anschauungen. An Ansätzen hierzu fehlt es nicht. Sie zielen vor allem auf eine Einschränkung der Zustandsverantwortlichkeit; Friauf hat hierzu schon vor geraumer Zeit den wichtigsten Beitrag geliefert7, dem freilich Wolfgang Martens, bei explizitem Verständnis für das angestrebte Ergebnis, den „Wortlaut der geltenden Gesetze" entgegengehalten hat8. Die nachfolgenden Bemerkungen haben in erster Linie die bislang eher vernachlässigte Verhaltensverantwortlichkeit zum Gegenstand; sie wirft besondere Probleme auf'.
5 Martens, aaO (o. Fn. 3), S. 316. ' Vgl. dazu etwa, jew. m. w. Nachw., Scheier, Abfallrechtliche, wasserrechtliche und ordnungsrechtliche Probleme der Sanierung von ,Altlasten', ZfW 1984, 333; Papier, Altlasten und polizeirechtliche Störerhaftung, 1985 (gekürzt in DVBl. 1985, 873); ders., Die Verantwortlichkeit für Altlasten im öffentlichen Recht, NVwZ 1986, 256; Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, 1985; Schink, Wasserrechtliche Probleme der Sanierung von Altlasten, DVBl. 1986, 161; Striewe, Rechtsprobleme der Altlastenbeseitigung, ZfW 1986, 273; Breuer, ,Altlasten' als Bewährungsprobe der polizeilichen Gefahrenabwehr und des Umweltschutzes, JuS 1986, 359; ders., Rechtsprobleme der Altlasten, NVwZ 1987, 400; Brandt/Lange, Kostentragung bei der Altlastensanierung, UPR 1987, 11; OVG München NVwZ 1985, 355; VGH München NVwZ 1986, 942 DÖV 1986, 976 = DVBl. 1986, 1283. 7 Vgl. Friauf, Zur Problematik des Rechtsgrundes und der Grenzen der polizeilichen Zustandshaftung, in: Festschrift für Gerhard Wacke, 1972, S.293; s. aus jüngerer Zeit ferner insb. Hohmann, Einschränkungen der Kostentragungspflicht des Grundstückseigentümers beim Ablagern von Giftfässern, DVBl. 1984, 997; Seibert, Zum Zusammenhang von Ordnungs- und Kostentragungspflicht, DVBl. 1985, 328; Schink, Wasserrechtliche Probleme der Sanierung von Altlasten, DVBl. 1986, 161 (169); Papier, NVwZ 1986, 256 (257); Schenke, in: Steiner (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, S.216; Arndt, ebd., S. 730; VGH München NVwZ 1986, 942 (944). 8 Vgl. Martens, aaO (o. Fn. 3), S.320; s. im obigen Sinne zurückhaltend auch VGH Mannheim NVwZ 1986, 325 (326). ' Dazu bisher etwa Konrad, Zur Reichweite sicherheitsrechtlicher Störerhaftung, BayVBl. 1980, 581.
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I.
Ubereinstimmend kennzeichnen die Landesrechte und der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes die Verhaltensverantwortlichkeit als Kausalhaftung: Wird die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bzw. die Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch das Verhalten einer Person verursacht, so ist die Maßnahme gegen diese Person zu richten. Bei der Beurteilung der Kausalität, d. h. bei der - unbestritten - notwendigen Auswahl der für den Eintritt der Gefahr bzw. Störung polizei- und ordnungsrechtlich wesentlichen (relevanten) Ursachen ist, nimmt man den kleinsten gemeinsamen Nenner, darauf abzustellen, wessen Verhalten10 bei wertender Betrachtung unter Einbeziehung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles seinerseits nicht notwendig als zeitlich letztes Glied der jeweiligen Kausalkette11 die Gefahrengrenze überschritten hat12. Uber die Ausfüllung dieser allgemeinen Beschreibung besteht im einzelnen Streit; er ist als solcher hier nicht aufzunehmen". Eines Verstoßes gegen außerpolizeiliche Rechtsnormen (Ge- oder Verbotsnormen) bedarf es jedenfalls nicht. Die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel enthält nicht nur Maßnahmevoraussetzungen. Sie normiert darüber hinaus auch eine materielle Polizeipflicht - nicht nur Verpflichtbarkeit14 - eines jeden, sein Verhalten und den Zustand seiner Sachen so einzurichten, daß daraus keine Gefahren oder Störungen für die öffentliche Sicherheit oder Ord-
10 Bloßes Unterlassen begründet eine Verhaltensverantwortlichkeit von vornherein nur, wenn eine besondere, d. h. nicht etwa nur aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums abgeleitete öffentlich-rechtliche Handlungspflicht besteht: Vgl. treffend Martens, aaO (o. Fn.3), S.307; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl., 1985, S. 103; BVerwG DVB1. 1986, 360 (362); unzutreffend O V G Münster DVB1. 1971, 828 (829). Der Begriff des Verhaltens (in Abgrenzung vom Unterlassen) ist freilich weit zu verstehen. So geht es beim Betreiben von Unternehmen oder bei der Abhaltung von Veranstaltungen (auch) um Handlungsvorgänge, die potentiell (d. h. soweit die haftungsbegründenden Voraussetzungen ansonsten vorliegen) eine Verhaltensverantwortlichkeit begründen und nicht nur eine Zustandspflichtigkeit zum Inhalt haben (richtig BVerwG DVB1. 1986, 360, 361 f; Götz, aaO, S. 103). " Für viele Martens, aaO (o. Fn.3), S.315. 12 Vgl. aus der jüngeren Judikatur im obigen Sinne etwa O V G Münster NVwZ 1985, 355 (356); O V G Hamburg D Ö V 1983, 1016 (1017); V G H Mannheim NVwZ 1987, 237 (238). 13 Vgl. dazu etwa die Darstellungen bei Martens, aaO (o. Fn. 3), S. 310 ff; Götz, aaO (o. Fn. 10), S. 98 ff; Scholler/Broß, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., 1982, S. 196 ff; Erichsen, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, W D S t R L 35, 171 (201 f); Schenke, aaO (o. Fn. 7), S. 208 ff, jew. m. weit. Nachw. 14 So etwa Hurst, Zur Problematik der polizeilichen Handlungshaftung, AöR 83 (1958), S. 43 (65).
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nung entstehen15; sie bildet damit ihrerseits einen Rechtswidrigkeitsmaßstab16. Im wesentlichen Einigkeit besteht auch darüber, daß es für das Entstehen der Polizeipflicht nicht darauf ankommt, ob den potentiell Pflichtigen ein (privat- oder strafrechtliches) Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) trifft17. Wer durch sein Verhalten eine im Sinne des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts wesentliche Ursache gesetzt hat, ist Störer; hat er dies nicht, so ist er Nichtstörer. Zwischenzonen der Verantwortlichkeit scheinen dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht fremd zu sein. Nahezu durchgehend wird - zumeist unausgesprochen, gelegentlich aber auch ausdrücklich18 - ohne weiteres davon ausgegangen, das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht kenne nur die Alternative Bejahung oder Verneinung der Störereigenschaft; die gesetzlichen Vorschriften zur Verhaltensverantwortlichkeit bestätigen dem äußeren Anschein nach offenbar solchen Befund. Die Bedeutung dieser die Rechtspraxis weithin beherrschenden Dichotomie des Störerbegriffs liegt auf der Hand. Wer einmal durch sein Verhalten die Gefahrengrenze überschritten hat, ist auf vorstehender Grundlage - auch wenn weitere Ursachen in zeitlichem Nebeneinander oder Nacheinander hinzutreten — für alle Folgen der von ihm gesetzten Ursache verantwortlich19, ohne daß es auf die spezifische Eigenart seines Verursachungsbeitrages noch im geringsten ankäme. Andererseits scheidet für eine Mitwirkungspflicht bei der Gefahrenabwehr scheinbar gänzlich aus, wer unter Berücksichtigung der überkommenen Kriterien (Unmittelbarkeit, Adäquanz, Sozialadäquanz, Polizeiwidrigkeit) die Gefahrengrenze (möglicherweise: gerade noch) nicht überschritten hat, mag er auch den störenden Erfolg sehr wohl (mit-)verursacht haben und zur Mithilfe bei der Bewältigung der Gefahr oder Störung in der Lage sein. Die erstere Konstellation beansprucht im vorliegenden Zusammenhang vor allem deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil das Einstehenmüssen für durch ein polizeirechtlich relevantes Verhalten verursachte gefährliche oder störende Zustände heute nicht selten — so etwa im Bereich der Umweltgefahren bei der Sanierung kontaminierter früherer Industriestandorte oder Sondermülldeponien - der Sache nach die Form Martens, aaO (o. Fn.3), S.293; Götz, aaO (o. Fn. 10), S.97, jew. m. weit. Nachw. Vgl. auch Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Aufl., 1978, S.64 (Rdn.5), 66 (Rdn. 11); Pietzcker, Polizeirechtliche Störerbestimmung nach Pflichtwidrigkeit und Risikosphäre, DVB1. 1984, 457 (459). 17 Martens, aaO (o. Fn. 3), S. 293; Friauf, in: v. Münch (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1985, S.211. 18 Pietzcker, DVB1. 1984, 457 (463). " Wolff/Bachof, aaO (o. Fn. 16), S. 70 (Rdn. 23). 15
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einer Pflicht zum Schadensfolgenausgleich (in zumeist erheblicher G r ö ßenordnung) annimmt; dabei macht es nur einen formalen Unterschied, ob diese kostenmäßige Belastung in concreto daraus resultiert, daß der Pflichtige die Gefahrenabwendung bzw. Störungsbeseitigung vorzunehmen und dementsprechend auch ihre Kosten zu tragen hat, oder daraus, daß die Polizei- bzw. Ordnungsverwaltung selbst (im Wege der unmittelbaren Ausführung oder der Ersatzvornahme) zur Gefahrenabwehr tätig geworden ist und nunmehr aufgrund der einschlägigen Bestimmungen Kostenersatz von dem Verantwortlichen begehrt 20 . Aber auch die letztgenannte Konstellation, ihrerseits Konsequenz der nahezu unangefochtenen Dichotomie Störer/Nichtstörer, bedarf der Uberprüfung. Denn es vermag beispielsweise, verbleibt man bei den Umweltgefahren, schon vom Ergebnis hier schwerlich einzuleuchten, daß Abfallproduzenten - einmal nach Maßgabe der herkömmlichen Verursachungsbegrenzungskriterien aus dem Einzugsbereich der Generalklausel - nicht nur der unmittelbaren Verantwortung für die Beseitigung des auf dem (Deponie-, Industrie-)Grundstück entstandenen störenden Zustands ledig, sondern gefahrenabwehrrechtlich auch nicht gehalten sind, etwa wichtige Aufzeichnungen über die (zeitlichen und sachlichen) Modalitäten ihrer Anlieferungen oder Ablagerungen zur Verfügung zu stellen, um auf diese Weise bei der Behebung der Störung verantwortlich mitzuwirken. Eine so geartete bipolare Verhaltensverantwortlichkeit nach der Devise alles oder nichts muß unter einer verfassungsrechtlichen O r d nung auf Befremden stoßen, in der es ansonsten zu den unabdingbaren, ja selbstverständlichen Forderungen an den eingreifenden Staat gehört, bei der konkreten Auflösung des Spannungsverhältnisses von potentieller Gemeinwohlverpflichtung des Bürgers und rechtsstaatlicher Bindung der öffentlichen Gewalt jeweils abgewogene und vor allem differenzierende Ergebnisse anzustreben. Es wird im folgenden zu überlegen sein, ob und welche rechtlichen Ansatzpunkte es gibt, mit deren Hilfe sich das so formulierte rechtsstaatliche Unbehagen an der weitgehend praktizierten Dichotomie des Störerbegriffs nicht nur artikulieren, sondern auch umsetzen und tatbestandlich einfangen läßt. Dabei geht es einmal um die Möglichkeiten begrenzender Korrekturen innerhalb des anerkannten Handlungsstörerbegriffs und seiner Anwendung, zum anderen
20 Vgl. dazu näher Würtenberger, Erstattung von Polizeikosten, N V w Z 1983, 192; Götz, Kostenrecht der Polizei- und Ordnungsverwaltung, DVB1. 1984, 14; Broß, Zur Erstattung der Kosten von Polizeieinsätzen, DVB1. 1983, 3 7 7 ; s. ferner auch Majer, Die Kostenerstattungspflicht für Polizeieinsätze aus Anlaß von privaten Veranstaltungen, VerwArch 73 (1982), 167; für einen Überblick vgl. Vogel, aaO (o. Fn. 3), S. 676 ff m. weit. Nachw.
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um die Möglichkeiten verantwortungsöffnender Korrekturen zu Lasten bisher gänzlich außerhalb des Störerbegriffs angesiedelter Sachverhalte.
II. Das zunehmende Hineinwachsen des polizeirechtlich in concreto für die Gefahrenabwehr bzw. Störungsbeseitigung Verantwortlichen in eine unangemessen erscheinende Kostensituation wird zwar gelegentlich beklagt - häufiger für den Zustandsverantwortlichen, seltener für den Verhaltensverantwortlichen21. Uberzeugende Lösungen sind aber, wenn ich recht sehe, bislang noch nicht in Sicht. Bezogen auf die Verhaltensverantwortlichkeit bieten sich offenbar die folgenden Möglichkeiten einer gewissen Reduktion der Haftung an: 1. In Erwägung gezogen werden könnte einmal, das Verhalten einer Person scharf von dem von ihr verursachten polizeiwidrigen Zustand zu unterscheiden und die gesetzliche Verhaltensverantwortlichkeit unter Ausklammerung der Haftung für den verursachten Erfolg ausschließlich auf die Steuerung des Störerverhaltens zu beschränken. Auf dieser Grundlage dürfte etwa jemand, der auf das Dach eines fremden Hauses Steine wirft - die herabzurollen drohen - , zwar durch Polizeiverfügung an der Fortsetzung seines Tuns gehindert, nicht aber für den entstandenen gefährlichen Zustand als solchen verantwortlich gemacht werden; für diesen polizeiwidrigen Erfolg haftete dann allein der Eigentümer oder der sonstige Inhaber der tatsächlichen Gewalt nach Maßgabe der Bestimmungen über die Zustandsverantwortlichkeit. Der Gedanke einer solchen - gewiß überraschend anmutenden Eingrenzung der gesetzlichen Verhaltenshaftung ist jedenfalls nicht schon a limine von der Hand zu weisen. Für ihn könnte einmal sprechen, daß die allgemeinen Polizei- und Ordnungsgesetze ihr die Uberschrift „Verantwortlichkeit für das Verhalten von Personen" vorangestellt haben. Auch erschiene das Argument nicht abwegig, daß, habe der Störer den gefährlichen bzw. störenden Zustand erst einmal verursacht, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung alsdann nur noch durch diesen Zustand, aber nicht mehr durch das - abgeschlossene Verhalten des Störers gefährdet bzw. gestört werde. Eine solche Sicht stünde offenbar auch im Einklang mit der der Generalklausel immanenten materiellen Polizei- und Ordnungspflicht, zielt diese doch (bezogen auf die Handlungshaftung) ersichtlich gerade auf ein bestimmtes Verhalten des Bürgers.
21 F ü r den Zustandsverantwortlichen vgl. die N a c h w . o. in F n . 7 u n d in Fn. 34; f ü r den Verhaltensverantwortlichen vgl. die N a c h w . in F n . 9, 22 u n d 23.
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Hieran anknüpfend hat in der Tat erstmals Holtzmann in einem 1965 erschienenen Beitrag22 den Standpunkt vertreten, es könne „nicht aus der Handlungshaftung dadurch eine Zustandshaftung werden, daß ein durch ein polizeiwidriges Verhalten hervorgerufener polizeiwidriger Zustand dem Verursacher angelastet und dieser aus dem Gesichtspunkt der Polizeiwidrigkeit hierfür verantwortlich gemacht" werde. Die Handlungshaftung beschäftige sich „ausschließlich mit dem Verhalten einer Person und (dürfe) nicht zu einer Haftung für Schadensersatz oder andere Dinge ausufern". Eine Ersatzpflicht für den Aufwand bei der Wiederherstellung des polizeigemäßen Zustandes sei vielmehr, bezogen auf das verursachende Verhalten, allein eine „Frage des Zivilrechts, die ohne Prüfung des Verschuldens oder der Voraussetzungen der Gefährdungshaftung . . . nicht gelöst werden" könne. Diederichsen hat sich jüngst in einer Darlegung zur Verantwortlichkeit für Altlasten im Zivilrecht der von Holtzmann vertretenen Auffassung angeschlossen und hiervon ausgehend - der „Kostenüberwälzung mit Hilfe des Handlungsstörerbegriffs" ein Uberschreiten der Grenze vom Polizei- und Ordnungsrecht zum privaten Haftungsrecht vorgeworfen23. So plausibel sich dieser Ansatz indes zunächst ausnehmen mag24. Im Ergebnis vermag er jedenfalls insoweit nicht zu überzeugen, als er rechtsgrundsätzlich die polizeirechtliche Haftung für den verursachten Zustand von der Verhaltensverantwortlichkeit ausklammert. Dabei fällt bereits die Einsicht ins Gewicht, daß seit jeher unangefochten die gegenteilige Meinung vertreten und praktiziert worden ist. In der Literatur hat sie etwa Scholz-Forni, angesichts der thematischen Enthaltsamkeit des §10 II 17 PrALR allerdings ohne klaren Rückhalt im Gesetz, schon 1923 näher begründet25. Im übrigen Schrifttum wie in der Judikatur des Preußischen Oberverwaltungsgerichts ist sie ohne nähere Erläuterung durchgehend praktiziert worden. Dafür, daß die späteren Polizeigesetzgeber - insbesondere die des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes sowie der Polizei- und Ordnungsgesetze der heutigen Bundesländer - die von ihnen formulierte Verhaltensstörerhaftung in einem anderen Sinne verstanden wissen wollten, fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Der Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen besagt letztlich nichts anderes. Die heute im allgemeinen verwendete Gesetzesüberschrift ist Vgl. Holtzmann, Grenzen der Handlungshaftung im Polizeirecht, DVB1. 1965, 902. Diederichsen, Die Verantwortlichkeit für Altlasten im Zivilrecht, BB 1986, 1723 (1731). 24 Ihn in Erwägung ziehend, schließlich aber verwerfend vgl. auch Klaudat, Polizeipflicht und Kausalität, Diss. Münster 1968, S. 17, 28 f. 25 Vgl. Scholz-Forni, Über die Verantwortlichkeit des Urhebers eines polizeiwidrigen Zustandes und über den Ausschluß der Verantwortlichkeit im Falle der Ausübung eines Rechts, VerwArch. 30 (1923), 11 (27 ff, 37 ff). 22
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bei Lichte besehen unergiebig. Die „Verantwortlichkeit für das Verhalten von Personen" schließt eine solche für den verursachten polizeiwidrigen Zustand nicht aus. Entsprechendes gilt für den gesetzlichen Tatbestand selbst: Daß die Gefährdung bzw. Störung nach Eintritt des polizeiwidrigen Zustandes (auch) von diesem ausgeht, ändert an der rechtsfolgebegründenden Verwirklichung der Verursachungsvoraussetzung durch den Verhaltensstörer nichts - und zwar auch dann nicht, wenn dieser sein Verhalten inzwischen eingestellt hat. Der Konstruktion eines besonderen „Polizeiwidrigkeitszusammenhangs" zwischen Verhalten und verursachtem polizeiwidrigen Zustand26 bedarf es insoweit also nicht27. Die Verantwortlichkeit des Verhaltensstörers für den verursachten Zustand hat allerdings, was noch einmal deutlich gemacht zu haben die skizzierte Auffassung immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, keine Schadensersatzpflicht zum Inhalt. So ist, wer in zurechenbarer Weise die Verunreinigung eines Kanals mit Ol verursacht hat, aufgrund Polizeirechts zwar - auf eigene Kosten - zur Reinigung des Kanals verpflichtet, nicht aber dazu, die verendeten Fische zu ersetzen. Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht kennt keine Norm, nach der der Verantwortliche für die Schadensfolgen seines Handelns als solche aufkommen muß28. Soweit sich der verursachte Zustand nicht schon als Fortsetzung der Polizeiwidrigkeit des Verhaltens, sozusagen als bleibende gegenständliche Verkörperung der Polizeiwidrigkeit des Verhaltens darstellt 2 ', wird polizeirechtlich für weitere Folgen nur gehaftet, wenn und soweit diese ihrerseits eine Gefährdung bzw. Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bedeuten30. Allerdings überschneiden sich die beiden Regelungskreise in ihrem wirtschaftlichen Ergebnis für den Verpflichteten jedenfalls teilweise: Die polizeirechtliche Störungsbeseitigung umfaßt ein gut Teil dessen, was nach privatem Mandat, aaO (o. Fn. 24), S. 29. Eine andere, von der rechtsgrundsätzlichen Einbeziehung des verursachten Zustandes in den gesetzlichen Tatbestand der Verhaltenshaftung zu unterscheidende Frage ist, ob und inwieweit der Zustand dem Verursacher in concreto zuzurechnen ist; insoweit mag man (je nach Ausgangsposition) von einem notwendigen „Polizeiwidrigkeitszusammenhang" ( K l a u d a t , aaO, o. Fn.24, S.29; Gantner, Verursachung und Zurechnung im Recht der Gefahrenabwehr, Diss. Tübingen 1983, S. 124) oder „Rechtswidrigkeitszusammenhang" (VGH Mannheim NVwZ 1987, 237 f) zwischen Verhalten und verursachtem Erfolg sprechen. 28 Götz, aao (o. Fn. 10), S.97. 29 Beispiele: Auf ein Hausdach geworfener Stein, der herabzurollen droht; auf öffentlichem Weg abgestelltes Autowrack, das Verkehrshindernis bildet. 30 Beispiele: Gefährdung des Grundwasserstroms durch Ol, das nach Tankwagenunglück auf einen Acker läuft und im Boden versickert; Gesundheitsgefahren durch verwesende Fische nach lagerungsbedingtem Eindringen von Giftstoffen bei Hochwasser. 26
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H a f t u n g s r e c h t als S c h a d e n s e r s a t z geleistet w e r d e n m ü ß t e " . D i e s e Ü b e r s c h n e i d u n g b e d e u t e t g e w i ß ein bislang w o h l u n t e r s c h ä t z t e s P r o b l e m , das v o r allem in den u n t e r s c h i e d l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n b e g r ü n d e t liegt, die an die p o l i z e i r e c h t l i c h e V e r a n t w o r t l i c h k e i t einerseits u n d die z i v i l r e c h t liche V e r a n t w o r t l i c h k e i t andererseits (vgl. e t w a § 2 2 W H G , § 8 2 3 B G B ) gestellt w e r d e n 3 2 . D i e s e s P r o b l e m d a d u r c h z u lösen, d a ß die V e r a n t w o r t lichkeit für v e r h a l t e n s v e r u r s a c h t e polizeiwidrige Z u s t ä n d e s c h l e c h t h i n z u L a s t e n des Z u s t a n d s p f l i c h t i g e n v o n d e r V e r h a l t e n s h a f t u n g
ausge-
k l a m m e r t w i r d , erscheint hingegen w e d e r in der Sache g e r e c h t f e r t i g t n o c h v o n d e r geltenden G e s e t z e s l a g e gedeckt 3 3 . 2. K e i n e n b r a u c h b a r e n A n s a t z bietet ferner aber a u c h d e r unter Aufrechterhaltung
der V e r h a l t e n s v e r a n t w o r t l i c h k e i t
Gedanke, (auch)
für
den v e r u r s a c h t e n Z u s t a n d gewisse A b m i l d e r u n g e n auf der E b e n e der Kostentragung
einer (im W e g e
der u n m i t t e l b a r e n A u s f ü h r u n g
oder
E r s a t z v o r n a h m e v o n der P o l i z e i - o d e r O r d n u n g s b e h ö r d e selbst v o r g e nommenen)
Maßnahme
zuzulassen.
Eine
derartige
Auflösung
der
K o n n e x i t ä t v o n S t ö r e r v e r a n t w o r t l i c h k e i t u n d K o s t e n t r a g u n g ist n e u e r dings gelegentlich für b e s t i m m t e K o n s t e l l a t i o n e n der Z u s t a n d s h a f t u n g in E r w ä g u n g g e z o g e n w o r d e n 3 4 ; das O V G H a m b u r g hat sich jüngst aber
31 Vgl. für viele etwa Seibert, DVB1. 1985, 328 (329 Fn. 8); Diederichsen, BB 1986, 1723 (1731). 32 Vgl. auch die entsprechende Darlegung von Gantner, aaO (o. Fn. 27), S. 54, 59. 33 Die oben abgelehnte Auffassung läßt sich entgegen Diederichsen (BB 1986, S. 1731: Es gelte, „die Kompetenz des eigenen Fachgebiets nicht zu überschreiten") auch nicht mit der Notwendigkeit einer kompetenzkonformen Reduktion der langesgesetzlichen Verhaltensverantwortlichkeit begründen. Die aus Art. 70 I GG herzuleitende Kompetenz der Länder zur Regelung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts schließt die Normierung der Verantwortung für verursachte polizeiwidrigen Zustände selbstverständlich grundsätzlich auch insoweit ein, als in bestimmten Fällen die Realisierung der Pflichtigkeit zu einer (teilweise) schadensersatzgleichen Verantwortlichkeit führt. Dieser wirtschaftliche Umstand ändert (bei selbstgewichtiger, d. h. spezifisch polizeirechtsimmanenter Auslegung der Verantwortlichkeit) nichts daran, daß es sich rechtlich um verschiedene Materien handelt. Das steht auch der Herleitung von Schlußfolgerungen aus Art. 31 G G entgegen (vgl. dazu Gubelt, in: v.Münch, Grundgesetz, 2. Aufl., 1983, Art. 31 Rdn.3). Vgl. aber auch unten Fn. 57. 34 Vgl. Hohmann, Einschränkungen der Kostentragungspflicht des Grundstückseigentümers beim Ablagern von Giftfässern, DVB1. 1984, 997; Schmidt-Salzer, UmweltAltlasten und Haftpflichtversicherung. Oder: Das übersehene Risiko, BB 1986, 605 (606); vgl. auch (nur registrierend) VGH München NVwZ 1986, 942 (944), sowie (kritisch) Schink, DVB1. 1986, 161 (169f), und die in Fn.37 genannten Autoren. Für einen Sonderfall s. VGH München NJW 1984, 1196 (Leitsatz: „Der Halter eines von einem Dritten verkehrswidrig geparkten Fahrzeugs haftet nicht für die Abschleppkosten"); diese Rspr. wieder aufgebend VGH München BayVBl. 1986, 625; vgl. instruktiv zum Problem Kränz, Das Verhältnis von Verhaltens- und Zustandshaftung im Recht der Gefahrenabwehr, BayVBl. 1985, 301 m. weit. Nachw.
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auch in einem spezifischen Fall der Verhaltensverantwortlichkeit (des Anscheinsstörers) für eine besondere, von der Beurteilung der polizeilichen Maßnahmen als solcher deutlich abgesetzte Beantwortung der Kostentragungsfrage ausgesprochen 35 . Beifall verdienen diese Tendenzen indes nicht. Sie sind mit der geltenden Gesetzeslage nicht vereinbar. Die Polizeipflicht des Störers und seine potentielle Kostenersatzpflicht stehen nicht selbständig nebeneinander - so, als handele es sich bei ihnen um getrennte Pflichtenkreise mit jeweils besonderen materiellrechtlichen Anforderungen. Die Kostenersatzpflicht des Störers, die allgemein „Kostenpflichtigkeit" zu nennen jedenfalls mißverständlich ist, tritt, unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen, nur an die Stelle der Beseitigung der Störung durch den Verantwortlichen; sie ist, mit anderen Worten, bloßes Surrogat der Eigenbeseitigung der Störung 36 . Als solches korrespondiert sie vollen Umfangs dem Ausmaß der primären gefahrenabwehrrechtlichen Verantwortlichkeit. Ein Zerreißen dieses in der Sache selbst begründeten Zusammenhangs erschiene in mehrfacher Hinsicht verfehlt. Nicht nur sähe sich der Störer, der seiner materiellen Polizeipflicht - sei es unmittelbar aufgrund (Polizei-)Gesetzes, sei es aufgrund konkretisierender (Polizei-)Verfügung - Folge leistete, ohne sachlichen Grund schlechter gestellt als derjenige, der eine solche (kostenaufwendige) Eigenbeseitigung der Störung nicht vornähme 37 . Es genösse auch eine etwa ergangene polizeiliche Anordnung zwar als Verwaltungsakt Verbindlichkeit und nach entsprechendem Zeitablauf Bestandskraft; sie wäre aber, soweit bei der Festsetzung der Ersatzvornahmekosten Abschläge zugelassen werden, in ihrer vom Gesetz zwingend vorausgesetzten vollstreckungsrechtlichen Durchsetzbarkeit eingeschränkt. 3. Schließlich könnte für den vorliegenden Zusammenhang auch der Versuch nicht recht überzeugen, in der Sache begründeten Auswüchsen der Kostenverantwortung des Verursachers durch Rekurrieren auf das im Ubermaßverbot angelegte Prinzip der Zumutbarkeit zu begegnen. Die Zumutbarkeit bildet eine spezifisch adressatenbezogene (äußerste) Schranke für belastende staatliche Maßnahmen; in ihr fließen - ohne schon (wie beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) per definitionem durch den Blick auf das im Spiele befindliche Gemeinwohlinteresse relativiert zu werden - alle Umstände zusammen, die für die Erträglichkeit der
55 Vgl. O V G Hamburg N J W 1986, 2005 = JuS 1987, 152 N r . 13, wo es bei Lichte besehen allerdings (vom Gericht verkannt) um die kostenmäßigen Folgen der irrtümlichen Inanspruchnahme eines Nicht-(Anscheins)Störers als (Anscheins-)Störer (im Wege der unmittelbaren Ausführung) ging. 56 Vgl. treffend V G H München BayVBl. 1986, 625 (626). 37 In diesem Sinne auch Seibert, DVB1. 1985, 3 2 8 ; Schenke, aaO (o. Fn. 7), S . 2 1 6 f .
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Belastung gerade auf Seiten des in concreto Betroffenen von Bedeutung sind38. In dieser Ausprägung entfaltet das Prinzip der Zumutbarkeit durchaus auch bei der Heranziehung des polizeirechtlichen Störers Bedeutung 39 ; die Irrelevanz mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit des Polizeipflichtigen steht hierzu entgegen gelegentlich geäußerter Auffassung40 nicht in Widerspruch. Der Zumutbarkeit mangelt es angesichts ihrer Ausrichtung auf in concreto einschlägige subjektive Billigkeitsgesichtspunkte aber an der Eignung, in der Sache liegende Mängel der Inanspruchnahme generalisierend und typisierend gleichsam regelhaft in den Griff zu bekommen. III. 1. Die bisherigen Versuche, die polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit deutlicher und wirksamer aus dem thematischen Einzugsbereich des privaten Schadensersatzrechts herauszuhalten, vermögen mithin nicht zu befriedigen. So bleibt die Frage, wie anders der Befürchtung zu begegnen ist, über das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht lasse sich das „gesamte zivilrechtliche Haftungsrecht überflüssig" machen 4 ', einer nicht ganz unberechtigten Befürchtung, sind doch herkömmlich „an die Begründung einer Pflicht zur Gefahrenabwehr - wie dies die Polizeigesetzgeber auch im Verzicht auf das Zurechnungsmerkmal der Schuld zeigen - weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die Begründung einer Pflicht zum Schadensersatz" 42 . Ist hier insbesondere der Weg, die polizeirechtliche Haftung für verursachte gefährliche oder störende Zustände aus der Verhaltensverantwortlichkeit auszuklammern, grundsätzlich verschlossen, so bleibt zu erwägen, der tatsächlich-wirtschaftlichen Uberschneidung polizeirechtlicher Verhaltensstörerhaftung und zivilrechtlicher Schadenshaftung durch eine gewisse tatbestandliche Annäherung der ersteren an die letztere die Brisanz und damit zugleich einer unangemessenen Kostenbelastung des Verursachers die Spitze zu nehmen. In der Tat läßt sich eine solche Konvergenz durch eine zusätzliche tatbestandliche Anforderung an die polizeirechtliche Schadensfolgenzurechnung sehr wohl ins Werk setzen 43 . Diese Anforderung hat der
Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), 399 (416). Vgl. Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffentlich-rechtlicher Pflichten des Bürgers, 1973, S.22f; Martens, aaO (o. Fn.3), S.321. 40 Vgl. Schenke, aaO (o. Fn. 7), S.216. 41 Diederichsen, BB 1986, 1723 (1731). 42 Gantner, aaO (o. Fn.27), S.54. 43 Das Bedürfnis nach einem solchen Kriterium andeutend vgl. auch Ossenbühl, W D S t R L 35, 346f (Diskussionsbeitrag); Gantner, aaO (o. Fn.27), S.65. 38
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Einsicht Rechnung zu tragen, daß die Polizei- und Ordnungsgesetze vom Verschulden des potentiell Pflichtigen bewußt abstrahieren; sie hat darüber hinaus aber auch an einer gewissen Steuerungsfunktion der gesetzlichen Polizeipflichtigkeit44 festzuhalten. Diesen Kautelen dürfte das Merkmal einer objektiv verstandenen, d. h. subjektiv-individualisierender Bezüge entkleideten Vorhersehbarkeit speziell der polizeiwidrigen Schadensfolgen als solcher am besten entsprechen. Dabei geht es, wie noch einmal hervorzuheben ist, vorliegend nicht darum, das lange Zeit dominierende, heute indes weithin verdrängte Vorhersehbarkeitsmerkmal 45 als Verantwortlichkeitsvoraussetzung umfassend wiederzubeleben. In Rede steht allein eine punktuelle ergänzende Einführung dieser Voraussetzung - mit der Funktion, die Finanzierung der Gefahrenabwehr durch den Verursacher schon im dogmatischen Ansatz in den Grenzen rechtsstaatlicher Angemessenheit zu halten und einer durch das Polizeirecht vermittelten Aushöhlung der besonderen Voraussetzungen des privaten Haftungsrechts angemessen vorzubeugen. Das positive Polizei- und Ordnungsrecht, das ohnehin nur den a priori thematisierungsoffenen und thematisierungsbedürftigen Verursachungsgrundsatz als solchen zur Verfügung stellt, steht einer differenzierenden Betrachtung der polizeirechtlichen Verantwortung nicht entgegen. In diesem Sinne zeigt sich denn auch das Schrifttum gegenüber der Einführung einer auf einzelne Konstellationen begrenzten Ergänzung der polizeirechtlichen Eingriffsanforderungen offenbar zunehmend aufgeschlossen46.
44 Zur Steuerungsfunktion des materiellen Polizeirechts vgl. (mit unterschiedlicher Akzentuierung) Gantner, aaO (o. Fn.27), S. 163, 166; Pietzcker, DVB1. 1984, 457 (460 f m. Fn. 21); Koch, aaO (o. Fn.6), S. 18 f, 24, 51 und 55. 45 Vgl. zu ihm zusammenfassend Vollmutb, Unmittelbare und rechtswidrige Verursachung als Voraussetzungen der Störerhaftung im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, VerwArch. 68 (1977), S.45 (46 m. weit. Nachw. in F n . 7 f ) . 46 Vgl. etwa Erichsen, W D S t R L 35, 171 (206); Ossenbühl, ebd., S.347 (Diskussionsbeitrag); Gantner, aaO (o. Fn.27), S.65; Scholler/Broß, aaO (o. Fn. 13), S.204. Was insbesondere das hier vertretene Vorhersehbarkeitsmerkmal anbetrifft, so spielt es in der Literatur (aber auch in der Rechtsprechung) - freilich zumeist verschämt kaschiert - bei Lichte besehen eine deutlich größere Rolle, als man dies zunächst annehmen sollte; vgl. für viele kennzeichnend etwa Vollmutb, VerwArch. 68 (1977), S.45, der einerseits das Vorhersehbarkeitsmerkmal ablehnt (S. 46), andererseits aber die von der Handlung ausgelösten „weiteren Folgen" dann in die Haftung einbeziehen will, wenn der bewirkte Erfolg „als Realisierung der der Handlung wesensmäßig innewohnenden Wirkungstendenz erscheint" (S. 55, 63). In der neueren Literatur (vgl. etwa Gantner, Pietzcker und Koch, aaO, vgl. Fn. 44) wird zwar das Vorhersehbarkeitsmerkmal im Ansatz auch wieder als solches verwendet, aber letztlich durch Gesichtspunkte wie „Erkennbarkeit der Pflichtensituation", „Erkennbarkeit der Pflichtenstellung" oder „Erkennbarkeit des Risikos" anstelle der Vorhersehbarkeit des polizeiwidrigen Erfolges so verfremdet, daß sich im Ergebnis - mehr bei Gantner und Koch, weniger bei Pietzcker, bei dem (aaO S. 460 r. Sp.
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Daß auch die neuere Polizeirechtsjudikatur - zumeist unausgesprochen - schon jetzt gelegentlich im vorgenannten Sinne verfährt, zeigt exemplarisch das Sturmflut-Urteil des O V G Hamburg vom 27.4.1983 4 7 . Ihm zufolge konnte und mußte Anfang 1976 bei der Lagerung von O l im Hamburger Hafengebiet zwar eine Sturmflut „in Betracht gezogen" werden, die der vom 1 7 . 2 . 1 9 6 2 und damit einem Wasserstand von N N + 6,13 m entsprach, nicht aber eine solche mit einem Wasserstand von N N + 6,49 m, wie sie - obschon unwahrscheinlich - am 3 . 1 . 1 9 7 6 dann tatsächlich eintrat. Hiervon ausgehend bejahte das Gericht eine polizeirechtlich zurechenbare Verunreinigung des Marktkanals durch den Lagerhalter nur hinsichtlich der Olmenge, die im Falle eines bis zu einem Wasserstand von N N + 6,13 m wirksamen Hochwasserschutzes nicht in den Kanal gelangt wäre. Diese Würdigung unterliegt im Ergebnis nicht der Kritik. Nicht zu überzeugen vermag sie, soweit das O V G Hamburg sie - ersichtlich entscheidungserheblich - gerade daran bindet, daß die Klägerin bei der Lagerung des Öls - in dem dargelegten begrenzten Umfange - gegen die Vorschrift des § 2 6 II S. 1 W H G verstoßen habe 48 . Die Veranschlagung der polizeirechtlich erheblichen Verursachung hätte indes schwerlich anders ausfallen dürfen, gäbe es die vorgenannte Bestimmung nicht 49 . Richtig ist nur, daß sich die Beantwortung der polizeirechtlichen Verursachungsfrage bei Vorliegen einer besonderen Ge- oder Verbotsnorm regelmäßig einfacher gestaltet als bei Fehlen einer solchen. Der aus dem Verstoß gegen eine zwingende Ordnungsvorschrift resultierende polizeiwidrige Zustand ist zumeist schon von der Sache her ohne weiteres objektiv vorhersehbar und damit dem Normverletzer nach Maßgabe des Verstoßes, d. h. unter Berücksichtigung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs, unschwer zuzurechnen. Demgegenüber bedarf es bei Fehlen einer speziellen gesetzlichen Verhaltensanweisung im allgemeinen einer genaueren Würdigung. Diese hätte indes in dem genannten Beispielsfalle kein von obigem abweichendes Ergebnis gerechtfertigt: Wer nach der Sturmflut vom 1 7 . 2 . 1 9 6 2 O l im Hafengebiet lagerte, hatte schon im 2. Abs., S. 464 r. Sp. 1. Abs. a. E.) immerhin deutlich wird, daß für ihn die Vorhersehbarkeit des Erfolges eine wichtige Determinante des „Risiko"-Gedankens darstellt - eine weitgehend diffuse Schadenszurechnung an den Verursacher ergibt (s. krit. auch Martens, aaO, o. Fn. 3, S.313). Dies gilt um so mehr, als vor allem bei Gantner und Koch die genannten Topoi, insbesondere die „Erkennbarkeit des Risikos", die herkömmlichen Verursachungsbegrenzungstopoi nicht für bestimmte Konstellationen ergänzen bzw. präzisieren, sondern ersetzen sollen. Vgl. ferner auch unten unter III 2. 47 OVG Hamburg D Ö V 1983, 1016 = ZfW 1984, 368. 48 § 2 6 II S. 1 W H G lautet: „Stoffe dürfen an einem Gewässer nur so gelagert oder abgelagert werden, daß eine Verunreinigung des Wassers oder eine sonstige nachteilige Veränderung seiner Eigenschaften oder des Wasserflusses nicht zu besorgen ist". 49 A . A . offenbar Martens, aaO (o. Fn.3), S.314.
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Rahmen seiner allgemeinen polizeirechtlichen Nichtstörungspflicht unter anderem auch die Wiederholung einer solchen Sturmflut in Betracht zu ziehen. Mit anderen Worten: Bei vorsorgeloser Lagerung war der mit der Verunreinigung des Marktkanals schließlich entstandene Schaden in dem beschriebenen Ausmaße - allerdings nur insoweit - auch ohne die Existenz einer Bestimmung wie der des § 26 II S. 1 W H G objektiv vorhersehbar. Er war daher mangels polizeirechtsspezifischer Haftungsausschließungsgesichtspunkte (Sozialadäquanz, Legalisierungswirkung öffentlich-rechtlicher Erlaubnisse) dem Lagerhalter als polizeirechtlichem Störer anzulasten; in dem beschriebenen Umfange hat bereits dieser und nicht erst die Sturmflut vom 3 . 1 . 1 9 7 6 die Gefahrengrenze überschritten. 2. Die objektive Vorhersehbarkeit der verursachten polizeiwidrigen Schadensfolgen als solcher ist, wie hinzuzufügen ist, eine durchgehend zwingende zusätzliche Anforderung an die entsprechende Kostenbelastung des Verursachers. Die neuerdings gelegentlich befürwortete „Verhaltensverantwortlichkeit wegen Risikozuweisung" 5 0 , die sich - konsequent - jeweils bereits an die bloße „Erkennbarkeit des Risikos" knüpfen soll 51 , entbehrt der hinreichenden Determinationskraft 52 . Sie ist aber auch insoweit nicht tragfähig, als ihr der Gedanke zugrunde liegt, bestimmten Haftungsbestimmungen der Zivilrechtsordnung - etwa § 22 II W H G oder § 8 2 3 I B G B - „polizeirechtlich relevante Risikozuweisungen" 53 zu entnehmen und mit ihrer Hilfe die gefahrenabwehrrechtliche Generalklausel schadensersatzrechtlich aufzuladen. Die gesetzliche Risikoverteilung, wie sie in den zivilrechtlichen Normen für das Verhältnis von Privatrechtspersonen untereinander zum Ausdruck kommt, ist nicht ohne weiteres zugleich auch für das Verhältnis des Bürgers zum Staat maßgeblich. Gesetzliche Wertungen, zumal wenn sie heterogenen Regelungsbereichen angehören und unterschiedliche tatbestandliche Voraussetzungen aufweisen, können nicht beliebig aus dem Kontext gelöst werden, für den sie geschaffen sind54. Anderenfalls läuft man Gefahr, nicht nur die gesetzliche Wertung der privatrechtlichen Schadensersatznorm, sondern auch die der „befruchteten" öffentlich-rechtli50 Koch, aaO (o. Fn. 6), S. 20 und passim; vgl. auch die anderen in F n . 4 6 genannten Autoren. 51 Vgl. insb. Koch, aaO (o. Fn. 6), S. 24, 55 und passim. 52 Vgl. bereits oben in Fn. 46. " Koch, aaO (o. Fn.6), S.20. 54 Der dem von Vollmutb, VerwArch. 68 (1977), S. 53, entgegengestellte Gedanke, letzten Endes dienten auch die Bestimmungen des Zivilrechts „dem übergeordneten Anliegen, die friedliche Koexistenz im ganzen zu gewährleisten, womit der Konnex zum Polizeirecht hergestellt wäre", vermag - weil auf entschieden zu hohem Abstraktionsniveau - schwerlich zu überzeugen.
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chen Eingriffsermächtigung in ihrer demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich konturierten Aussage zu manipulieren 55 . Von Vorstehendem abgesehen: Ist ein zu beurteilender Sachverhalt so gelagert, daß er tatbestandlich einer Zivilrechtsregelung unterfällt, so sieht regelmäßig diese - das ist ein Spezifikum des Zivilrechts - bereits ihrerseits die angemessene Rechtsfolge vor und bedarf daher keiner Verstärkung durch das Polizei- und Ordnungsrecht. Mit anderen Worten: Das Zivilrecht, das im allgemeinen geschlossene Haftungstatbestände enthält, ist zu seiner Durchsetzung nicht auf den Beistand der polizeirechtlichen Generalklausel angewiesen; das Polizei- und Ordnungsrecht seinerseits bedarf der Aufladung durch privatrechtliche Normen gleichermaßen nicht, weil es zum einen aus sich heraus sachgerechte Maßnahmen zum Zwecke der Gefahrenabwehr - gegebenenfalls auf Kosten der Allgemeinheit - zu rechtfertigen vermag56 und zum anderen auch nicht dem Zweck zu dienen bestimmt ist, eine Rechtsfolge zu stützen oder auszuweiten, die sich als privatrechtsspezifisch bereits aus den Vorschriften des Privatrechts ergibt. Der Weg, das Polizei- und Ordnungsrecht - anstatt es als Sitz einer schadensersatzgleichen Verantwortlichkeit des Verursachers in dem beschriebenen Sinne angemessen abzumildern - unter expliziter Einbeziehung des zivilen Haftungsrechts tatbestandlich noch auszuweiten, erweist sich daher de lege lata aus mehreren Gründen57 nicht als vertretbar. IV. Bei den bisherigen Überlegungen ging es darum, einer ganz spezifischen Uberanstrengung der polizeilichen Verhaltensverantwortlichkeit 55 Soweit es um die Anwendung einer im obigen Sinne erweiterten Eingriffsbefugnis auf abgeschlossene Verhaltensweisen geht, liegen eingeschlossen in den obigen Bedenken auch solche unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes; auf sie kann hier nur verwiesen werden. 56 Dem entspricht, daß - worauf Vogel, aaO (o. Fn. 3), S. 678, mit Recht hinweist auch dort, wo die Gesetze an bestimmte polizeiwidrige Handlungen allgemeine Ersatzpflichten knüpfen (so z. B. nach § 22 WHG), die Polizeibehörden die Kosten rechtmäßiger, insbesondere notwendiger und ermessensgerechter Polizeimaßnahmen, somit auch die Kosten der Ersatzvornahme oder der unmittelbaren Ausführung, gegenüber dem Störer geltend machen können. 57 Den genannten Gründen hinzuzufügen ist die weitere Erwägung, daß ein Verständnis der Verhaltensverantwortlichkeit in dem oben genannten Sinne auch dem Gebot kompetenzkonformer, d.h. eine bundesgesetzliche Verfremdung ausschließender Interpretation der landesgesetzlichen Haftungstatbestände des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts widerspräche und damit über die obigen Gesichtspunkte hinaus auch in dieser Hinsicht gewichtigen rechtlichen Bedenken unterläge; insoweit zutr. die Andeutung bei Diederichsen, BB 1986, 1731 (vgl. dazu aber auch oben in Fn.33).
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entgegenzuwirken. Unterhalb und außerhalb des Bereichs schadensersatzgleicher Störungsbeseitigung und Kostentragung bleibt die Verantwortlichkeit des Bürgers für die notwendigen Gefahrenabwehr- und Störungsbeseitigungsmaßnahmen unberührt. Hier erweist sich, daß entgegen bisher vorherrschendem Rechtsverständnis von einer Dichotomie Störer/Nichtstörer keineswegs gesprochen werden kann. Es gibt, mit anderen Worten, keine bipolare - d. h. nur die Bejahung oder Verneinung zulassende - Verhaltensverantwortlichkeit. Der polizeiliche Störerbegriff weist vielmehr durchaus fließende Konturen auf58. Daß dies bislang nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen ist, beruht möglicherweise auch auf der Verwendung des Ausdrucks „Haftung" für die polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit. Sie ist ungenau und irreführend 59 . Polizeipflichtigkeit meint nicht polizeiliche Haftung, sondern Mitwirkungsverantwortung bei polizeilichen Maßnahmen 6 0 . Diese ist indes differenzierender und individualisierender Veranschlagung zugänglich, aber auch bedürftig. Art und Umfang der Mitwirkungspflicht des Bürgers bei der gebotenen Gefahrenabwehr oder Störungsbeseitigung sind nach der Eigenart des jeweiligen Verursachungsbeitrags und dem damit unmittelbar einhergehenden spezifischen Rechts- und Verantwortungskreis des Pflichtigen zu bemessen". Der gelegentlich in diesem Zusammenhang verwendete Begriff des Risikos 62 sollte vermieden werden. Es geht bei der Mitwirkungspflicht zur Gefahrenabwehr nicht um die eigentliche Zuweisung von Risiken (an den Verursacher oder die Allgemeinheit), sondern um die Offenlegung bestehender Verantwortlichkeitsbereiche nach Maßgabe der jeweiligen Konstellation 63 . Hiervon ausgehend ergibt sich im allgemeinen eine hinreichend zuverlässige Aussage über den in
Vgl. auch Jarass, Gaststättenlärm und Sperrzeit, N J W 1981, 721 (725). Treffend Götz, aaO (o. Fn. 10), S.97. 60 Kirchhof, Sicherungsauftrag und Handlungsvollmachten der Polizei, D O V 1976, 449 (454). Mit obigem Inhalt wird der eingebürgerte Begriff „Haftung" auch im vorliegenden Beitrag gelegentlich verwendet (s. zur Terminologie auch Martens, aaO, o. Fn. 3, S. 290). 61 Vgl. auch Konrad, BayVBl. 1980, 581 (582 f). a Vgl. etwa Klaudat, aaO (o. Fn.24), S.48; Erichsen, W D S t R L 35, 171 (205); Gantner, aaO (o. Fn.27), S.49, 57, 128, 166, 208, 215; Pietzcker, DVB1. 1984, 457 (459f, 464); Hohmann, DVB1. 1984, 997 (1000); Seibert, DVB1. 1985, 328 (329); Koch, aaO (o. Fn. 6), S. 20. Ich selbst habe die obige Formulierung in W D S t R L 35, 348 (Diskussionsbeitrag) gebraucht; sie wird hiermit im nachfolgenden Sinne klargestellt. 63 Gelegentlich wird denn auch unmittelbar deutlich, daß der Verwendung des Begriffs „Risiko", vor allem (aber nicht nur) in bezug auf die Verhahenspflichtigkeit, nur eine scheinbar begründende Funktion zukommt (vgl. etwa Pietzcker, DVBl. 1984, 460). Setzt man an seine Stelle, wie es angemessen erscheint, den Begriff „Verantwortlichkeit", so zeigt sich, daß hier in der Sache als Grund der Verantwortlichkeit die Verantwortlichkeitszurechnung in Erscheinung tritt (die ihrerseits erst der konkretisierenden Klärung bedarf). 58
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concreto vom Verursacher zu leistenden Beitrag zur Gefahrenabwehr auch für den Fall, daß eine umfassende, d. h. die polizeiwidrigen Schadensfolgen einschließende Verantwortung des (Mit-)Verursachers mangels Vorhersehbarkeit des (Schadens-)Erfolges nicht in Betracht kommt. So ist in dem vielerörterten Fall des Tankwagenunglücks 64 der verkehrsund wegerechtskonform handelnde Fahrer entgegen gelegentlich in der Judikatur vertretener Auffassung zwar für die Abräumung des in die Tiefe verseuchten Erdreichs nicht verantwortlich 65 . Wohl aber trifft ihn unbeschadet der potentiellen Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn die Pflicht, die erforderlichen Sicherungs- und Bergungsmaßnahmen bezüglich des Lastzugs sowie die Reinigung der Fahrbahn vorzunehmen bzw. vornehmen zu lassen. Auch ist etwa, wer seinen Sondermüll einem renommierten Fachunternehmen zur Entsorgung anvertraut, der Verantwortung für die Beseitigung eines gleichwohl auf dem Deponiegelände entstandenen störenden Zustands ledig66. Er hat indes sehr wohl die polizei- und ordnungsrechtliche - gegebenenfalls durch Verfügung zu aktualisierende und konkretisierende - Pflicht, durch die Überlassung aller ihm zur Verfügung stehenden einschlägigen Daten und Unterlagen bei der Behebung des polizeiwidrigen Zustandes mitzuwirken. Der Gedanke eines im vorstehend skizzierten Sinne gleitenden polizeirechtlichen Störerbegriffs ist freilich - entfaltet er auch naturgemäß dort besondere Bedeutung, wo eine umfassende Verantwortlichkeit des Verursachers mangels Vorhersehbarkeit des Erfolges ausscheidet - nicht an bestimmte Konstellationen gebunden. An Beispielen hierfür fehlt es schon heute nicht: Mit Recht hat man etwa, unbeschadet der Grundsatzverantwortlichkeit des Gastwirts für das Verhalten seiner Gäste67, bei untypischen Geräuschentwicklungen die Zugrundelegung einer „reduzierten" Verursachung postuliert68. Der VGH München hat vor einigen Jahren, gleichermaßen zutreffend, die (Verhaltens-)Störerhaftung eines Grundstückseigentümers für naturschutzwidrige Anlagen, die im Eigentum und alleinigen Besitz des Grundstückspächters stehen, auf die Pflicht eingegrenzt, aufgrund seiner Verpächterstellung bei der ord64 Vgl. zu ihm etwa Otto, DVB1. 1964, 960 (Urteilsanmerkung); Holtzmann, DVB1. 1965, 902 (903); Klaudat, aaO (o. Fn.24), S . 4 6 f f ; Scholler/Broß, aaO (o. Fn. 13), S . 2 1 0 ; Gantner, aaO (o. Fn.27), S. 128 Fn. 1; Martens, aaO (o. Fn.3), S . 3 1 4 ; Diederichsen, BB 1986, 1723 (1731). 65 Vgl. aber O V G Münster DVB1. 1964, 683. 66 Vgl. in diesem Sinne (am Maßstab der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht des § 823 I BGB) B G H , N J W 1976, 46 = JuS 1976, 188 Nr. 5. Es besteht unter Heranziehung des Vorhersehbarkeitspostulats kein Anlaß, hiervon für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht abzuweichen. 67 Vgl. dazu Martens, aaO (o. Fn.3), S . 3 1 5 m. Nachw. in Fn.47; Schenke, aaO (o. Fn.7), S . 2 1 1 . 68 Jarass, N J W 1981, 721 (725).
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nungsrechtlichen Beendigung des naturschutzrechtlich unzulässigen Treibens des Pächters in geeigneter Weise mitzuwirken". In ähnlicher Weise hat jüngst ein anderer Senat des V G H München die Verhaltensverantwortlichkeit einer Pkw-Halterin, die selbst in Kenntnis mehrfacher Parkverstöße dritter Benutzer diesen ihr Fahrzeug weiter überläßt, für die von einem dieser Dritten verursachte Störung vorrangig auf die Pflicht eingeschränkt, den Namen des ihr bekannten Parkers zu nennen70. Die Frage ist schließlich, wo im Aufbau des polizei- und ordnungsgesetzlichen Tatbestands der Gedanke eines je nach Sachlage gleitenden Störerbegriffs in die rechtliche Beurteilung einfließt. Ihre Beantwortung versteht sich deshalb nicht von selbst, weil die landesrechtlichen Bestimmungen über die „Verantwortlichkeit von Personen" 71 die in ihnen genannte „Verursachung" ganz undifferenziert als verantwortungslegitimierendes Merkmal aufführen, ohne im Wortlaut nach der Qualität der Verursachungsbeiträge zu unterscheiden. Hiervon ausgehend bleibt deshalb nur die Möglichkeit, unter Zugrundelegung einer (sich nach den herkömmlichen Bestimmungskriterien bemessenden) Verursachung 'dem Grunde nach' eine nach Sachlage unterschiedliche, insbesondere reduzierte Verursachung in die Abgrenzung der spezifischen Verantwortlichkeit, damit aber in die gegen den Verursacher zu richtende „Maßnahme" einzubringen. Dabei ergeben sich spezifische Verantwortlichkeit und Maßnahmequalität häufig, wie etwa im Falle des Tankwagenfahrers, ohne weiteres schon aus der Eigenart des Sachverhalts. Gelegentlich freilich, beispielsweise bei der Eingrenzung des dem Wirt zuzurechnenden Gästelärms, liegt die Problematik gerade darin, die besondere Qualität des Verursachungsbeitrags in der Mittelauswahl und der Mittelabstufung sachgerecht zum Ausdruck zu bringen72. V. Nur im Ansatz berührt werden kann, ob und inwieweit sich die vorgetragenen Erwägungen über die Verhaltensverantwortlichkeit hinaus auf die Zustandsverantwortlichkeit übertragen lassen73. Diese ist gewiß von besonderer Eigenart: Die Pflichtigkeit des Eigentümers oder des Inhabers der tatsächlichen Gewalt für den polizeilichen Zustand von Sachen ist Ausfluß der tatsächlichen und rechtlichen Sachherrschaft, welche die Nutzung der Sache mit den sich daraus ergebenden wirt" V G H München BayVBl. 1979, 634; s. zu diesem Urteil Konrad, BayVBl. 1980, 581. 70 VGH München BayVBl. 1987, 119. 71 Vgl. den Überblick bei Friauf, aaO (o. Fn. 17), S.211 Fn. 137. 72 Vgl. auch Jarass, N J W 1981, 721 (725, 729). 73 Vgl. zur Zustandsverantwortlichkeit die Nachweise in Fn. 7 und 34.
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schaftlichen Vorteilen ermöglicht74. Es liegt auf der Hand, daß diese spezifische Ratio der Zustandsverantwortlichkeit dieser notwendig Konturen verleiht, die von denen der Verhaltensverantwortlichkeit deutlich abweichen. Bei der Zustandsverantwortlichkeit geht es nicht darum, wie bei der Verhaltenshaftung die polizeirechtliche Zurechnung menschlicher Verursachung einzugrenzen. Die - Verantwortung vermittelnde Sache75 ist gegebenenfalls, wie man mit Recht bemerkt hat76, eben „da" und trägt aufgrund ihrer Beschaffenheit oder Lage im Raum zur konkreten Gefahren- bzw. Störungslage bei. Das läßt zumeist (wenn auch keineswegs immer77) schon die geläufigen Zurechnungsgesichtspunkte, wie insbesondere auch das Merkmal der Unmittelbarkeit, eher in den Hintergrund treten; die objektive Vorhersehbarkeit des polizeiwidrigen Zustandes als allgemeine Verantwortlichkeitsvoraussetzung scheint hier gar gänzlich fehl am Platze. Statt dessen schiebt sich bei der Zustandshaftung zunehmend die Notwendigkeit einer fallbezogenen Herausarbeitung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 II G G ) in den Vordergrund78. Diese gewinnt im vorliegenden Zusammenhang nicht so sehr als Legitimationskriterium (als das sie sich bereits im gesetzlichen Tatbestand verwirklicht findet) denn als ein für die Exekutive unmittelbar verbindliches Haftungsbegrenzungskriterium Bedeutung79. Bei der wertenden Bestimmung dessen, was die Sozialbindung des Eigentums in concreto an Verantwortlichkeit (noch oder nicht mehr) zuläßt, kann dann freilich neben anderen Erwägungen auch der Gesichtspunkt der objektiven Vorhersehbarkeit des polizeiwidrigen Zustandes eine gewisse, nicht notwendig die entscheidende Rolle spielen. Sie oder ein vergleichbares Merkmal können als polizeirechtsspezifische Sozialbindungstopoi vor allem dort Erheblichkeit gewinnen, wo außerhalb des Kernbereichs der Zustandshaftung, in dem die Störung allein von der Sache als solcher ausgeht80, maßgeblich Dritte durch ihr Verhalten den polizeiwidrigen Zustand der Sache (mit-)verursacht haben81. Dabei wird es für den Umfang der polizeilichen Haftung des BVerwG DVB1. 1986, 360 (361). Zu der „auf eine konkrete Sache bezogenen Dinglichkeit" der Zustandspflichtigkeit des Eigentümers oder Gewalthabers vgl. BVerwG N J W 1971, 1624. 76 Vgl. Pietzcker, DVB1. 1984, 457 (462). 77 Vgl. etwa BVerwG DVB1. 1986, 360 (361); V G H Mannheim N V w Z 1987, 237 (238). 78 Grdl. Friauf, aaO (o. Fn. 7), passim; ders., aaO (o. Fn. 17), S. 217 ff m. weit. Nachw. Vgl. auch Fn. 79. 79 Vgl. etwa Hohmann, DVB1. 1984, 997 (1000f); s. auch Pietzcker, DVB1. 1984, 457 (462 ff); Gantner, aaO (o. F n . 2 7 ) , S. 205ff. 80 Vgl. zu diesem Kernbereich V G H München N V w Z 1986, 942 (945). 81 Vgl. in diesem Sinne etwa auch BVerwGE 38, 209 (219); Hohmann, DVB1. 1984, 997 (1000 lit.a); Wolff/Bachof, aaO (o. Fn. 16), S.68 Rdn. 16); Beye, Zur Dogmatik polizeirechtlicher Verantwortlichkeit, Diss. Mainz 1969, S. 49. 74 75
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Zustandsverantwortlichen nicht selten auch darauf ankommen, ob und welche angemessenen Sicherungsmaßnahmen er getroffen hat, um einer möglichen unmittelbaren oder mittelbaren Einwirkung Dritter auf den polizeilichen Zustand seiner Sache vorzubeugen 82 . Die Aufgabe der Herausarbeitung verschiedener Haftungstatbestände innerhalb der Zustandsverantwortlichkeit harrt noch der Bewältigung. Wie indes auch die einzelnen Gruppen typischer Fälle - mit voraussichtlich teilweise voneinander abweichenden Haftungsvoraussetzungen aussehen mögen: Auch im Bereich der Zustandsverantwortlichkeit kann von einer Dichotomie Störer/Nichtstörer keineswegs die Rede sein. Scheidet eine Vollverantwortlichkeit des Eigentümers für die entstandene Störung aus, weil sie - aus welcher gruppenspezifischen Erwägung auch immer - die Grenzen der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 II GG) gegebenenfalls überdehnte, so bleiben auch hier mannigfache Möglichkeiten einer minderen Inanspruchnahme des dem Grunde nach Pflichtigen. Diese Inanspruchnahme hat unter wertender Berücksichtigung der gesamten Konstellation zu erfolgen und zusätzlich in Rechnung zu stellen, daß der Eigentümer einer störenden Sache auch im eigenen Interesse tätig wird, wenn er die Störung beseitigt, etwa indem er sein verunreinigtes Grundstück wieder in Ordnung bringt83. Sie reicht potentiell von der bloßen Pflicht zur Duldung gefahren- und störungsentschärfender polizeilicher Einwirkungen auf die Sache über die Pflicht zur Aufstellung von Warnhinweisen und Abschrankungen bis zur Pflicht, bestimmte Teilmaßnahmen im Rahmen der eigentlichen Störungsbewältigung vorzunehmen 84 . Die Anerkennung einer ungeschmälerten Zustandsverantwortlichkeit in der Sache bei gleichzeitiger Abmilderung auf der Kostenseite - im Falle der unmittelbaren Ausführung der Maßnahmen oder dem der Ersatzvornahme - kommt demgegenüber
82 Bei derartigen Sicherungsmaßnahmen geht es allerdings bei Fehlen spezialgesetzlicher Vorschriften polizeirechtlich nicht um Rechtspflichten, sondern um Obliegenheiten eigenen Interesses. Eine solche Obliegenheit eigenen Interesses kann u. U. auch darstellen, sich - etwa im Schweinemästerfall oder bei ähnlichen Konstellationen (vgl. dazu etwa Götz, aaO o. Fn: 10, S. 106 ff, 126; Schenke, aaO o. Fn. 7, S. 211 f) - gegen die durch Dritte drohende Einwirkung auf den polizeilichen Zustand der Sache prozessual zur Wehr zu setzen (vgl. etwa zur sog. störungspräventiven Nachbarklage BVerwG N J W 1986, 469 = JuS 1986, 915 Nr. 11). Ob und inwieweit die Bewältigung derartiger Obliegenheiten das Ausmaß der - erst bei entstandener konkreter Gefahrenlage bestehenden (s. BVerwG DVB1. 1986, 360, 361 l.Sp.; Pietzcker, DVB1. 1984, 457, 460 r.Sp.) - Gefahren- bzw. Störungsbeseitigungspflicht mitbestimmt, ist eine Frage der Umstände des Einzelfalles. 85 Vgl. V G H München N V w Z 1986, 942 (944 f). 84 Vgl. hierzu die im Ergebnis treffenden (nicht selten freilich inkonsequenten: s.a. Pietzcker, DVB1. 1984, 457, 463 m. Fn.37) Bemerkungen etwa bei Gantner, aaO (o. Fn.27), S . 2 1 4 f ; Seibert, DVB1. 1985, 328, 329 (dagegen Schenke, aaO, o. Fn. 7, S.217); Götz, aaO (o. Fn. 10), S. 104 (Rdn.212).
Gedanken zur polizeirechtlichen Verhaltensverantwortlichkeit
503
nicht in Betracht. Hierzu ist das Notwendige bereits im Zusammenhange der Verhaltensverantwortlichkeit bemerkt worden 85 . VI. N o c h einmal zu resümieren bleibt abschließend vor allem - hier in erster Linie für die Verhaltenspflichtigkeit, dem Grunde nach aber auch für die Zustandspflichtigkeit - , daß nicht jede verantwortungsbegründende Verursachung einer polizeilichen Gefahr oder Störung zu einer einschränkungslosen Haftung führt. Diese ist vielmehr an jeweils spezifische Voraussetzungen gebunden - bei der Verhaltenspflichtigkeit über die herkömmlichen Verursachungsbegrenzungsgesichtspunkte hinaus (bzw. diese präzisierend) an die objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgs, bei der Zustandspflichtigkeit an präzisierende oder ergänzende Merkmale, die unter gruppentypischer Veranschlagung der Sozialbindung des Eigentums noch weiterer Herausarbeitung bedürfen 86 . Es mag sehr wohl sein, daß hieraus gegenüber manch überkommener Anschauung eine gewisse Mehrbelastung der Gesamtheit der Steuerzahler resultiert, die überall dort für den Schaden, d . h . die Kosten des behördlichen Einschreitens aufzukommen hat, wo ein Verantwortlicher - insoweit — nicht zur Verfügung steht. Diese Mehrbelastung wird indes nicht unwesentlich dadurch aufgefangen, daß die hier empfohlene Praktizierung eines fließenden Störerbegriffs Verantwortlichkeiten erschließen dürfte, die bislang noch vernachlässigt werden. Im übrigen erscheint sie nicht unbillig. Einer besonderen, überdies möglicherweise dem Gesetzgeber vorbehaltenen Zuordnung bestimmter Bereiche zu einer „Risikosphäre der Allgemeinheit" 87 bedarf es dabei nicht. Die staatliche Gefahrenabwehr ist, anders als die private Eigensicherung 88 , als Aufgabe der inneren
Vgl. dazu oben bei und in Fn. 34 ff. Vgl. dazu die Ansätze bei den in Fn. 78 und 79 genannten Autoren. 87 Vgl. wie oben etwa die in Fn. 62 aufgeführten Autoren; zur Zuordnungsaufgabe des Gesetzgebers s. Selmer, W D S t R L 35, 348 (Diskussionsbeitrag). 88 Zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Privaten durch besondere gesetzliche Regelung eine Pflicht zur „Eigensicherung" gegen Dritte angesonnen werden darf, vgl. BVerwG DVB1. 1986, 360 (361 f) m. Anm. Schenke; aus der Lit. s. ferner in jüngerer Zeit Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr (Rechtsgutachten zum 9. Änderungsgesetz des Luftverkehrsgesetzes), 1981, S. 17 ff; Ronellenfitsch, Die Eigensicherung von Verkehrsflughäfen, VerwArch. 77 (1986), 435, jew. m. weit. Nachw. Unter welchen Voraussetzungen der Bereich der privaten Eigensicherung durch das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht überlagert wird und inwieweit diese Uberlagerung gegebenenfalls zu Lasten der Allgemeinheit oder/und eines (verhaltens-)verantwortlichen Veranstalters bzw. Betreibers geschieht, ist im einzelnen (auch nach BVerwG aaO, S. 361) noch nicht umfassend geklärt: Vgl. dazu insbesondere die entgegengesetzten (m. E. jeweils überzeichneten) Positionen von Götz aaO, o. Fn. 10, S. 101; ders., Die Entwicklung des allg. Polizei- und Ordnungsrechts - 1981 bis 1983 - , NVwZ 1984, 211, 214f) einerseits 85 86
504
Peter Selmer
Sicherheit grundsätzlich aus Steuermitteln, also von der Allgemeinheit zu finanzieren 89 . Es gilt, mit anderen Worten, für die im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht normierte Schutzaufgabe der Verwaltung das Gemeinlastprinzip als Lastentragungsleitregel. Sie umfaßt im Ansatz alle Tätigkeiten zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit, auch dort, wo sie mit besonderen Sicherheitsbedürfnissen einzelner Bürger zusammentreffen 90 . Auf dieser Grundlage besteht keine Veranlassung, die vor allem im Interesse effizienter Gefahren- und Störungsabwehr gesetzlich formulierte Mitwirkungsverantwortung des polizeirechtlichen (Mit-)Verursachers bei den gebotenen Maßnahmen zu überdehnen und unter regelhafter Hintanstellung aller seiner Individualinteressen undifferenziert zu einem fiskalischen Instrument staatlicher Kostenentlastung auszugestalten.
und Schenke (aaO, o. Fn. 7, S . 2 1 0 ; ders., DVB1. 1986, 362, 363) andererseits; richtigerweise kommt es (gerade insoweit freilich unter sorgfältiger Beachtung des nachfolgend genannten Gemeinlastprinzips) auch hier auf eine Würdigung des Einzelfalles an. 89 Den obigen Aspekt betonend vgl. auch Ossenbühl, aaO (o. Fn. 88), S. 19 f; Majer, VerwArch. 73 (1982), 167 (168); Wärtenberger, N V w Z 1983, 192 (193); s. auch F n . 9 0 . 90 Vgl. Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben - ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Staatsfinanzierung im Wandel, 1983, S . 4 3 5 (450); Majer, VerwArch. 73 (1982), 167 (168).
Probleme der Organtransplantation in Hamburg WALTER STIEBELER
I. Einführung „Die Zeit" schrieb im Juni 1980: „Die Arzte arbeiten weiterhin in einer Grauzone des Rechts". Gemeint war die Problematik der Organtransplantation. Damals war gerade der Entwurf eines Bundestransplantationsgesetzes (Bundestagsdrucksache 8/2681) gescheitert, weil die Bundesregierung von der sog. Widerspruchslösung ausgehen wollte, der Bundesrat indessen die sog. Einwilligungslösung favorisierte. Zum Verständnis: Einwilligungslösung bedeutet, Organentnahme ist nur zulässig bei Einwilligung des Verstorbenen zu seinen Lebzeiten oder nach seinem Tode bei Einwilligung der nächsten Angehörigen (sog. erweiterte Zustimmungslösung). Widerspruchslösung bedeutet, Organentnahme ist zulässig, wenn der Verstorbene nicht zu seinen Lebzeiten widersprochen hat. Die Angehörigen kommen hierbei nicht vor. Das ist konsequent: Wenn der Verstorbene nicht widersprochen hat, wird seine Zustimmung vermutet. Einer Ersetzung des unbekannten Willens durch nächste Angehörige bedarf es nicht. Auch dieser Vorgang ist ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und Justiz. Obgleich eine umfassende gesetzliche Regelung dringend geboten erschien, schreckten die Politiker wegen der erwarteten kontroversen Diskussion in der Öffentlichkeit davor zurück. Zwar sprachen und sprechen auch heute noch alle Gründe der Praktikabilität für die Widerspruchslösung, aber es sind gegen diese öffentliche Proteste zu erwarten. Die Einwilligungslösung ist andererseits befrachtet mit einem hohen Verwaltungsaufwand und der Gefahr der Abkoppelung großer Kliniken vom europäischen Standard der Forschung. So blieb eine Regelungslücke bewußt bestehen, und es soll weiterhin so bleiben, wie auch-der Bundesjustizminister den Landesjustizverwaltungen am 3 . 8 . 1 9 8 4 mitgeteilt hat. Der alte Entwurf sei überholt. Die Organübertragung werde als neue Behandlungsmethode weitestgehend akzeptiert. Zu etwa 90 % seien die Angehörigen bereit, in eine Transplantatentnahme bei den Toten einzuwilligen. Damit entfalle heute aber die Notwendigkeit, auf gesetzgeberischem Wege die Organübertragung zusätzlich zu fördern. Umgekehrt sei ein Bedürfnis für eine gesetzliche Regelung aus Gründen
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Walter Stiebeier
der Totensorge jedenfalls solange nicht zu erkennen, wie die Ärzte eine Organentnahme von der Einwilligung des Verstorbenen oder der Angehörigen abhängig machen. Exekutive und Justiz müssen also versuchen, die offengelassenen Unklarheiten mit den Mitteln des unvollkommenen geltenden Rechts aufzubereiten und zu lösen.
II. Die Vierspurigkeit der Rechtfertigung einer Organentnahme in Hamburg Hamburg hat die Regelungslücke wie folgt zu schließen versucht: 1. Die
Einwilligungslösung
Die gemeinsame Dienstanweisung von Gesundheitsbehörde, Wissenschaftsbehörde, Justizbehörde und Innenbehörde vom 1 . 9 . 1 9 7 2 in der Neufassung vom 1 . 8 . 1 9 8 0 , für das Universitätskrankenhaus Eppendorf für verbindlich erklärt erst mit Wirkung vom 16.8.1983, macht die Organentnahme von der Einwilligung des Verstorbenen oder seiner nächsten Angehörigen abhängig. Dienstrechtlich liegt darin eine verbindliche Regelung für alle Ärzte im Geltungsbereich der Dienstanweisung und eine Selbstbindung der vier Verwaltungsbehörden. Inhaltlich weist die Dienstanweisung mit ihrer Regelung eine gewisse Schieflage auf. Der Vorspruch bezieht sich auf alle Organentnahmen erfaßt damit auch die Gewebeentnahmen, wie Augenhornhaut und Gehörknöchelchen - , die Detailregelungen betreffen jedoch ausschließlich Nierentransplantationen und die Methode der Todeszeitfeststellung, Probleme, die z. B. für Hornhautentnahmen keine Rolle spielen. So konnte es nicht ausbleiben, daß von zahlreichen Ärzten der Standpunkt vertreten wurde, die Dienstanweisung regele die Hornhauttransplantation überhaupt nicht. Ursprünglich ging die Dienstanweisung sogar von dem absoluten Erfordernis der Einwilligung des Verstorbenen aus. Es folgte eine achtjährige Erörterungsphase über notwendig gewordene Änderungen. Die Überlegungen zur Änderung der Dienstanweisung beschränkten sich weitgehend auf die Probleme der Nierentransplantation. Mit der Neufassung zum 1 . 8 . 1 9 8 0 wird erstmalig auch die Einwilligung von nahen Angehörigen zur Organentnahme zugelassen. Rechtssatz der Verwaltung und Praxis der Krankenhäuser standen gleichwohl nicht im Einklang, so daß es verständlich war, daß Ärzte des Universitätskrankenhauses Eppendorf die Dienstanweisung nicht auf die Augenhornhautentnahme bezogen ansahen.
Probleme der Organtransplantation in Hamburg
2. Die Widerspruchslösung
als eine Art ärztlichen
507
Brauchs
In Hamburg hatte sich schon frühzeitig eine ärztliche Übung entwikkelt. Ausgehend von einer Praxis in den Krankenhäusern wurde unterschieden zwischen „großer Organentnahme"; hier galt die Einwilligungslösung, und kleiner Organentnahme ( = Gewebeentnahme); hier galt die Widerspruchslösung. Als Motivation wurde angegeben, daß eine solche Widerspruchslösung den Anforderungen der modernen Medizin eher gerecht werde und auch dem Interesse der Patienten diene. Daher wurde diese Lösung von den Ärzten als ausreichend empfunden. 3. Die mit „Notfall"
angereicherte
Widerspruchslösung
Den bisherigen Schlußpunkt in dieser Entwicklung setzte der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg mit einer Antwort auf die kleine Anfrage des Abgeordneten Prösch (Drucksache 11/2246 v. 3.4.1984). Die hier interessierenden Fragen des Abgeordneten lauteten: 1. Welche Regelungen existieren für die Entnahme von Leichenteilen bei den Hamburger Krankenhäusern und 2. inwiefern ist bei diesen Entnahmen eine Einwilligung der Angehörigen vorgesehen? Der Senat antwortete wie folgt: 1. Eingriffe zum Zwecke der Organtransplantationen Diese Eingriffe setzen nach der in Hamburg geltenden Dienstanweisung über Organentnahmen von Toten zum Zwecke der Transplantation v. 1.8.1980 die Einwilligung des Spenders oder seiner nächsten Angehörigen voraus und 2. Eingriffe zum Zwecke der Transplantation von Organteilen Die Entnahme von Organteilen, wie Augenhornhaut, Gehörknöchelchen, Haut u. a. kann unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) stattfinden. Bei der hiernach notwendigen Güterabwägung wird ein Widerspruch der Angehörigen grundsätzlich berücksichtigt. Die Justizbehörde versuchte bei der Vorbereitung der Senatsantwort vergeblich, ihren Standpunkt durchzusetzen, daß die unterschiedliche Handhabung bei Organtransplantationen und Transplantationen von Organteilen rechtlich nicht haltbar sei. Damit hat der politische Senat mit seiner Autorität die Entnahme von Organteilen aufgrund einer modifizierten Widerspruchslösung (mit vorgeschalteter Notfallage) als regelhafte und damit implizite als rechtlich unbedenkliche Praxis in den Hamburger Krankenhäusern dargestellt. Die gemeinsame Dienstanweisung der vier Behörden ist damit durch die Senatsantwort rechtlich überlagert worden.
508
Walter Stiebeier
Trotz des Zitates des § 34 S t G B in der Antwort, war - wie die Erörterungen zu dieser Antwort zeigen - nicht an sämtliche Voraussetzungen des Notstands gedacht, sondern eine Notfallsituation unterstellt, die bei der Transplantation von Augenhornhaut stets gegeben sein dürfte; denn es geht um die Rettung des Augenlichts bei dem Empfänger. Der so vorgeschaltete „Notstand" könnte wie folgt definiert werden: „Wenn die Entnahme zur Rettung eines Menschenlebens oder zur Behandlung einer Krankheit oder eines Körperschadens geboten erscheint, sofern sie nicht dem Glauben oder der Weltanschauung des Verstorbenen widerspricht." Für die Unterscheidung in der Senatsantwort waren vermutlich medizinische Gründe maßgebend: Eine Organentnahme geschieht bei noch erhaltener Kreislauffunktion und führt zu einem Wiederanschluß an Blutgefäße des Empfängers. Gewebeentnahme ist noch Stunden nach Kreislaufstillstand möglich; sie bedarf keines Anschlusses an den Kreislauf des Empfängers. Die zweite Alternative der Antwort sollte nach den Vorstellungen der Verfasser eine Erleichterung bei Organentnahmen bezeichnen; nach der Formulierung hätte das aber eine Erschwerung bedeutet. Betrachtet man die Aussagen des Senats, so fehlen eigentlich überzeugende Gründe für eine Differenzierung zwischen großer und kleiner Organentnahme. 4. Die echte Notstandslösung
als
Auffangtatbestand
Dabei handelt es sich um einen Explantationseingriff, der ohne oder entgegen einer Willensäußerung des Verstorbenen bzw. seiner Angehörigen erfolgt. Der Wille des Betroffenen ist in letzter Konsequenz unbeachtlich. Man sagt: „Eine Organentnahme ist zulässig, wenn sie zur Rettung eines Menschenlebens oder zur Behandlung einer schweren Krankheit oder eines Körperschadens dringend geboten erscheint." Dieser rechtfertigende Notstand, § 34 S t G B , wird mit vielerlei Argumentationssträngen gern bemüht, um Einwilligungs- oder Widerspruchslösung als entbehrlich hinzustellen. Dahingehende Überlegungen beherrschen insbesondere die ärztliche Literatur 1 . In der juristischen Literatur 2 wird insbesondere die Frage erörtert, ob die Anerkennung einer Notstandssituation unter dem Vorbehalt steht, 1 Dazu: Spann: Arztrechtliche Probleme des Pathologen - in: Der Pathologe, 1981, Heft 3, S. 1-6. 2 Bockelmann, P.: Das Strafrecht des Arztes - in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. Aufl. 1967; Bubnoff, E. v.: Rechtsfragen zur homologen Organtransplantation aus der Sicht des Strafrechts, Goldtdammers Archiv 1968, 65; Bucher, E.: Rechtliche Probleme im Zusammenhang der Transplantatbeschaffung - in: Largiader, 1966, S. 75; Dreher-Tröndle: Strafgesetzbuch, 43.Aufl. 1986, Anm.23 zu § 3 4 ; Engisch, K.: Über
Probleme der Organtransplantation in Hamburg
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daß vorher die Einholung der Einwilligung von den Angehörigen versucht wurde oder aussichtslos erscheint. Es werden drei Rechtfertigungskonstruktionen vertreten: a) Rechtfertigung nur bei vorliegender Einwilligung des Verstorbenen oder der Hinterbliebenen, Ausschluß eines Rückgriffs auf § 34 StGB 3 . b) Es gibt eine echte Konkurrenz zwischen rechtfertigender Einwilligung und rechtfertigendem Notstand 4 . Dann taucht die Frage auf, ob der Arzt eine Art Wahlrecht hat. c) Die Priorität liegt bei der Einwilligung 5 . Scheitert der Versuch, diese Einwilligung einzuholen, oder stellt sich das als unmöglich heraus, dann kann auf den Notstand zurückgegriffen werden. Dieser ist sozusagen subsidiär. Einige Anmerkungen dazu: Der Standpunkt zu a) ist abzulehnen. Er würde auf die Schaffung eines Rechtfertigungsmonopols für den Erben hinauslaufen und trägt die Gefahr einer Kommerzialisierung der Organtransplantation in sich. Die Argumentation zu c) verkennt die strafrechtliche Funktion der Notstandslage. Notstand bedeutet, Verzicht auf eine Einwilligung oder, über die verweigerte Einwilligung hinweggehen zu dürfen. Die Konfliktsituation muß stets vorgegeben sein; sie wird durch den gescheiterten Versuch der Einholung der Einwilligung lediglich verschärft. Noch schwerer wiegt gegen diese Ansicht der Gesichtspunkt der mangelnden Praktikabilität.
Rechtsfragen bei homologer Organtransplantation - in: Der Chirurg 1967, 252; Geilen, G.: Neue juristisch-medizinische Grenzprobleme - JZ 1968, S. 145 ff, S. 1 4 9 f f ; Geilen, G.: Das Leben des Menschen in den Grenzen des Rechts - FamRZ 1968, S. 121 ff; Geilen, G. : Probleme der Organtransplantation - JZ 71, 41 ff; Hinderling: Die Transplantation von Organen als Rechtsproblem, Schweizerische Juristenzeitung 1968, S.65; Kohlhaas, M.: Rechtsfragen zur Transplantation von Körperorganen - NJW 1968, S. 1489 ff; Kohlhaas, M.: Transplantation von Körperorganen als Rechtsproblem, Deutsche Medizinische Wochenschrift 1968, S. 366 ff; Kohlhaas, M.: Rechtliche Fragen bei der Organtransplantation, Münchener Medizinische Wochenschrift 1967, S.2265; Largiadèr: Organtransplantation 1966; Maurach, R.: Deutsches Strafrecht, 6. Aufl. Allgemeiner Teil 83/84, Besonderer Teil 77/81 ; Maurer: in D Ö V 80, 7; Schmidt, E. : Der Arzt im Strafrecht - in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl. 1957, S. 1 ff; Schönke-Schröder-. Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1985, Anm.II, 3 zu §34; Spann, W.: Liebhardt, E.: Rechtliche Probleme bei der Organtransplantation, M M W 1967, S. 672; Zenker, R.: Pichelmaier, H.: Organverpflanzung beim Menschen, Deutsche Medizinische Wochenschrift, 1968, S. 713 ff. J Trockel, MDR 69/812; Geiger in Festschrift für Stein 1969, 83 ff; vgl. dazu auch
Maurer in DÖV 80/13. 4 5
Schönke-Schröder, 22.Aufl. 1985, Anm.II, 3 zu §34, allerdings etwas differenziert. Von B u b n o f f , GA 68, 74 f; Lg. Bonn, JZ 71/60.
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Wenn der Versuch, die Einwilligung zu bekommen, letztlich doch durch die Notstandslage überspielt werden kann, werden Klinikkapazitäten unnötig eingesetzt, menschlich sehr belastende Gespräche Ärzten und Angehörigen zugemutet und letztlich der entgegenstehende Wille der Angehörigen doch gebrochen mit allen negativen Folgen für die Frage der Pietät und der Rechte der Angehörigen. Es ist also der Lösung zu b) der Vorzug zu geben und von einer echten Konkurrenz zwischen Einwilligungslösung als Rechtfertigung und Notstandslage als Rechtfertigung auszugehen. Die Entscheidung hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und liegt letztlich beim Arzt; und diese ist nicht immer leicht zu treffen: Erste Voraussetzung für eine Notstandslage ist nämlich die Kollision zweier Rechtsgüter: hier Leben bzw. die Erhaltung der Gesundheit des Transplantatempfängers, dort fortwirkendes Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen. Zweite Voraussetzung ist das Rangverhältnis dieser Rechtsgüter; Leben und Gesundheit dürften erheblich höher einzustufen sein. Drittens: Der Eingriff muß angemessen sein. Das dürfte z . B . beim Widerspruch von Angehörigen angesichts des Schweigens des Verstorbenen anzunehmen sein. Zuzugeben ist, daß die Frage schwierig zu entscheiden ist, ob eine Notstandsrechtfertigung auch gegenüber einem geäußerten entgegenstehenden Willen des Verstorbenen durchgreifen kann. Hier dürfte in der ärztlichen Praxis besondere Vorsicht angebracht sein. J e mehr die Bereitstellung von Organen für unbekannte Empfänger durch sog. Organbanken gefördert wird, desto mehr dürften die Voraussetzungen der Notstandslage verdrängt werden, weil die entstandene Gefahr für einen potentiellen Empfänger auf andere Weise behebbar ist. Gleichwohl ist die Notstandslage heute noch z. B. für Hornhautentnahmen sozusagen die regelhafte Rechtfertigung. III. Die rechtliche Analyse Hamburg bietet also vier Modelle zur Rechtfertigung von Organtransplantationen den Ärzten an. Seit Jahren erscheint es als schwierig, den Ärzten eindeutige Regelungen an die Hand zu geben. Die Konferenz nordwestdeutscher Augenärzte in Hamburg im Juni 1985 führte darüber beredte Klage 6 . Im folgenden ist zu untersuchen, ob die oben erwähnten Regelungen und ärztlichen Bräuche mit dem Grundsystem unseres Rechts im Einklang stehen.
6 Vgl. die Veröffentlichung der Vorträge in „Rechtophthalmologie", herausgegeben von Berndt Gramberg-Danielsen, Enke-Verlag, 1985.
Probleme der Organtransplantation in Hamburg
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Verfassungsrechtliche Beurteilung: Sie fragt nach dem Umfang des Schutzbereichs der Individualität. Anerkannt wird ein Recht auf Unversehrtheit eines Leichnams, das als Nachwirkung des Persönlichkeitsrechts des Verstorbenen in dem Bestimmungsrecht der Angehörigen aufgeht, Art. 1 und Art. 2 G G (Fortwirkung des Selbstbestimmungsrechts). Es kollidiert nicht mit dem Recht auf Freiheit der Lehre und Forschung, Art. 5 Abs. 3 G G , denn dem Zugriffwillen des Forschers sind die allgemeingültigen Verfassungsschranken gezogen 7 . Zum Inhalt des Totensorgerechts der Angehörigen gehört die Pflege ungestörter achtungsvoller Erinnerung, sozusagen ein Aufwand zur Erhaltung seines Lebensbildes. Der verfassungsrechtliche Schutzbereich ist jedoch geschrumpft auf einen Persönlichkeitsrückstand 8 . Die Explantation kann nur dann eine unwürdige oder gar ehrverletzende Behandlung sein, wenn der Verstorbene einer Organentnahme zu seinen Lebzeiten widersprochen hat. Das Entscheidungsrecht der Angehörigen ist nur subsidär; sozusagen als Sachwalter des Verstorbenen haben die Angehörigen den von ihnen vermuteten Willen zu vollziehen. Das alles genießt aber den Schutz durch Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 G G 9 . Eine Kollision mit dem Recht des Organempfängers auf Leben, Art. 2 Abs. 2 G G , ist nicht ersichtlich; denn dieser Anspruch richtet sich gegen den Staat. Drittwirkung des Inhalts, daß er im Privatrechtsverkehr gegen jedermann gelte, kann ihm nicht beigelegt werden. D e m Persönlichkeits- bzw. Totensorgerecht steht also kein anderes unmittelbar gefährdetes Individualrechtsgut gegenüber. Das ist in wesentlichen Punkten herrschende Meinung in Literatur und Rechtssprechung 10 . Daraus folgt: Die Entnahme von Organteilen einer Leiche ist rechtswidrig, sofern nicht Rechtfertigungsgründe gegeben sind. Die Einwilligungslösung ist danach verfassungsrechtlich unbedenklich, ebenso die Notstandslösung. Beide würden in der Praxis an Bedeutung verlieren, wenn die weniger einschneidende Widerspruchslösung den medizinisch erforderlichen Bedarf an Organen sichern würde und verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden könnte.
1 Vgl. die Autoren in F n . 2 ; Maunz/Düng!Herzog, K o m m , zum Grundgesetz, 1984, Art. 1 I G G , R d n . 2 3 , 40. * Maurer, a.a.O., S. 9. 9 v.Münch, Grundgesetz-Kommentar, München 1981, A n m . 7 zu Art. 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. B V e r f G E 30, 173 ff, 194. 10 Vgl. A n m . 9 und Hess. S t G H , DVB1. 1 9 6 9 / 3 4 ; Hubmann-. Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl., 1 9 6 7 ; Linck, Z R P 7 5 / 2 5 1 ; Samson, Legislatorische Erwägungen zur Rechtfertigung der Explantation von Leichenteilen, N J W 7 4 / 2 0 3 0 .
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Die Widerspruchslösung beruht auf der Konstruktion, daß das bloße Schweigen des Verstorbenen als Zustimmung gewertet werden könne. Mit Nichtwiderspruch hat der Betroffene sozusagen die Möglichkeit einer späteren Explantation von Organen hingenommen. Damit ist auch für das subsidiäre Entscheidungsrecht der Angehörigen kein Raum. Die Begründungen für diese Auffassung reichen von der Annahme einer Sozialpflichtigkeit der menschlichen Organe bis zur Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums". Letztlich wird man sagen können, daß weder Art. 1 noch Art. 2 Abs. 1 GG bei der Handhabung der Widerspruchslösung verletzt sein können, weil die Widerspruchslösung keine Antastung des Eigenwertes der Persönlichkeit in der Schutzform, wie sie auf die Angehörigen übergegangen ist, darstellt. Dem Verstorbenen wurde lediglich zugemutet zu erklären, daß er die Möglichkeit der Organentnahme nach seinem Tode ablehne. Erwartet werden konnte von ihm eine Erklärung über Bereitschaft oder Verweigerung zur Organentnahme. Zwar können die Grundsätze über das Schweigen im Privatrechtsverkehr nicht ohne weiteres auf das Verhältnis Staat/Bürger übertragen werden, aber alle im Staatswesen zusammengeschlossenen Individuen leben in einem Bezugssystem sittlicher Rechte und Pflichten. Hier können der Staat und der explantierende Arzt durchaus auf die Regel des Schweigens vertrauen und von einer vermuteten Zustimmung ausgehen. Das einzige Bedenken gegen diese Konstruktion liegt darin, daß es in unserer Gesellschaft noch an umfangreichen Belehrungen durch staatliche oder ärztliche Institutionen über die Bedeutung des Schweigens fehlt. Ich meine jedoch, daß die Widerspruchslösung nicht erst nach Verabschiedung gesetzlich angeordneter Informations- und Belehrungspflichten, sondern schon heute noch verfassungsgemäß ist, weil ein Schweigen des Verstorbenen so oder so interpretiert werden kann und bei dieser Ausgangslage die Ersetzung des unbekannten Willens des Verstorbenen durch die nächsten Angehörigen (Einwilligungslösung) genauso problematisch ist. Daraus erhellt, daß aus verfassungsrechtlicher Sicht der Unterschied zwischen Einwilligungs- und Widerspruchslösung nicht sehr groß erscheint. IV. Strafrechtliche Sanktionen für den Fall der Rechtswidrigkeit der Widerspruchslösung Strafrechtliche Tatbestände sind auf die eigenmächtige Explantation von Organen - so, wie sie sich in der Praxis abspielt - nicht anwendbar. Das wurde deutlich aufgrund einer sehr sorgfältig begründeten Einstellungsverfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts beim Landgericht 11
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Probleme der Organtransplantation in Hamburg
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Hamburg vom 15.6.1982 - Az.51 JS 471/81. Beschuldigter war ein bekannter Rechtsmediziner. Eingestellt wurde das Verfahren mangels Vorliegens einer strafbaren Handlung. Die Durchprüfung der in Betracht kommenden Straftatbestände ergab folgendes: a) §168 StGB - Störung der Totenruhe - liegt nicht vor; die Vorschrift setzt eine Wegnahme aus dem Gewahrsam des Berechtigten voraus; das ist ein Eingriff in ein bestehendes tatsächliches Obhutsverhältnis. Dieser Gewahrsamsbegriff ist nicht völlig identisch mit dem Gewahrsamsbegriff der Zueignungsdelikte. In der Regel aber hat das Institut für Rechtsmedizin oder eine Krankenanstalt rechtmäßig den Gewahrsam am Leichnam inne. Es geht nicht an, der rechtspolitischen Zielsetzung der Vorschrift des §168 StGB die faktische Anknüpfung zu nehmen und sie in Richtung auf ein Obhutsrecht der Angehörigen, also auf eine Pietätsverletzung, fortzuentwickeln. Interpretationsversuche dieser Art, die es gegeben hat, scheitern am Grundgesetz, Art. 103 Abs.2 G G : „nulla poena sine lege"12. b) Die Anwendung der Vorschrift über die Sachbeschädigung, § 303 StGB, scheitert an dem Tatbestandsmerkmal „fremde Sache". Ein Eigentumserwerb an der Leiche liegt nur in Ausnahmefällen vor so z. B. an einem der Anatomie zur Verfügung gestellten Leichnam. Nach herrschender Meinung steht der Leichnam in niemandes Eigentum 13 . c) Diebstahl und Unterschlagung - §§ 242, 246 StGB - liegen nicht vor, weil das Transplantat herrenlos ist. Auch fehlt der Zueignungswille. d) Beleidigung, § 185 StGB, ist nicht gegeben, denn in der Organentnahme ist keine Ehrverletzung der Angehörigen zu sehen. e) Damit scheidet auch § 189 StGB - Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener - aus, denn diese Vorschrift ist ehrbezogen; es fehlt an dem Tatbestand der Verunglimpfung. Als Folge bleibt: Selbst wenn die Handlung der Organentnahme rechtswidrig wäre, ist sie nicht strafbar. V. Zivilrechtliche Sanktionen Schadensersatzfragen haben in der bisherigen Diskussion um die Organtransplantation nur eine untergeordnete Rolle gespielt. 12 1J
Vgl. dazu Schönke/Schröder/Lencker, 22. Aufl., 1985, §168, Rdn.6. Palandt/Heinrichs, 46. Aufl., München 1987, Ü b b l . 4 b vor §90.
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Walter Stiebeier
Hierzu ist auf das sog. Gütgemanns-Urteil des Landesgerichts Bonn vom 25. Febr. 197014 zu verweisen. Das aus dem Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen abgeleitete Obhutsrecht der Angehörigen wird als absolutes Recht i. S. des § 823 Abs. 1 B G B angesehen. Verletzungen können die Pflicht zum Schadensersatz dem Grunde nach begründen. Ein materieller Schaden wird indes kaum jeweils nachweisbar sein. Die Organentnahme als solche stellt keinen Vermögensschaden dar. Das Organ ist im übrigen kein Gegenstand des Handelsverkehrs. Es bleibt der von der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes seit dem sog. Herrenreiterfall entwickelte Schadensersatz in Geld analog § 847 B G B übrig. Auch diesen hat das Landgericht Bonn - m. E. zu Recht - mit eingehenden Erwägungen verweigert, weil nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen ein besonderes Genugtuungsbedürfnis, eine Voraussetzung für die analoge Anwendung des § 847 B G B , zu bejahen sein wird. Die maßgebende Erwägung für die Zuerkennung einer Entschädigung in Geld betrifft Fälle, in denen Geldersatz das wirksamste Mittel ist, die Respektierung des Personenwertes zu sichern. Das alles trifft auf die hier zu erörternden Fälle nicht zu. Bei der Organentnahme ist die tatsächliche Lage eine ganz andere. Im übrigen setzt § 823 Abs. 1 B G B Rechtswidrigkeit und Verschulden voraus. Auf das zur Rechtfertigung Gesagte wird verwiesen. Angesichts der ungeklärten Rechtslage und der Vielzahl der zur Legitimierung der Organentnahme vertretenen juristischen Meinungen spielt auch das Problem des entschuldigenden Rechtsirrtums eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sofern zivilrechtliche Sanktionen gegen explantierende Arzte eingeleitet würden, dürfte ihnen der Erfolg versagt bleiben. VI. Schlußbemerkung Nach allem führen die unterschiedlichen Modelle zur Rechtfertigung von Organentnahmen in Hamburg stets zu dem gleichen Ergebnis: Vom Standpunkt des Verfassungsrechts, des Strafrechts und des Zivilrechts sind die Organentnahmen nicht rechtswidrig; Ansprüche gegen die Ärzte oder in der Form der Amtshaftung gegen die Freie und Hansestadt Hamburg sind nicht gegeben. Es bleibt allein die dienstrechtliche Sanktionsmöglichkeit. Die Behörden haben es in der Hand, für die explantierenden Arzte einen bestimmten Rechtfertigungsweg vorzuschreiben. Wird dagegen
u JZ 71, S. 56 bis 62; dazu auch Palandt/Thomas/Edenhof Anm.3m zu §1922 mit weiteren zahlreichen Nachweisen.
er, Anm.Be zu §823 u.
Probleme der Organtransplantation in Hamburg
515
verstoßen, sind dienstrechtliche Konsequenzen möglich. Voraussetzung ist jedoch, daß der Weg plausibel und präzise vorgegeben wird. Da viele Unklarheiten in den tatsächlichen Abläufen der Organentnahme festzustellen sind, ist immer noch die juristische Aufarbeitung der Probleme ein Gebot unserer Gesellschaft. Schon vor 6 Jahren stand in der „Zeit": „Vom Leid der Patienten gedrängt, entnehmen Augenmediziner schon heute auch dann Obduktions- und Sektionsleichen bisweilen Augenhornhäute, wenn kein Widerspruch vorliegt - und setzen sich somit dem Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens aus. Geplagt von dem derzeitigen juristischen Halbdunkel und der möglichen Zukunft mit Zustimmungslösung und Angehörigenbefragung, ahnen Augenspezialisten wie Prof. Gottfried Naumann von der Universitäts-Augenklinik in Tübingen Ungutes: „Wenn diese Zustimmungslösung in der derzeitigen Form verabschiedet wird, dann sind auch unsere Notfälle nicht mehr recht zu behandeln. Dann können wir den Laden zumachen." Dem ist auch aus der Sicht des Jahres 1987 nichts Abweichendes oder Neues hinzuzufügen.
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch auf öffentlichen Straßen WERNER THIEME
In seiner Habilitationsschrift, die dem „Öffentlichen" als Rechtsbegriff gewidmet ist1, hat sich Wolf gang Martens auch mit der Frage auseinandergesetzt, was denn eigentlich das „Öffentliche" an den öffentlichen Sachen und insb. an den öffentlichen Straßen ausmacht2. Martens betont, die Tragweite des Ausdrucks „öffentlich" würde hierbei überschätzt, wenn versucht werde, die Konstruktion eines modifizierten Privateigentums durch eine rein öffentlich-rechtliche Beurteilung aller Rechtsverhältnisse abzulösen. Entscheidend sei vielmehr die öffentliche Zugänglichkeit, die unter dem Begriff des Gemeingebrauchs stattfindet. I. In Anknüpfung an die Gedanken Martens' soll im folgenden einer Problemkonstellation nachgegangen werden, die - soweit ersichtlich - in dieser spezifischen Fallgestaltung bisher noch nicht in der juristischen Literatur beschrieben worden ist. Die Entwicklung der Wirtschaft, vor allem aber die Konkurrenz im Handel, führt zu immer neuen Ideen, die sich in besonderen Vertriebsformen niederschlagen. Eine alte, in dieser Form jedoch neue Vertriebsform, die zugleich Fragen des öffentlichen Wegerechts aufwirft, sind ambulante Händler, die mit einem Bauchladen oder einer kleinen Karre Waren auf der Straße feilhalten und verkaufen. Es geht dabei nicht um den einzelnen Verkäufer, sondern um eine größere Verkaufsorganisation, d.h. ein Unternehmer läßt in verschiedenen Städten oder Stadtteilen ambulante Händler mit Bauchladen laufen. Die Umsätze sollen z.T. erheblich sein. Andererseits sind die Kosten gering, da der Händler ein Ladenlokal nicht vorzuhalten braucht. Daher stellt sich die Frage, ob der Wettbewerbsvorteil, den der ambulante Händler gegenüber dem Ladenbesitzer hat, unbillig ist. Es überrascht daher auch nicht, daß immer wieder der Versuch gemacht
1 2
Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969. A a O , S. 108 ff, insbes. S. 110.
518
Werner Thieme
wird, die ambulanten Händler entweder völlig von der Straße zu verdrängen oder sie mit besonderen Gebühren zu belegen. Das Instrument hierzu bietet das Straßenrecht. Wenn die Tätigkeit des ambulanten Händlers straßenrechtlich nicht Gemeingebrauch, sondern Sondernutzung ist, so besteht einerseits die Möglichkeit einer Versagung ihrer Tätigkeit überhaupt, andererseits die Möglichkeit, sie zu einer Sondernutzungsgebühr heranzuziehen, durch die der Wettbewerbsvorteil verringert wird. Der ambulante Händler besitzt gewerberechtlich eine ordnungsgemäße Reisegewerbekarte und verhält sich auch verkehrsrechtlich ordnungsgemäß auf Bürgersteigen und in Fußgängerzonen. Gerade die Vermehrung der Zahl der Fußgängerzonen und ihre Vergrößerung bieten dem ambulanten Händler zusätzliche Chancen. Der Verkehrsraum, in dem er sich bewegen kann, hat sich durch die Schaffung der Fußgängerzonen ganz erheblich vergrößert. Außerdem hat sich die Zahl der Fußgänger vermehrt, so daß sein Angebot besser wahrgenommen wird. Der Händler fällt durch den Bauchladen auf und erregt allein dadurch Beachtung bei einem großen Teil der Fußgänger. U . U . hat er zusätzlich an seiner Kleidung und am Bauchladen auch Werbeträger befestigt, die auf sein Angebot hinweisen. Der Händler stellt sich auf verkehrsreichen Plätzen auf, wartet auf Kunden, führt mit ihnen Verkaufsgespräche, tätigt Kaufabschlüsse, übergibt die Ware und nimmt die Bezahlung entgegen. Zwischenzeitlich bewegt er sich auch auf der Straße fort, aber immer in der Absicht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschäfte zu tätigen. Eine Variante zu diesem Sachverhalt ist der ambulante Händler, der hinter sich einen kleinen Wagen herzieht, den er statt des Bauchladens oder zusätzlich zum Bauchladen mit sich führt. In diesem Wägelchen, das zwei Räder hat und die Form der kleinen Einkaufswagen, wie sie ältere Leute benutzen, um nicht tragen zu müssen, birgt der Händler die Waren, mit denen er die Lücken im Angebot auf seinem Bauchladen ergänzt. Die Rechtslage ist 'im deutschen Straßenrecht nicht einheitlich. In einem Punkt allerdings besteht Ubereinstimmung, daß nämlich die Rechtsbegriffe „Gemeingebrauch" und „Sondernutzung" nahtlos aneinanderschließen, wie es z.B. §21 Abs. 1 S. 1 des schleswig-holsteinischen Straßengesetzes formuliert 3 : „Die Benutzung der öffentlichen Straßen über den Gemeingebrauch hinaus (Sondernutzung) bedarf der Erlaubnis des Trägers der Straßenbaulast."
Was allerdings Gemeingebrauch ist und wo er endet, darüber besteht keine Einigkeit. Dabei geht es vor allem um die Frage, inwieweit der 3
I . d . F . V. 30.1.1979, GVB1. S. 164.
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
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intendierte Gebrauchszweck Einfluß auf den Begriff des Gemeingebrauchs hat. Die Landesstraßengesetze und das Bundesfernstraßengesetz verhalten sich insoweit unterschiedlich. Während neben dem schleswigholsteinischen Straßengesetz die Länder Hessen 4 , Baden-Württemberg 5 , das Saarland' und Bremen 7 die Zweckbestimmung nicht als normatives Merkmal kennen, enthalten die Gesetze der Länder Berlin 8 , RheinlandPfalz', Niedersachsen10, Bayern11 und Nordrhein-Westfalen 12 sowie schließlich das Bundesfernstraßengesetz" Bestimmungen etwa folgenden Inhalts: „Kein Gemeingebrauch liegt vor, wenn jemand die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr, sondern zu anderen Zwecken benutzt."
Eine dritte Variante enthält das hamburgische Wegegesetz14, das bestimmt: „Zum Gemeingebrauch gehört nicht die Benutzung eines Weges . . . zur Gewerbeausübung . . . "
Mit dieser Vorschrift verweist das hamburgische Wegegesetz jegliche Gewerbeausübung in den Bereich der Sondernutzung. Da gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 desselben Gesetzes die Sondernutzung einer Erlaubnis bedarf, auf die kein Anspruch besteht, kommt die Genehmigung der Sondernutzung für gewerbliche Zwecke einer gewerblichen Erlaubnis gleich. Der hamburgische Gesetzgeber hat damit neben das Bundesrecht eine landesrechtliche Gewerbeerlaubnis allgemeiner Art gestellt. Dies aber ist unzulässig, weil das Gewerberecht bundesrechtlich abschließend geregelt ist und dem Landesgesetzgeber keinen Raum für eine spezielle Regelung läßt. Die hamburgische Vorschrift ist daher verfassungsrechtlich kaum zu halten. Als Definitionsmerkmale des Begriffes Gemeingebrauch kommen in den genannten Gesetzen in Betracht:
Straßengesetz vom 9 . 1 0 . 1 9 6 2 (GVB1. S.437), § 1 4 S . l . Straßengesetz vom 2 0 . 3 . 1 9 6 4 (Gesetzblatt S. 27), § 15 Abs. 1. ' Straßengesetz vom 17.12.1964 (Amtsblatt 1965 S. 117) i. d. F. v. 15.10.1977 (Amtsblatt S. 969), § 1 4 Abs. 1. 7 Landesstraßengesetz vom 2 0 . 1 2 . 1 9 7 6 (Gesetzblatt S.341), §15. 8 Straßengesetz vom 9 . 6 . 1 9 6 4 (GVB1. S.693), § 8 Abs. 2 S.3. ' Landesstraßengesetz vom 15.2.1963 (GVB1. S.57) i . d . F . v. 1 . 8 . 1 9 7 7 (GVB1. S. 274), § 3 4 Abs. 3. 10 Straßengesetz vom 2 4 . 9 . 1 9 8 0 (GVB1. S. 359), § 14 Abs. 1 S. 3. 11 Straßen- und Wegegesetz vom 5.10.1981 (GVB1. S. 448), § 14 Abs. 1 S. 2. 12 Straßen- und Wegegesetz vom 1.8.1983 (GVNW S. 306), § 14 Abs. 3 S. 1. 13 I. d. F. v. 1 . 1 0 . 1 9 7 4 (BGBl. I S. 2413), § 7 Abs. 1 S. 3. 14 I . d . F . v. 2 2 . 1 . 1 9 7 4 (GVB1. S.41, 83), §16 Abs.2 S . l . 4 5
520
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1. die Verkehrsvorschriften, 2. der Rahmen der Widmung und 3. die Nutzung „zum Verkehr", wobei letztere - wie bereits angedeutet - Probleme aufwirft. 1.
Verkehrsvorschriften
Straßenrecht und das Straßenverkehrsrecht wurden und werden als zwei getrennte Materien angesehen 15 , obwohl die modernen Straßengesetze beide Materien verkoppeln. Insbesondere sind die verkehrsrechtlichen Vorschriften heute Elemente zur Begrenzung der straßenrechtlichen Befugnisse. Die Straßenhändler, um die es hier geht, sind Fußgänger. Sie dürfen die Straße nur insofern benutzen, als diese für Fußgänger verkehrsrechtlich zugelassen ist. Jede Überschreitung der verkehrsrechtlichen Vorschriften macht ihre Tätigkeit unzulässig. Insoweit gilt nichts Besonderes gegenüber anderen Straßenbenutzern. Die Einzelheiten hierzu ergeben sich aus der StVO. In ihr sind keine besonderen Normen enthalten, die sich mit dem Straßenhandel befassen. Insb. sind auch keine Ausnahmegenehmigungen oder Erlaubnisse nach §49 vorgesehen. Die dort aufgezählten Tatbestände betreffen andere Fragen. Es wäre daran zu denken, die Generalklausel des § 1 StVO heranzuziehen. Selbstverständlich gilt diese Generalklausel auch für die ambulanten Straßenhändler. So könnte durch einen zu großen Bauchladen eine Behinderung, Belästigung oder Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer eintreten. Träte durch einen zu großen Bauchladen eine Behinderung oder Gefährdung ein, so wäre das zweifellos unzulässig. Für den Normalfall des Bauchladens gilt das jedoch nicht. Zu prüfen ist auch § 25 StVO, der sich mit dem Fußgänger beschäftigt. Er enthält (§25 Abs. 2 S. 1) einen Sonderfall, das Mitführen von sperrigen Gegenständen und Fahrzeugen. Träte durch diese Art der Benutzung der Straße eine erhebliche Behinderung der anderen Verkehrsteilnehmer ein, so müßte der Straßenhändler den Fußgängerweg verlassen und die Fahrbahn benutzen. Bei dem gewöhnlichen Bauchladen liegt dieser Fall jedoch nicht vor. Auch kleine zweirädrige Karren, wie sie als Einkaufswagen üblich sind, bedeuten nicht das Mitführen von Fahrzeugen i. S. dieser Bestimmung. Aus verkehrsrechtlichen Vorschriften läßt sich daher die Notwendigkeit der Erteilung einer Sondererlaubnis für die ambulanten Händler mit Bauchladen und kleineren Karren nicht herleiten. 15
Evers, N J W 1962, 1033 ff; Papier, Recht der öffentlichen Sachen, 2. Aufl. 1984, S. 65.
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
2. Der
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Widmungszweck
Die Straßengesetze begrenzen den Gemeingebrauch teilweise auch durch den Widmungszweck der Straße. Der Umfang der Widmung wird vom Wegeherrn bestimmt. Das ist in der Regel die Gemeinde. Grundsätzlich bezieht sich die Widmung nicht auf die Frage, ob eine gewerbliche Tätigkeit ausgeübt wird oder nicht. Es kommt vielmehr auf die Fortbewegung als Fußgänger, als Radfahrer, als Kraftfahrer oder in sonstiger verkehrsrechtlich relevanter Weise in Betracht. Es ist jedoch die Frage zu stellen, ob die Gemeinde als Wegeherr berechtigt wäre, die Widmung so zu gestalten, daß dadurch allgemein gewerbliche Tätigkeiten ausgeschlossen werden. Diese Frage ist zu verneinen. Die Straße dient in erheblichem Umfange dem gewerblichen Verkehr. Sie wird zum Transport gekaufter oder angefertigter Güter benutzt. Die Gewerbetreibenden fahren oder gehen auf den Straßen zu Verhandlungen im Rahmen ihres Gewerbebetriebes. Der Wirtschaftsverkehr und hier wiederum der gewerbliche Wirtschaftsverkehr ist der wichtigste Zweig des Straßenverkehrs überhaupt. D a die gewerbliche Tätigkeit auf den Straßen durch eine Begrenzung des Widmungszweckes nicht an sich ausgeschlossen werden kann, ist zu prüfen, ob der Widmungszweck so gestaltet werden kann, daß er den Abschluß von Verträgen oder das Sofortgeschäft einschließlich der Ausführung des Geschäfts ausschließt. Gegen eine derartige widmungsrechtliche Gestaltung bestehen erhebliche Bedenken. Der Abschluß von Verträgen und ihre Ausführung auf der Straße ist keine straßenrechtliche Kategorie. Bei einer nur beschränkten Widmung, die gewerbliche Tätigkeiten ausschließt, handelte es sich daher um eine gewerberechtliche Bestimmung. Es würde in bestimmter Weise in die Freiheit des Gewerbes eingegriffen werden. Hierzu aber ist die Gemeinde als Straßenherr nicht befugt, da eine solche Widmungsbestimmung nicht auf die Nutzung der Straße, sondern auf die Ausübung des Gewerbes zielt. Gemäß § 1 Abs. 1 der Gewerbeordnung ist der Betrieb eines Gewerbes jedermann gestattet, soweit nicht durch die Gewerbeordnung selbst Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind. Zwar kann der Bundesgesetzgeber sich selbst von dieser Vorschrift dispensieren 16 . Der Landesgesetzgeber und insb. die Gemeinden können die gewerbliche Tätigkeit aber nicht beschränken. Es liegt hier anders als bei straßenrechtlichen Vorschriften und Widmungen von Straßenteilen, die sich nicht auf gewerbliche Tätigkeiten beziehen, sondern genereller " Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, Bd. I, Kommentar (Loseblattsammlung), Stand Dezember 1984, §1 Rdn.51.
522
Werner Thieme
Natur sind und damit auch das Gewerbe treffen. Mit derartigen allgemeinen Einschränkungen, die nicht auf eine bestimmte Art der gewerblichen Tätigkeit zielen und diese einschränken wollen, ist eine solche Widmungsbeschränkung nicht vergleichbar17. 3. Nutzung
zum
Verkehr
Das Hauptproblem liegt daher beim dritten Definitionselement des Gemeingebrauchsbegriffes, dem Verkehrszweck. Dabei war schon darauf hingewiesen, daß das Recht der einzelnen Länder sich zu dieser Frage unterschiedlich verhält. Der Begriff des Verkehrs umfaßt zweifellos die Fortbewegung auf der Straße. Fraglich ist jedoch, ob auch eine Tätigkeit des ambulanten Händlers zum Verkehr gehört, wenn er sich nicht fortbewegt, sondern auf der Straße steht, auf Käufer wartet, Verkaufsabschlüsse tätigt, die gekauften Waren aushändigt und den Kaufpreis entgegennimmt. Das Problem des ruhenden Verkehrs ist in der jüngsten straßenrechtlichen Diskussion eines der wichtigsten und umstrittensten Themen geworden. Die Nutzung der Straße ohne Fortbewegung hat daher Rechtsprechung und Literatur vielfach beschäftigt. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß auch der ruhende Verkehr Verkehr i. S. des Wegerechts ist. So ist niemals zweifelhaft geworden, daß das Parken von Kraftfahrzeugen zum Verkehr gehört. Die Grenzen mögen hierbei zweifelhaft sein18. Stellt jedoch der Kraftfahrer sein Kraftfahrzeug für längere Zeit an einem dafür vom Straßenherrn vorgesehenen und verkehrsrechtlich zugelassenen Straßenteil ab, so nimmt er weiter am Verkehr teil. Er nimmt keine Sondernutzung in Anspruch. Dabei kann das Parken auch langfristig stattfinden. Immer unter der Voraussetzung, daß verkehrsrechtliche Beschränkungen nicht bestehen, kann der Arbeitnehmer oder der Gewerbetreibende sein Kraftfahrzeug während eines ganzen Arbeitstages oder während der ganzen Nacht, ja wenn er auf Urlaub ist, selbst wochenlang an derselben Stelle abgestellt stehen lassen, ohne daß damit der Fall der Sondernutzung entsteht. Es gehört zur Verpflichtung der Gemeinden, für diesen ruhenden Verkehr Vorsorge zu treffen, d.h. Parkplätze zu planen und zu bauen. So bestimmt § 9 Abs. 1 N r . 11 BauGB ausdrücklich, daß der Bebauungsplan auch Flächen für das Parken von Fahrzeugen festsetzt. Im Rahmen der Abwägungspflicht der planenden Gemeinde sind auch die Belange des Verkehrs, zu denen der ruhende Verkehr gehört, zu berücksichtigen.
17
Landmann/Rohmer, aaO, Rdn. 48. Salzwedel, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1985, S. 634, insbes. Fn. 66 m. w. N. 18
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
523
Anhand weiterer Beispiele, bei denen die Zulässigkeit des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer im Rahmen des Gemeingebrauchs niemals zweifelhaft geworden ist, läßt sich zeigen, daß auch in anderen Fällen die fehlende Fortbewegung auf der Straße nicht etwa die Teilnahme am Gemeingebrauch ausschließt. Als solche Beispiele seien genannt: a) Der Rentner setzt sich auf die vor seinem Hause von der Stadt aufgestellte Bank und beobachtet dort stundenlang den vorbeiflutenden Verkehr. b) Der Besucher einer Stadt begibt sich zu einem Kunstdenkmal und bleibt vor dem Kunstdenkmal lange Zeit stehen, um das Kunstdenkmal zu betrachten, das ihm von seinem Freunde erklärt wird. c) Der Missionar einer Sekte verwickelt einen Vorbeikommenden in ein Gespräch über die Glaubenslehren seiner Sekte. Der so Aufgehaltene empfindet das als interessant und beteiligt sich selbst längere Zeit an dem Gespräch. Der Missionar bewegt sich nicht fort, sondern steht an der Stelle, um immer wieder Vorbeikommende, deren Interesse er möglicherweise erregen kann, in ein Gespräch zu ziehen. Es stellt sich die Frage, ob der Sachverhalt allein deshalb anders zu beurteilen ist, weil der ambulante Händler weder wie der Rentner sich auf das passive Schauen beschränkt, noch wie der Kunstliebhaber ideelle Zwecke verfolgt, noch wie der Sektenmissionar für seine Sekte Seelen fangen will. Der ambulante Händler will nicht für die Schönheit der Stadt und auch nicht für einen religiösen Glauben werben, sondern er will seinem eigenen wirtschaftlichen Nutzen dienen. Damit stellt sich die Frage dahin, ob eine derartige wirtschaftliche, insb. gewerbliche Tätigkeit sich von der Tätigkeit der anderen Verkehrsteilnehmer, die sich ebensowenig fortbewegen wie der ambulante Händler, straßenrechtlich unterscheidet. Würde man diese Frage bejahen, so würde das praktisch bedeuten, daß man die straßenrechtlichen Kategorien nicht nach objektiven, sondern nach subjektiven Merkmalen, nämlich nach den Absichten der Verkehrsteilnehmer unterscheidet. Hier würde wiederum die Kategorie des Gewerbes und damit auch die Kategorie des Berufes maßgeblich. Damit ist aber zugleich auch die verfassungsrechtliche Frage angesprochen, ob Art. 12 Abs. 1 G G eine derartige Beschränkung zuläßt. Zweifellos sind gewerberechtliche Beschränkungen verfassungsrechtlich möglich. Soweit es sich um die Ausübung des Gewerbes handelt - und das ist hier der Fall - ist nach der Rechtsprechung des BVerfG 1 9 jede " B V e r f G E 7, 377 ff, 405; st. Rspr., vgl. Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Kommentar (Loseblattsammlung), 6. Aufl., Stand Dezember 1985, Art. 12 Rdn. 8.
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sachgerechte und vernünftige Erwägung des Gemeinwohls gerechtfertigt. Es kommt daher darauf an festzustellen, welche Erwägung des Gemeinwohls hier in Frage steht. Dabei ist davon auszugehen, daß die Ausübung des ambulanten Gewerbes gemeinverträglich ist. Sollte das in bestimmten Fällen nicht zutreffen, so läge in der Tat keine Ausübung des Gemeingebrauchs vor20. Doch geht es hierum nicht. In den hier betrachteten Fällen wird ja gerade davon ausgegangen, daß die Tätigkeit der ambulanten Händler gemeinverträglich ist. Es geht ausschließlich um den Verkehrsbegriff und seine Bedeutung im Rahmen des Gemeingebrauchs. V. Von den obersten Gerichten haben sich sowohl das BVerfG als auch das BVerwG zu der hier einschlägigen Frage, freilich jeweils mit einem abweichenden Sachverhalt, geäußert. Das BVerfG 21 hat zu einer Frage, die der hier zu beurteilenden parallel liegt, Stellung genommen. Es ging um die Frage, ob das absolute Werbeverbot, das § 33 Abs. 1 Satz 3 StVO enthält, verfassungsgemäß ist. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 Abs. 1 G G geprüft. Es hat das Werbeverbot als eine Berufsausübungsregel angesehen und unter Berücksichtigung seiner ständigen Rechtsprechung, die nur verhältnismäßige Einschränkungen der Berufsausübung zuläßt, eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angenommen. Es hat dann allerdings ausgeführt, daß dem gesetzgeberischen Anliegen ohne Beeinträchtigung öffentlicher Belange durch ein Erlaubnisverfahren mit Verbotsvorbehalt ausreichend Rechnung getragen werden könnte 22 . Wenngleich das Straßenverkehrsrecht eine andere Materie als das Straßenrecht ist, so hat beides doch im Hinblick auf die Ausübung des Grundrechts des Art. 12 Abs. 1 G G ähnliche oder sogar dieselben Wirkungen. Aus diesem Grunde ist die Entscheidung des BVerfG auf den hier zu beurteilenden Fall übertragbar. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, daß dem verfassungsrechtlichen Anliegen durch die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis schon Rechnung getragen werde, weil diese sich wie die Erlaubnis einer an sich verbotenen Tätigkeit auswirkt. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß es nicht auf die benutzten Rechtsfiguren, sondern auf die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ankommt. Auch wenn die Möglichkeit einer Erlaubnis besteht, darf von ihr nur 20 21 22
Mayer/Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1985, S. 408. BVerfGE 40, 371 ff, 382. AaO, S. 383 f.
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
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Gebrauch gemacht werden, wenn das Verbot selbst verhältnismäßig ist. Das allerdings trifft im vorliegenden Falle nicht zu. Denn wenn sich der Gemeingebrauch und die Sondernutzung als zwei unterschiedliche N u t zungsarten nahtlos aneinander schließen und wenn das Ziel der Straßenrechtsgesetzgebung und insb. der Nutzungsregelung innerhalb dieses Rechtsbereiches ist, allen Benutzern der Straße eine angemessene und gleichheitliche Benutzung zur Verfügung zu stellen, so ist eine Regelung, die es ausschließlich auf den inneren Zweck, den der Nutzer mit seiner Benutzung der Straße verbindet, unverhältnismäßig, weil von diesem Zweck keine Beeinträchtigung der Rechte anderer ausgeht. Das Bundesverwaltungsgericht hatte mehrfach Gelegenheit, zur Frage des Umfanges des Gemeingebrauchs Stellung zu nehmen. Während es in seiner ersten Entscheidung 23 den Standpunkt vertreten hat, die Grenze zwischen Gemeingebrauch und Sondernutzung liege bei dem Merkmal der Gemeinverträglichkeit, wobei es auf die Lage des Falles ankomme und dabei das Dauerparken wegen des knappen Parkraums als 'nicht mehr gemeinverträglich angesehen hat, hat es in späteren Entscheidungen aufgrund des Wortlautes des FStrG den Zweck maßgeblich sein lassen. Es hat sowohl das Verteilen von Zetteln24, als auch das Aufstellen von Informationsständen 25 als Sondernutzung angesehen. Man wird diesen beiden zuletzt genannten Urteilen durchaus zustimmen können, weil sie Fälle betreffen, in denen auch ohne Heranziehung des Merkmals des Zweckes der Benutzung eine Sondernutzung zu bejahen ist. Bei der Verteilung von Informationszetteln pflegen die Empfänger der Zettel in der Regel diese alsbald fortzuwerfen, so daß durch die Verteilung der Zettel eine Verunreinigung des Straßenraums eintritt. Ebenso ist durch den Informationsstand ein Teil des Straßenraumes dauernd besetzt. Im Gegensatz zum ambulanten Händler, der sich nicht anders verhält als andere Fußgänger, liegt hier eine Gebrauchsart vor, die weit über das Maß dessen hinausgeht, was gemeinüblich ist. Insofern lassen sich die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nur schwer für die hier zu beurteilende Frage in Anspruch nehmen. VI.
Aus den bisher dargestellten Vorschriften, Judikaten und Argumenten läßt sich ein eindeutiges Ergebnis noch nicht ableiten. Das liegt vor allem darin, daß das Straßenrecht einen Prozeß der Wandlung durchmacht. Der Verkehrsbegriff steht im Mittelpunkt dieses Wandlungsprozesses.
25 24 25
Urteil vom 14.3.1957, BVerwGE 4, 342 ff, 344. Urteil vom 26.6.1970, BVerwGE 35, 326 ff, 329. Urteil vom 7.6.1978, BVerwGE 56, 63 ff, 65.
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Dabei können freilich alle Fälle, in denen objektiv eine über den Gemeingebrauch hinausgehende Nutzung in Anspruch genommen wird wie bei Musikdarbietungen 26 , beim Aufstellen von Tischen 27 und Informationsständen 28 sowie beim Verteilen von Flugblättern 29 , für die Fallösung nicht in Betracht gezogen werden, da bei ihnen zweifellos eine über den Gemeingebrauch hinausgehende Nutzung vorliegt. Mit Recht weist PapierJ° darauf hin, daß maßgebliches Kriterium der Abgrenzung zwischen Sondernutzung und Gemeingebrauch die Wirkung der in Frage stehenden Nutzung auf den Gemeingebrauch ist. Damit folgt er dem weiten Gemeingebrauchsbegriff, den auch das Reichsgericht zugrunde gelegt hatte31 und der allgemeinen Anklang gefunden hat32. Freilich wird dieser weite Begriff keineswegs überall vertreten33. Dabei soll der engere Verkehrsbegriff aus dem neueren Straßenrecht folgen 34 . Gerade diese Begründung zeigt aber die Zweifelhaftigkeit dieser Meinung. Denn es war oben35 nachgewiesen worden, daß die Frage, was Verkehr im Sinne der Bestimmungen über den Gemeingebrauch ist, von den Landesstraßengesetzen keineswegs einheitlich entschieden wird. Die gelegentlichen Äußerungen von Gerichten und Autoren sind daher auch daraufhin zu prüfen, auf welches Landesrecht sie sich beziehen. In diesem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, daß der Verkehrsbegriff auch aus einer völlig anderen rechtlichen Perspektive in Bewegung geraten ist. Es ist vor allem Röttgen zu verdanken, daß er die Funktion der Straße als Mehrzweckinstitut hervorgehoben hat36. Aufgrund dieser Betrachtung, die von der Polyfunktionalität der Straße ausgeht, ist es eine nicht mehr zeitgemäße Verkürzung, wenn man den Verkehrsbegriff nur auf die Fortbewegung bezieht. „Verkehr" ist danach nicht nur Ortsveränderung, sondern auch Kommunikation 37 . Diese
Vgl. dazu VG Freiburg, StT 1986, 43 f. Vgl. dazu BGHSt. 28, 275 ff; O L G Frankfurt NJW 1976, 204 f; O L G Saarbrücken, N J W 1976, 1362 f; O L G Hamburg, N J W 1977, 1704. 28 O L G Karlsruhe, N J W 1976, 1360 f. 29 O L G Stuttgart, N J W 1976, 201 ff. 50 A a O (Fn. 15), S. 103. 31 R G Z 123, 181 ff, 184. 32 Vgl. Hufnagel, bei: Bartlsperger/Blümel/Schröter, Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung 1980, S. 157ff, insbes. 163f m. w . N . 33 Vgl. Kremer, DVB1. 1963, 431 ff; Schmidt/Topboff, DVB1. 1970, 17ff, 29; Steinberg, NJW 1978, 1898 ff, 1900; B a y O b L G , BayVBl. 1967, 358 f; B G H , DVB1. 1979, 75. 34 So Hufnagel, aaO, S. 167. 35 S. 518 f. 36 Gemeindliche Daseinsvorsorge und gewerbliche Unternehmerinitiative, 1961, S.28; vgl. ferner Bartlsperger, Die Bundesfernstraßen als Verwaltungsleistung, 1969, S. 11 ff; sowie: den., DVB1. 1979, 1 ff, 12 ff. 57 Bismark, N J W 1985, 246 ff. 26
27
Ambulanter Handel und Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen
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Meinung wird nicht erst nur in neuerer Zeit vertreten, sondern kann sich auf zahlreiche, z. T. auch ältere Äußerungen stützen 38 . VII. Diese Ansicht stützt sich auch auf grundrechtliche Erwägungen. So weist etwa Hufen", der den „kommunikativen Gemeingebrauch" bejaht, darauf hin, daß vielfach durch die Kommunikation auf der Straße Art. 5 Abs. 1 und 3 GG genutzt werden. Dieselbe Meinung vertritt auch Bullw, der ausführt, daß die Opfer, die überall dem Fußgänger durch Duldung des Parkens auf Gehwegen zugemutet werden, mit der Belästigung durch angeblich verkehrsfremde Aktivität der Kommunikation in keinem Verhältnis stehen. In diesen Zusammenhang ist auch die Äußerung von Steinberg41 zu stellen, der zwar die Lehre vom Mehrzweckinstitut Straße bejaht, aber meint, den Anliegen der Nutzer werde genügt, wenn die Nutzer, die die Straße nur zur Kommunikation benutzen wollten, eine Sondernutzungsgenehmigung einholen und wenn diese grundsätzlich erteilt werde. Diese Meinung Steinbergs ist lebensfremd. Danach muß der oben42 erwähnte Rentner eine Sondernutzungsgenehmigung einholen, wenn er den Nachmittag im Gespräch mit dem Nachbarn auf der von der Stadt aufgestellten Bank verbringen will. Brauchbar ist eine Auslegung des Begriffs „Verkehr" nur, wenn sie die modernen Nutzungsarten der Straße im Lichte der freiheitsichernden Grundrechtsordnung berücksichtigt, wenn sie den Bürger nicht zwingt, zunächst als Bittsteller zur Behörde zu gehen, um auf der Straße Grundrechte auszuüben. Die Grundrechtsordnung, die dem Straßenrecht vorgeordnet ist und zu einer verfassungskonformen Auslegung des Straßenrechts zwingt, verlangt auch die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der übermäßige Eingriffe verbietet 43 . Dieser Grundsatz aber wäre verletzt, wenn eine Genehmigungspflicht statuiert würde, obwohl erkennbar ist, daß die Genehmigung doch erteilt werden muß, weil in dem Spannungsverhältnis zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl das erstere überwiegt. Das Gemeinwohl könnte nur insoweit berührt sein, als die Gemeinde über die Sondernutzungserlaubnis, deren Erteilung von der Zahlung 58 Vgl. insbes. Zippelius, DÖV 1958, 838 ff, 848; Schneider, NJW 1963, 276ff; Beckmann, BB 1972, 598 ff; Maurer, DÖV 1975, 217ff, 222; Schröder, Verw. 1977, 451 ff, 457; Walter, BayVBl. 1978, 234 ff, 238. 39 DÖV 1983, 353 ff, 362. 40 Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1968, Rdn.937f. 41 NJW 1978, 1898 ff. « S. 523. 43 BVerfGE 23, 127ff, 133; 35, 382ff, 400; 38, 347ff, 368; 43, 95ff, 106; st. Rspr.
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einer Gebühr abhängt, beim ambulanten Händler Einnahmen zu erzielen versucht, die in die öffentlichen Kassen der Gemeinde fließen. Dieser Zweck kann den Gemeinwohlgedanken, der eine Ausübungsbeschränkung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 G G zulassen würde, nicht rechtfertigen. Denn der ambulante Händler nimmt vom Straßenraum nicht mehr in Anspruch als jeder Fußgänger, der sich entsprechend auf der Straße bewegt oder auf ihr stehen bleibt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Gemeinde als Straßenherr denjenigen, der ihren Straßenraum über das Gemeinübliche hinaus nutzt, mit einer Sondernutzungsgebühr belegen darf. Hier geht es aber nicht darum, daß die besonders intensive Nutzung des Straßenraums mit einer Gebühr belegt werden soll. Anknüpfungspunkt an die Erhebung der Nutzungsgebühren ist vielmehr die Tatsache, daß der Gewerbetreibende aus seiner Tätigkeit einen wirtschaftlichen Nutzen zieht. Die Gemeinde erhebt daher von dem ambulanten Händler praktisch eine zusätzliche Abgabe aus einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Damit aber verstößt sie gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 G G ) und zugleich gegen vorrangiges Recht. Denn auch der Gewerbetreibende, der mit seinem Kraftwagen die Straße benutzt, um Waren zu befördern, hat aus der Tatsache, daß er die Straße benutzt, wirtschaftliche Vorteile. Das gilt insb. für Angehörige des Verkehrsgewerbes. Bei ihnen ist niemals zweifelhaft geworden, daß sie sich, wenn sie ihr Gewerbe auf der Straße ausüben, innerhalb des Gemeingebrauchs befinden. Sie schließen zwar ihre Verträge in der Regel nicht auf der Straße ab. Allerdings kommt das auch vor, insb. bei Taxifahrern. Der Taxifahrer, der auf der Straße seinen Kunden zusteigen läßt und am Ziel hält, um dort im stehenden Taxi im Straßenraum den Fahrpreis entgegenzunehmen, schließt seinen Vertrag auf der Straße ab, erbringt dort die Leistung und zieht dort das Entgelt ein. Er nutzt den Straßenraum noch viel intensiver für seine gewerbliche Tätigkeit als der ambulante Händler. Es ist unter keinem Gesichtspunkt einsehbar, daß der gewerbetreibende ambulante Händler anders behandelt wird als der Taxifahrer. Ein Verstoß gegen vorrangiges Bundesrecht besteht schließlich auch dann, wenn die Abgabe bei einer weiten Auslegung des Begriffs des Gemeingebrauchs speziell die gewerbliche Tätigkeit trifft, während die von ihr tatsächlich nicht verschiedene nichtgewerbliche Tätigkeit als Gemeingebrauch abgabenfrei bleibt. Denn damit wird der Gewerbetreibende auf der Straße mit einer zusätzlichen Belastung belegt, die die sonstigen städtischen Abgaben erhöht. Hierdurch wird eine Art zusätzliche Gewerbesteuer eingeführt, die durch das bundesrechtliche Gewerbesteuergesetz nicht gedeckt ist.
Rechtsschutz des Arbeitgebers gegenüber den Folgen einer Kurbewilligung i. S. von § 7 LohnFG Gedanken zum Verwaltungsakt mit Drittwirkung A L B R E C H T ZEUNER
I. 1. Nach den Vorschriften über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bleibt, wenn ein Arbeitnehmer die ihm obliegende Arbeitsleistung infolge Krankheit unverschuldet nicht erbringen kann, der Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur Dauer von sechs Wochen grundsätzlich unberührt 1 . Und entsteht Streit darüber, ob ein Arbeitnehmer, der nicht gearbeitet hat, im Sinne dieser Vorschriften durch Krankheit verhindert war, so kann die Frage in einem Prozeß über die Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers gerichtlich geklärt werden. Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stellt dabei in der Regel ein gewichtiges Beweismittel dar, begründet aber nicht etwa eine gesetzliche Vermutung für die Krankheit 2 und bildet erst recht nicht einen eigenständigen materiellrechtlichen Auslösungstatbestand für die Lohnfortzahlungspflicht. Ahnlich ist die Lage, wenn einem Angestellten, ohne daß er bereits arbeitsunfähig ist, aus Gesundheitsgründen von einem Sozialversicherungsträger - oder auch von dritter Seite - eine Kur bewilligt wird. Ob eine die Pflicht zur Entgeltfortzahlung begründende krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung anzunehmen ist, kann im Streitfalle auch hier im arbeitsgerichtlichen Verfahren vollen Umfanges überprüft werden 3 . Eine bemerkenswerte Sonderregelung enthält demgegenüber das Lohnfortzahlungsgesetz für den Fall, daß ein Träger der Sozialversicherung, eine Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung oder ein sonstiger Sozialleistungsträger einem Arbeiter eine Vorbeugungs-, Heiloder Genesungskur bewilligt und die vollen Kosten der Kur übernimmt 4 : Nach § 7 LohnFG löst eine solche Kur die gleichen RechtsfolS. insbes. § 6 1 6 Abs. 2 BGB; § 1 LohnFG. S. B A G AP Nr. 2 zu §3 LohnFG mit Anm. Brecht. 3 Vgl. Feichtinger, AR-Blattei (D), Krankheit III H II; Schmatz/Fischwasser/Geyer/ Knorr, Vergütung der Arbeitnehmer bei Krankheit und Mutterschaft, 6. Aufl., GFZG, S. L 327. 4 Zum Begriff der vollen Kostenübernahme vgl. § 187 Abs. 4 RVO. 1
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gen wie eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit aus. Das heißt mit anderen Worten, daß hier die bewilligte Kur und also nicht erst ein bestimmter Gesundheitszustand des Arbeiters materiellrechtliche Tatbestandsvoraussetzung der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers ist. In Rechtsprechung und Schrifttum wird daraus konsequenterweise der Schluß gezogen, daß unter diesen Umständen die Lohnfortzahlungspflicht im arbeitsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht mit der Behauptung in Frage gestellt werden kann, es fehle an der medizinischen Erforderlichkeit der Kur 5 . Das B A G gebraucht dazu die Wendung, sofern eine Kur zu einem der im Gesetz genannten Zwecke bewilligt worden sei, stehe gleichzeitig ihre medizinische Notwendigkeit fest6. Und in der Tat kann man dieser Ansicht schwerlich mit dem Argument begegnen, eine Kur, die zu einem der in § 7 LohnFG genannten Zwecke bewilligt worden sei, könne nur dann als Vorbeugungs-, Heil- oder Genesungskur i. S. des Gesetzes angesehen werden, wenn sie nach dem Gesundheitszustand des betreffenden Arbeiters tatsächlich angezeigt sei, was mit der Bewilligung als solcher noch nicht feststehe. Denn für eine solche einschränkende Interpretation, die praktisch das einheitliche Tatbestandselement der Bewilligung einer bestimmten Kur in zwei selbständige Anspruchsvoraussetzungen auflöste, gibt das Gesetz keinerlei Anhalt. Vielmehr würde auf diesem Wege gerade der Sinn der Regelung verfehlt, mit der Kurbewilligung zugleich Klarheit über die Rechte des Arbeiters gegenüber dem Arbeitgeber zu schaffen7. 2. Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage, ob dem Arbeitgeber ein rechtliches Mittel zur Verfügung steht, mit dem er sich gegen die ihn belastenden Folgen des § 7 LohnFG wehren kann, wenn sich die Bewilligung der Kur als Fehlentscheidung darstellt. Das B A G hat sich mit ihr in zwei Fällen beschäftigt, in denen der Arbeitgeber eine Lohnfortzahlung mit der Begründung verweigerte, die Kur sei medizinisch nicht notwendig, und in denen daraufhin der die Kur bewilligende Sozialversicherungsträger seinerseits den Lohnanspruch des Arbeiters aus abgeleitetem Recht geltend machte, nachdem an den Arbeiter Krankengeld bzw. Ubergangsgeld gezahlt worden war. Beide Entscheidungen nehmen an, das Problem sei nach dem allgemeinen Grundsatz der Unzulässigkeit
5 S. B A G AP Nr. 2 zu § 7 LohnFG mit Anm. Becker; BAG AP Nr. 3 zu § 7 LohnFG; Feichtinger, AR-Blattei (D), Krankheit III H I 2 b; Schmatz/Fischwasser/Gey er/Knorr aaO § 7 L F Z G Anm. II 1; anderer Ansicht wohl Kehrmann/Pelikan, Lohnfortzahlungsgesetz, 2.Aufl. 1973, § 7 Rz. 15: Der Anspruch auf Lohnfortzahlung entfalle, wenn die Kur medizinisch nicht notwendig sei, wenn es sich also um keine Vorbeugungs-, Heil- oder Genesungskur handle, sondern um einen reinen Erholungsurlaub. 6 B A G A P Nr. 2, 3 zu § 7 LohnFG. 7 Vgl. B A G AP Nr. 3 zu § 7 LohnFG.
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einer mißbräuchlichen Rechtsausübung zu lösen. Und in der zweiten dieser Entscheidungen hat das B A G dazu ausgesprochen, der Träger der Sozialversicherung, der aus abgeleitetem Recht einen Lohnfortzahlungsanspruch nach § 7 LohnFG geltend macht, könne sich nicht allein auf den formalen Akt seiner Kurbewilligung berufen, wenn handgreifliche Zweifel an der medizinischen Notwendigkeit dieser Kur bestünden. Im Schrifttum zum Lohnfortzahlungsgesetz hat diese Rechtsprechung allgemein Zustimmung gefunden8. Sie muß jedoch einige Zweifel erwekken, weil sie in ihrer Konzeption die Prinzipien des Ineinandergreifens von öffentlichem Recht und Privatrecht unberücksichtigt läßt. Zwar trifft es im Ausgangspunkt sicher zu, daß der Lohnfortzahlungsanspruch des Arbeiters auch nach einem Ubergang auf einen Sozialversicherungsträger ein privatrechtlicher Anspruch ist, für den die allgemeinen Grundsätze über die unzulässige Rechtsausübung gelten. Soweit es jedoch um die Bewilligung der Kur durch einen der in § 7 LohnFG genannten Leistungsträger geht, hat man es mit einer hoheitlichen Maßnahme zu tun, die eine Behörde i. S. des Verwaltungsverfahrensrechtes' zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Tatbestandsvoraussetzung des privatrechtlichen Lohnfortzahlungsanspruches ist mit anderen Worten insoweit ein gegenüber dem Bewilligungsempfänger erlassener Verwaltungsakt10. Für das Problem der Wirksamkeit von Verwaltungsakten aber hält das öffentliche Recht ein fest ausgeprägtes Regelungssystem bereit. Danach ist ein Verwaltungsakt nur dann ohne weiteres unwirksam, wenn einer der Nichtigkeitsgründe vorliegt, wie sie in § 44 VwVfG und § 40 SGB X aufgezählt sind. In allen anderen Fällen ist ein Verwaltungsakt trotz Fehlerhaftigkeit in vollem Umfange wirksam, solange er nicht aufgehoben worden ist. Diese Regelung wird unterlaufen, wenn die Rechtswirkung, die § 7 LohnFG der Kurbewilligung beilegt, unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauches unabhängig vom Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes oder eines Aufhebungsaktes in Frage gestellt und dem Berechtigten u. U. abgesprochen werden kann, sobald handgreifliche Zweifel an der medizinischen Notwendigkeit der Kur bestehen. Denn mit einer solchen Überprüfung wird nicht lediglich im Sinne einer harmonischen Ergänzung neben die Fallgruppen der Nichtigkeit und der Aufhebbarkeit fehlerhafter Verwaltungsakte ein weiterer Komplex der Wirkungsbeschränkung gesetzt, es wird vielmehr der abschließende Charakter des bestehenden Systems aufgelöst. Dabei besteht - wie ausdrücklich ver-
8 S. die Nachweise in Fn. 5. ' S. § 1 Abs. 2 SGB X ; § 1 Abs. 4 VwVfG. 10 Vgl. § 3 1 SGB X ; § 3 5 VwVfG.
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merkt sei - auch keinerlei Anhalt dafür, daß etwa der Gesetzgeber die Anknüpfung der Lohnfortzahlung an eine wirksame Kurbewilligung in § 7 LohnFG positiv-rechtlich im Sinne der Mißbrauchsrechtsprechung des B A G hätte relativieren und damit den Arbeitsgerichten eine über die Wirksamkeitsfrage hinausgehende Kontrolle der Kurbewilligung übertragen wollen. Betrachtet man die Lage unter dem Blickwinkel, daß die Rechtsprechung des B A G dem Arbeitgeber einen gewissen Mindestschutz vor belastenden Folgen von Fehlentscheidungen der die Kur bewilligenden Versicherungsträger gewähren soll, so tritt noch ein Weiteres zutage: Das B A G hat sich auf den Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauches in Fällen berufen, in denen nicht der Arbeiter den Lohnfortzahlungsanspruch geltend machte, sondern — aus abgeleitetem Recht - der Versicherungsträger, der die Kur bewilligt hatte. An die Frage des Rechtsmißbrauches kann unter solchen Umständen namentlich die Erwägung denken lassen, daß es anstößig ist, wenn jemand Rechte aus einem eigenen Fehlverhalten abzuleiten sucht. Dieses Kriterium trifft aber in der Regel schon dann nicht mehr zu, wenn der Lohnfortzahlungsanspruch nicht vom Versicherungsträger, sondern vom Arbeiter selber geltend gemacht wird. Für das Schutzbedürfnis des Arbeitgebers begründet es hingegen schwerlich einen entscheidenden Unterschied, wer sich ihm gegenüber auf den Anspruch beruft. Aus seiner Sicht steht vielmehr die Frage im Vordergrund, ob er von Rechts wegen überhaupt zur Fortzahlung des Lohnes verpflichtet ist. Die Mißbrauchslösung faßt mit anderen Worten das Problem des Arbeitgeberschutzes vor sachlich ungerechtfertigter Inanspruchnahme nicht in seinem Kern. Und schließlich: Zieht man als generelles Problem in Erwägung, daß der Arbeitgeber Schutz vor den Folgen einer fehlerhaften Kurbewilligung unter Umständen auch dann erhalten muß, wenn die Bewilligung nicht nichtig ist, so gilt es auch zu fragen, ob es - wie das B A G meint - nach der Intention des Gesetzes sachgerecht ist, einen solchen Schutz erst bei handgreiflichen Zweifeln an der medizinischen Notwendigkeit beginnen zu lassen.
II. 1. Alle diese Überlegungen laufen auf das Grundsatzproblem hinaus, ob sich der Arbeitgeber gegen die für ihn nachteiligen Folgen einer ungerechtfertigten Kurbewilligung i. S. des §7 LohnFG nicht mit dem gerichtlichen Mittel zur Wehr setzen kann, das die Rechtsordnung in Erfüllung des Verfassungsgebotes des Art. 19 Abs. 4 G G allgemein gegenüber belastenden Verwaltungsakten zur Verfügung stellt, d. h. mit
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der Anfechtungsklage 11 , und zwar hier mit der nach dem S G G . Dabei tut man zunächst gut daran, sich Inhalt und Umfang der in § 7 Abs. 1 L o h n F G angeordneten Rechtsfolgen klar vor Augen zu stellen: Die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung für einen Zeitraum bis zu sechs Wochen, für den die bewilligende Stelle die vollen Kosten der Kur übernimmt, bedeutet sicher zum ersten, daß der Arbeitgeber zur Lohnzahlung für einen Zeitraum verpflichtet wird, während dessen er keine Arbeitsleistung erhält. Darüber hinaus ergibt sich aus der Regelung aber auch eine von einer Zustimmung des Arbeitgebers unabhängige Befreiung des Arbeitnehmers von seiner Arbeitspflicht. Die Regelung des § 7 Abs. 2 L o h n F G , nach der der Arbeiter verpflichtet ist, dem Arbeitgeber unverzüglich eine Bescheinigung über die Bewilligung der Kur vorzulegen „und den Zeitpunkt des Kurantritts mitzuteilen", nach der es also bei der bloßen Unterrichtung des Arbeitgebers sein Bewenden hat, zeigt dies mit aller Deutlichkeit. Die Kurbewilligung hat damit eine ähnliche Gesamtwirkung wie eine zweckgebundene (nämlich von der tatsächlichen Durchführung der Kur abhängige) Beurlaubung unter Fortzahlung des Lohnes. 2. Die Frage, ob sich der Arbeitgeber vor dem Sozialgericht gegen diese Folgen der Kurbewilligung wehren kann, wäre einfach zu beantworten, wenn man die Vorschriften des S G G über die Anfechtung beim Wort nehmen könnte: Nach § 54 Abs. 1 S. 2 S G G ist - soweit gesetzlich nicht anders bestimmt ist - die Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch diesen beschwert zu sein, wozu § 54 Abs. 2 S. 1 S G G die weitere Bestimmung trifft, der Kläger sei beschwert, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig sei. Ohne daß hier näher auf die Problematik dieser Gesetzesformulierung eingegangen werden soll, insbesondere auf die Verquickung von Beschwer und Behauptung der Rechtswidrigkeit 12 , läßt sich sagen, daß der Arbeitgeber nach dem reinen Wortlaut dieser Regelung ohne weiteres die Möglichkeit haben müßte, die Kurbewilligung mit der Behauptung anzufechten, sie sei rechtswidrig. Dies gilt um so mehr, als die zur Erörterung stehenden Rechtsfolgen dem Arbeitgeber unter allen Umständen nachteilig sind, so daß er im Sinne der allgemeinen juristischen Begriffsbildung durch sie auf jeden Fall beschwert ist13.
" Auf Möglichkeit und Erfordernis des Widerspruchs soll im vorliegenden Rahmen nicht näher eingegangen werden. 12 S. dazu Bettermann, Die Beschwer als Klagevoraussetzung, 1970, 19 f. 15 Vgl. Bettermann, in Staatsbürger und Staatsgewalt II, 1963, 449, 460; ders., Festschrift für Schima, 1969, 71, 81; ders., Gedenkschrift für Imboden, 1972, 37, 46.
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Mit guten Gründen wird jedoch die Regelung des SGG dahin verstanden, daß mit der Anfechtungsklage nicht jedermann die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes soll durchsetzen können und auch nicht jeder irgendwie Beschwerte, sondern daß der Sache nach die gleichen Grundsätze gelten wie nach der VwGO 14 , die Anfechtungsklage also weder Populär- noch bloße Interessentenklage ist, sondern Verletztenklage. Sie ist mithin entsprechend §42 Abs. 2 V w G O nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein, und führt entsprechend §113 Abs. 1 S. 1 V w G O zur Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes, soweit sich ergibt, daß dieser rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist15. Hinsichtlich der hier interessierenden Kurbewilligung führt das zu der umstrittenen Frage, inwieweit danach ein Dritter einen Verwaltungsakt anfechten kann, der den Adressaten begünstigt, für den Dritten aber nachteilig ist, in diesem Sinne also eine Doppelwirkung hat. 3. Als sicher erscheint dabei zunächst, daß ein Dritter zur Anfechtung dann befugt ist, wenn ein Verstoß gegen eine Rechtsnorm in Frage steht, die — zumindest auch - seinem Schutze zu dienen bestimmt ist16. Sieht man sich unter diesem Gesichtspunkt die Vorschriften über die in § 7 LohnFG genannten Kuren an, also etwa §§187, 537, 1236 f RVO, § 11 BVG und §40 BSHG, so wird sich indessen schwerlich ein spezieller gesetzgeberischer Zweck feststellen lassen, den Arbeitgeber vor den aus einer ungerechtfertigten Kurbewilligung folgenden Lasten zu schützen. Dies gilt um so mehr, als die betreffenden Vorschriften weithin älter sind als §7 LohnFG. Freilich hat der Gesetzgeber in § 7 LohnFG die Interessen des Arbeitgebers nicht völlig unbeachtet gelassen. So bestimmt - wie schon erwähnt - Abs. 2 dieser Vorschrift ausdrücklich, daß der Arbeiter verpflichtet ist, dem Arbeitgeber unverzüglich eine Bescheinigung über die Bewilligung der Kur vorzulegen und den Zeitpunkt des Kurantritts mitzuteilen. Und wenn § 7 Abs. 1 LohnFG die bewilligte Kur nur insoweit einer Arbeitsunfähigkeit gleichstellt, als die bewilligende Stelle die vollen Kosten übernimmt, so kann auch darin eine Berücksichtigung von Arbeitgeberinteressen gefunden werden.
14 Vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl. 1987, §54 Rz.9; Peters/Sautter/ Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., § 54 Anm. 2 d. 15 Zu dem umstrittenen Problem, wie dabei die Voraussetzungen der Zulässigkeit und der Begründetheit der Klage genauer gegeneinander abzugrenzen sind, soll in den vorliegenden Überlegungen nicht Stellung genommen werden. Vgl. dazu Bettermann, in Staatsbürger und Staatsgewalt II, 1963, 449 ff; ders., Die Beschwer als Klagevoraussetzung, 1970, 20ff; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Aufl. 1987, §33. 16 Vgl. Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1986, §12 III 2.
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Denn mit diesem Erfordernis der Eigenbelastung wird der Gefahr entgegengewirkt, daß die bewilligende Stelle die Rechtsfolgen des §7 LohnFG ohne hinreichende Prüfung der Bewilligungsvoraussetzungen auslöst. Indessen ist aus diesen Regelungen nicht zu schließen, daß dem Arbeitgeber gegenüber den in § 7 Abs. 1 LohnFG angeordneten Rechtsfolgen eine eigenständige Schutzposition eingeräumt werden soll. Seine Stellung erscheint insoweit vielmehr nur reflexhaft abgedeckt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der ihm zugute kommenden Auswirkung des Erfordernisses der vollen Kostenübernahme durch die bewilligende Stelle. Auch aus der dem Arbeiter auferlegten Mitteilungspflicht ergibt sich nichts anderes, da mit ihr der Grund der Kurbewilligung überhaupt nicht in Frage gestellt wird.
4. a) Mit diesem Befund ist das Problem jedoch noch keineswegs in dem Sinne entschieden, daß der Arbeitgeber die Kurbewilligung nicht anfechten könne. Denn wie in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend deutlich wird17 und sich auch in der Rechtsprechung abzeichnet, kann ein Dritter auch unabhängig von spezifisch drittschützenden Zwecken der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Normen anfechtungsbefugt sein, sofern nur eine inhaltliche Beeinträchtigung der diesem Dritten von der Rechtsordnung zuerkannten subjektiven Rechte oder Rechtspositionen in Frage steht. Es geht dabei der Sache nach um den Gedanken, daß grundsätzlich jede hoheitliche Schmälerung eines von der Rechtsordnung gewährten Rechtes einer gerichtlich nachprüfbaren Rechtfertigung bedarf. So hat etwa das BVerwG im Jahre 1959 den Eigentümer und Verpächter eines Wohn- und Geschäftsgrundstücks für berechtigt angesehen, eine nach dem damaligen Wohnraumbewirtschaftungsrecht gegenüber dem Pächter ergangene Bereitstellungsverfügung anzufechten, und es hat dies nicht primär mit einem spezifischen Schutzzweck der maßgeblichen Wohnraumbewirtschaftungsvorschriften begründet, sondern damit, daß die sich aus § 549 B G B ergebende Rechtsstellung des Verpächters berührt werde18. Und was dem zur Erörterung stehenden Fall der Kurbewilligung vielleicht noch näher kommt: in ähnlicher Weise hat das BVerwG dann auch dem Arbeitgeber die Befugnis zuerkannt, die einem seiner Arbeitnehmer durch Bescheid nach §2 des damaligen SchwerbeschädigtenG gewährte Gleichstellung mit
17 S. dazu z. B. Fromm, VerwArch 56, 26, 31, 34 ff; Bettermann, Festschrift für Schima, 1969, 71, 89 f; Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979, 175 ff, 195 ff; Ule aaO §33. " DVB1. 1959, 396, 397.
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Schwerbeschädigten um deswillen anzufechten, weil sie ihn in seiner Rechtsstellung gegenüber dem Arbeitnehmer beschwere". b) Zu der sich in alledem abzeichnenden Problematik hat vor einiger Zeit Skouris in seiner Studie über Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß20 die Ansicht entwickelt, daß Verwaltungsakte von einem Nichtadressaten stets schon dann angefochten werden könnten, wenn sie eine ihn belastende privatrechtsgestaltende Wirkung mittelbar in der Weise entfalten, daß dem Adressaten erlaubt wird, dem Nichtadressaten Rechte zu entziehen oder Verpflichtungen aufzuerlegen21. Geht man von dieser Konzeption aus, so liegt es auf der Hand, daß in dem zur Erörterung stehenden Fall der Kurbewilligung dem Arbeitgeber die Befugnis zuerkannt werden muß, sich mit der Anfechtungsklage gegen die ihn beschwerenden Rechtsfolgen der Bewilligung zu wehren. Denn daß mit diesen Rechtsfolgen privatrechtsgestaltend in das bestehende Arbeitsverhältnis eingegriffen wird, bedarf keiner weiteren Begründung. Einzugehen bleibt jedoch darauf, ob sich die erwähnte Ausgangsthese von Skouris insoweit als tragfähig erweist. Anlaß hierzu kann vor allem der Umstand geben, daß Skouris - wie er selbst hervorhebt - bei der Beurteilung einer interessanten Fallgruppe von privatrechtsrelevanten Verwaltungsakten zu einer anderen Sichtweise kommt als das BVerwG: Nach Auffassung des BVerwG ist ein einzelner Versicherungsnehmer nicht legitimiert, die dem Krankenversicherer vom Versicherungsaufsichtsamt nach § 13 i. V. m. § 8 VAG erteilte Genehmigung zu einer Prämienerhöhung anzufechten22. Zur Begründung wird
" BVerwGE 42, 189, 190. S. dazu jetzt § 2 SchwerbehindertenG i . d . F . v. 2 6 . 8 . 1 9 8 6 , für den nach allgemeiner Ansicht das gleiche gilt, s. Jung/Cramer, Schwerbehindertengesetz, 3. Aufl. 1987, § 2 Rz. 24; vgl. auch Wilrodt/Neumann, Schwerbehindertengesetz, 6. Aufl. 1984, § 2 Rz.41. - Nicht näher eingegangen werden kann hier auf die erst nach Abschluß des Manuskripts erlassene Entscheidung des BSozG vom 2 2 . 1 0 . 1 9 8 6 - 9 a RVs 3/84 (DB 1987,284), in der eine Befugnis des Arbeitgebers abgelehnt wird, die versorgungsamtliche Feststellung des Schwerbehindertenstatus eines Arbeitnehmers und den Rückwirkungsvermerk im Schwerbehindertenausweis anzufechten. Das BSozG beruft sich in dieser Entscheidung insbesondere darauf, daß der Schwerbehindertenstatus zum grundrechtlich geschützten Bereich des Persönlichkeitsrechts gehöre und daß ein Klagerecht des Arbeitgebers gegen eine rechtswidrige Anerkennung das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers verletzen würde, weil die von Amts wegen zu ermittelnden gesundheitlichen Verhältnisse des Begünstigten dem Arbeitgeber als Verfahrensbeteiligtem bekanntgegeben werden müßten. Eine genauere Erörterung auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsprinzipien zur Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten enthält die Entscheidung - soweit aus der Veröffentlichung ersichtlich ist - jedoch nicht. 20 S. Fn. 17. 21 AaO 204 f. 22 BVerwGE 30, 135; ähnlich BVerwG DVB1. 1986, 559 zur Genehmigung einer Erhöhung der Durchschnittsmiete nach § 8 a Abs.4 WoBindG 1974.
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dabei als erstes angeführt, daß die Genehmigung nicht das einzelne Vertragsverhältnis ändere, sondern dem Versicherer öffentlich-rechtlich gestatte, von den ihm zustehenden privatrechtlichen Befugnissen Gebrauch zu machen. Hinzu kommt das weitere Argument, die Behauptung einer Verletzung von Rechten des Versicherungsnehmers lasse sich auch nicht auf den Zweck der Versicherungsaufsicht stützen. Diese diene der Gesamtheit der Versicherten, deren Belange sich nicht mit den Interessen jedes einzelnen Versicherten zu decken brauchten; dem einzelnen Versicherungsnehmer könne deshalb kein subjektives öffentliches Recht auf gesetzmäßige Ausübung der Aufsicht über das Versicherungsunternehmen zustehen. Für Skouris ergibt sich die Anfechtungsbefugnis des einzelnen Versicherungsnehmers demgegenüber ohne weiteres daraus, daß dem Versicherer mit der Genehmigung der Prämienerhöhung erlaubt wird, die privatrechtliche Rechtsstellung des Versicherungsnehmers zu verschlechtern. Ob die Vorschriften über die Genehmigungsbedürftigkeit den Schutz des einzelnen Versicherungsnehmers bezwecken, hält er unter diesen Umständen für unerheblich23. Diese Kontroverse lenkt den Blick auf eine grundsätzliche Frage: Wenn man der Auffassung von Skouris in diesem Punkt folgt, so läuft das darauf hinaus, daß nach geltendem Recht die Ausübung privater Rechte innerhalb eines bestehenden Rechtsverhältnisses nicht vom Erlaß eines lediglich an öffentlichen oder Drittinteressen orientierten Verwaltungsaktes abhängig gemacht werden kann, ohne daß dem an dem Rechtsverhältnis Beteiligten, gegen den sich die Rechtsausübung richtet, die Möglichkeit der Anfechtung eröffnet wird. Hiergegen sind jedoch erhebliche Bedenken anzumelden. Denn die Legitimation zur Anfechtung setzt jedenfalls voraus, daß Rechte oder Rechtspositionen in Frage stehen, die nach ihrem Inhalt durch den jeweiligen Verwaltungsakt überhaupt beeinträchtigt werden können. Die Argumentation von Skouris wäre daher nur dann zwingend, wenn mit dem Erfordernis eines die private Rechtsausübung gestattenden Verwaltungsaktes stets notwendigerweise und unabhängig vom Gesetzeszweck eine entsprechende Verstärkung der eigenständigen Rechtsstellung des von der Rechtsausübung Betroffenen verbunden sein müßte. Hierfür aber sind keine hinreichenden Gründe ersichtlich. Insbesondere läßt sich eine derartige Folgerung weder aus den Vorschriften des VwGO über die Anfechtung von Verwaltungsakten herleiten noch etwa aus Art. 19 Abs. 4 GG oder aus dem Verfassungsprinzip, daß jeder hoheitliche Eingriff in Freiheit oder Eigentum einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Denn unter all diesen Aspekten werden Rechte oder Rechtspositionen, die beeinträchtigt sind 25
Skouris
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oder beeinträchtigt werden können, schon vorausgesetzt, so daß hier nicht ihre Wurzel liegen kann. Es spricht daher in der Tat vieles dafür, daß das BVerwG entgegen der Auffassung von Skouris jedenfalls im Ansatz das Richtige trifft, wenn es in der erwähnten Entscheidung nach der mit einem ersten Schritt getroffenen Feststellung, daß die Genehmigung der Prämienerhöhung nicht das privatrechtliche Verhältnis zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer verändert, in einem zweiten Schritt als zusätzliche Frage prüft, ob das Genehmigungserfordernis dem Schutze des einzelnen Versicherungsnehmer zu dienen bestimmt ist. d) Die sich damit abzeichnende Seite der Problematik braucht im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Denn bei der hier interessierenden Kurbewilligung i. S. von § 7 LohnFG liegen die Dinge auf jeden Fall wesentlich anders. Es geht hier nicht um eine hoheitliche Maßnahme, die ein vorgegebenes privatrechtliches Verhältnis inhaltlich unverändert läßt und nur gewissermaßen von außen her für die Ausübung der in diesem Verhältnis begründeten Rechte eine zusätzliche öffentlich-rechtliche Regelung trifft. Mit den nach § 7 LohnFG an die Kurbewilligung geknüpften Rechtsfolgen erfährt vielmehr das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehende Vertragsverhältnis selbst eine Veränderung, indem auf Kosten des Arbeitgebers in das Gefüge von Recht auf Arbeitsleistung und Lohnzahlungspflicht eingegriffen und damit die arbeitsrechtliche Rechtsstellung des Arbeitgebers belastet wird. Daß der Arbeitgeber durch die Kurbewilligung in seinen Rechten aus dem Arbeitsverhältnis betroffen ist, kann angesichts dieser Umstände schwerlich bezweifelt werden, und damit erhebt sich unter rechtsstaatlichen Aspekten notwendigerweise die Frage nach der sachlichen Rechtfertigung der ihm auferlegten rechtlichen Einbuße und - was im vorliegenden Zusammenhang im Vordergrund steht - nach der Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung. Dies wird durch die Rechtsprechung des BVerwG nachdrücklich unterstrichen: Die Situation ist insoweit ganz ähnlich wie im Falle einer nach § 2 SchwbG ausgesprochenen Gleichstellung eines Arbeitnehmers mit Schwerbehinderten, für den das BVerwG - wie erwähnt - die Anfechtungsbefugnis des Arbeitgebers anerkannt hat. Und auf der zutage tretenden Linie, daß die mit einem Verwaltungsakt herbeigeführte inhaltliche Schmälerung einer vorgegebenen privatrechtlichen Rechtsposition mit der Anfechtungsklage der gerichtlichen Überprüfung unterstellt werden kann, liegt unverkennbar auch die in der besprochenen Entscheidung zur Prämienerhöhung bei der Krankenversicherung geäußerte Ansicht, daß der Versicherungsnehmer die erteilte Genehmigung dann ohne weiteres anfechten könnte, wenn sie (was im Ergebnis verneint wird) das Rechtsverhältnis zum Versicherer veränderte.
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e) Es bleibt danach nur noch zu prüfen, ob es trotz dieser Ausgangslage an besonderen Voraussetzungen dafür fehlt, daß der Arbeitgeber durch eine rechtswidrige Kurbewilligung in seinen Rechten verletzt werden kann und ihm deshalb die Möglichkeit der Anfechtung zu eröffnen ist. aa) Zu denken ist vor allem daran, daß bisweilen das grundsätzliche Erfordernis einer „unmittelbaren" Rechtsbeeinträchtigung aufgestellt wird24. Die Lage ist freilich höchst unklar; denn verschiedentlich ist auch umgekehrt zu lesen, daß eine mittelbare Beeinträchtigung ausreiche25. Fragt man daher zunächst, was mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit sachlich gemeint ist, welches Problem mit ihm erfaßt werden soll, so stößt man auf das berechtigte Anliegen, daß die Entscheidung darüber, ob ein Verwaltungsakt angefochten werden soll, nicht einem nur sekundär Betroffenen zu überlassen ist, dessen Rechtsstellung von derjenigen des primär Betroffenen abhängt, ihr also gewissermaßen untergeordnet ist26. Mit einer Situation dieser Art aber hat man es im Falle der Kurbewilligung nicht zu tun. Denn die von den Folgen der Kurbewilligung betroffene Rechtsstellung des Arbeitgebers ist derjenigen des Arbeiters nicht untergeordnet, sondern steht mit dieser im Gefüge des Arbeitsverhältnisses auf gleicher Ebene. Ein Grund, dem Arbeitgeber die Anfechtung der Kurbewilligung zu verwehren, besteht unter diesem Blickwinkel daher nicht. bb) Ein letzter Punkt ist noch zu bedenken: Zum Phänomen des den Adressaten begünstigenden Verwaltungsaktes mit nachteiligen Folgen für Dritte hat Bettermann die Ansicht geäußert, gegenüber Dritten „belastend" in der Weise, daß diesen die Möglichkeit der Anfechtung offenstehe, sei ein Verwaltungsakt nicht schon dann, wenn er nachteilig, beschwerend oder ungünstig sei. Maßgebend sei vielmehr der Inhalt des Verwaltungsaktes, d. h. ob die in ihm getroffene Regelung Rechte oder Pflichten des Bürgers vermehre oder vermindere, ob er eine solche Änderung verfüge27. Da in der zur Erörterung stehenden Kurbewilligung die für den Arbeitgeber nachteiligen Rechtsfolgen des § 7 LohnFG nicht besonders angeordnet werden, sondern kraft Gesetzes an diese geknüpft sind, erhebt sich damit die Frage, ob dies ein Grund dafür sein kann, dem Arbeitgeber die Möglichkeit der Anfechtung zu versagen. Diese Frage ist jedoch zu verneinen, ohne daß an dieser Stelle generell auf das von Bettermann aufgeworfene Problem und insbesondere darauf S. Bettermann, Festschrift für Schima, 1969, 71, 84. S. z . B . Skouris aaO 204f; Ule aaO §33 IV; BVerwG DVB1. 1959, 396, 397. 26 S. Bettermann, Festschrift für Schima aaO. Zur entsprechenden Problematik hinsichtlich des Anspruchs Dritter auf rechtliches Gehör vor Gericht vgl. Zeuner, Rechtliches Gehör, materielles Recht und Urteilswirkungen, 1974, 28 ff. 27 Gedenkschrift für Imboden, 1972, 37, 54. 24
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eingegangen zu werden brauchte, wie in diesem Zusammenhang der Inhalt des Verwaltungsaktes im einzelnen zu bestimmen und abzugrenzen ist. Denn auf jeden Fall kann der Rechtsschutz des betroffenen Dritten schwerlich davon abhängig gemacht werden, ob der Verwaltungsakt die nachteilige Rechtsfolge unmittelbar ausspricht oder ob diese ohne einen solchen Ausspruch kraft Gesetzes ausgelöst wird. Das ergibt sich daraus, daß es sich um rechtstechnische Möglichkeiten handelt, die weitgehend gegeneinander austauschbar sind und damit dem Gesetzgeber zur Wahl stehen. Den Rechtsschutz des Dritten in diesem Sinne aber dem Belieben des einfachen Gesetzgebers zu überlassen, wäre nicht mit der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 19 Abs. 4 G G zu vereinbaren. Entscheidend kann daher im vorliegenden Fall nur sein, daß der Sache nach zu dem Regelungskomplex der Kur, der durch die Bewilligung in Kraft gesetzt wird, bestimmungsgemäß auch die im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eintretenden Rechtsfolgen des § 7 L o h n F G gehören, die - wie dargelegt - für den Arbeitgeber eine nachteilige Veränderung seiner vorgegebenen Rechtsstellung bedeuten. Wie ein solcher Eingriff materiell nicht nach freier Willkür vorgenommen werden darf, sondern eine rechtliche Grundlage erfordert, muß dem betroffenen Arbeitgeber danach konsequenterweise auch vom Verfahren her die Möglichkeit eingeräumt werden, im Wege der Klage die rechtliche Uberprüfung zu betreiben.
III. Als Ergebnis der vorgetragenen Überlegungen bleibt nach alledem folgendes festzuhalten: Ein den Adressaten begünstigender Verwaltungsakt kann einen Dritten auch dadurch in anfechtungsrechtlich beachtlicher Weise in seinen Rechten beeinträchtigen, daß er eine vorgegebene privatrechtliche Rechtsstellung des Dritten zu dessen Nachteil inhaltlich verändert. Mit einer Situation dieser Art hat man es im Falle des § 7 L o h n F G zu tun. Der Arbeitgeber muß die Kurbewilligung daher anfechten und sich auf diese Weise gegen eine etwaige Verletzung seiner Rechte wehren können. Es liegt auf der Hand, daß sich vor diesem Hintergrund sogleich einige weitere Fragen erheben. So wäre etwa zu erwägen, ob sich die Anfechtung der Kurbewilligung durch den Arbeitgeber auf die Rechtsfolgen des § 7 L o h n F G mit der Maßgabe beschränken kann, daß die öffentlich-rechtlichen Bewilligungswirkungen zwischen der bewilligenden Stelle und dem Arbeiter unberührt bleiben. Auch ist zu bedenken, inwieweit Konsequenzen im Hinblick auf eine notwendige Beteiligung des Arbeitgebers am Bewilligungsverfahren zu ziehen sind. Im vorliegenden, am Arbeitsverhältnis orientierten Zusammenhang sollen diese
Rechtsschutz des Arbeitgebers gegenüber den Folgen einer Kurbewilligung
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Aspekte jedoch nicht vertieft werden. Hier mag vielmehr die Feststellung genügen, daß dem Arbeitgeber gegenüber den Rechtsfolgen einer ungerechtfertigten Kurbewilligung i. S. von § 7 L o h n F G Rechtsschutz auf dem Wege der sozialgerichtlichen Anfechtungsklage zusteht, wohingegen im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine wirksame Bewilligung nicht unter bloßen Mißbrauchsgesichtspunkten beiseite geschoben werden kann.
Wirtschaftsrecht
Das Verhältnis von verwaltungs- und zivilrechtlichem Rechtsschutz gegenüber Immissionen aus der Sicht eines Zivilisten JÜRGEN F . BAUR
I. Doppelgleisigkeit des Nachbarschutzes 1. Dem durch Geräuscheinwirkungen oder Luftverunreinigungen betroffenen Grundstückseigentümer steht häufig wahlweise, unter Umständen sogar kumulativ der Weg sowohl zu den Verwaltungsgerichten wie zu den Zivilgerichten offen. a) Ansatz für die verwaltungsgerichtliche Klage ist die der störenden Anlage erteilte Genehmigung nach den Vorschriften des Baurechts1, die solche baurechtliche Genehmigung stets einschließende Genehmigung der gefährlichen Anlagen nach § 4 BImSchG 2 oder des § 7 AtomG oder auch die harmloseren, aber nicht minder lästigen Fälle der Erteilung einer Gaststättenkonzession an den Betreiber einer Diskothek 3 ; Anlaß für eine verwaltungsgerichtliche Klage kann aber auch die Weigerung der Verwaltungsbehörden sein4, in Ausübung ihrer allgemeinen polizeirechtlichen Kompetenzen oder ihrer Befugnisse nach §§22, 24 BImSchG 5 (§17 BImSchG) gegen die Emission vorzugehen. Materielles, wenngleich in Form des Verwaltungsprozeßrechts gekleidetes Begehren des Klägers ist regelmäßig die Beseitigung der störenden, sein Grundstück treffenden Einwirkungen. b) Genau dieses Begehren aber ist auch Inhalt des dem Eigentümer nach Maßgabe der §§1004, 906 B G B gegenüber Immissionen zustehenden, vor den Zivilgerichten zu verfolgenden Unterlassungs- und Beseitigungsanspruchs. Lediglich in zwei Fallgruppen wird dieser Anspruch, wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch modifiziert: gegenüber Immis1 Etwa Friauf, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1985, 527ff; Steinberg, NJW 1984, 457 ff, 461. 2 Hierzu grundlegend BVerwGE 22, 129 ff, 130ff,/*rajs, NJW 1983, 2844 ff. 3 VGH München, NJW 1983, 409. 4 Grundlegend BVerwGE 11, 95ff; Steinberg, NJW 1984, 457ff, 462; Drews/Wacke/ Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl. 1975, S. 170. 5 Breuer, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S.601 f.
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sionen, die von Betrieben ausgehen, welche über eine Betriebsgenehmigung nach § 4 B I m S c h G verfügen und gegenüber Immissionen, die von hoheitlichen Anlagen ausgehen. Unterlassung des Anlagenbetriebs oder gar dessen Beseitigung kann hier mit den Mitteln des Zivilrechts nicht verlangt werden'. D e r Eigentümer wird auf einen Anspruch auf Schutzvorkehrungen verwiesen 7 . Reichen diese nicht aus, so steht ihm ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 14 B I m S c h G bzw. ein gleichfalls vor den ordentlichen Gerichten zu verfolgender Entschädigungsanspruch aus dem Gesichtspunkt des enteignungsgleichen/enteignenden Eingriffs zu 8 . 2. Diese „Doppelgleisigkeit des Nachbarschutzes" 9 hat sich erst mit dem Ausbau des Verwaltungsrechtsschutzes ergeben, mit der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel und mit der Anerkennung eines Verwaltungsakts mit Doppelwirkung 10 , wodurch auch die einem anderen erteilte Genehmigung der Anfechtungsklage durch den hierdurch negativ Betroffenen zugänglich wurde. Bis dahin standen dem gestörten Eigentümer nur die vor den Zivilgerichten zu verfolgenden Unterlassungs- und Entschädigungsansprüche zur Verfügung. Die Frage ist nun, ob angesichts des heute erreichten Entwicklungsstands des Verwaltungsrechtsschutzes der Rechtsschutz des einzelnen nicht besser allein den Verwaltungsgerichten überantwortet werden sollte. Sie uneingeschränkt zu bejahen, hat sich Wolfgang Martens" in seinen, für die Entwicklung eines öffentlich-rechtlichen Abwehranspruchs gegenüber hoheitlichen Immissionen richtungsweisenden Untersuchungen in der Hamburger Festschrift für Schack nur deshalb gehindert gesehen, weil zum damaligen Zeitpunkt der Rechtsschutz des öffentlichen Rechts noch nicht vollständig war, die lückenschließende Bedeutung des Zivilrechts also auch vom öffentlich-rechtlichen Lager anerkannt werden mußte. a) Heute hält, wenn ich recht sehe, die ganz überwiegende Meinung im öffentlich-rechtlichen Schrifttum es für zutreffend, das Nebeneinander von verwaltungs- und zivilgerichtlichen Rechtsbehelfen zugunsten eines eindeutigen Vorrangs der Entscheidung des öffentlichen Rechts zu
RGZ 159, 129 ff, 135. RGZ 170, 40 ff; B G H LM Nr. 95 zu §13 GVG. 8 B G H Z 91, 20 ff, 27 ff. 9 Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 438. 10 BVerwGE (Fn.2). 11 Festschrift für Schack 1966, 85 ff, 86 f.
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beenden12. Zusätzliche Stoßkraft gewonnen haben diese Stellungnahmen durch zwei Ereignisse: aa) Der im Jahre 1981 ergangene Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts": Danach stellte sich die Frage, ob der nunmehr verwaltungsgerichtlich umfassend gewährleistete Schutz gegenüber den von hoheitlichen Veranstaltungen ausgehenden Immissionen nicht den vor den Zivilgerichten geltend zu machenden Anspruch auf enteignungsgleichen/enteignenden Eingriff verdrängt14. bb) Die Tennisplatzentscheidung des Bundesgerichtshofs15 aus dem Jahre 1982: In Reaktion darauf ist mit verstärkter Intensität16 die These verfochten worden17, zivilrechtliche Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche müßten überall da ausscheiden, wo ihre Durchsetzung hoheitliche (Bau)planungen und Baugenehmigungen konterkarieren könnte. Der betroffene Eigentümer solle sich in diesen Fällen sein Recht vor den Verwaltungsgerichten im Anfechtungs- und Normenkontrollverfahren holen. b) Wäre das richtig, so verdrängte ein vor den Verwaltungsgerichten geltend zu machender präventiver Rechtsschutz weitestgehend die zivilrechtlichen Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche und die Entschädigungsansprüche aus Anlaß immissionsbedingter Schädigungen. Uberall da, wo die Quelle der Einwirkung mit den Mitteln des öffentlichen Rechts beseitigt werden kann bzw. hätte beseitigt werden können, wäre der Weg vor die ordentlichen Gerichte verschlossen. Immissionen, welche ihre Grundlage in Bauplänen, Baugenehmigungen, Gewerbekonzessionen finden, könnten mit den Mitteln des Zivilrechts nicht mehr in Frage gestellt werden, Entschädigungsansprüche wegen zu tolerierender hoheitlicher Immissionen wären versagt. Der vor den ordentlichen Gerichten verfolgbare Schutz vor Immissionen wäre damit auf einen Restbestand zurückgedrängt, dessen verbleibende Bedeutung zur Zeit gar nicht abgeschätzt werden könnte. Das erklärt den Wider-
Siehe Fn. 16, 17. BVerfGE 58, 300 ff, 320, 330 f. 14 Dazu statt aller Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, R d n . 6 3 0 f f ; Schwerdtfeger, JuS 1985, 184 ff; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Aufl. 1983, 150 ff, jew.m.N. 15 BGH N J W 1983, 751 f. 16 Früher schon: Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 3 5 f f ; Schapp, Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, 1978, 169 ff; Trzaskalik DVB1. 1981, 71 ff; Schrödter, BBauG, 4. Aufl. 1980, §31 Rdn.23. 17 Papier UPR 1985, 73 ff; ders. in: Umwelteinwirkungen durch Sportanlagen, 1984, 9 7 f f ; Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 4M-, Johlen, BauR 1984, 134; Kleinlein, N V w Z 1982, 668. 12
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stand des Zivilrechts 18 gegen diese „Landnahme", begründet ihn freilich noch nicht. Solche Begründung soll im folgenden versucht werden. 3. In der Tennisplatzentscheidung hat der Bundesgerichtshof" der Klage einer Grundstückseigentümerin auf vollständige Einstellung des auf einem Nachbargrundstück stattfindenden Spielbetriebs stattgegeben. Dieses Tennisspiel stellte eine wesentliche, nicht ortsübliche und damit nicht nach §906 B G B zu duldende Einwirkung dar: es fand praktisch unmittelbar vor den Wohn- und Schlafräumen der Klägerin statt (in 3,2 bzw. 5 m Abstand!). Das in einem Mischgebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung gelegene Wohnhaus der Klägerin war aufgrund einer im Jahre 1971 erteilten Baugenehmigung errichtet worden und wurde seit Juni 1973 von ihr und ihrer Familie bewohnt. Die auf dem Nachbargrundstück befindlichen Tennisplätze sind im Bebauungsplan der K o m mune als Sonderbaufläche ausgewiesen und 1974/75 angelegt worden. Dem verurteilten Betreiber der Anlage nützte der Hinweis nichts, daß die Anlage von Spiel- und Sportplätzen im vorliegenden Mischgebiet gemäß § 6 II N r . 5 B a u N V O planungsrechtlich zulässig war. Dieser Umstand diene, so meinte der Bundesgerichtshof, nur als allgemeiner Anhalt für die Ermittlung der ortsüblichen Nutzung. Die konkreten, im Gebiet herrschenden Verhältnisse aber seien anders gelagert. U n d sie entschieden den Prozeß. Mit dieser, in der Öffentlichkeit vielfach als spektakulär empfundenen Entscheidung befindet sich der Bundesgerichtshof voll in der Kontinuität seiner ständigen Rechtsprechung.
a) Bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 195820 hatte das Gericht es für die Feststellung der Ortsüblichkeit als bedeutungslos bezeichnet, „daß in Plänen der Verwaltungsbehörde, die die zukünftige Bebauung in geordnete Bahnen lenken sollen, die hier in Betracht kommende Gegend . . . als Industriegelände bezeichnet wird". Entscheidend komme es auf den gegenwärtigen Charakter der Bebauung, auf den Zustand an, wie er sich in der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung darstelle. Unbeachtlich war es deshalb in einem nur wenig später 21 entschiedenen Fall auch, daß der Bebauungsplan der Stadt eine Zubringerstraße vorsah,
18 Hierzu vor allem Marburger, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts, Gutachten zum 56. D J T , 1986, C 38 ff, C 1 0 2 ff; Hagen U P R 1985, 192 ff; aber auch schon K. A. Bettermann, NJW 1961, 1097; F. Baur, ] Z 1974, 6 5 7 f f , 660 (wieder abgedruckt in F. Baur, Beiträge zum materiellen Recht und zum Verfahrensrecht, 1986, 61 ff, 69). " Siehe F n . 1 5 . 20 N J W 1958, 1776. 21 N J W 1958, 1393.
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welche unmittelbar an dem Haus des Grundstückseigentümers vorbeigeführt werden sollte, der sich gegen die von einem Eisenlager ausgehende Lärmbelästigung wandte. Es ist, so formulierte der Bundesgerichtshof seine Position prägnant, darauf hinzuweisen, „daß es für die Ortsüblichkeit einer Einwirkung auf den Charakter des Geländes zur Zeit der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung und nicht auf seine Zweckbestimmung in Zukunftsbebauungsplänen von Verwaltungsbehörden ankommt". b) „Uber den Begriff der Ortsüblichkeit" können, so heißt es in der nächsten einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 195922 „keine Maßstäbe eingeführt werden, die zwar dem öffentlichen Interesse weitgehend (entgegenkommen), in der tatsächlichen Benützung der Bewohner und Eigentümer (sc. des betreffenden Gebiets) jedoch keine Grundlagen (finden)". Daher seien „die einschlägigen baupolizeilichen und städtebaulichen Vorschriften (hier der Reichsgaragenordnung) für die gewöhnliche Benutzung eines Grundstücks im Sinne des § 906 BGB und damit für die Begrenzung des Eigentums als Ortsrecht nicht unmittelbar maßgebend". Allerdings könnten die Vorschriften der Reichsgaragenordnung und damit die für die städtebauliche Raumplanung grundlegenden Vorschriften sowie das Ortsrecht einen bedeutsamen Anhalt für die ortsübliche Grundstücksnutzung darstellen. In vollem Umfang gilt diese Aussage des Gerichts aber nur für die Vorschriften der Reichsgaragenordnung. Diese lege, so meinte der Bundesgerichtshof, in ihren einschlägigen Vorschriften zum großen Teil ohnehin nur das fest, was sich aus der Natur der Sache ergäbe und was, so wird man den Bundesgerichtshof ergänzen dürfen, deshalb vernünftigerweise auch allgemein beachtet und gegebenenfalls polizeilich durchgesetzt wird. c) Bei den Bebauungsplänen ist eine etwas andere Sicht der Dinge geboten. Da diese auch und gerade die künftige Nutzung eines Gebietes festlegen, kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich in ihrer Festlegung im Regelfall die tatsächlichen, im Gebiet anzutreffenden Grundstücksnutzungen widerspiegeln. Vielmehr ist, wie der Bundesgerichtshof in der, die zivilistische Sicht der Dinge abschließend festlegenden Splitwerkentscheidung vom 15.1.1971 ausführte", zwischen Bauplänen über Neubaugebiete und solchen über bereits überbaute Gebiete zu unterscheiden. In Neubaugebieten ist die bauliche Nutzung regelmäßig im vorhinein durch Bebauungspläne festgelegt worden; deshalb wird hier die tatsächN J W 1959, 1632 ff, 1633. DVB1. 1971, 7 4 4 f f , 745 = LM Nr. 39 zu § 9 0 6 BGB; siehe auch bereits B G H DVB1. 1968, 51. 22
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liehe Grundstücksnutzung und damit die Ortsüblichkeit in aller Regel den Festlegungen des Bebauungsplanes entsprechen. Bei den bereits überbauten Gebieten wird sich dagegen die tatsächliche N u t z u n g der Grundstücke erst im Laufe der Zeit den planerischen Vorgaben anpassen. Während einer mehr oder weniger lang bemessenen Ubergangszeit, deren Dauer allein von der Gebietsentwicklung abhängt, kann es deshalb durchaus sein, daß Planregelung und tatsächlich geübte Benutzung nicht übereinstimmen. N u r letztere aber ist dann für die Festlegung der Ortsüblichkeit maßgebend. „Die öffentlich-rechtliche Gestaltung vermag die nach §906 BGB bestehende zivilrechtliche Eigentumsordnung nicht . . . zu verdrängen" 231 . D e m Bebauungsplan kommt eben keine privatrechtsgestaltende Wirkung zu24. Entsprechendes gilt aber auch, wenn - etwa aufgrund eines Planungsfehlers - mit behördlicher Genehmigung in einem Außengebiet Wohnhäuser errichtet worden sind. Diese Bebauung und nicht die - planungsrechtlich dort korrekt angesiedelte Kläranlage bestimmt dann die ortsübliche Nutzung 2 5 . 4. Ihre Fundierung in einer konstanten ständigen Rechtsprechung rechtfertigt sicherlich noch nicht die vom Bundesgerichtshof konsequent vertretene These von der prinzipiellen Unabhängigkeit privatrechtlichen Immissionsschutzrechts gegenüber öffentlich-rechtlichen Festlegungen und Gestaltungen. Sie muß vielmehr in Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten begründet werden. Gerade das aber hat der Bundesgerichtshof unterlassen. Niemals hat er auch nur den Versuch einer kritischen Würdigung anderer Meinungen unternommen. Er hat die zahlreichen, vor allem aus publizistischem Lager stammenden, die Priorität öffentlich-rechtlicher, planerischer Zielsetzungen gegenüber dem Privatrecht begründenden Stimmen schlicht ignoriert. a) Soweit diese indessen den Vorrang des öffentlichen Nachbarrechts mit einer auch die privatrechtlichen Nachbarrechtsbeziehungen umfassenden Gestaltungswirkung der Baugenehmigung zu begründen versuchen26, verdienen sie freilich keine eingehende Würdigung. Sie sind mit der geltenden Legalordnung bereits des öffentlichen Rechts unvereinbar27. Baugenehmigungen haben nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung gerade keine privatrechtsgestaltende Wirkung 28 . Sie ergehen unbe23
' Siehe Fn.23. B G H N J W 1980, 1679 = LM Nr. 64 zu Art. 14 (Ce) G G . 25 B G H N J W 1976, 1204 ff, 1205. 26 So Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 ff, 62; Schapp, Das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Nachbarrecht, S. 163 ff; Schrödter, BBauG, § 31 Rein. 25; Schulte, Eigentum und öffentliches Interesse 1970, 89, 241. 27 Papier, U P R 1985, 73 ff, 81; Kleinlein, N V w Z 1982, 668 f, 669. 28 Vgl. §93 Abs. 5, MBauO und die BauO der BLänder. 24
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schadet der Rechte Dritter. Ihr Regelungsgehalt ist auf das Baurechtsverhältnis des öffentlichen Rechts beschränkt 2 '. b) Gegenüber abweichenden Festsetzungen von Bebauungsplänen und gerade hierum ging es überwiegend in den vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen - aber läßt sich die Konzeption von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit zivilrechtlichen Immissionsschutzes nicht ebenso leicht verteidigen. Nach § 1 Abs. 7 BBauG hat nämlich der Planungsträger auch die privaten Belange und damit das im Privatrecht wurzelnde Verhältnis der Gebietsangehörigen zueinander zu berücksichtigen und gegenüber dem öffentlichen Interesse abzuwägen. Der diesen Erfordernissen entsprechende und damit allein wirksame Bebauungsplan aber entscheide, so wird geltend gemacht30, im Rahmen seines Regelungsbereichs auch über die zivilrechtlichen Nachbarrechtsverhältnisse. Das private Nachbarrecht des BGB werde durch die bundesrechtliche Regelung des BundesbauG überlagert und modifiziert. Sei etwa, wie im Tennisfall, ein Sportplatz als solcher in einem Bebauungsplan gesondert ausgewiesen (§9 Abs. 1 Nr. 5, 15, 22 BBauG, § 11 BauNVO), so könne hiergegen ein privatrechtlicher Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch nicht geltend gemacht werden. Planungs(ersatz)charakter aber hätten auch die Vorschriften der §§34, 35 BBauG über den unbeplanten Innenbereich bzw. den Außenbereich 31 . Die Beseitigung einer danach zulässigen Anlage könne deshalb mit privatrechtlichen Mitteln gleichfalls nicht verlangt werden. 5. Mit dem Hinweis auf den unterschiedlichen Beurteilungsansatz von privatrechtlichem Immissionsschutz einerseits und öffentlichem Planungsrecht andererseits läßt sich dieser Einwand sicherlich nicht entkräften 32 . Es ist zwar richtig33, daß das Zivilrecht die anläßlich der Immissionen auftretenden Nutzungskonflikte am Maßstab der aktuell stattfindenden, das Gebiet prägenden und damit die Ortsüblichkeit bestimmenden Nutzung beurteilt34, während das öffentliche Planungsrecht die künftige Nutzung festlegt und Nutzungskonflikte bei den Planungen gedanklich antizipiert und zu regeln sucht. Die These, daß der (künftige) nachbarschaftliche Konflikt durch die Festlegung des Bebauungsplanes bereits vorentschieden sei, das zivile Nachbarrecht 29
Friauf, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S.511. Papier, U P R 1985, 73 ff, 77; Trzaskalik, DVB1. 1981, 71 ff, 72; Kleinlein, N V w Z 1982, 668 ff, 669; Johlen, BauR 1984, 134 ff, 136ff; im Ergebnis ebenso Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 438. 51 Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 438; anders aber Kleinlein, N V w Z 1982, 668ff, 669f. 32 So aber F. Baur, JZ 1974, 657 ff, 660. 33 Hierauf weist besonders Hagen, U P R 1985, 192 ff, 198, hin. 34 Vgl. oben im Text die Ausführungen bei Fn. 20. 30
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eben insoweit verdrängt sei, ist damit nicht widerlegt. Sie steht und fällt aber mit dem Nachweis, daß eine solche, das Zivilrecht verdrängende Konfliktregelung positiv-rechtlich existiert. a) Das Bundesbaugesetz enthält eine derartige Vorschrift freilich nicht. Es unterscheidet sich damit signifikant von der Regelung des Bundesimmissionsschutzgesetzes und des Fachplanungsrechts. D o r t ist f ü r die Genehmigung nach §§4 ff BImSchG und für die Planfeststellungsbeschlüsse der Fachplanung eine solche privatrechtsgestaltende Wirkung vorgesehen (§§14 BImSchG, 75 Abs. 2 VwVerfG, §17 Abs. 6 S a t z l BFStrG, 17 Abs. 3, 4 BWaStrG) 35 . Die Existenz solcher, nur für genau umrissene Teilbereiche 35 " geltenden Regelungen aber zeigt, daß die Rechtsordnung im übrigen und damit grundsätzlich von einem Nebeneinander von privatem und öffentlichem Recht ausgeht. Auf der Grundlage eines solchen Nebeneinanders beruht auch die Entschädigungsregelung des Rechts der gefährlichen Anlagen nach §§ 4 ff, 14 BImSchG. Weil dem betroffenen Eigentümer der an sich nach Privatrecht begründete Anspruch auf Beseitigung der störenden Anlagen genommen wird, erhält er einen (zivilrechtlichen) Schadensersatzanspruch. U n d nur, sofern die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs auf Beseitigung nach Maßgabe der §§1004, 906 BGB in concreto (an sich) gegeben sind, besteht auch der Schadensersatzanspruch 36 . Verdrängte aber bereits der planungsrechtliche Ausweis regelmäßig den zivilrechtlichen Beseitigungsanspruch, so griffe das System des Bundesimmissionsschutzgesetzes nicht mehr. Die Regeln über den Bestandsschutz genehmigter Anlagen würden weitgehend überflüssig; dem betroffenen Nachbarn würde der Schadensersatzanspruch nach § 14 BImSchG entzogen. Denn selbstverständlich werden solche gefährlichen Betriebe nur in den dafür planungsrechtlich ausgewiesenen Gebieten errichtet. b) Die - teleologisch begründete - Annahme eines (ungeschriebenen), den Vorrang des Bauplanungsrechts gegenüber zivilrechtlichen A b w e h r ansprüchen beinhaltenden Rechtssatzes kann deshalb nicht richtig sein; führte doch eine solche Regelung zur Funktionslosigkeit ganzer positivrechtlich durch das BImSchG geregelter Bereiche. Sie kann deshalb nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, daß andernfalls mittels zivil35
So nachdrücklich Hagen, U P R 1985, 192 ff, 197. " Z . B . §4 ff BImSchG; 17ff BFStrG; 17 WaStrG; 28 PBefG; 36 BBahnG; 8 LuftVG; 7 ff AbfG (gefährliche Anlagen, Straßen und Wasserstraßen, Bundesbahn und Straßenbahn, Flugplätze, Mülldeponien). 36 B G H Z 69, 105ff, 110; F.Baur, SachenR, 13. Aufl. 1985, §25 IV, 2 b d d . 3S
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rechtlicher Abwehrrechte die (bau)planinitiierte Veränderung blockiert werden könne 37 . Für den nicht vom Anlagen- und Fachplanungsrecht erfaßten Normalfall nimmt die Rechtsordnung eine solche Blockade in Kauf; läßt sich doch ein auf die tatsächlich im Gebiet herrschenden Verhältnisse abstellender Immissionsschutz und damit die Gleichrangigkeit privaten Nachbarrechts gegenüber öffentlichem Planungsrecht allemal rechtfertigen. Warum sollte auch das Risiko planerischer Fehlprognosen dem betroffenen Grundstückseigentümer auferlegt werden? Gerade das private Immissionsschutzrecht ist doch in der Lage, strukturelle Schwächen im System des öffentlich-rechtlichen Individualschutzes auszugleichen 38 . 6. Gegenüber Immissionen aus hoheitlich errichteten oder betriebenen Anlagen und Veranstaltungen tritt an die Stelle des zivilrechtlichen Beseitigungsanspruchs der Entschädigungsanspruch 39 . Uber die Fortexistenz dieser besonderen Fallgruppe der durch den Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts in Frage gestellten Staatshaftung für enteignende/enteignungsgleiche Eingriffe hat man sich verhältnismäßig schnell verständigt 40 . a) Ihre Eigenart trifft man freilich kaum, wenn man den von einer Straße ausgehenden Verkehrslärm, die mit der Errichtung einer Kläranlage verbundene Geruchsbelästigung, den vom U - B a h n - B a u ausgehenden Baulärm als unvorhergesehene, atypische Nebenfolge einer solchen Veranstaltung bezeichnet 41 und deshalb die Möglichkeit eines verwaltungsgerichtlichen „Primärschutzes" schlechthin leugnet 42,43 . b) Auch kann der vor den Zivilgerichten zu verfolgende Entschädigungsanspruch wegen nicht zu duldender „hoheitlicher Immissionen" kaum förderlich mit den Kategorien enteignender bzw. enteignungsgleicher Eingriff erfaßt werden 44 . Denn die Trennlinie zwischen enteignen-
57 So aber besonders Trzaskalik, DVBl. 1981, 71 ff, 72; Kleinlein, NVwZ 1982, 668ff, 669; Barthperger, DVBl. 1971, 745, 746-Johlen, BauR, 1984, 134 ff, 136. J8 Marburger, DJT-Gutachten (Fn. 18) C 1 0 5 f . 59 BGHZ 91, 20 ff, 27 ff. 40 So außer BGHZ 91, 20ff, 26; z.B. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art.24 Rdn. 633 ff; Schwerdtfeger, JuS 1983, 104 ff, 109; Battis/Felkl-Brentano, JA 1983, 494 ff, 499; Ossenbühl, NJW 1973, 1 ff, 5; Boujong UPR 1984, 137ff, 142. 41 Boujong aaO (Fn. 40). 42 Papier, Battis/Felkl-Brentano; Boujong (Fn. 40). 43 In Frage kommen Rechtsmittel gegen die entsprechenden Planungsmaßnahmen im Bebauungsplan, im Planfeststellungsbeschluß. 44 So aber Papier, Schwerdtfeger, Ossenbühl, Boujong (Fn. 40); nicht unterscheidend zu Recht Battis/Felkl-Brentano (Fn. 40).
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den (rechtmäßigen) und enteignungsgleichen (rechtswidrigen) Eingriffen verliefe wegen der Maßgeblichkeit des §906 BGB für die Konkretisierung des Entschädigungsanspruchs 45 mitten durch den Tatbestand dieser N o r m , ohne daß eine Differenzierung angezeigt oder gar erforderlich wäre: Eine wesentliche, nicht ortsübliche hoheitliche Immission wäre ein enteignungsgleicher 46 , eine wesentliche, ortsübliche, aber u n z u m u t bare Immission ein enteignender 47 Eingriff. Dementsprechend läßt sich dieser Entschädigungsanspruch auch kaum zutreffend mit einer H a f t u n g des Staates für rechtswidriges Handeln bzw. für aus rechtmäßigem Handeln resultierender Gefährdung 48 deuten. c) Seine Existenz verdankt dieser Anspruch vielmehr dem Ausschluß des privatrechtlichen Beseitigungsanspruchs gegenüber hoheitlichen Veranstaltungen. Die entstandene Schutzlücke vermag der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz nicht voll zu schließen. Dieser erfaßt Mängel bei den Prüfungs- und Beurteilungsvorgängen im Planungs- und Genehmigungsverfahren, welche sich mit den regelmäßig zu erwartenden Immissionen befassen; es besteht aber auch ein Bedürfnis, das Eigentum auch und gerade vor den beim Betrieb der Anlage auftretenden Immissionen zu schützen. Dies geschieht durch den, den zivilrechtlichen Abwehranspruch ersetzenden Entschädigungsanspruch, der wie dieser auf die aktuellen, im Gebiet herrschenden Verhältnisse abstellt. Dessen Notwendigkeit hat der Gesetzgeber selbst gegenüber Anlagen anerkannt, die aufgrund von Planfeststellungsbeschlüssen errichtet worden sind (§17 Abs. 6 Satz 2 BFStrG; §75 Abs. 2 Satz 4 VwVerfG). Die dort vorgesehene Einschränkung auf unvorhersehbare Auswirkungen ist wegen der besonderen Prüfungsintensität des Planungsfeststellungsverfahrens gerechtfertigt. Für den allgemeinen, auf einfach-rechtlichem Gewohnheitsrecht beruhenden Entschädigungsanspruch wegen hoheitlich veranlaßter Immissionen gilt diese Einschränkung nicht. II. Erweiterung des Privatrechtsschutzes durch das öffentliche Recht Das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Recht ist jedoch nicht allein durch die beschriebene Doppelgleisigkeit des Nachbarschutzes gegenüber Immissionen gekennzeichnet. Öffentliches Recht kann 45 B G H Z 64, 220ff, 222; N J W 1968, 1051 ff, 1052; W M 1979, 1266ff, 1217; dagegen allerdings W.Martens, Festschrift für Schack (Fn. 11), 85ff, 93f. 46 So aber B G H Z 91, 20 ff, 22. 47 So aber B G H Z 91, 20, 25 ff. 41 Anders die allgemeine Meinung, vgl. statt aller Rüfner, in: Erichsen/Martens, Allg. Verwaltungsrecht, 6. Aufl., §52 III, 1.
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auch den Inhalt des privatrechtlichen Nachbarrechts erweitern 49 . Den Ansatz gibt die, eine privatrechtliche Instrumentalisierung von Normen anderer Rechtsgebiete gestattende Vorschrift des §823 Abs. 2 BGB. Sie gewährt neben dem ein Verschulden erfordernden Schadensersatzanspruch in Analogie zu § 1004 BGB auch einen verschuldensunabhängigen Abwehranspruch. 1. Auf diese Weise kann privatrechtlicher Rechtsschutz auch da gegeben sein, wo es an einer Einwirkung im Sinne des §906 BGB fehlt und deshalb nach herrschender Ansicht ein Anspruch nach § 1004 BGB nicht in Frage kommt 50 . Gedacht ist dabei vor allem an die Fälle der Behinderung der Zufuhr von Licht und Luft durch Bauten, Zäune, Bäume51 (negative Immissionen) oder auch Sachverhalte, in denen das ästhetische Empfinden durch häßliche Bauten, Stützmauern 52 , Gerümpel auf dem Nachbargrundstück 53 beeinträchtigt wird (ideelle Immissionen). Vorschriften des Baurechts, des landesrechtlichen Nachbarrechts über den Grenzabstand von Gebäuden, Bäumen und Sträuchern, über die Beschaffenheit von Einfriedungen, der Grenzwände und Grenzmauern, Festsetzungen in Bebauungsplänen über Art und Maß der baulichen Nutzungen sind hier häufig nicht beachtet worden 54 . 2. Die entscheidende privatrechtliche Frage nach dem Schutzgesetzcharakter derartiger Vorschriften stimmt mit der des „Rechtsbetroffenseins" des Verwaltungsrechts überein55. Dementsprechend orientieren sich die Zivilgerichte bei dieser Qualifikationsfrage an den hierzu von den Verwaltungsgerichten bei der nachbarrechtlichen Genehmigungsklage entwickelten Kriterien und lassen sich von deren Entscheidungspraxis leiten56. Wer sich also über den Schutzgesetzcharakter einer öffentlichrechtlichen Vorschrift orientieren will, muß die Lehrbücher des Verwaltungsrechts 57 und die in den Kommentaren zur Verwaltungsgerichtsordnung zu §42 Abs. 2 V w G O aufbereitete Kasuistik der Verwaltungsge49 Anders nur Schapp, Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, S. 200 ff, 209 ff und Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 55 ff, 62, auf der Grundlage ihrer oben abgelehnten Ansicht zum Vorrang des öffentlichen Rechts. 50 Medicus, in: Münchener Kommentar, BGB, Bd. 3, §1004 Rdn.29; B G H Z 88, 344, 346 f. 51 Z.B. B G H LM Nr. 1 und 2 zu §903 BGB. 52 B G H N J W 1975, 170. 53 B G H Z 54, 56 ff, 59. 54 Auf den engen Zusammenhang weist F.Baur, Festschrift für Meier-Hayoz 1982, 27ff, 31 f, hin (wieder abgedruckt in F.Baur, Beiträge zum materiellen Recht und Verfahrensrecht 1986, 163 ff, 167/168). 55 B G H Z 86, 356 ff, 362. 56 B G H Z 66, 354 ff, 355 f; 86, 356 ff, 362. 57 Z.B. Friauf, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 527ff.
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richte zu Rate ziehen. Hierbei ergibt sich z.B., daß den Festsetzungen eines Bebauungsplanes über die Art der Bebauung (z. B. reine Wohngebiete, Mischgebiete, Kerngebiete, Gewerbe- und Industriegebiete) Schutzgesetzcharakter zukommt, daß aber solches für die zur Abwehr negativer Immissionen ungleich wichtigeren Festsetzungen über das Maß der baulichen N u t z u n g (Geschoßflächenzahl!) zu verneinen ist58. In extremen Fällen, z.B. der Errichtung eines teils zwölfgeschossigen Geschäfts- und Wohnhauses 59 gewähren die Verwaltungsgerichte aber dennoch Rechtsschutz. Den Schutzgesetzcharakter des hier bemühten Gebots der Rücksichtnahme'''' wird man angesichts der von Mühh nachgewiesenen Ubereinstimmung der entsprechenden, aus der zivilrechtlichen Figur des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses folgenden privatrechtlichen Pflichten unschwer bejahen können. 3. Wichtiger ist die Frage nach den Wirkungen einer in Fällen dieser Art regelmäßig erteilten Baugenehmigung. Auch wenn diese von den Verwaltungsgerichten nicht aufgehoben ist, soll sie nach herrschender Meinung 62 für die Zivilgerichte grundsätzlich unbeachtlich sein. Etwas anderes gelte nur, wenn von zwingenden Vorschriften des Baurechts Befreiung erteilt worden sei63. Diese Ansicht ist nicht haltbar. Nicht nur der Dispens, sondern auch die einfache Baugenehmigung gestaltet das materielle Baurecht. Mit der feststellenden bestandskräftigen Wirkung der Baugenehmigung wird gegenüber dem Bauherrn und dem betroffenen Nachbarn eine verbindliche Entscheidung über das öffentliche Baunachbarrecht getroffen. Diese Entscheidungen prägen, solange sie nicht von den Verwaltungsgerichten aufgehoben worden sind, auch das über §823 Abs. 2 BGB entstandene „derivative" zivilrechtliche Rechtsverhältnis. Sie sind daher auch für die Zivilgerichte verbindlich 64 . Der Vorbehalt privater Rechte in den Baugenehmigungen bezieht sich nur auf die originären zivilrechtlichen Ansprüche, wie etwa auf diejenigen nach § 1004 BGB. Der Anwendungsbereich der derivativen Nachbarrechtsklage beschränkt sich somit auf die Fälle, in denen eine baurechtliche Genehmigung der störenden Anlage nicht erforderlich war, wo sie nicht 58
Einzelheiten bei 5endler, BauR 1970, 4 ff, 8 ff. BVerwG DVB1. 1981, 929. 60 BVerwGE 52, 122ff, 131. 61 Mühl, Festschrift für F. Baur 1981, 53 ff, 94 f. 62 Dehner, Nachbarrecht im Bundesgebiet, 6. Aufl. 1982, A. § 7 IV, S. 42; Papier, N J W 1974, 1797 ff, 1801; Bender-Dohle, Nachbarschutz im Zivil- und Verwaltungsrecht, 1972, Rdn. 20. 63 B G H Z 66, 354 ff, 356 f. 64 Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 438; F. Baur, Sachenrecht, §25 IV 4 b . 59
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eingeholt wurde (Schwarzbau) oder wo die erteilte Baugenehmigung von den Verwaltungsgerichten aufgehoben wurde. Im letzteren Fall tritt der zivilrechtliche Anspruch gegen den Bauherrn neben den gegen die Behörde gerichteten Folgenbeseitigungsanspruch 65 . Da der Behörde aber bei der Beseitigung der Folgen ihres Handelns ein Ermessen 66 eingeräumt ist, könnte sich der zivilrechtliche Weg für den betroffenen Nachbarn als durchschlagskräftiger erweisen 67 . 4. Freilich soll mit der derivativen Nachbarrechtsklage Beseitigung des baurechtswidrigen Zustands nur verlangt werden können, wenn vorsätzlich gegen die Vorschriften des Baurechts verstoßen wurde. Das folgert die Rechtsprechung 68 aus einem argumentum a majore ad minus: Wenn auch der aus unerlaubter Handlung schuldhaft, aber nicht vorsätzlich 6 ' Handelnde anstelle der unverhältnismäßige Aufwendungen erfordernden Naturalrestitution den Gläubiger mit Geld entschädigen könne (§251 Abs.2 BGB), so dürfe auch für den an die bloße Rechtswidrigkeit des Verstoßes anknüpfenden Anspruch aus §§ 1004, 823 Abs. 2 BGB analog nichts anderes gelten. N i m m t man eine solche Argumentation ernst, so müßte sie auch gegenüber allen aus §1004 BGB oder auch §12 BGB resultierenden Beseitigungsansprüchen durchgreifen und führte damit zum Ende des Instituts des verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruchs überhaupt. Ihr ist daher nicht zu folgen 70 . Da dem Beklagten die Wahl des zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustands geeigneten Mittels offengehalten werden muß 71 und natürlich auch der Beseitigungsanspruch dem allgemeinen Verbot des Rechtsmißbrauchs unterstellt ist72, sind unverhältnismäßige Belastungen für den Verpflichteten nicht zu erwarten. III. Bilanz Nach allem wird der durch privates und öffentliches Recht gewährleistete Eigentumsschutz gegenüber Immissionen durch die gebräuchlichen Kennzeichnungen einer Zweispurigkeit 73 , einer „Gemengelage" 74 von 65
Friauf, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S.533. Nachweise bei Friauf (Fn.65), S.533. 67 Die privatrechtliche Klage ist hier also nicht funktionslos (a. A. F. Baur, Sachenrecht, §25 IV 4 b). 68 B G H W M 1974, 572ff, 573; W M 1977, 536f. 69 Vgl. B G H N J W 1970, 1180 ff, 1181. 70 Ebenso Pkker, AcP 176, 28 ff, 52 ff. 71 Soergel/Mühl, BGB, 11.Aufl., §1004, Rdn.44, 125; Palandt/Bassenge, BGB, 45. Aufl. 1986, § 1004 Anm. 5. 72 Insoweit zutreffend B G H W M 1974, 573. 73 So Breuer, DVB1. 1983, 431 ff, 433. 74 So Trzaskalik, DVB1. 1981, 71. 66
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Zivil- und öffentlichem Recht allein nicht zutreffend beschrieben. Legen doch beide Vokabeln die Annahme eines überflüssigen Wildwuchses, eines zufällig und unkoordiniert gewachsenen Systems nahe, das dringend der Feldbereinigung, der Korrektur bedarf. Indessen läßt sich sehr wohl - für den untersuchten Fragenkreis — die These vertreten, daß zum einen der Immissionsschutz des BGB seine Daseinsberechtigung auch neben dem öffentlich-rechtlichen Schutzsystem behält, und daß zum anderen öffentlich-rechtliche Vorschriften das Arsenal zivilrechtlicher Abwehransprüche erweitern und auf diese Weise Schutzlücken schließen können, wo das Nachbarrecht des BGB keine Regelung enthält. Diese These zu begründen, war Gegenstand der Ausführungen.
Zwangsvollstreckung und Kirchengut Zugleich zu kirchlichem Auftrag, öffentlichen Aufgaben und öffentlichem Interesse HELMUT GOERLICH
Rechtsprechung und Reformbemühungen geben zu diesem Gegenstand Anlaß. Wandlungen des religiösen Sozialverhaltens zeigen die gegenwärtige Bedeutung. Grundsätzliche Fragen stehen im Hintergrund. I. Sächlich bezogene Funktionssicherungen für die unentbehrliche Erfüllung öffentlicher Aufgaben in der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen finden sich in Bundes- und Landesrecht. Erfassen sollen sie auch Kirchen, die Körperschaften öffentlichen Rechts sind, Vereinskirchen privaten Rechts dagegen nicht. Grundrechte oder Garantien des Staatskirchenrechts, etwa die freie Religionsausübung und die Gewährleistung des Kirchengutes, haben in diesem Zusammenhang bisher Wirkung noch nicht entfaltet. 1. An einen materiellen Begriff der öffentlichen Aufgabe - nicht an die F o r m der Ausübung öffentlicher Gewalt - knüpfen die bestehenden Zwangsvollstreckungsverbote zugunsten der Tätigkeit von Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts an. Untersagt ist die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen in Sachen, die für die Erfüllung dieser Aufgaben unentbehrlich sind. Hinzu kommt ein besonderes Verfahren der Behördenbeteiligung. Unstreitig gilt all das auch im Konkurs. Begünstigt ist heute die Funktionsfähigkeit des Bundes, der Länder und ihrer Einrichtungen öffentlichen Rechts, allerdings mit Ausnahme insbesondere von öffentlich-rechtlichen Bank- und Kreditanstalten, die öffentliche Aufgaben in diesem Sinne nicht erfüllen. Neben die Regelung der Zivilprozeßordnung 1 treten ergänzende Vorschriften im Kommunalverfassungsrecht der Länder für diese Ebene 2 . Auch der 1 Vgl. § 882 a Z P O i . d . F . d.Bek. v. 1 2 . 9 . 1 9 5 0 (BGB1.I S.533, zuletzt geändert am 8 . 3 . 1 9 8 4 , BGBl. I S.364); § 882 a Z P O wurde 1953 eingefügt, dazu Fn. 17. 2 Etwa § 1 3 6 Nieders. G O i . d . F . v. 2 2 . 6 . 1 9 8 2 (GVB1. S.229) u. § 6 8 Nieders. L O i . d . F . v. 2 2 . 6 . 1 9 8 2 (GVB1. S.256).
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Entwurf der Verwaltungsprozeßordnung enthält dagegen eine die Kommunen umfassende Verweisung auf die Zivilprozeßordnung wie schon die Finanzgerichtsordnung, während die Verwaltungsgerichtsordnung regelt und die Kommunen selbst erfaßt 3 . 2. Ohne den Begriff der Körperschaft oder den der öffentlichen Aufgabe im Sinne dieser Vorschriften zu erörtern, berief Wolfgang Martens die Regelungsstruktur der Zivilprozeßordnung wiederholt 4 . Standardwerke des Prozeßrechts enthalten darüber hinaus eine Aussage, die sich bei ihm nicht findet: Danach erfassen die funktionssichernden Vollstrekkungsverbote Kirchen und ihre Einrichtungen, sofern erstere Körperschaften öffentlichen Rechtes sind, d.h. der Rechtsform nach den Voraussetzungen der Vollstreckungsverbote genügen5. Das Bundesverfassungsgericht nennt obiter die Anwendbarkeit der Verbote zugunsten solcher Kirchen in den Gründen einer Entscheidung, die diesen Kirchen verfassungsunmittelbar und im Unterschied zu sonstigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen öffentlichen Rechts absolute Konkursunfähigkeit zuspricht. Solche Kirchen und ihre Einrichtungen müssen daher Konkursausfallgeld nicht entrichten'. Das mag hier dahinstehen. Es bleiben jedenfalls die Probleme der Einzelzwangsvollstreckung. Sie sind kaum behandelt. Eine jüngere Dissertation klammert die Fragestellung aus, ebenso die ältere Nachkriegsliteratur 7 . 3. Die staatskirchenrechtliche Praxis beschränkt sich auf Kirchen und ihre Einrichtungen, sofern erstere Körperschaften öffentlichen Rechts Nachweise unten (Fn. 18 u. 26). Vgl. W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 113 u. 118 mit A n m . 2 4 0 . 5 Etwa Baumbach-Lauterbach-Albers-P. Hartmann, K o m m . z . Z P O , 44. Aufl. 1986, Ziff. 2 zu § 8 8 2 a ; B. Wieczorek, Z P O , 2. Aufl. 1981, § 8 8 2 a R d n . B I a ; manche Kommentare schweigen; nicht anders geht die staatskirchenrechtliche Literatur von der Anwendbarkeit des § 882 a Z P O aus, vgl. etwa S. Marx, Staatskirchenrechtliche Bestimmungen zum Kirchenvermögens- und Stiftungsrecht im Bereich der katholischen Kirche, HdbStKirchR Bd. II 1975, S . 1 1 7 f f (122) u. Ch. Meyer, Staatskirchenrechtliche Bestimmungen zum Kirchenvermögens- und Stiftungsrecht im Bereich der evangelischen Kirche, ibid., S. 91 ff (116). 6 Siehe BVerfGE 66, 1 (LS), 19 u. ff; zur Vorgeschichte vgl. J.Frank, Kirchlicher Körperschaftsstatus und neuere staatliche Rechtsentwicklung, ZevKR 26 (1981), S. 51 ff (74 ff); eine Entscheidungsanmerkung v. M. Herdegen, E u G R Z 1984, S. 244 f; vgl. auch etwa SG Hildesheim, U r t . v. 1 1 . 1 2 . 1 9 7 8 - S 6 U 88/78 - ZevKR 24 (1979), S. 413 f; und B V e r w G E 64, 248 ff sowie jetzt mit zahlreichen Nachweisen H. Weber, JuS 1986, S. 148 f, auch bzgl. anhängiger Verfahren, etwa auch der Verfahren anderer Einrichtungen ihrer Konkursfähigkeit wegen, vgl. 1 B v L 32/81 u.a. 7 W.J. Bank, Zwangsvollstreckung gegen Behörden, 1982; früher W. Miedtank, Die Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, 1964. 3 4
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sind - unbeschadet der freien Wahl der Organisationsformen aufgrund des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, wie jüngere Entscheidungen sie hervorheben 8 . Es ist zu erinnern, Art. 140 G G inkorporiert Art. 137 Abs. 5 W R V , wonach Kirchen geborene oder gekorene Körperschaften öffentlichen Rechts sein können, eine Regelung des Weimarer staatskirchenrechtlichen Kompromisses. Sie hat zu einer Vielzahl von Körperschaftskirchen geführt'. Trotz des Körperschaftsstatus erscheint die Einzelzwangsvollstrekkung dem Bundesverfassungsgericht auch in Sachen solcher Kirchen zulässig, unabhängig von den Garantien der Religionsausübung und der Kirchenfreiheit. Dagegen knüpft das Gericht die absolute Konkursunfähigkeit an den Körperschaftsstatus der betroffenen Kirchen. Heranzieht es das bestehende System des Kirchensteuereinzuges sowie die Lehre von den res sacrae10. 4. Erfüllen Kirchen ah Beliehene mit den Sachen öffentliche Aufgaben staatlichen Rechts, so genießen sie insoweit den Schutz der Zwangsvollstreckungsverbote. Problematisch erscheint dies allerdings für Vereinskirchen, denen der Körperschaftsstatus fehlt. Der Schutz ist aber gewiß unabhängig davon, ob Kirchen mit den Sachen solche öffentlichen Aufgaben nach ihrem eigenen Verständnis zugleich oder vor allem als Aufgaben kraft eigenen kirchlichen Auftrages, ihrem Glauben gemäß, wahrnehmen". Die Beleihung mag eine häufige Form sein, insbesondere wenn kirchliche Aktivitäten unter staatlichen Auflagen und durch öffentliche Mittel gefördert sich vollziehen. Dies ändert sich aber, sollten Kirchen gegenüber der öffentlichen Gewalt größere Distanz suchen oder Wandlungen des religiösen Lebens eine derartige Distanz herbeiführen, abgesehen
8 Etwa BVerfGE 70, 138, 160 f, 163 f, dazu H. Weber, NJW 1986, S.370f; u. BVerwG Urt. v. 3.10.1985 - 6 C 56.84 - DVBl. 1986, S.458ff (459); vgl. auch BVerwG Urt. v. 29.5.1980 - 6 C 43.78 - Buchholz §53 BeamtVG Nr. 2; hier wird zwischen .Körperschafts'- und ,Vereins'kirchen unterschieden. ' Vgl. E. Friesenhahn, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, HdbStKirchR Bd.I 1974, S.545ff; auch G.Held, Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, 1974, S. 149 ff eine Aufstellung; auch A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 95 ff; zu diesem Status jetzt auch B.Schlink, NVwZ 1987, S. 633 ff (637ff) u. D. Ehlers, ZevKR 32 (1987), S. 158 ff (165 ff). 10 BVerfGE 66, 1, 23; zu Vereinskonkurs u. Ende der Beitragspflicht der Mitglieder jetzt BGH Urt. v. 11.11.1985 - II ZR 37/85 11 Hierzu U.Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private, 1975, S. 78ff; zur Erledigung von Verwaltungsaufgaben durch Private vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1985, §23 Rdn.56ff, S. 474 ff.
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von den Entwicklungslinien der Rechtsprechung zum Staatskirchenrecht 12 . Das Tatbestandsmerkmal der unentbehrlichen Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe wird problematisch, wenn die betroffene Kirche nicht als Beliehene auftritt, sondern mit den Sachen eigene Aufgaben kraft eigenen Auftrags verfolgt. Kann dann die bloße Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts das weitere Erfordernis der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe erübrigen? Weder im Staatskirchenrecht noch sonst im öffentlichen Recht gestattet allein der Körperschaftsstatus, auf die Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu schließen. Denn aus dem Körperschaftsstatus als solchem folgt nicht, alle Tätigkeit unter dieser Flagge sei allein darauf gerichtet 13 . Daher rührt die Kumulation der Tatbestandsvoraussetzungen des § 882 a Abs. 2 Z P O . Neben dem Status muß es auch die Funktion betreffen; es muß um Sachen gehen, die zur Erfüllung einer öffentlichen Funktion unentbehrlich sind, sollen die Vollstreckungsverbote greifen. Nach allem treten neben das Erfordernis der Rechtsform weitere Voraussetzungen, die in der Form nicht notwendig enthalten sind. Dies zeigt eine Regelungslücke zu Lasten der Kirchen, schon unabhängig von der Form. Denn auch Körperschaftskirchen genießen de lege lata nicht immer Vollstreckungsschutz. Verwenden sie die Sachen nicht zur unentbehrlichen Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe weltlichen Rechts, so haben sie keinen Sonderstatus in der Zwangsvollstreckung. Im übrigen ergibt sich eine weitere Regelungslücke für Kirchen privater Rechtsform. Diese Kirchen besitzen nicht die erforderliche Form, um die Vollstreckungsverbote zu beanspruchen. Vereinskirchen können daher allenfalls im Wege der Analogie unter den Schutz anderer Vollstreckungsgrenzen kommen, sofern Interessenlage und Schutzzweck es gestatten. Ist ein ausreichender Schutz dadurch nicht zu sichern, so wird eine entsprechende Gesetzgebung erforderlich. Nach dem Vorbehalt des förmlichen Gesetzes sind allseits - hier nachhaltig zwischen Schuldner, Gläubigern und Gläubigen - quasi „ grundrech tsre-
12 Vgl. K. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdbStKirchR Bd. I 1974, S. 409 ff; W. Geiger, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, ZevKR 26 (1981), S. 156 f f ; / . Wieland, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, Der Staat 26 (1987), S. 321 ff; auch A.Pahlke, Kirche und Koalitionsrecht, 1983, S . 7 2 f f ; jetzt auch D.Ehlers, Z e v K R 32 (1987), S. 158 ff. 15 Eingehend dazu B.Keihl, Das staatliche Recht der res sacrae, 1977, S. 75 ff (78 ff); E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, S. 485 ff; bes. auch H.P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 437 ff; nicht vorlag bei Ausarbeitung M.Kromer, Sachenrecht des Öffentl. Rechts, 1985, S. 30 ff, 76 ff.
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levante" Rechtszusammenhänge im wesentlichen durch parlamentarisch-demokratisches Gesetz zu regeln14. 5. Vor dieser Konsequenz ist allerdings ein Exkurs in die Entstehungsgeschichte des Normbestandes veranlaßt; auch empfiehlt sich ein Blick auf Alternativen, eine rechtsvergleichende Perspektive und vor allem eine nähere Erörterung der einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dabei wird das Verhältnis von öffentlichen Aufgaben, eigenem Auftrag der Kirchen und öffentlichem Interesse nach weltlichen Rechtsbegriffen und kirchlichen Verpflichtungen gemäß bedeutsam für die Erfordernisse einer künftigen rechtlichen Gestaltung. Grundrechte kommen hinzu. II. 1. Wie das Bundesverfassungsgericht ausführt 15 , diente die Schaffung der bundesrechtlichen Zwangsvollstreckungsverbote zugunsten der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben der Rechtsvereinheitlichung. Die vorausgehende Rechtslage war - auch für den Bund - dem Landesrecht zu entnehmen. Dieses war unterschiedlich und diffus, an vielen Stellen u n k l a r o d e r e r g ä n z u n g s b e d ü r f t i g , wie Ernst Forsthoff
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Huber-
Simons in Einzelheiten nachgewiesen haben16. Die Novellierung der Zivilprozeßordnung im Jahre 1953 sollte daher zunächst für den Bund eine einheitliche Regel schaffen. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages erweiterte den Regierungsentwurf. Er wollte alle Körperschaften, Anstalten und Stiftungen öffentlichen Rechts - nicht nur die des Bundes - erfassen. Dem trat der Bundesrat entgegen; er sah die Gemeinden und Gemeindeverbände in dieser Frage dem Kommunalverfassungsrecht der Länder unterstellt, wie er Art. 74 N r . 1 und Art. 70 G G entnahm. Daher rührt die Herausnahme der kommunalen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen aus der Regelung. Dies blieb insoweit die einzige Ausnahme. Mit ihr wurden die Vorschläge des Rechtsausschusses des Bundestages Gesetz17. Die Verwaltungsgerichts-
14 Etwa F. Rottmann, Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, E u G R Z 1985, S. 277 ff u. in einem besonderen Bereich M. Kloepfer, Arbeitsgesetzgebung und Wesentlichkeitstheorie, N J W 1985, S. 2497 ff; vgl. i.ü. unten Fn.68. 15 BVerfGE 60, 135, 158 ff. 16 E. Forsthoff, T. Huber-Simons, Die Zwangsvollstreckung gegen Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts, 1931. 17 Vgl. Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung v. 20. August 1953 (BGB1.I S.952); zur Geschichte der Gesetzgebung BVerfGE 64, 135, 138 f, 158 ff.
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Ordnung folgt dem nicht mehr, sie geht weiter, wie 1965 die Finanzgerichtsordnung und 1978 der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung; diese erfassen bundesrechtlich auch die kommunale Ebene 18 . Die Geschichte der Gesetzgebung ergibt eine Begünstigung von Kirchen nicht, soweit sie sich öffentlich-rechtlicher Organisationsformen bedienen. Diese Frage war Ernst Forsthoff und Tula Huber-Simons b e w u ß t " im Blick auf die damaligen landesrechtlichen Zwangsvollstrekkungsprivilegien und Pfändungsverbote. Sie ist in Vergessenheit geraten. Das erklärt die Gründe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Konkursfähigkeit von Kirchen, d. h. zum Streit um das Konkursausfallgeld kirchlicher Einrichtungen. 2. Denn der Gesichtspunkt der Zuständigkeit der Länder aufgrund der Kompetenzordnung des Grundgesetzes gilt nicht nur für das Kommunal" und Kommunalverfassungsrecht, sondern auch für das Kultusverwaltungsrecht, das das Staatskirchenrecht insbesondere belebt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Konkordatsstreit schon gezeigt20. Dessen Grundsätze gelten an sich auch für die vorliegende Frage. Danach fallen Angelegenheiten der Kultushoheit und des zugehörigen Aufsichtsrechtes 21 in die Zuständigkeit der Länder gemäß Art. 30, 70, 83 G G . Dies betrifft auch die Staatsaufsicht über Körperschaften und Vereinigungen, darunter in Grenzen über Religionsgesellschaften, nicht nur im Blick auf ihr Finanzgebaren. Hierzu gehören die Materien des Staatskirchenrechts bis hin zu Regelungen für das Kultus-, Verwaltungsund Finanzvermögen von Kirchen 22 . 3. Die These vor einer verfassungsunmittelbar begründeten absoluten Konkursunfähigkeit von Körperschaftskirchen erstaunt daher nicht: Sie erlaubt, aus dem Kompetenzdickicht zu fliehen. Diese Fragen zwischen Bund und Ländern entfallen. Die Pflicht zur Zahlung von Konkursausfallgeld durch Kirchen und ihre Einrichtungen erledigt sich, sind erstere nur Körperschaften öffentlichen Rechts. Die bundesrechtlich begründete Zahlungspflicht verlor ihre Abhängigkeit von einer landesrechtlich geprägten, unterschiedlichen Rechtslage. Die verfassungsunmittelbare A n k n ü p f u n g schafft eine bundesrechtliche Lösung, wäre es doch ande'» V w G O v. 21.1.1960 (BGBl. I S.17) §170; F G O v. 6.10.1965 (BGB1.I S. 1477) §152; wie die Z P O noch SGG v. 3.9.1953 (BGB1.I S. 1239, 1326) §198 Abs. 1. " aaO (Fn. 16) S.lOff. 20 BVerfGE 6, 309, 353 ff - Nieders. Konkordatsstreit - . 21 Zur Kompetenzfrage vgl. U. Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, HdbStKirchR Bd.I 1974, S. 5 ff (44 ff); für die Grenzen der Aufsicht E. Friesenhahn (Fn.9), S. 545 ff (567 ff) u.J.Jurina, Die Religionsgemeinschaften mit privatrechtlichem Rechtsstatus, ibid., S. 577 ff (597 f, 601 f). 22 Zu anderen Klassifikationen Ch. Meyer (Fn. 5), S. 101 ff u. S. Marx (Fn. 5), S. 119 ff.
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renfalls wie bisher bei dem diffusen landesrechtlichen Bild gemäß dem Einführungsgesetz zur Konkursordnung auch für Kirchen geblieben, wonach nämlich die Länder über die Konkursfähigkeit von Körperschaften öffentlichen Rechts in ihrem Bereich zu entscheiden befugt waren und im übrigen unverändert sind". Die Komplexität der Rechtslage ist allerdings bis heute in Wahrheit kaum gemildert, will man die - konkurrierende - Zuständigkeit des Bundes nicht aus Art. 74 N r . 1 G G - Gerichtsverfahren - nehmen, um insoweit die Zuständigkeit der Länder kraft Kultushoheit zu verdrängen. Auch hat die ZPO-Novelle 1953 den Ländern die Gestaltungsfreiheit nicht voll entzogen; sie schuf vielmehr eine Lücke durch Aufhebung einer Vorschrift, unterbrach damit einen statischen Verweisungszusammenhang. Das konnte nicht zu einem Kompetenzentzug zu Lasten der Länder führen, die kraft anderer konstitutiver Kompetenz sogleich in diese Lücke traten 24 ; darüber hinaus ist weder für die Einzelzwangsvollstreckung noch für den Konkurs die entstandene Regelungslücke kraft Bundesrecht wirksam geschlossen, sofern der Bund abschließend nicht regeln durfte oder wollte, oder seine Regeln Lücken lassen. Aus Kompetenz- und Sachgründen werden somit Vollstreckungsverbote zugunsten der Erfüllung öffentlicher Aufgaben weltlichen Rechts auch für Körperschaftskirchen problematisch; darüber hinaus, wenn sie entgegen dem Bundesverfassungsgericht nicht in Erfüllung „öffentlicher Aufgaben" im Sinne dieses Verbotes, sondern bloß kraft „eigenen Auftrags" handeln" — abgesehen von der Alternative entgegenstehenden öffentlichen Interesses gemäß § 882 a Abs. 2 Z P O . 4. Gelten die Pfändungsverbote für bestimmte Sachen als Teil des Gerichtsverfahrens nach Art. 74 N r . 1 G G , so vereinfachen sich die Kompetenzfragen. Die Brisanz in kultus- und aufsichtsrechtlicher Hinsicht schwindet mit dieser Perspektive, wie die Verwaltungs- und die Finanzgerichtsordnung und der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung für die kommunale Ebene es schon tun. Der Bund erscheint danach zur Gesetzgebung befugt 26 , hat die Kompetenz aber nicht erschöpft. 23 Vgl. zum Fortbestand der Landeskompetenz BVerfGE 60, 135, 156ff; 65, 359, 375ff; jetzt auch BVerwG Urt. v. 14.11.1985 - 3 C 51.81 - S.23 d . U . ; ähnlich BVerwG Urt. v. 2 8 . 1 1 . 1 9 8 5 - 3 C 90.81 - . 24 Dazu BVerfGE 66, 1, 18 f. 25 BVerfGE 66, 1, 21 - dabei kommt es hier nicht darauf an, ob man den Körperschaftskirchen die Ausübung öffentlicher Gewalt zuschreibt, denn dies ist eine Frage der Handlungsform. 26 Siehe dazu Th.Maunz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 74 Rdn. 79 und für V w G O u. F G O Nachw. oben (Fn. 18) sowie Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung
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Unabhängig von den materiellen Voraussetzungen der heutigen Zwangsvollstreckungsverbote zugunsten der Erfüllung öffentlicher Aufgaben ist diese kompetenzrechtliche Lösung für die Einzelzwangsvollstreckung in bestimmte Sachen auch vertretbar. Sie greift weder in den engeren Bereich der Kultushoheit noch in die beschränkte Aufsicht über Religionsgesellschaften ein. Es geht nicht um die wirtschaftliche Existenz und den Fortbestand schlechthin von Kirchen - Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen - unbeschadet ihrer Rechtsform. Ebenso kann für Religionsgesellschaften privatrechtlicher Form in der Einzelzwangsvollstreckung das Interesse der Rechtsvereinheitlichung kompetenzrechtlich den Ausschlag geben. Im Konkurs solcher Gesellschaften greifen die Pfändungsverbote der Einzelzwangsvollstreckung ohnehin, sind ihre Voraussetzungen erfüllt. Auch das nimmt den Ländern nichts von ihrer Kompetenz. 5. Dem Regelungszweck der Funktionssicherung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben genügt diese Sicht der Kompetenzfragen. Für Einzelzwangsvollstreckung und Konkurs setzen die geltenden Pfändungsverbote jedoch voraus, daß in der Tat mit der Sache eine öffentliche Aufgabe erfüllt wird oder ein öffentliches Interesse deren Veräußerung im Vollstreckungsverfahren entgegensteht. Die beiden Begriffe öffentliche Aufgabe oder öffentliches Interesse - bezeichnen ein weiteres Tatbestandsmerkmal, dem eine spezifische Zielsetzung zugrunde liegt. Erforderlich ist über die F o r m hinaus die Erfüllung einer materiellen Voraussetzung. N u r dann ist der funktionale Zusammenhang der Funktionssicherung als Grundlage des Pfändungsverbotes gewahrt. Die Zielsetzung der N o r m hat daher materiell, nicht nur formell Bedeutung. Entsprechend sind die Voraussetzungen zu handhaben. O b Kirchen ihnen genügen, hängt zunächst davon ab, ob sie mit den Sachen tatsächlich öffentliche Aufgaben erfüllen oder das öffentliche Interesse deren Veräußerung entgegensteht. Bei Auslegung beider Tatbestandserfordernisse ist das Ende der Staatskirche gemäß Art. 140 G G i . V . mit Art. 137 Abs. 1 W R V zu berücksichtigen 27 . Es zeigt, kirchliche Aktivitäten können nicht in gleicher Weise wie vordem bis 1919 als Tätigkeiten in Erfüllung unerläßlicher, auch weltlicher Aufgaben oder eines öffentlichen Interesses zu verstehen sein.
(1978) § 199 mit Begründung, S. 86, 414 ff; dazu W. Zeiss, Gedanken zum Vollstreckungsmodell der neuen Verwaltungsprozeßordnung, ZRP 1982, S. 74 ff (80); die sog. Versteinerungstheorie kann schwerlich anzuwenden sein, zu dieser R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 130 ff, 42 f; maßgeblich dürften hier Gesichtspunkte aus BVerfGE 36, 193, 203 - Zeugnisverweigerungsrecht v. Presseangehörigen - werden. 27 Etwa AK-GG-Preuß, Art. 140 Rz.2, 41 f.
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Die Disponibilität der Rechtsform für die Kirchen, wie sie jüngere Entscheidungen betonen28, die freie Wahl der Rechts- und Organisationsformen, auch sie zeugen von der Notwendigkeit eines materiellen Verständnisses der öffentlichen Aufgabe und des öffentlichen Interesses im vorliegenden Zusammenhang 29 . Denn die historischen Anknüpfungspunkte der Organisationsformen des öffentlichen Rechts - darunter die öffentliche Aufgabe der Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des staatlichen öffentlichen Rechts30 - können die Kirchen nach dem Ende des Staatskirchentums nicht mehr erfüllen. Die Disponibilität der Rechts- und Organisationsformen bewirkt die Verselbständigung dieser Figuren gegenüber ihren früheren materiellen Voraussetzungen, die im staatlichen öffentlichen Recht für dessen Einrichtungen fortbestehen, soweit es um Aufgaben der öffentlichen Verwaltung geht. Ebensowenig kann der Staat den Kirchen öffentliche Aufgaben staatlichen Rechts oder sein öffentliches Interesse ansinnen. Auf beiden Seiten ist eine rechtsförmige Distanz trotz freundschaftlicher Verhältnisse geboten. Solche Distanz zeigt sich auch in den Anforderungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus an Kirchen gemäß Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV, Art. 140 GG, verglichen mit dem staatlichen Organisationsrecht. Erforderlich sind nur eine Verfassung und eine Zahl der Mitglieder als Gewähr der Dauer der betroffenen Religionsgesellschaft, um den Körperschaftsstatus zu erlangen31; im Verwaltungsrecht ist darüber hinaus in der Regel eine öffentliche Aufgabe Voraussetzung des Körperschaftsstatus oder anderer besonderer Formen öffentlichen Rechts, anders als im Staatskirchenrecht. Der Staat ist gegenüber Religionsgesellschaften zu Neutralität verpflichtet. Er kann deshalb Aufgaben und Interessen nicht abschließend
28 Vgl. BVerfG u. BVerwG (Fn. 8); dazu jetzt auch H.Weber, Rechtsschutz und Rechtsweg für Anspruch der Kirche auf Rückzahlung eines kirchlichen Ausbildungsdarlehens, NVwZ 1986, S. 363 ff (365) m.N. 29 Zum Begriff des öffentlichen Interesses W. Martens (Fn. 4) u. P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 49 f, 212 f u. passim mit Bezug zum Begriff der öffentl. Aufgabe; heute etwa F. G. Schuppert, Die öffentliche Aufgabe als Schlüsselbegriff der Verwaltungswissenschaft, VerwArch 71 (1980) S. 309 ff mit Nachw., aber ohne Ertrag für den vorliegenden Zusammenhang. 30 Dogmatisch B. Keihl (Fn. 13); für die frühe Distanz des Kirchenrechts K.-J. Bieback, Die öffentliche Körperschaft 1976, S. 219 ff, 422ff;i. ü. jetzt E. Tb. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1987, zum staatlichen Bereich. J1 Hier kann die Struktur des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV, Art. 140 G G nicht weiter untersucht werden, insbesondere bleibt dahingestellt, ob er Ermessen beläßt, falls die aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind - eine heute rechtstheoretische Frage, vgl. aber A. v. Campenhausen (Fn. 9) S. 102 ff mit Nachw.
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bewerten. Die Neutralität folgt aus der Glaubensfreiheit, sie ergibt sich nicht erst aus der freien Wahl der Formen 32 . D e m entspricht das Ende der traditionellen Staatsaufsicht im Staatskirchenrecht 33 . Der Staat vermag sie nicht mittelbar wieder zu beleben, indem er die Tätigkeiten und die Zwecke von Kirchen und Religionsgesellschaften allgemein seinen Funktionen und Aufgaben gleichstellt oder sie auf diese Weise seinem öffentlichen Interesse zuordnet. Das würde die Freiheiten des Glaubens und der Kirchen in die Gefahr einer zu großen Nähe zum Staat bringen. Unbeschadet solcher - untersagter materieller Wertungen bleibt es allerdings auch heute unbenommen, die Einzelzwangsvollstreckung gegen Kirchen und Religionsgesellschaften zu beschränken, mit Folgen auch für den Konkurs von Kirchen privatrechtlicher Form, der nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unverändert möglich ist. Im Ergebnis kann daher der Staat den Interessen der Kirchen entgegenkommen, ohne sie dadurch materiell seinen Rechtsvorstellungen zu unterwerfen.
III. 1. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht nicht davon aus, den Kirchen stehe sozusagen im Sinne der Tradition der zwei Reiche Immunität zu, die unter Staaten in der Zwangsvollstreckung von Bedeutung ist34. Vielmehr sucht sie, jedenfalls den Körperschaftskirchen Vollstreckungsschutz zu sichern; sie bejaht die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe; diesen Kirchen bleiben die Gegenstände erhalten, die dafür unentbehrlich sind, auch in der Zwangsvollstreckung 35 . Dabei unterscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht Kultus-, Verwaltungs- und Finanzvermögen. Diese Differenzierung ist auch im Verwaltungsrecht schwierig 36 . Sie wird im Falle der Kirchen etwas erleichtert dank der Unterscheidung von res sacrae und res circa sacra, der verschiedene landesherrliche Befugnisse - ius in sacra, ius circa sacra - im partikularen Recht des Staatskirchentums traditionell entsprachen 37 ; ebensowenig knüpft das Gericht an Religionshandlungen im Sinne der Religionsausübung gemäß Art. 4 Abs. 2 G G oder an die Kirchengutsga-
52 Vgl. dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985, Rdn. 160 f; u. vor allem Kl. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 236 ff. 33 Dazu E. Friesenhahn (Fn. 9). 34 Dafür BVerfGE 64, 1, 35 ff, 44 - Staatenimmunität und ihre Grenzen - . 35 BVerfGE 66, 1, 21. 36 Vgl. eingehend W. Miedtank (Fn. 7) S. 54 ff. 37 Dazu nur exemplarisch Kl. Schiaich, Kollegialtheorie, Kirche, Recht und Staat in der Aufklärung, 1969, S. 247 ff, 295 ff.
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rantie als Verstärkung des Eigentumsgrundrechtes an38. Vielmehr vollzieht es eine Identifikation von öffentlicher Aufgabe und eigenem Auftrag. Seit dem Ende der Staatskirche aber steht dagegen das Prinzip der „Nichtidentifikation" 3 9 . Schließlich unterläßt das Gericht es, den anderen Maßstab eines entgegenstehenden öffentlichen Interesses zu nennen, etwa im Sinne eines öffentlichen Bedürfnisses oder einer sozusagen simultanen oder paritätischen religión civile der Körperschaftskirchen 40 , die durch Pfändungsverbote für bestimmte Sachen gesichert wäre, oder im Sinne einer zulässigen denkmals- oder religionspflegerischen, auch kunsthistorischen Perspektive des säkularen Staates, der nicht die Konfession, sondern ihr jeweils geschichtlich verdinglichtes Substrat einem gewissen Schutz unterstellt. Dieser Schutz könnte sich beschränken auf den Kreis der partikular in numerus clausus tradierten res sacrae der Körperschaftskirchen und solcher Kirchen, die trotz ihrer privatrechtlichen Form im Landesrecht öffentliche Sachherrschaft kraft Verleihung ausüben konnten, wie sie preußische oder bayerische Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts ergeben 41 . Ein derartiges öffentliches Interesse wäre legitim, es bliebe nur das Problem der Gleichbehandlung aller Konfessionen. Sie ist möglich, wenn es zu einer entsprechenden Praxis im Fall der Körperschaftskirchen kommt und sich künftige Regelungen zugunsten von privatrechtsförmigen Kirchen streng auf Pfändungsverbote für Kultusgegenstände beschränken; karitative oder geschäftliche Aktivitäten wären nicht erfaßt. Eingriffe in das Verwaltungs- oder Finanzvermögen sind dennoch zu unterbinden, sofern sie erdrosselnde Wirkung für die Religionsausübung selbst, d. h. für Kultushandlungen gemäß Art. 4 Abs. 2 G G besitzen. Das Gericht nennt vielmehr „die Erfüllung öffentlicher Aufgaben der Kirchen" und „die Verwirklichung des kirchlichen Auftrages" in einem Atemzug als die Vorgänge, welche einen Zugriff des Konkursverwalters 38 Z u m Verhältnis von Art. 14 G G und Art. 138 Abs. 2 W R V vgl. Th. P. Die Kirchengutsgarantien, 1971, S. 14 ff.
Wehdeking,
59 Vgl. dazu H.Krüger, Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, DVBl. 1951, S. 361 ff ( 3 6 3 ) ; ders., Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff; dazu Kl. Schiaich, (Fn. 32), S. 186 ff, 2 3 6 ff. 40 Z u m Simultaneum an den res sacrae früher E. Forsthoff, Res sacrae, A O R 31 (1940), S. 2 0 9 ff (236 ff) ;A. Albrecht, Staatliche Simultaneen, HdbStKirchR Bd. II 1975, S. 161 ff. 41 Dazu die Auffassungen von K. Hesse, Das neue Bauplanungsrecht und die Kirchen. Zur Auslegung des Art. 138 Abs. 2 R V , Z e v K R 5 ( 1 9 5 6 ) S. 62 ff (65 A n m . 8) u. W. Weher, Zur staatskirchenrechtlichen Bedeutung des Rechts der öffentlichen Sachen (1964), in: ders., Staat und Kirche in der Gegenwart, 1978, S.271 ff (278); beide zitieren den Katalog der res sacrae; exemplarisch B a y O L G U r t . v. 1 2 . 1 2 . 1 9 8 0 - R R e g 2 Z 1 4 6 / 7 9 - BayVBl. 1981, S . 4 3 8 f f ( 4 4 0 ) ; zum Schutz sakraler Zonen vgl. auch aus U . S . A . Larkinv. Grendel's Den, 4 5 9 U S 116 = 103 S. Ct. 505 (1982).
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— und ebenso eines anderen Vollstreckungsorgans - hindern. Genannt werden weiter „verfassungsrechtlich geschützte Aufgaben" der „hier angesprochenen kirchlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts", um alsdann „Lehre, Seelsorge, Gottesdienst und Sakramentenspendung" nicht nur zu nennen, sondern darüber hinaus alle Tätigkeiten, zu denen die Kirchen nach ihrem Selbstverständnis berufen sind, um ein Stück Auftrags der Kirche in der Welt wahrzunehmen und zu erfüllen42. Dies offene Verständnis - es liegt in der Linie der Rechtsprechung zum Verhältnis von Schutzbereich und Selbstbestimmung im Falle der religionsrechtlichen Garantien des Grundgesetzes 43 - führt zu erheblichen Weiterungen, die die Diskussion der Rechtsprechung ebenso wie diese selbst beherrschen 44 . 2. Verständlich wird diese Entwicklungslinie vor dem Hintergrund der hervorgehobenen Stellung der Kirchen nach dem Kriege. Sie schloß eine weite Lücke in der geschichtlichen Legitimation der eigenen Identität des Landes. Diese Entwicklung mündete in die Formulierung eines spezifischen „Offentlichkeitsauftrages" der Kirchen 45 . Die Distanz zwischen jenem „Offentlichkeitsauftrag" und der öffentlichen Aufgabe im konkreten Rechtszusammenhang öffentlich-rechtlicher Körperschaften überbrückt dabei ein anderer offener Begriff der „öffentlichen Aufgabe", nämlich ein solcher aus dem eigenen Selbstverständnis. Der Begriff gewinnt dadurch nicht eine gouvernementale, dirigierende Funktion, wie es des öfteren, etwa für die Presse, nicht ausgeschlossen oder gar intendiert erschien 46 . Einer autoritativen Anlehnung soll die Anknüpfung an das Selbstverständnis entgegenwirken, die sich auch in der Rechtsprechung oft findet47. Dies ändert aber nichts an der sprachlichen Näherung weltlicher und anderer öffentlicher Aufgaben; sie gehören 42 Vgl. BVerfGE 66, 1, 21; in der Literatur etwa Tb. Maunz, Der öffentliche Charakter der kirchlichen Aufgaben, Festschrift für E. Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 229 ff (238 ff). 43 Teils wird hier eine gewisse Korrektur in BVerfGE 70, 138, 165 ff, angedeutet gesehen, indem dort Selbstverständnis i. S. v. Befugnis und Sanktionierung getrennt werden; letztere wird dem Staat zugewiesen; i. ü. A. Hollerbach, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (II), A Ö R 106 (1981), S. 218 ff (236 ff). 44 Etwa H. Weber, Gelöste und ungelöste Probleme des Staatskirchenrechts, NJW 1983, S. 2541 ff (2551 f). 45 Dazu W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, 1973, S. 550 ff; Kl. Schiaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, HdbStKirchR Bd. II 1975, S. 231 ff; krit. etwa H. Zwirner, ZevKR 23 (1978) S.429ff (440); für die Entwicklung auch H.P.Bull (Fn.13) S.376ff (390 f). 44 Vgl. W.Martens, (Fn.4) S. 124ff. 47 Allerdings Andeutung einer Differenzierung von öffentl. und karitativen Aufgaben nun in BVerfGE 70, 138, 164 u. passim; auch BVerfG B. v. 14.5.1986 - 2 BvL 19/84 DVB1. 1986, S. 1101 u. ff.
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nicht zusammen, sollen die Rechtsgarantien der Kirchen und ihrer Mitglieder, die Grundlagen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und insbesondere auch die rechtsgestaltende Zuordnung der Rechte Dritter beiden gegenüber im Gleichgewicht verbleiben. Jedenfalls wird ein Begriffsspiel die Rechtsverhältnisse nicht ändern. Hierfür bedarf es parlamentarischer Gesetzgebung, auch dort, wo es um gemeinsame Angelegenheiten, vermögensbezogene Aspekte der res mixtae, geht. Gewiß ist ein „Offentlichkeitsauftrag" der Kirchen als Ausdruck kirchlichen Selbstverständnisses und eigenen Auftrags möglich; dieser „Öffentlichkeitsauftrag" ist aber keine Figur des staatlichen Rechts, ihm gehört er nicht an. Daher hat diese Figur keinen Einfluß auf das öffentliche Recht des Staates. Eine freie Kirche in einem demokratischen Gemeinwesen wird einen „Offentlichkeitsauftrag" im staatlichen Sinne nicht beanspruchen. Ebensowenig kann das staatliche Recht seinerseits eine zu große Nähe der öffentlichen Aufgaben oder des öffentlichen Interesses nach staatlichem Recht zum kirchlichen Auftrag herbeiführen. Ohnehin stehen im staatlichen Recht öffentliche Aufgabe und öffentliches Interesse in einer spezifischen besonderen Beziehung zueinander 48 . Eine Nähe auch zum kirchlichen Auftrag ließe jedenfalls die Körperschaftskirchen als bloße selbständige Verwaltungseinheiten erscheinen, die tun, was auch der Staat tun könnte. Sie wären nicht autonome, eigenständige und selbstverwaltete Strukturen, die ihrem eigenen Auftrag dienen, aus ganz anderen Wurzeln als die staatliche Ordnung und ihre Aufgaben 4 '. Dies gilt unabhängig von der kommunalrechtlichen Unterscheidung von bloß öffentlichen und auch staatlich öffentlichen Aufgaben 5 0 . Denn die spezifische Unterscheidung ergibt sich auch hier aus der Sache, sie erlaubt keine begriffliche Annäherung eigenständiger Tätigkeit an staatliche, weltliche öffentliche Aufgaben, bis sie schließlich austauschbar wären. Eine begriffliche Klärung muß vom Gegenstand ausgehen. Im Falle der Kirchen ergibt sie sich aus ihrer primären Rechtsgrundlage, die nicht im weltlichen Recht liegt, sondern in der Glaubensfreiheit des einzelnen und in den besonderen Formen der Assoziationsfreiheit unter dem Regime dieses Grundrechtes, eine Grundlage, die eben nicht allein im Rechtsregime staatlicher Rechtssätze und des politischen Gemeinwesens weltlicher Ordnung zu suchen ist.
48 Etwa P. Mikat, Staat, Kirchen u. Religionsgemeinschaften, H d b V e r f R 1983, S. 1059 ff (1063, 1077 ff). 49 Vgl. W. Martens (Fn. 4) S. 141 f. 50 D a z u H.H.Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, D Ö V 1965, S. 7 5 5 f f ; H.P. Bull (Fn. 13) S. 51 ff.
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Auch nach dem Kriege nicht, ebensowenig wie heute im demokratischen Gemeinwesen, war die Unterscheidung von eigenem Auftrag und öffentlicher Aufgabe in einer überraschenden Funktion der Kirchen aufgehoben, eine Funktion, die vor allem gestattete, Integrität und Identität des Landes fortzutragen, als die öffentliche Ordnung diskreditiert, neu zu konstituieren war. Eine demokratische Ordnung verhält sich nicht anders, auch wenn sie engere Nachbarschaft behauptet: Das ändert nichts an der Distanz in eigenen Angelegenheiten, an der Unterschiedlichkeit der Legitimationsgrundlagen und deshalb auch nichts an der gänzlich verschiedenen Eigenart und Reichweite der Aufgaben 51 . Demgegenüber ist das öffentliche Interesse eine bloß weltliche, staatliche oder kommunale Kategorie. Sie kann allein als solche Erfordernissen der Rechtszuordnung zwischen Gläubiger und Schuldner - Gemeinschuldner, Konkursverwalter und Gläubigern im Falle privatrechtsförmiger Kirchen - nicht genügen. Hier bedarf es der näheren legislativen Ausgestaltung. Es fehlt der Duktus einer steten Judikatur. Das ist angesichts der tradierten Strukturen, der relativen religiösen Stabilität und der Homogenität der Bevölkerung sowie des bisherigen Finanzierungssystems nicht erstaunlich. Im Vorgriff auf künftige Entwicklungen bedarf es aber einer näheren Regelung, die selbst differenziert 52 . Auch eine zufällige Identität zwischen öffentlichem Interesse oder öffentlicher Aufgabe und dem kirchlichen Auftrag kann nichts anderes begründen. Der Vollstreckungsschutz würde von einer okkasionellen Ubereinstimmung ganz unterschiedlicher Dinge abhängen. Anknüpfungspunkt wären nicht die einschlägigen Rechtsgarantien der Religionsfreiheit und des Staatskirchenrechts. N u r sie gewähren einen hinreichend umrissenen Schutz der involvierten Rechte und Interessen. Eine öffentliche Aufgabe oder ein öffentliches Interesse weltlichen Rechts im Sinne staatlichen Vollstreckungsschutzes ist nicht schon gegeben, wenn der kirchliche Auftrag erfüllt wird. Eine Ausnahme davon bildet die Beleihung von Kirchen, die der Beleihung Privater mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben entspricht. Selbst wenn es also um Körperschaftskirchen geht, sind doch die eigenen Maßstäbe des § 882 a Abs. 2 Z P O nur erfüllt, wenn ein weltlicher Bezug zwischen Sache und öffentlicher Aufgabe vorliegt. Daher reicht diese Vorschrift angesichts der freien Religionsausübung nicht aus. 51 Siehe auch die Denkschrift „Evang. Kirche und freiheitliche Demokratie", Gütersloh 1985, die allerdings distanzierte Reaktionen aus Kirchen in der D D R ausgelöst hat - eine Distanz, die eine Erfahrung zeigt; es wird der O r t reflektiert, in dem man sich verhält, vgl. K. Raiser, Einheit der Kirche und Einheit der Menschheit, Ökumenische Rundschau 35 (1986) S. 18 ff (36 f). 52 D a z u W.Martens ( F n . 4 ) S. 169 ff (186 ff); vgl. i. ü. die E K D - S t u d i e vom Frühsommer 1986 „Strukturbedingungen der Kirchen auf längere Sicht".
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3. Alternative Lösungen nach geltendem Recht fehlen. Wie schon angedeutet, die sonstigen Pfändungsverbote, auch solche im Interesse von Grundrechten, sind einer Analogie zugunsten der Kirchen nicht fähig. Die Auflistung der unpfändbaren Sachen der persönlichen Sphäre des Schuldners sowie die Austauschpfändung nach §§811, 811a ZPO haben keinen Bezug zum kultischen Sachgebrauch religiöser Kommunikation. Ebensowenig vermögen sie zwischen Kultus-, Verwaltungs- und Finanzvermögen eine Schneise zu schlagen, die eine Rechtsanalogie eröffnet und eine Neuregelung erübrigt. Die Judikatur, veranlaßt aus Grundrechten der weltlichen Kommunikation, erlaubt das nicht 53 . Das Verhältnis von Kirchengut und Staatsgewalt 54 unterliegt anderen Gesetzen. Hier ist nicht die Gewährleistung einer persönlichen Sphäre und die Konstituierung der eigenen Person im Sinne der Selbstbestimmung über die eigene Darstellung 55 maßgeblich. Es kommt vielmehr auch zum Ausdruck, in welchem Maße Glaubensausübung immer schon öffentlich, auf Interaktion gerichtet einer Sachgesetzlichkeit unterworfen ist, die nicht aus der einzelnen Persönlichkeit allein gebildet, erst unter Menschen sich ergibt. Hierfür bedarf es oft sächlicher Mittel, die in Anknüpfung an historische und verwaltungstechnische Differenzierungen - res sacrae, res circa sacra, Kultus-, Verwaltungs- und Finanzvermögen - zu ordnen sind. Die sächliche, teils symbolische Darstellung eines geistigen Prozesses der Glaubensausübung ist angewiesen auf eine gewisse Ausstattung ihres Bestandes und ihrer Kontinuität. Daher genügen Vorschriften über die Pfändbarkeit von Geldbeträgen oder von künftigen Eingängen nicht 56 ; deshalb auch muß die Analogie zu einem individuell, an den Bedürfnissen des einzelnen orientierten Katalog der Unpfändbarkeit scheitern. Interessenlage und Lebensverhältnisse gleichen sich hier nicht. 4. Die Lage der Religionsgesellschaften privatrechtlicher Form macht das Regelungsbedürfnis noch deutlicher: Sie unterliegen nicht dem § 8 8 2 a ZPO; Einzelzwangsvollstreckung und - hier möglicher - Konkurs folgen allgemeinen Regeln. Sie können den besonderen Aspekten nicht genügen. Glaubensfreiheit, freie Religionsausübung und Kirchenfreiheit gelten auch hier. Sie sind dem Interesse der Gläubiger zuzuordnen. Es verlangt die Unterscheidung von Kultus-, Verwaltungs- und Finanzvermögen. Das Kultusvermögen solcher Religionsgesellschaften 55 Vgl. etwa zum Schutz der persönlichen Sphäre des Schuldners Baumbach-Lauterbach-Albers-P. Hartmann, (Fn. 5) Anm.3 A u. B zu §811 ZPO. 54 Grundlegend J.Heckel, Kirchengut u. Staatsgewalt, Festschrift f. R. Smend, 1952, 5. 103 ff. " Siehe nur BVerfGE 54, 208, 217ff - Boll - mit Nachw. 56 Vgl. W. Miedtank (Fn. 7) S.59f.
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soll - jedenfalls ohne besondere Verleihung - keinen besonderen Schutz als Inbegriff der res sacrae genießen, weil der Körperschaftsstatus fehlt". Das verletzt die religionsrechtlichen Garantien in der Zwangsvollstrekkung. Denn eine Analogie zu § 882 a Abs. 2 Z P O unter Bezug auf den Sachinbegriff der res sacrae im Staatskirchenrecht ist nicht möglich. Dies gilt auch, wenn man mit Werner Weber die res sacrae in Art. 138 Abs. 2 W R V , Art. 140 G G resortieren läßt, und daher aus dieser besonderen Eigentumsgarantie selbst im Verhältnis zu den anderen Grundrechten die Erforderlichkeit einer legislativen Ausgestaltung nimmt 58 . Dennoch wird im Falle dieser Religionsgesellschaften die Zwangsvollstreckung als Eingriff in ein Grundrecht zunächst frei von körperschaftlichen Weiterungen sichtbar 59 : Art. 138 Abs. 2 W R V gewährleistet das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen, wobei hier die Unterscheidung erfolgt nach den Zwecken der Einrichtungen, nicht nach öffentlichen Aufgaben oder öffentlichem Interesse. Anknüpfungspunkte sind Grundrechte. 5. Ein Blick in die Vereinigten Staaten von Amerika gibt weiteren Aufschluß. Dort ist das Problem nicht unbekannt. Das Bundesrecht der Vereinigten Staaten unterscheidet zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Konkurs, neben der Zwangsverwaltung wegen Unregelmäßigkeiten. Als „non-profit corporations" sind Kirchen dem aufgezwungenen Konkurs nur unterworfen, wenn sie als „moneyed, business, or commercial corporation" erscheinen. Diese Qualifikation ist des öfteren einschlägig, wird Religion zum Geschäft, verhält sie sich wie „big business"60. 57 Vgl. B a y O L G (Fn.41) S.438; so bes. L.Renck zu VG München Urt. v. 1 2 . 1 2 . 1 9 8 4 - Nr. M 4562 VII 83 - BayVBl. 1985, S. 281 ff (283). 58 So W.Weber (Fn.41) S.278. 59 Eingehend dazu F. Schikorski, Die Auseinandersetzung um den Körperschaftsbegriff in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts, 1978, S. 238 ff u. K.-J. Bieback (Fn.30); ein Bezugsrahmen ohne Bezug auf Kirchen bei G. F. Schuppen, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung?, in: Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, Festgabe f. G. Ch. v. Unruh, hrsg. v. A.v. Mutius, 1983, S. 183 ff; deutlich R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 290 ff (292). 60 Vgl. 11 U. S. C. § 109, § 101 (30), bes. auch Bkr-L Ed, - Bankruptcy Service Lawyers Edition, Rochester, N . Y . - Eleemosynary Institutions Exempted § 3 : 2 0 ; u. In Re The Bible Pulpit Evangelical Association, Inc., (1974 B C MD Ga) 1 B C D 159, 2 C B C 394; analog für die Zwangsverwaltung D. R. Shepard, Receivers, Churches and Nonprofit Corporations: A First Amendment Analysis, 56 Indiana Law Journal 175 (1980); zuletzt etwa Larsonv. Walente, 456 US 228 (1982) zu Spendeneinwerbung, Finanzierung u. staatlicher Kontrolle, dazu L.H.Tribe, Constitutional Choices, 1985, S. 344 N. 156; zur Abgrenzung von religiöser und kommerzieller Aktivität vgl. Alamov. Secretary of Labor, 105 S. Ct. 1953, 1959 seq. (1985).
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Unabhängig von Streitigkeiten unter oder in Kirchen um Gegenstände oder Sachen und vom Rechtsschutz in diesen Fällen 61 , unterscheidet die amerikanische Gerichtspraxis' 2 und Doktrin in Fragen der Zwangsvollstreckung und -Verwaltung zwischen religiösen und nichtreligiösen Zwecken, also auch zwischen Kultus- und anderem Vermögen. Allein diese Unterscheidung, für sich wiederum äußerst problematisch, ermöglicht, Eingriffe in die freie Religionsausübung unter Verletzung der in den Vereinigten Staaten vorherrschenden, sogenannten „Trennung von Staat und Kirche" zu vermeiden". Die dafür erforderliche Unterscheidung zwischen „religiöser" und „korporativer" Existenz einer Kirche ist unumgänglich, sind Kirchen der Zwangsvollstreckung unterworfen. Die praktischen Schwierigkeiten bestehen in den Vereinigten Staaten, so wie sie das Bundesverfassungsgericht betont, etwa zwischen Zwangsverwaltung und interner Kommunikation der Kirche, ein Problem, dem sich das Bundesverfassungsgericht entzog, indem es Körperschaftskirchen öffentlichen Rechts schlechthin vom Konkurs ausnahm 64 . Die Zuordnungsprobleme bestehen fort in der Einzelzwangsvollstreckung sowie für die Religionsgesellschaften privater Rechtsform auch im Konkurs. Nach allem ist eine Differenzierung von Kultus-, Verwaltungs- und Finanzbefugnissen nach den staatskirchenrechtlichen Garantien vorzunehmen. Unabhängig von der Befugnis zur Bestimmung des eigenen Selbstverständnisses, vom Selbstverständnis als Maßstab, hat das staatliche Recht einen schonenden Ausgleich zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen zu finden. Ein Ausgleich, der dem Selbstverständnis der Kirchen Raum läßt und die staatliche Regelungsbefugnis respektiert, kann nicht auf allgemeine Regeln im Sinne des „für alle geltenden 61 Dazu mit Nachw. M. W. Galligan, Judicial Resolution of Intrachurch Dispute, 83 Columbia Law Review 2007 (1983); jetzt auch Park Slope Jewish Center v. N. Stern, et al., 491 N. Y. S. 2d 958 (Sup. 1985) u. W. S. Townsend, et al. v. I. R. Teagle, et. al., 467 So. 2d 772 (Fla. App. 1 Dist. 1985). Für ein deutsches Beispiel vgl. BayVGH B. v. 1 9 . 7 . 1 9 8 5 Nr. 7 C E 85 A. 1634 BayVBl. 1986, S.596ff mit Anm. v. M.Sachs, BayVBl. 1987, S. 463 ff. 62 Vgl. zuletzt People of Worldwide Church of God v. Superior Court, cert, denied, 446 US 987 = 100 S. Ct. 2974 (1980); ähnlich im Falle der Scientology Church OVG Hamburg B . v . 2 7 . 2 . 1 9 8 5 - Bs II 12/85 - N J W 1986, S.209; vgl. auch VG Hamburg Urt. v. 14.10.1985 - 21 VG 1663/85 - ; zur Polizeipflichtigkeit von Religionshandlungen W. Martens, Kirchenglocken und Polizei, in : Verfassung - Verwaltung - Finanzen, Festschrift für G. Wacke, 1972, S. 343 ff (351 ff); zum Asyl in einer Kirche VG Hamburg B.v. 9 . 1 1 . 1 9 8 4 - 17 VG 3232/84 - . 63 D.R.Shepard (Fn.60) S. 178 ff, 188 ff (190 mit deutlichen Zweifeln an der Unterscheidung); vgl. auch J. Rayphand, Does Court Ordered Receivership Breach The Wall of Separation Between Church and State?, 6 Western State University Law Review 269 (1979); zur jüngeren Rechtsprechung vgl. i. ü. R. G. Teitel, The Supreme Court's 1984—85 Church-State Decisions: Judicial Paths of Least Resistance, 21 Harvard Civ. R.-Civ.L i b . L . R . 651 seq. (1986). 64 BVerfGE 66, 1, 21 u. ff.
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Gesetzes" des Staatskirchenrechts zurückgreifen"; vielmehr muß der Ausgleich darauf gerichtet sein, freie Religionsausübung zu sichern, trotz Einzelzwangsvollstreckung und teils auch Konkurs. Ohne in Einzelheiten des amerikanischen Rechts zu gehen, auch der Einzelstaaten, ist von Interesse, was ein kalifornisches Gericht bei Einsetzung einer Zwangsverwaltung in Ergänzung einer gesetzlichen Regelung niederlegte - es ging um eine Kirche, die ein College und eine Stiftung unterhielt - : 10. Non-interference by Receiver in Ecclesiastical Affairs. It is not the purpose or intention of this Order to allow the Receiver to interfere in any way with the ecclesiastical functions of the Church (as distinguished from the College or the Foundation); and he shall not do so: This Receivership concerns itself exclusively with the financial and business affairs of the Church. The ecclesiastical affairs of the Church shall continue to be controlled and directed by its duly authorized ecclesiastical authorities. Notwithstanding the authority of the Receiver to terminate or suspend persons from employment . . . such termination or suspension shall in no way affect their membership or standing in the Church. . .
Diese Umschreibung der Befugnisse des Verwalters genügt der amerikanischen Verfassung, insbesondere der Garantie des Eigentums und der Religionsfreiheit 67 . Sie könnte auch für die Einzelzwangsvollstreckung hilfreich sein. Zugleich zeigt sie, der Konkurs auch einer Vereinskirche würde deren kirchlich-spirituelle Existenz nicht beenden können. Die Selbstbestimmung würde insoweit vom für alle geltenden Gesetz nicht berührt.
IV. Grundgesetz und Staatskirchenrecht verlangen eine umfassende Regelung der Stellung des Kirchenguts in der Zwangsvollstreckung. Eine gesetzliche Regelung sollte § 8 8 2 a Z P O ersetzen. Geboten ist eine für alle Religionsgesellschaften gemeinsame Lösung unter Berücksichtigung sämtlicher religionsrechtlichen Garantien, des eigenen kirchlichen Auftrags, wahrgenommener weltlicher öffentlicher Aufgaben und der betroffenen öffentlichen Interessen. Die Regelung hat den der Glaubensfreiheit dienenden Garantien des Staatskirchenrechts zu genügen. Rechtsbestimmtheit und Religionsfreiheit - letztere im Rahmen ihres Schutzbereichs - sind dann gewahrt, gerade wenn die staatliche Befugnis
H. Zwirner ( F n . 4 5 ) S.434 in Andeutungen; dogmatisch K.Hesse (Fn. 12) S . 4 3 4 f f . People of Worldwide Church of God v. Superior Court, cert, denied, 444 U S 883 (1979), Auszug aus den Verfahrensakten, abgedruckt bei D.R.Shepard (Fn. 60) S. 178 Anm. 21. 67 Vgl. i.ü. L. H. Tribe, American Constitutional Law, 1978, S. 456 ff, 812 ff. 65
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Zwangsvollstreckung und Kirchengut
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zur Bestimmung rechtlicher Folgen weltlichen Rechts unabhängig v o m jeweiligen religiösen Selbstverständnis beansprucht wird. 1. D i e Bezüge einer Materie zu Grundrechten prägen ihre Zuordnung und Ausgestaltung, auch solcher des Staatskirchenrechts. Sie bestimmen die Handlungsform. Sind derartige Rechte nachhaltig berührt oder bedürfen sie dienender Rechtsstrukturen, so ist das Wesentliche durch förmliches Gesetz zu regeln 68 . Dies gilt auch für das Kirchengut jedweder Religionsgesellschaft in der Zwangsvollstreckung, in seinem Verhältnis zur Religionsausübung sowie zugleich als Objekt der Befriedigung von Gläubigern. 2. D a s Kirchengut ist nach Kultus-, Verwaltungs- und Finanzvermögen zu unterscheiden. D e r historische Katalog der res sacrae erlaubt jedenfalls in einem System unvollendeter Trennung von Staat und Kirchen das bloße Kultusvermögen klar auszugliedern. Darüber hinaus ist eine Differenzierung der Pfändungsverbote, ihrer Verfahrenssicherungen und Modalitäten nach dem Ende staatlicher Kirchenaufsicht im öffentlichen Interesse geboten; diese Differenzierung muß kommunale oder staatliche Aufgaben, von Kirchen wahrgenommen, sowie auch karitative und kulturpflegerische eigene Aufgaben der Kirchen würdigen. Damit wird kein öffentlicher Gesamtstatus aller Kirchen postuliert", sondern nur den realen Bezügen der Religionsausübung genügt. Im übrigen sieht die jüngere Rechtsprechung den Körperschaftsstatus als bloße Organisationsform ohne eigene Rechtsmacht 7 0 . D i e Ausgestaltung von Pfändungsverboten sollte nicht an den Status anknüpfen. Auch Körperschaftskirchen besitzen zunehmend eine geringere finanzwirtschaftliche Stabilität. D a s heutige Kirchensteueraufkommen kann nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein 71 . Anzusetzen ist beim Zweck der Tätigkeit. „Öffentliche A u f g a b e n " , deren Erfüllung unerläßlich ist, sollten daher gegenüber der sächlich bezogenen Gewährleistung der Religionsausübung als Zwecksetzung an zweite Stelle treten, ohne den eigenen kirchlichen Auftrag mit solchen Aufgaben zu vermengen, neben der Sicherung öffentlicher Interessen weltlichen Rechts. 68 Vor allem E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 382 ff; jetzt F. Rottmann (Fn. 14); für die Ausgestaltung durch Verfahrens- und Organisationsmechanismen BVerfGE 57, 295, 320 ff mit Nachw.; auch F. Ossenbühl, H.-J. Papier, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, hrsg. v. V . G ö t z u.a., 1985, S . 9 f f , 36 ff. 69 Vgl. dazu H. Weber (Fn. 44) S. 2553. 70 Siehe BVerfGE 70, 138, 160 f, 163 f; der Status tritt oft zurück, betont wird aber der eigene Auftrag, vgl. BVerfG B. v. 14.5.1986 - 2 BvL 19/84 - DVB1. 1986, S. 1101 ff. 71 Vgl. BVerfGE 66, 1, 24 f.
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3. Die erforderliche parlamentarische Gesetzgebung ist nicht „für alle geltendes Gesetz" im Sinne von Art. 137 Abs. 3 Satzl WRV, Art. 140 GG, das die Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten beschränkt. Vielmehr bestimmen derartige Regelungen den Inhalt kirchlichen Eigentums, auch i. S. der Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV, Art. 140 GG. Insbesondere ermöglichen sie die Religionsausübung und bestimmen die Reichweite der Rechtsstellung der Gläubiger. Eine solche Gesetzgebung privilegiert im Blick auf Art. 4 Abs. 2 GG, sie limitiert nicht im Sinne des für alle geltenden Gesetzes gemäß Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. 4. Derartige Regelungen verletzen den Schutzbereich der religionsrechtlichen Garantien nicht. Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgesellschaften ist zwar für die Reichweite dieser Rechte maßgeblich. Die staatliche Regelungsbefugnis weicht aber nicht im gleichen Maße zurück, mit dem das Selbstverständnis Terrain beansprucht72. Das staatliche Recht darf für das sächliche Substrat einer Grundrechtsausübung tradierten Maßstäben, nämlich hier dem numerus clausus der res sacrae folgen, soweit Gründe dafür tragen. Der spirituelle Charakter religiösen Handelns und der Rang weltlichen Rechts kraft der Verfassung bleiben gewahrt, wenn Verdinglichungen des Glaubens auf angemessene Grenzen stoßen. So liegt es in der Zwangsvollstreckung.
72 Zuletzt neue Ansätze in BVerfGE 70, 138, 165 ff u. dazu H. Weber (Fn.8) S . 3 7 0 f ; damit werden Fragen, wie sie seit BVerfGE 24, 236, 246 ff offenliegen, wohl gangbar; dazu auch m. w. N. P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JÖR 34 (1985) S.305ff (394); nun D.Ehlers, Die gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, ZevKR 32 (1987), S. 158ff (161 ff); schon kritisch W. Martens (Fn. 4) S. 136 ff.
Die Bürgerschaft und die Tarife der Versorgungsunternehmen GÜNTER
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I. A m 13. Dezember 1985 hat die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg auf Vorschlag des Ausschusses für Vermögen und öffentliche Unternehmen 2 dem der Senatsvorlage vom 29. Oktober 19853 als Anlage beigefügten Tarifantrag des Hamburger Verkehrsverbundes ( H W ) vom September 1985 nach § 10 der Verleihungsurkunde zum Vertrag zwischen Hamburg und der Hamburger Hochbahn A G ( H H A ) vom 3. Juli 1918 zugestimmt. In der erwähnten Senatsvorlage teilte der Senat der Bürgerschaft mit, daß der H W am 19. September 1985 gemäß § 6 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie § 39 des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) bei den zuständigen Genehmigungsbehörden 4 einen Antrag auf Anhebung der Fahrpreise des Gemeinschaftstarifes für 1986 und für 1987 gestellt habe. Der Senat nahm zu diesem Antrag Stellung und wies insbesondere auf die Auswirkungen auf den hamburgischen Haushalt wegen der zu erwartenden Verlustausgleichszahlungen hin. Schließlich bittet der Senat die Bürgerschaft, „den in dieser Drucksache dargestellten finanziellen Auswirkungen . . . zuzustimmen". Auffällig ist hierbei, daß die Bürgerschaft anscheinend etwas beschlossen hat, was der Senat so nicht beantragt hat - nämlich Zustimmung zu erhöhten Tarifen - , während sie der Bitte des Senats allenfalls implizit entsprochen hat, wenn man nicht annehmen will, daß der Senat mit „finanziellen Auswirkungen" nicht oder nicht primär die Auswirkungen auf den hamburgischen Haushalt, sondern auf die Benutzer des H W , die höhere Tarife zahlen sollen, gemeint hat. Ferner fällt auf, daß der H W den Antrag u.a. bei der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und 1
Stenogrphische Berichte der Bürgerschaft, Plenarprotokoll 11/86, S. 5138 D . Drucksache 11/5297. 3 Drucksache 11/5163. 4 Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft, Hamburg, Minister für Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein, Kiel, Bundesminister für Verkehr durch die Hauptverwaltung der Deutschen Bundeshahn, Frankfurt, Bezirksregierung Lüneburg. 1
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Landwirtschaft gestellt hat, nunmehr aber sich Senat und Bürgerschaft mit der Sache befaßten. Schließlich könnte noch bemerkt werden, daß der Antrag des H W nach § 39 PBefG gestellt wurde, die Bürgerschaft jedoch ihre Zustimmung nach § 10 der Verleihungsurkunde zum Vertrag zwischen Hamburg und der H H A erteilt hat. Diese Auffälligkeiten sind keine Zufälligkeiten, sie weisen auf ein Rechtsproblem hin - nämlich auf die Frage, ob eine Tarifänderung des H W überhaupt der Zustimmung der Bürgerschaft bedarf. Dieses Problem hat Geschichte. II. 1. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges setzte die Bürgerschaft eine Mitbestimmung der Tarife der H H A durch. a) Schon früh verlor die Hansestadt den bestimmenden Einfluß auf die Tarife der Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn, der Keimzelle der heutigen, von der Deutschen Bundesbahn betriebenen, Hamburger SBahn. Am 19. Dezember 1883 schlössen Preußen und Hamburg einen Staatsvertrag über die im hamburgischen Staatsgebiet belegenen Eisenbahnen, in dem in Art. 2 Ziff. 5 festgelegt wurde, daß die Tarifbildung, die Art und Weise der Beförderung sowie die Feststellung der Fahrpläne der Königlich Preußischen Regierung allein überlassen wird 5 . Dem Senat war es nicht gelungen, Hamburg einen Einfluß auf die Tarifbildung zu sichern, nachdem Preußen geltend gemacht hatte, daß es „den Zielen und Grundgedanken der von Preußen im Sinne der Reichsregierung verfolgten Eisenbahnpolitik widersprechen würde, wenn die Eisenbahnverwaltung sich in ihren Entschließungen von der Zustimmung einer einzelnen Landesregierung abhängig machen oder hinsichtlich einzelner Verkehrsrelationen durch bestimmte Zusagen binden wollte, und daß dadurch die aus einer einheitlichen und kräftigen Leitung des Eisenbahnwesens für den Verkehr im Allgemeinen und speziell auch für Hamburg zu erwartenden Vorteile in Frage gestellt würden 6 ." b) Anders verhielt es sich dagegen bei den Straßenbahnen, die ab 1866 als Pferdebahnen, von 1879 bis 1897 auch als Dampfstraßenbahnen und ab 1894 als elektrische Straßenbahnen betrieben wurden. Ihre Rechtsverhältnisse waren in dem Gesetz, betreffend die Anlage von PferdeEisenbahnen auf Hamburgischem Gebiet vom 28. September 18647, geregelt. In Art. 1 wird der Senat ermächtigt, mit den Bewerbern um eine Konzession Verträge auf der Grundlage der gesetzlichen Bestim5
Verhandlungen zwischen Senat u n d Bürgerschaft 1884, S.26. ' Siehe V e r h a n d l u n g e n zwischen Senat u n d Bürgerschaft 1884, S. 17. 7 Wulff, H a m b u r g i s c h e Gesetze u n d V e r o r d n u n g e n , 3. Aufl. 1932, Bd. 3, 2. A b t . , S. 355.
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mungen zu schließen. Nach Art. 4 hatte der Konzessionsinhaber die Fahrtaxe mit der zuständigen Behörde zu vereinbaren. Die Bürgerschaft hatte das Recht, auf die Tarife Einfluß zu nehmen, mit diesem Gesetz aus der Hand gegeben. Die am 2. Februar 1909 vom Senat erlassene Straßenbahnordnung8 sah in § 1 vor, daß die Konzessionsbedingungen zwar von der Finanzbehörde mit dem Unternehmer zu vereinbaren, aber vom Senat und vom Bürgerausschuß zu genehmigen seien. Die Tarife bedurften nach § 16 Ab. 4 polizeilicher Genehmigung. c) Größer war der Einfluß, den die Bürgerschaft auf die Verhältnisse bei der Hoch- und Untergrundbahn nahm. Diese sollte auf Rechnung des Staates gebaut und der Betrieb auf längstens 40 Jahre verpachtet werden'. Der Senat legte alle Einzelheiten des Projektes der Bürgerschaft dar, unter anderem auch die Bedingungen für die auszuschreibende Konkurrenz für die Betriebsübernahme10. In diesen Bedingungen war geregelt (§ 7), daß die vorgesehenen Fahrpreise für die Dauer von 5 Jahren gelten und sodann durch den Senat neu festgestellt werden können. Die Bürgerschaft stimmte am 4. Dezember 1905 dem Senatsantrag grundsätzlich zu, allerdings unter einer Reihe von Bedingungen. Diese betrafen u. a. die Tariffestsetzungen bei den Straßenbahnen und den Hochund Untergrundbahnen. Hinsichtlich der Straßenbahnen verlangte die Bürgerschaft, „daß nicht ohne Genehmigung der Bürgerschaft Konzessionen zum Betriebe von Straßenbahnen erteilt, mit den in Hamburg konzessionierten Straßenbahngesellschaften neue Verträge geschlossen, die bestehenden verlängert oder die bestehenden Verträge bezüglich der Tarife abgeändert werden"". Hinsichtlich der Hochbahn-Tarife forderte die Bürgerschaft, daß der Senat die Tarife nur „nach vorgängig einzuholender Genehmigung der Bürgerschaft" neu festsetzen dürfe. Die Bürgerschaft forderte auch, daß die Konzessionserteilung, die mit der erstmaligen Festsetzung der Hochbahntarife verbunden war, durch Beschluß von Senat und Bürgerschaft erfolgen solle. Mit diesem Beschluß vom 4. Dezember 1905 machte die Bürgerschaft erstmals ihren Anspruch geltend, über die Tarife von Straßenbahn und Hochbahn im Einzelfall mitzubestimmen und nahm damit ihre im Gesetz vom 28. September 1864 dem Senat erteilte Ermächtigung zurück. Der Senat erwiderte am 11. April 190612. Er stimmte zu, daß die späteren Tarifänderungen bei der Hochbahn nicht vom Senat allein, sondern nur unter Mitwirkung der Bürgerschaft vorzunehmen seien, er wehrte sich jedoch Gesetzsammlung 1909, Teil II, S. 8. ' Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1905, S. 655 ff mit Vorgeschichte. 10 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1905, S. 703 ff. 8
" Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1905, S. 863 ff. 12 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1906, S. 313.
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dagegen, daß die Konzessionserteilung selbst auch eines Bürgerschaftsbeschlusses bedürfe, da „die Erörterung der Gründe, weshalb das Angebot eines Reflektanten weniger annehmbar erscheint, als das Angebot eines Konkurrenten, sich . . . schlechterdings nicht [eignet] zur öffentlichen Verhandlung zwischen Senat und Bürgerschaft". Er schlug statt dessen vor, daß die Entscheidung einer besonderen Kommission aus Senats- und Bürgerschaftsmitgliedern übertragen werden sollte13. Im übrigen äußerte der Senat starke Bedenken wegen der Wünsche der Bürgerschaft hinsichtlich der Straßenbahnen, sah sich jedoch veranlaßt, um die Hochbahnangelegenheit zum Abschluß zu bringen, der Bürgerschaft auch hierin entgegenzukommen. Allerdings schlug er vor, an Stelle der Genehmigung durch die Bürgerschaft die Genehmigung des Bürgerausschusses zu setzen, um die entsprechenden Beschlüsse auf einem „kürzeren und einfacheren Weg" zustande zu bringen. Dem stimmte die Bürgerschaft am 2. Mai 1906 zu". Damit hatte die Bürgerschaft das Mitspracherecht bei den Tarifen der Hoch- und Untergrundbahn und das Mitspracherecht des Bürgerausschusses bei den Tarifen der Straßenbahn gewonnen, nachdem aufgrund des Gesetzes von 1864 — also 42 Jahre - der Senat hierüber allein zu bestimmen hatte15. d) Ihre Mitwirkungsrechte erweiterte die Bürgerschaft 1918. In diesem Jahr wurde die H H A als Betreiberin der Hoch- und Untergrundbahn, die Straßeneisenbahngesellschaft als Betreiberin fast aller Straßenbahnlinien und die Alsterschiffahrt unter der H H A zusammengefaßt, und zwar unter maßgeblicher Beteiligung des Staates, der die ihm gehörenden Bahnanlagen der Hochbahn in die erweiterte H H A einbrachte, so daß ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen entstand. Der Senat übermittelte der Bürgerschaft am 28. Januar 1918 entsprechende Vorschläge16 und fügte den Entwurf für einen Vertrag zwischen der Finanzdeputation und der H H A bei, der von Senat und Bürgerschaft zu genehmigen war. Die Verleihung der Rechte aus dem Vertrag sollte gemäß einer Verleihungsurkunde erfolgen, die einen wesentlichen Bestandteil des Vertrages bilden sollte (§1). In den Entwurf dieser Verleihungsurkunde über die Berechtigung zur Übernahme, zum Bau und zum Betrieb von Verkehrsunternehmen auf dem Gebiet des hamburgischen Staates hieß es unter §10: „Die zu erhebenden Fahrpreise bedürfen der Genehmigung des Senats und des Bürgerausschusses." 13 Die Kommission sollte aus 5 Senatsmitgliedern und 10 Mitgliedern der Bürgerschaft bestehen. 14 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1906, S. 389 f. 15 Siehe hierzu auch Ernst Baasch, Geschichte Hamburgs 1 8 1 4 - 1 9 1 8 , Zweiter Band: 1 8 6 7 - 1 9 1 8 , Stuttgart und Gotha 1925, S. 70/71. " Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1918, S.61 ff.
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Dies stellte für die Bürgerschaft insofern einen Rückschritt dar, als diese Regelung zwar der Rechtslage hinsichtlich der Straßenbahnen entsprach, nicht aber hinsichtlich der Hoch- und Untergrundbahn, wo die Bürgerschaft bei der Tariffestsetzung mitzuwirken hatte. Die Bürgerschaft erwiderte dem Senat am 26. Juni 1918 und schlug u. a. vor, daß nicht der Bürgerausschuß, sondern die Bürgerschaft selbst die Tarife der H H A mitgenehmigen müsse17. Am 28. Juni 1918 erklärte sich der Senat hiermit einverstanden, so daß nunmehr über diesen Gegenstand übereinstimmende Beschlüsse vorlagen18. Somit unterlagen die Verkehrstarife der gemischtwirtschaftlichen hamburgischen Stadtverkehrsgesellschaft, der H H A , der Mitgenehmigung durch die Bürgerschaft. 2. In der Zeit der Weimarer Republik behauptete die Bürgerschaft ihre Rolle bei der Festsetzung der HHA-Tarife. a) Daß die Mitbestimmung über die Tarife der öffentlichen Stadtverkehrsmittel für die Bürgerschaft auch nach dem Ersten Weltkrieg von wesentlicher Bedeutung war, zeigt sich auch in dem Gesetz, betreffend Festsetzung von Gebühren und Tarifen, vom 4. Mai 1923", das im Zusammenhang mit der Inflation stand. Nach diesem Gesetz wurde zur Festsetzung von Tarifen und Gebühren eine Kommission gebildet, die aus zwei Mitgliedern des Senats und sechs vom Bürgerausschuß aus seiner Mitte zu wählenden Mitgliedern bestand. Diese Kommission war ermächtigt, bis zum Ablauf der Wahlperiode der Bürgerschaft Änderungen der Gebühren und Tarife selbständig festzusetzen und neue Gebühren und Tarife einzuführen. Jedoch war ausdrücklich bestimmt, daß diese Vorschrift auf die Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel keine Anwendung findet. Durch Gesetz vom 14. September 192320 wurde die Zuständigkeit der Kommission zwar auch auf die Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel ausgedehnt, jedoch mit der Maßgabe, daß auf Antrag von drei Mitgliedern der Kommission die Bürgerschaft selbst über die Tarife zu beschließen hat und daß die ganze Regelung bis zum 31. Januar 1924 befristet ist. Als der Senat mit Antrag vom 14.Januar 192421 vorschlug, die Befristung zu streichen, lehnte die Bürgerschaft dieses Ansinnen des Senats ab22. In der Bürgerschaftsdebatte hierüber machten verschiedene Redner deutlich, warum die Bürgerschaft sich die Tarifgestaltung nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. So führte der Abgeordnete Dr. Koch u. a. aus: „ . . . Es ist in der Tat kein Verkehrsun17
Verhandlungen zwischen Verhandlungen zwischen " GVB1. 1923, S. 357. 20 GVB1. 1923, S. 1077. 21 Verhandlungen zwischen 22 Stenographische Berichte 18
Senat und Bürgerschaft 1918, S. 612 ff. Senat und Bürgerschaft 1918, S. 617 f.
Senat und Bürgerschaft 1924, S.24. der Bürgerschaft 1924, S.23.
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ternehmen und Unternehmen in Hamburg vorhanden, das so mit jedem Einzelnen verknüpft ist, sei es mit seinem Geldbeutel, seinem Arger oder mit seinen sonstigen Gefühlen . . . es besteht im Publikum doch der Wunsch, daß diese Schmerzen in der breiteren Öffentlichkeit vorgebracht und besprochen werden. Das Publikum legt zweifellos auf Straßenbahndebatten manchmal mehr Wert als auf große hochpolitische Erörterungen. Wir sollten uns auch daran erinnern, daß wir nicht allein ein Landesparlament, sondern auch eine Stadtverordnetenversammlung sind . . . " Ahnlich äußerte sich der Abgeordnete D r . Eichholz, wenn er ausführte: „ . . . Es mag den großen Politikern etwas lästig sein, wenn die Straßenbahn hier ab und zu eine Rolle spielt, die vielleicht etwas übermäßig erscheint, aber das Verkehrswesen Hamburgs ist doch auch keine Kleinigkeit. Ich darf sagen, daß die Öffentlichkeit die Fragen, die mit dem Verkehrswesen zusammenhängen, genau so viel erörtert, wie alle anderen Fragen zusammengenommen. Da also die Materie von sehr großer Bedeutung ist, kann die Bürgerschaft sie sich nicht auf die Dauer aus der Hand nehmen lassen . . . " Ein weiteres Argument brachte der Abgeordnete Rose, der bemerkte: „Aber ich persönlich habe allerdings den Eindruck, daß die Kontrolle eine wesentlich andere ist, wenn sich der Verkehrsausschuß und nachher die Bürgerschaft mit den Fragen beschäftigen, als wenn alles in einer gemischten Kommission, also hinter verschlossenen Türen, vor sich geht" . . . " Den Argumenten dieser Redner wurde von keiner Seite widersprochen. b) Im übrigen erklärte die Bürgerschaft 1923 auf Vorschlag des Geschäftsordnungsausschusses, daß Vorlagen, durch welche die Zustimmung der Bürgerschaft zu einer Änderung der Tarife der H o c h - und Straßenbahnen beantragt wird, keine Gesetzesvorlagen im Sinne des Artikels 52 der Verfassung sind und daher einer zweiten Lesung nicht bedürfen 24 . 3. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg genehmigte die Bürgerschaft die Tarife der H H A . Auf ein Ersuchen der Bürgerschaft vom 25. August 1947 über die Zuständigkeit für Tarifänderungen der Versorgungs- und Verkehrstarife erwiderte der Senat am 19. O k t o b e r 1947, daß bezüglich der Tarife der H H A die Genehmigung der Bürgerschaft bereits vertraglich vorgeschrieben sei25. Im Dezember 1950 wiederholte die Bürgerschaft u. a. ihr Ersuchen, ohne Genehmigung der Bürgerschaft keine Erhöhung der Tarife der Versorgungsbetriebe vorzunehmen. In seiner 23
Vgl. zur Debatte Stenographische Berichte der Bürgerschaft 1924, S . 2 2 .
24
Stenographische Berichte der Bürgerschaft 1923, S. 855.
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Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft, Mitteilung des Senats an die
Bürgerschaft N r . 107.
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Antwort vom 20. Februar 1951 verwies der Senat 26 auf seine Antwort vom 19. Dezember 1947. Anläßlich der Gründung des H W erklärte der Senat in einer Mitteilung an die Bürgerschaft am 16. November 1965 27 zum künftigen Gemeinschaftstarif: „Zur Aufstellung des Gemeinschaftstarifs, eine der wichtigsten Aufgaben der künftigen Verbundgesellschaft ( . . . ) , ist zu bemerken, daß der Tarif ein einheitliches Ganzes sein wird, hinsichtlich seiner Genehmigung jedoch geteilter Zuständigkeit unterliegt, nämlich der Zuständigkeit hamburgischer Instanzen (Bürgerschaft und zuständiger Landesbehörde nach dem Personenbeförderungsgesetz) und für den S-Bahn-Tarif der Zuständigkeit des Bundesministers für Verkehr."
III. Indessen könnten alle Überlegungen und Erwägungen, ob § 1 0 der Verleihungsurkunde oder sonstige Ereignisse oder Umstände einen hinreichenden rechtlichen Grund dafür abgeben, daß die Bürgerschaft die Tarife der H H A und damit die Tarife des H V V zu genehmigen hat, überflüssig sein, wenn die Frage, ob Tarife von Nahverkehrsunternehmen genehmigungsbedürftig sind und wer eine eventuelle Genehmigung zu erteilen hat, von Bundes wegen aufgrund einer Bundeskompetenz bereits abschließend geregelt ist. In diesem Zusammenhang ist an § 3 9 P B e f G vom 21. März 1961 28 zu denken, nach dessen Abs. 1 Beförderungsentgelte und deren Änderung der Zustimmung der Genehmigungsbehörde bedürfen. Nach § 11 ist Genehmigungsbehörde die von der Landesregierung bestimmte Behörde 2 '. Eine Mitwirkung der Landesparlamente ist im P B e f G nicht vorgesehen. Zwar findet sich § 3 9 im Abschnitt A der Sonderbestimmungen für die einzelnen Verkehrsarten, der den Straßenbahnen gewidmet ist. Straßenbahnen werden in Hamburg seit dem Winterfahrplan 1978/79 nicht mehr betrieben. Jedoch gelten nach § 4 Abs. 2 P B e f G auch H o c h - und Untergrundbahnen als Straßenbahnen. Nach § 45 Abs. 3 P B e f G ist § 39 P B e f G auch auf O m n i busse des Linienverkehrs entsprechend anzuwenden. Der H V V - T a r i f bedarf deshalb der Genehmigung nach dem P B e f G . Für dieses Gesetz besitzt der Bund die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 74 Ziff. 22 und 23 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 Ziff. 3 GG 3 0 . Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1951, S. 44. Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1965, S. 515. 28 B G B l . I S. 241, zuletzt geändert am 25. Februar 1983, B G B l . I S. 198. 29 In H a m b u r g die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft, Anordnung über Zuständigkeiten nach dem Personenbeförderungsgesetz v o m 2. August 1966, Amtlicher Anzeiger, S . 9 7 1 . 26
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Maunz,
Münch,
in: Maunz/Dürig,
Rdn. 243 u. 248 zu Art. 7 3 ; von Münch,
G G - K , Bd. 3, 2. Aufl. 1983.
Rdn. 114, in: von
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Indessen sprechen zwei Argumente gegen eine abschließende Regelung aufgrund einer ausgeübten Bundeskompetenz. Die Genehmigung der Tarife nach § 39 P B e f G steht im Zusammenhang mit der Genehmigung nach § 2 P B e f G und der Feststellung des Planes nach § 3 0 P B e f G durch die Genehmigungsbehörde; diese Tarifgenehmigung aufgrund des P B e f G ist bei der Genehmigungsbehörde nach § 11 P B e f G zu beantragen. Denn die Genehmigungsbehörde erteilt die beförderungsrechtliche Genehmigung zur Sondernutzung - bei Hochbahnen für die Benutzung des Raumes über der Straßenoberfläche die sich in den vom P B e f G erfaßten Fällen nach diesem Gesetz richtet 31 . Diese beförderungsrechtliche Genehmigung ist zwar in der Verleihungsurkunde über die Berechtigung zur Übernahme, zum Bau und zum Betrieb von Verkehrsunternehmen in dem Gebiet des hamburgischen Staates32 vom 28. Januar 1918, die einen wesentlichen Bestandteil des zwischen der Finanzdeputation und der H H A geschlossenen Vertrages 33 vom gleichen Datum darstellt, enthalten, der erwähnte Vertrag und die Verleihungsurkunde enthalten jedoch noch weitere Bestimmungen, Genehmigungen und Abmachungen, u. a. auch die nach § 32 P B e f G notwendige Zustimmung des Trägers der Straßenbaulast (Wegeunterhaltspflichtigen). Die in § 10 der Verleihungsurkunde statuierte Genehmigungspflichtigkeit der Tarife steht nicht allein im Zusammenhang mit einer beförderungsrechtlichen Genehmigung, sondern auch mit der Genehmigung durch den Wegeunterhaltspflichtigen, besonders aber mit der der H H A insgesamt eingeräumten rechtlichen Vorzugsstellung. Diese Sonderstellung der H H A ist das Resultat der Bemühungen im Jahre 1918, ein einheitliches, gemischtwirtschaftliches hamburgisches Stadtverkehrsunternehmen zu schaffen, auf das dem Staate eine entscheidende Einwirkungsmöglichkeit zusteht, da eine rein privatrechtliche Lösung den verkehrspolitischen Interessen des Gemeinwesens nicht genügend Rechnung zu tragen schien 34 . Die Hansestadt hatte zur Lösung des Problems, Daseinsvorsorge auf dem Gebiet des öffentlichen Nahverkehrs zu betreiben, diese gemischtwirtschaftliche F o r m mit starken öffentlichen Einwirkungsmöglichkeiten gewählt, wozu auch die Genehmigung der Tarife durch Senat und Bürgerschaft gehört. Das P B e f G hat die Regelungen nach Vertrag und Verleihungsurkunde also nur sehr partiell ersetzt. Insofern können die
Kurt Kodal/Helmut Krämer, Straßenrecht, 4. Aufl. 1985, S.699, Rdn. 126. Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1918; S. 74. Zum Problem der Konzession siehe Klaus H. Petersen, Die gemeindlichen Konzessionsabgaben, Diss. Münster 1966 und, Klaus Stern, Zur Problematik des energiewirtschaftlichen Konzessionsvertrages, A Ö R Bd. 84 (1959), S. 137 ff, S. 273 ff. 33 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1918, S.70. 34 Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1919, S. 61, insbesondere S.65. Zu dortigen Verwaltungsformen siehe Dirk Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984. 31
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Bestimmungen des PBefG auch das Erfordernis der Genehmigung der Tarife durch Senat und Bürgerschaft allenfalls im Hinblick auf die beförderungsrechtliche Tarifgenehmigung ersetzt haben, falls dieses Erfordernis nach Landesrecht noch Bestand hat. Ein zweiter Gesichtspunkt tritt hinzu. Nach §39 PBefG sind die Beförderungsentgelte von der Genehmigungsbehörde nach § 11 PBefG zu genehmigen. Die H H A kann sich insoweit an die vom Senat bestimmte Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft halten. Zu fragen ist aber, ob nicht das Landesrecht für diese Genehmigung die Zustimmung von Senat und Bürgerschaft vorsehen kann. Denn der Sinn der Bestimmung des § 11 war es gerade, daß die Länder aufgrund ihrer Organisationsgewalt die sachlich zuständige Behörde bestimmen sollen, wobei der Bundesgesetzgeber davon ausging, daß die Organisationsgewalt bei den Exekutivorganen liegt. Deshalb sollte die Bestimmung der Genehmigungsbehörde den Landesregierungen überlassen bleiben35. Dem Sinn von § 11 würde es also entsprechen, einen Genehmigungsvorbehalt durch Senat und Bürgerschaft als von Bundes wegen auch hinsichtlich der beförderungsrechtlichen Genehmigung der Beförderungsentgelte als weiterhin zugelassen anzunehmen. Denn in die Organisationsstruktur der Länder sollte gerade nicht eingegriffen werden. Die gegenteilige Ansicht hätte nicht nur keine überzeugenden Gründe für sich, sie würde 'auch zu eigenartigen Ergebnissen führen: ginge man davon aus, daß ausschließlich und allein die von der Landesregierung bestimmte Behörde sollte entscheiden können, so könnte der Senat auch nicht von seinen in § 1 Abs. 4 des Gesetzes über die Verwaltungsbehörden i . d . F . vom 30. Juli 195236 festgelegten und in Art. 33 Abs. 1 der Verfassung begründeten Evokationsrecht Gebrauch machen. Daß ein derart tiefer Eingriff in die Verfassungs- und Verwaltungsstruktur der Bundesländer gewollt ist, ist nicht anzunehmen. Es ist auch nicht notwendig zur Erreichung der Zwecke des Personenbeförderungsgesetzes. Somit steht Bundesrecht dem Erfordernis einer Genehmigung der Tarife der H H A durch Senat und Bürgerschaft nicht entgegen. IV. Steht nach diesen Überlegungen fest, daß davon auszugehen ist, daß Bundesrecht nicht dem entgegensteht, daß nach § 10 der Verleihungsurkunde zum Vertrag zwischen Hamburg und der H H A vom 3. Juli 1918 Senat und Bürgerschaft einer Tarifänderung zustimmen müssen, so ist 35
Karl-Heinz Fielitz/Hans Meier/Eberhard Montigal unter. Mitarbeit von Leo Personenbeförderungsgesetz, Kommentar, Loseblattausgabe, Anm. 2 zu § 11. 56 BL I 2000-a, zuletzt geändert am 21. Dezember 1984, GVB1. S.290.
Müller,
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zu fragen, welche rechtliche Qualität dieser Bestimmung zukommt, insbesondere ob sie den Senat bindet, die Zustimmung der Bürgerschaft einzuholen. Am 3.Juli 1918 galt die Revidierte Verfassung vom 28. September 1860 in der Form des Gesetzes vom 13. Oktober 1879 mit nachfolgenden Änderungen 37 . Nach Art. 6 dieser Verfassung stand die höchste Staatsgewalt Senat und Bürgerschaft gemeinschaftlich zu, wobei die gesetzgebende Gewalt von Senat und Bürgerschaft, die vollziehende vom Senat und die richterliche von den Gerichten ausgeübt werden sollte. Der Begriff „gesetzgebende Gewalt" wurde damals weit verstanden. Wulff8 bemerkt hierzu: „Da der Staat durch die Gesetzgebung seinen Willen äußert, so bedarf jede [im Original gesperrt] staatliche Willensäußerung der mitwirkenden Thätigkeit der Bürgerschaft, und so besteht in Hamburg keine Vermuthung zu Gunsten des Senats . . . " D e m entspricht es auch, daß in Art. 62 die Gegenstände der Gesetzgebung, die immer einer Mitwirkung der Bürgerschaft bedürfen und die beispielhaft aufgeführt werden, weit gefaßt sind: Neben dem Erlaß, der authentischen Auslegung, der Abänderung und Aufhebung der Gesetze über Gegenstände des öffentlichen und des Privatrechts, also der Gesetzgebung im engeren Sinne, umfassen die Gegenstände der Gesetzgebung u . a . : a) Auflegung, Prolongierung, Veränderung oder Aufhebung von Steuern und Abgaben, b) Abschließung von Staats-Anleihen, c) Veräußerung von Staatsgut, welche nicht schon im regelmäßigen Gange der Verwaltung liegt, d) Grenzregulierungen, e) Erteilung ausschließlicher Privilegien, f) Enteignung von Privateigentum, g) Haushaltsplan, h) Ratification von Staatsverträgen, i) Amnestien. Nach Art. 61 erfolgte die Gesetzgebung durch einen übereinstimmenden Beschluß von Senat und Bürgerschaft. Als Gesetze verkündet wurden jedoch — wie Wulff anmerkt 39 — nur die sogenannten materiellen Gesetze, nicht aber sämtliche übereinstimmenden Beschlüsse der gesetzgebenden Faktoren, die sogenannten formellen Gesetze. Man muß also bei Untersuchungen der damaligen Verfassungslage beachten, daß in Hamburgische Gesetzsammlung 1880, S.37. Wulff, Hamburgische Gesetze und Verordnungen, 2. Aufl. 1902, Bd. 1, A n m . 2 zu Art. 6 I der Verfassung, S. 5. 39 Wulff aaO, 2. Aufl., Bd. 1, Anm. 4 zu Art. 61 der Verfassung, S. 23. 57
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Hamburg in der damaligen Zeit eine von der sonstigen Terminologie abweichende Auffassung von der Gesetzgebung herrschte: materielle Gesetze waren die, die Rechtssätze für das Publikum enthielten und in der Form eines Gesetzes ergingen und verkündet wurden, formelle Gesetze Bestimmungen über Gegenstände der Gesetzgebung, die nicht in Gesetzesform ergingen und nur in den Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft publik wurden, aber einen übereinstimmenden Beschluß von Senat und Bürgerschaft erforderten. Hierin zeigt sich, daß man verfassungsrechtliche Auffassungen aus den monarchischen Bundesstaaten des alten Reiches nicht ohne weiteres auf Hamburg übertragen kann, daß hier vielmehr eine andersgeartete Verfassungstradition zu einem speziellen Gesetzesverständnis zwingt. Während nämlich in den monarchischen Bundesstaaten die Souveränität beim Fürsten lag und durch die Verfassung dem Parlament nur bestimmte Rechte - vor allem in der Gesetzgebung - eingeräumt werden, lag in Hamburg das „ K y r i o n " oder „das höchste Recht und Gewalt" zumindest seit dem Hauptrezeß vom 15. Oktober 1712 bei Senat und Bürgerschaft „insepabili nexu coniunctim" 40 . Deshalb bestand in Hamburg keine Vermutung zugunsten des Senats 41 , deshalb konnten auch die Gegenstände der Gesetzgebung anders bestimmt werden. Diese Gegenstände sind in Art. 62 der Verfassung nicht abschließend umschrieben, sondern nur beispielhaft aufgeführt 42 . Allgemein wird man sagen können, daß alle staatlichen Entscheidungen von erheblichem Gewicht für das Gemeinwesen Gegenstand der Gesetzgebung waren, gleichgültig ob es sich um Rechtssätze (materielle Gesetze) oder um sonstige staatliche Entscheidungen handelte, die durch übereinstimmenden Beschluß von Senat und Bürgerschaft (sog. formelle Gesetze) ergingen. Zu derartigen formellen Gesetzen zählte beispielsweise auch die Verleihung des Ehrenbürgerrechts oder die Verleihung von Titeln 43 oder Enteignungen 44 . Die Organisation des öffentlichen Nahverkehrs in Hamburg war 1918 eine Materie, die nach Auffassung von Senat und Bürgerschaft wegen der Bedeutung für das Gemeinwesen von beiden zu beschließen war. Sie war danach also ein Gegenstand der Gesetzgebung, die damals getroffene Regelung konnte auch nur im Wege der Gesetzgebung abgeändert werden. Zu diesen so beschlossenen Bestimmungen gehörte auch das Erfordernis der Zustimmung der Bürgerschaft zu Tarifänderungen, eine Regelung, die den ursprünglichen Absichten des Senats nicht entsprach Wulff, aaO, 2. Aufl., Bd. 1, A n m . 3 zu Art. 6 I der Verfassung, S . 3 . Wulff, a a O , 2. Aufl., Bd. 1, A n m . 2 zu Art. 6 II der Verfassung, S . 5 . 42 Wulff, a a O , 2. Aufl., Bd. 1, Anm. 8 zu Art. 62 der Verfassung, S.23. Siehe auch v.Melle, Das Hamburgische Staatsrecht, 1891, S.42. 45 Wulff, a a O , 2. Aufl., Bd. 1, A n m . 5 zu Art. 62 der Verfassung, S.24. 44 Wulff, a a O , 2. Aufl., Bd. 1, A n m . 6 zu A r t . 6 2 der Verfassung, S.24. 40
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er wollte die Zustimmung des Bürgerausschusses ausreichen lassen - , zu der er sich jedoch verstehen mußte, um die Zustimmung der Bürgerschaft zu erlangen. Nicht entscheidend ist, ob es sich um Erteilung eines ausschließlichen Privilegiums im Sinne des Art. 62 der Verfassung handelt — § 2 Ziff. 2 der Verleihungsurkunde könnte dagegen sprechen, faktisch handelte es sich wegen der Übertragung der Hochbahn um ein Privileg, soweit es diese betraf - , weil der gesamte zu ordnende Sachbereich weit umfassender ist. Am Ergebnis, daß es sich bei Zustimmung von Senat und Bürgerschaft um einen Akt formeller Gesetzgebung handelt, ändert auch der Umstand nichts, daß die Verleihungsurkunde Bestandteil eines zwischen der Finanzdeputation und der H H A abgeschlossenen Vertrages war45, entscheidend ist vielmehr, daß auch dieser Vertrag und die Verleihungsurkunde Gegenstand des übereinstimmenden Beschlusses von Senat und Bürgerschaft waren. Die Auffassung darüber, wann eine Materie unter die Gegenstände der Gesetzgebung fällt, änderte sich unter der Verfassung von 1921 insofern, als in den Fällen, in denen nach neuerer Auffassung Verwaltungsakte der Bürgerschaft vorlagen - wie bei Verabschiedung des Haushaltsplanes (Art. 63) und der Kreditaufnahme (Art. 64) - , nur von einem Beschluß der Bürgerschaft gesprochen wurde 46 , ohne daß diese Akte zu den Gegenständen der Gesetzgebung zählten. Die Verbindlichkeit der Anordnung bürgerschaftlicher Zustimmung zu Tarifänderungen der H H A stand jedoch nicht zur Diskussion. Diese Zustimmung selbst stellte keinen Akt der Gesetzgebung dar, sondern einen Verwaltungsakt der Bürgerschaft, vergleichbar etwa der Zustimmung zur Kreditaufnahme (Art. 64), wie der Beschluß der Bürgerschaft von 1923 über das Ausreichen einer einmaligen Lesung47 erhellt. Im übrigen ist anzumerken, daß die Gegenstände der Gesetzgebung unter der Verfassung von 1921 ebensowenig feststanden wie unter der von 1879. So führte der Ausschußbericht N r . 53 von 1920 hierzu aus: „Man wird davon ausgehen müssen, daß alle Angelegenheiten, die nicht durch Verfassung oder Gesetz auf den Verordnungsweg verwiesen sind, im Wege der Gesetzgebung zu regeln sind"48.
45 Zur Bedeutung des Vertrages im traditionellen hamburgischen Baurecht s. Diether Haas, Bodenrecht in Hamburg, Uber Hamburger Stil in den letzten 120 Jahren, in: Hans Peter Ipsen, Hamburger Festschrift für Friedrich Schack zu seinem 80. Geburtstag, 1966, S. 25 ff, S. 35. 46 Wulff, Hamburgische Gesetze und Verordnungen, 3. Aufl.-, Bd. 1, 1930, A n m . 2 vor Art. 51 der Verfassung, S. 37. 47 Stenographische Berichte der Bürgerschaft 1924, S.22. 48 S. 19 vgl. Wulff Hamburgische Gesetze und Verordnungen, 3. Aufl., Bd. 1, 1930, A n m . 2 zu Art. 51 der Verfassung, S. 87.
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Zusammenfassend läßt sich für die Zeit unter der Verfassung von 1879 und unter der Verfassung von 1921 somit feststellen, daß die Genehmigung der Tarife der H H A für so wesentlich gehalten wurde, daß sie einem Parlamentsvorbehalt unterlag. V. Indessen ist zu erwägen, ob sich die verfassungsmäßigen Kompetenzen von Senat und Bürgerschaft unter der Verfassung von 1860/1879 gegenüber der Verfassung von 1952 so verschoben und verändert haben, daß heute die in der Verleihungsurkunde von 1918 gebrauchte Wendung „Genehmigung des Senats und der Bürgerschaft" heute als „Genehmigung des Senats" verstanden werden muß. Insbesondere ist zu prüfen, ob die Bürgerschaft heute im Gegensatz zu 1918 ein reines Legislativorgan ist und die 1918 von Senat und Bürgerschaft ausgeübten sonstigen Kompetenzen allein vom Senat wahrgenommen werden, weil der Grundsatz der Gewaltenteilung streng durchgeführt ist. Nach Art. 6 der Verfassung von 1869/79 stand die höchste Staatsgewalt Senat und Bürgerschaft gemeinschaftlich zu, wobei die gesetzgebende Gewalt von Senat und Bürgerschaft, die vollziehende vom Senat und die richterliche von den Gerichten ausgeübt werden sollte. Gleichwohl herrschte keine strenge Gewaltenteilung. Zwar konnte niemand zugleich Mitglied des Senats und der Bürgerschaft sein (Art. 35 und Art. 42), denn dies hätte die Eigenständigkeit beider Gremien gefährden können. Auch war nach Art. 19 der Senat als Inhaber der vollziehenden Gewalt oberste Verwaltungsbehörde und übte die Aufsicht über sämtliche Zweige der Verwaltung aus. Dies schließt wiederum eine direkte oder indirekte Mitwirkung der Bürgerschaft, wie andere Bestimmungen zeigen, nicht aus. Nach Art. 22 II schloß zwar der Senat die Staatsverträge, hatte aber vor ihrer Ratifizierung die Zustimmung der Bürgerschaft einzuholen. Nach Art. 52 wählte die Bürgerschaft die bürgerlichen Mitglieder der Verwaltungsbehörden, wodurch eine indirekte Mitwirkung der Bürgerschaft an der Verwaltung stattfand. Dies geschah auch durch den von der Bürgerschaft gewählten Bürgerausschuß (Art.54); der Bürgerausschuß hatte u.a. Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen (Art. 60). Vor allem aber waren die Gegenstände der Gesetzgebung so weit gefaßt, daß sie Materien umfaßten, die in heutiger Terminologie eindeutig dem Bereich Verwaltung zuzuordnen sind wie die Veräußerung von Staatsgut, die Erteilung von ausschließlichen Privilegien oder die Einzelenteignung. Nach der Verfassung von 1952 - ebenso schon nach der Ubergangsverfassung vom 26. März 19194' - sind Bürgerschaft und Senat nicht 49
Amtsblatt 1919, S.497.
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mehr beide gleichberechtigte Gesetzgebungsorgane, vielmehr werden Gesetze allein von der Bürgerschaft beschlossen (Art. 48 II). Allerdings ist dem Senat ein Vetorecht geblieben (Art. 50), das nur durch das positive Votum der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft überwunden werden kann. Eine strenge Gewaltenteilung kennt die Verfassung von 1952 ebenfalls nicht. Wie nach der Verfassung von 1879 sind Zugehörigkeit zu Senat und Bürgerschaft inkompatibel: Senatoren dürfen kein Bürgerschaftsmandat ausüben (Art. 38 a I), allerdings ruht es nur (Art. 38 a II). Eine direkte oder indirekte Mitwirkung der Bürgerschaft an Verwaltungsaufgaben kennt auch die Verfassung von 1952, obwohl der Senat nach Art. 33 als Landesregierung die Richtlinien der Politik bestimmt und die Verwaltung führt und beaufsichtigt. Der Haushaltsplan wird durch Beschluß der Bürgerschaft festgestellt (Art. 66 I), womit klargestellt wird, daß es sich materiell um Verwaltung handelt. Eines Beschlusses der Bürgerschaft bedürfen auch Nachbewilligungen - ein dem Art. 112 G G entsprechendes Recht steht dem Senat nach der Verfassung nicht zu - , die Kreditbeschaffung (Art. 72 I), die Übernahme von Sicherheitsleistungen (Art. 72 II) und die Veräußerung von Staatsgut (Art. 72 III). Die Ratifizierung von Staatsverträgen bedarf der Zustimmung der Bürgerschaft nur noch dann, wenn diese Gegenstände die Gesetzgebung betreffen oder Anforderungen erfordern, für die Haushaltsmittel nicht vorgesehen sind. Amnestien bedürfen eines Gesetzes (Art. 44), so daß hier die Mitwirkung der Bürgerschaft wie nach der Verfassung von 1879 gesichert bleibt. Indirekt wirkt die Bürgerschaft an Verwaltungsaufgaben mit: a) durch die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Verwaltungsbehörden (Art. 56 i. V. mit § 7 des Gesetzes über Verwaltungsbehörden i . d . F . vom 30.Juli 1952 50 ); die Deputierten dürfen zwar der Bürgerschaft nicht angehören, werden jedoch von ihr gewählt und können - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - von ihr abberufen werden; b) durch die bürgerlichen Mitglieder des Beamtenernennungsausschusses (Art. 45 II); c) durch die bürgerlichen Mitglieder des Richterwahlausschusses (Art. 63 I); d) durch die Mitglieder des Bürgerausschusses (Art. 27, Art. 31). Abgesehen von diesen verfassungsmäßig festgelegten Fällen wird der Flächennutzungsplan nach den §§ 5 bis 7 des Bundesbaugesetzes 51 ( B B a u G ) nach § 2 I des Gesetzes über die Feststellung von Bauleitplänen 50 51
B L I 2000-a. I. d. F. vom 18. 8.1976 (BGBl. I, S. 2257).
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und ihre Sicherung 52 (BauPlFestG) durch Beschluß der Bürgerschaft festgesetzt, die Bebauungspläne nach § 8 bis 13 a BBauG nach § 3 II BauPlFestG durch Gesetz durch die Bürgerschaft, wenn a) sie sich die Feststellung vorbehalten hat, b) der Senat ihr die Entwürfe zur Feststellung vorlegt, c) ein Viertel der gesetzlichen Mitgliederzahl der örtlich zuständigen Bezirksversammlung dem Planentwurf widersprochen oder die Bezirksversammlung dem Planentwurf nicht zugestimmt hat. Außerhalb der rechtlich geregelten Bereiche hat sich die Bürgerschaft im Jahre 1971 einer Mitwirkungsmöglichkeit begeben, da sie darauf verzichtet hat, in Zukunft Abgeordnete als Mitglieder von Aufsichtsräten der im Staatsbesitz befindlichen oder staatlich beeinflußten Unternehmen zu benennen oder zu wählen und den Senat ersucht hat, auch seinerseits keine Abgeordneten für Aufsichtsräte zu benennen 53 . Bei einer Gegenüberstellung der Verfassungslage vom Jahre 1918 und von heute wird man festzustellen haben, daß nach beiden Verfassungen das Gewaltenteilungsprinzip nicht im Sinne einer strikten Funktionsteilung durchgeführt ist; die Bürgerschaft besaß und besitzt im Bereich der Verwaltung erhebliche Mitwirkungsbefugnisse, die zum Teil die Mitwirkungsmöglichkeiten anderer Parlamente - im Bund und in den Flächenländern - wesentlich übersteigen. Demgegenüber sind die Unterschiede zwischen den Verfassungen von 1879 und 1952 in dieser Hinsicht vergleichsweise gering. Sie rechtfertigen es nicht, heute eine Mitgenehmigung der HHA-Tarife durch die Bürgerschaft nicht mehr für erforderlich zu halten, weil die Bestimmung von § 10 der Verleihungsurkunde so umzudeuten wäre, daß als Genehmigungsorgan nur noch allein der Senat zu wählen wäre. Die Genehmigung der HHA-Tarife durch die Bürgerschaft könnte auch von der heutigen Verfassungslage - unabhängig von dem übereinstimmenden Beschluß von Senat und Bürgerschaft aus dem Jahre 1918 gefordert sein. Dabei wird man davon auszugehen haben, daß es sich bei der staatlichen Betätigung auf dem Gebiet des öffentlichen Personennahverkehrs auch dann in der Sache um Verwaltung handelt — und zwar nach heutigem Verständnis um Leistungsverwaltung - , wenn sie atypisch zivilrechtlich durch eine Aktiengesellschaft wahrgenommen wird54. Dies hat rechtliche Folgen. Hans Peter Ipsen schreibt hierzu 55 : I. d. F. vom 4.4.1978 (GVBl. S. 89). Drexelius/Weber, Kommentar zur Hamburger Verfassung 2. Aufl., Vorbem.5 zu Art. 55. 54 Hans Peter Ipsen, Der Stadtstaat als Unternehmer und Träger der Fachaufsicht, in: Hans Peter Ipsen, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 1985, S.535. 55 Hans Peter Ipsen, aaO, S.536. 52
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„Für die hier in Frage stehende Aufgabe der Leistungsverwaltung ist wesentlich, daß ihre Wahrnehmung trotz rechtsförmlicher Privatisierung in Organisation und stadtstaatlicher Einflußsicherung durch Kapitalbeteiligung solchen Rechtsgrundsätzen und Bindungen unterworfen bleibt, denen die gesamte Staatsverwaltung nach Verfassungs- und Verwaltungsrecht unterstellt ist. Danach ist auch auf die zivilrechtlich wahrgenommene Leistungsverwaltung anzuwenden, was Art. 3 II 2 HmbVerf (entsprechend Art. 20 III GG) verlautbart: auch sie ist, weil auch „Staatsverwaltung", an die Verfassung und die Gesetze gebunden . . . Indem Art. 57 HmbVerf Gliederung und Aufbau der Verwaltung dem Gesetz vorbehält, wird nicht nur ein Gesetzesvorbehalt für die Verwaltungsorganisation statuiert, sondern zugleich im Sinne einer stillschweigenden Verweisung auf Art. 3 II aaO die Bindung der Verwaltung an diese Zuständigkeitsordnung in Bezug genommen und ihr damit verwehrt, sie - und sei es mit Mitteln zivilrechtlich wahrgenommener Leistungsverwaltung - zu ignorieren oder zu ,unterlaufen'." Dies bedeutet, daß die Verwaltung sich von verfassungsmäßigen Erfordernissen nicht dadurch suspendieren kann, daß sie Verwaltung in privatrechtlichen Formen betreibt. Staatliche Entscheidungen abstrakt-genereller Art mit allgemeiner Verbindlichkeit wie die HHA-Tarife bzw. ihre Genehmigung bedürfen nicht etwa deshalb hier keiner parlamentarischen Ermächtigung, weil der öffentliche Personennahverkehr gemischtwirtschaftlich in Form einer Aktiengesellschaft betrieben wird. Dafür, ob die Bürgerschaft bei der Tariffestsetzung mitzuwirken hat, ist auch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtssatzvorbehalt und zum Parlamentsvorbehalt 56 zu beachten. Hier treffen sich ganz neue Rechtsauffassungen mit dem, was in Hamburg schon immer galt, nämlich daß für das Gemeinwesen wesentliche Entscheidungen nicht ohne Zustimmung der Bürgerschaft fallen dürfen. Daß in einem Stadtstaat wie Hamburg diese Auffassung schon früher entwickelt war, kommt nicht von ungefähr. Die von den staatlichen Organen Senat und Bürgerschaft wahrzunehmenden Kommunalaufgaben - staatliche und gemeindliche Aufgaben werden in Hamburg ohne juristische oder gegenständliche Unterscheidung von Organen aller Gewalten wahrgenommen (Art. 4 I HmbVerf) 57 - bewirken regelmäßig eine stärkere unmittelbare Betroffenheit des Bürgers als die von Bundesoder Landesorganen der Flächenländer wahrgenommenen Staatsaufgaben. Außerdem war der Senat in der Verfassungsentwicklung nicht wie 56 Siehe hierzu statt vieler grundlegend Michael Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, in: J Z 1984, S. 685 ff; Carl Eugen Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, in: D Ö V 1984, S. 485 ff. 57 Hans Peter Ipsen, Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1975, S. 10.
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ein Landesfürst alleiniger Inhaber der Landessouveränität, so daß er sich stets über die Erledigung stadtstaatlicher Aufgaben mit der Bürgerschaft ins Benehmen setzen mußte, weil keine Vermutung zugunsten seiner Kompetenz gegeben war. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie ist jedoch noch ohne scharfe Konturen; Kloepfer bezeichnet sie zu Recht als „Wesentlichkeitstheorie-Skizze" 58 , weil sie sich zwar auf eine einprägsame Formel bringen läßt - „Wesentliche Entscheidungen sind dem Gesetzgeber vorbehalten" - , aber nur unzureichend bestimmt ist, was als wesentlich anzusehen ist. Zu Recht hebt er hervor, daß das entscheidend Neue an dieser Theorie in der Umformung des traditionellen Vorbehalts des Gesetzes zum Parlamentsvorbehalt 5 ' liegt. Eberle hat herausgearbeitet, daß sich der Parlamentsvorbehalt präziser bestimmen läßt, wenn man darauf abstellt, was die besonderen Vorzüge des parlamentarischen Verfahrens sind. Er kommt dann zu dem Schluß, daß das Parlament jene Entscheidungen selbst treffen muß, für die das Erfordernis des parlamentarischen Verfahrens vorliegen, weil ein Bedürfnis nach parlamentarischer Interessenverarbeitung besteht60. Dem ist zuzustimmen. Unter diesen Gesichtspunkten verdient auch der Gedanke von Kloepfer Zustimmung, daß der Parlamentsvorbehalt, verstanden als Sicherung der parlamentarischen Entscheidungsbefugnisse und zur Sicherung der öffentlichen politischen Konsensbildung, nicht unbedingt die Gesetzesform fordert, daß vielmehr auch parlamentarische Zustimmungsbefugnisse ausreichen61. Indessen bleibt trotz größerer Klarheit in diesen weiterführenden Ansätzen ein Rest der Ungewißheit. Im Einzelfall die Verfassungsgerichte entscheiden zu lassen, erzeugt Unbehagen, weil gerade feste Maßstäbe, über die Konsens besteht, fehlen. In dieser Situation ist es Senat und Bürgerschaft aufgetragen, sich als die zunächst Betroffenen hierüber ins Benehmen zu setzen zu versuchen. Anders ausgedrückt: wird eine Frage von diesen beiden Staatsorganen übereinstimmend als für das Gemeinwesen so wesentlich angesehen, daß ein Bedürfnis nach parlamentarischer Interessenvertretung besteht, so dürfte auch das Verfassungsgericht davon ausgehen, daß die betreffende Frage dem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Hinsichtlich der Tarife der H H A liegen nach 1945 drei Kundgaben eines derartigen Verfassungskonsenses vor. Der Senat bestätigte der 58
Kloepfer, aaO, S. 689. " Kloepfer, aaO, S. 690. 60 Eberle, aaO, S. 490. Eberle umgrenzt im folgenden die Parlamentsvorbehaltsgruppen negativ. 61 Kloepfer, aaO, S. 694.
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Bürgerschaft am 19. Oktober 1947 die Absicht, die H H A - T a r i f e von ihr mitgenehmigen zu lassen, er bekräftigte diese Absicht im Dezember 1950 und er bestätigte diese Bekräftigung im November 1965. Somit ist abschließend festzustellen, daß die Genehmigung der H H A Tarife einerseits auf der formell-gesetzlichen Grundlage des übereinstimmenden Beschlusses von Senat und Bürgerschaft vom 26./28. Juni 1918 über die Neuordnung der Verhältnisse der Hochbahn und der Straßenbahn beruht, andererseits auf dem 1947, 1950 und 1965 festgestellten Konsens zwischen Senat und Bürgerschaft darüber, daß die H H A - T a r i f e so wesentlich für die Hansestadt sind, daß sie parlamentarischer Zustimmung bedürfen. VI. Anders als bei den Tarifen der H H A und damit des H V V liegen die rechtlichen Gegebenheiten bei den Hamburgischen Electrizitätswerken A G (HEW), Hamburger Gaswerke G m b H (HGW), Hamburger Wasserwerke G m b H ( H W ) und der Hafen-Dampfschiffahrt A G , jetzt H A D A G Seetouristik und Fährdienst A G ( H A D A G ) insofern, als hier bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine Mitgenehmigung der Tarife durch die Bürgerschaft nicht vorgesehen und insbesondere nicht wie bei der H H A formell-gesetzlich vorgeschrieben war. Offenbar wurden jene Tarife früher als nicht so wesentlich angesehen. Dies änderte sich infolge der Notlage nach 1945, die insbesondere die Angewiesenheit der Bevölkerung auf private Energieversorgung allen vor Augen führte. Es trat also eine Änderung in der Auffassung von der Erheblichkeit jener Tarife ein. Auf ein Ersuchen der Bürgerschaft vom 25. August 1947 hin erklärte sich der Senat am 19. Dezember 1947" bereit, auch eine Änderung dieser Tarife von der bürgerschaftlichen Genehmigung abhängig zu machen. Daß der Beweggrund hierfür die erhebliche Bedeutung dieser Tarife war, wird aus der Bemerkung des Senats deutlich, daß er davon ausgehe, daß bezüglich der Tarife und Gebühren der übrigen wirtschaftlichen Unternehmen (Kleinbahnen, Industriebahnen und Hafenbetriebe) wegen der geringen Bedeutung die Genehmigung der Bürgerschaft nicht für erforderlich gehalten werde. Interessant ist die Bestätigung der Senatserklärung von 1947 durch eine Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 20. Februar 1951". Auf ein Ersuchen der Bürgerschaft vom 12./14. Dezember 1950, ohne Genehmigung der Bürgerschaft keine Erhöhung von Verwaltungsgebühren und Tarifen der Versorgungsbetriebe und staatlichen Anstalten Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 19.12.1947, N r 107 (hektographiert). Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 2 0 . 2 . 1 9 5 1 , Sir. 38, Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft, 1951, S.44. 62 63
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vorzunehmen, erwiderte der Senat, daß die Bürgerschaft den Senat durch Gesetz vom 16. Juni 195064 ermächtigt habe, für die Hansestadt, einzelne Verwaltungszweige, Körperschaften und Anstalten Gebührenordnungen zu erlassen und daß die Tarife der H E W , H G W , HWW, H H A und H A D A G der Genehmigung der Bürgerschaft bedürften. Der Senat empfiehlt, es bei dem bestehenden Rechtszustand zu belassen. Bemerkenswert ist einmal, daß die Tarife der Versorgungsunternehmen und die staatlichen Gebühren als ein einheitlicher Problemkreis angesehen wurden, entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß der Senat davon ausgeht, daß ein „Rechtszustand" besteht, die Vorlage der Gebühren an die Bürgerschaft also nicht eine unverbindliche Freundlichkeit des Senats darstellt oder einen Akt politischer Rücksichtnahme. Nachdem einmal ein Verfassungskonsens darüber erzielt ist, daß die Tarife der H E W , der H G W , der H W W und der H A D A G wegen ihrer Wesentlichkeit einem Parlamentsvorbehalt unterliegen, ist ein Rechtszustand geschaffen, den der Senat nicht einseitig ändern kann, zumal keine Anzeichen dafür vorliegen, daß die Bedeutsamkeit jener Tarife nunmehr entfallen sein könnte. So bekräftigt auch der bürgerschaftliche Ausschuß für Vermögen und öffentliche Unternehmen am 8. September 1986 gerade auf Vorschlag der Vertreter der Regierungsfraktion anläßlich eines Berichtes über die Änderung der allgemeinen Gastarife der H G W zu Recht den Rechtsstandpunkt, daß der Bürgerschaft ein Mitwirkungs- und Genehmigungsrecht aufgrund des bürgerschaftlichen Ersuchens vom 25. August 1947 im Verhältnis zum Senat der Freien Hansestadt zusteht 65 . VII. In der Freien und Hansestadt unterliegen die Tarife der H H A - diese auch wegen des übereinstimmenden Beschlusses von Senat und Bürgerschaft vom 26./28. Juni 1918 - , der H E W , H G W , H W W und H A D A G einem Parlamentsvorbehalt, weil sie für das Gemeinwesen von so wesentlicher Bedeutung sind, daß ein Bedürfnis nach parlamentarischer Interessenverarbeitung besteht. Hierüber besteht zwischen Senat und Bürgerschaft seit 1947 ein Konsens. An dem Parlamentsvorbehalt ändern in der Regel Bundesrechtsvorschriften nichts, weil sie nur einen Teil der Beziehungen zwischen der Hansestadt und den Versorgungsunternehmen erfassen; insbesondere lassen sie auch unberücksichtigt, daß die Hansestadt in dieser gemischtwirtschaftlichen Form öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllt. Im übrigen ist in der Regel nicht anzunehmen, daß jene Bundesvorschriften in die Verfassungs- und M 65
GVB1. 1950, S. 151; heute Gebührengesetz vom 5 . 3 . 1 9 8 6 (GVB1. S.37). Bürgerschaftsdrucksache 11/6730.
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Günter Hoog
Verwaltungsstruktur so tief eingreifen wollen, daß sie einen Parlamentsvorbehalt von Bundes wegen ausschließen. Der Parlamentsvorbehalt hat sich aufgrund von zwei hamburgischen Besonderheiten herausgebildet: einmal aus der stadtstaatlichen Struktur, zum anderen aus dem Umstand, daß seit alters Senat und Bürgerschaft die bestimmenden Faktoren dieses Gemeinwesens waren, die Bürgerschaft sich ihre Mitwirkungsbefugnisse nicht Schritt für Schritt von einem souveränen Landesherren ertrotzen mußte, sondern vielmehr in allen wesentlichen Fragen ein Mitentscheidungsrecht besaß; dies blieb nicht ohne Einfluß auf die Gegenstände der Gesetzgebung und ist bei der Feststellung der Rechte des hamburgischen Parlaments stets zu berücksichtigen. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie zum Gesetzesvorbehalt und zum Parlamentsvorbehalt könnte geeignet sein, die hamburgische Rechtsentwicklung und die der Flächenstaaten der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Rechte des Parlaments einander anzunähern.
„Dritte" und Nachbarn im Immissionsschutzrecht PHILIP KUNIG
I.
Wenn von „Dritten" die Rede ist, muß gesagt werden, wer der „Erste" und der „Zweite" sind. Es sind dies der Staat, genauer: die Verwaltung einerseits, der Adressat ihres Verwaltungshandelns andererseits. „Dritter" ist derjenige, dem Nachteile aus der Art und Weise entstehen, in der die Zweierbeziehung zwischen der Verwaltung und ihrem Adressaten begründet, ausgestaltet und abgewickelt wird. Diese Zählweise ist geläufig aus dem Baurecht, auch aus dem Wirtschaftsverwaltungsrecht und dem Beamtenrecht: „Drittprobleme" entstehen, wo zwei oder mehrere miteinander konkurrieren und der Staat durch Handeln gegenüber einem von ihnen mindestens faktisch zugleich den anderen trifft. Im Bereich des Immissionsschutzrechtes wird konkurriert um die Nutzung von Gütern, die besonders wichtig sind für das menschliche Leben, um Luft, Wärme, Ruhe, vor allem: Boden. Die Verknappung dieser Ressourcen ist ursächlich für den Umstand, daß nahezu jeder auf sie bezogene staatliche Zuweisungsakt mehrere Personen betrifft, auch wenn er nur an eine von ihnen adressiert ist. Bodennutzungskonflikte sind deshalb heute nicht mehr nur dem privaten oder dem öffentlichen Baurecht und dem Gewerberecht überlassen. Bodennutzungskonflikte sind vielmehr wesentlich auch immissionsschutzrechtlich zu beurteilen, was sich für den gewerblichen, insbesondere den Industrieanlagen betreibenden Bereich von selbst versteht, aber hinreichen kann bis zum Rasenmäher, zum Grillgerät, zum Kofferradio 1 .
' Überblick über Entwicklung und Gegenstände des Immissionsschutzrechts bei E. Kutscheidt, Öffentliches Immissionsschutzrecht, in: J. Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 1982, S . 2 3 7 f f , und R.Stich, Privates Immissionsschutzrecht, ebenda, S. 289 ff. - Die Bandbreite nicht genehmigungsbedürftiger immissionsschutzrechtlich erfaßter Anlagen beschreibt H. D. Jarass, Bundes-Immissionsschutzgesetz, Kommentar, 1983, Rdn. 6 vor §22. - Auf das für die behandelte Fragestellung bedeutsame Gutachten von P. Marburger, erstattet dem 56. Deutschen Juristentag, das bei Abschluß des Manuskripts noch nicht vorlag, kann nur hingewiesen werden.
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Nachbarverhältnisse (um den Begriff „Dritter" zunächst ganz unbefangen gegen „Nachbar" auszutauschen), können öffentlich-rechtlichen Charakter haben - neben der privatrechtlichen Beziehung. Die Erkenntnisse der baurechtlichen Diskussion sind insofern ohne weiteres auf das gleichfalls Bodennutzungskonflikte regelnde Immissionsschutzrecht übertragbar: Wenn der Bauherr in einer öffentlich-rechtlichen Beziehung zur Bauaufsichtsbehörde steht, muß die Beziehung zwischen der Bauaufsichtsbehörde und dem Nachbarn gleichfalls öffentlich-rechtlich eingeordnet werden 2 . Was macht das Interesse an der Rechtsstellung von „Dritten" aus? Dritte können in der geschilderten Konstellation Objekt oder Subjekt sein. Sind sie „Objekte", hat der Staat möglicherweise ihre Interessen bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Daß dem im Immissionsschutzrecht so ist, zeigt § 1 BImSchG, der davon spricht, daß der Zweck des Gesetzes darin bestehe, „Menschen", also zunächst einmal: „alle" Menschen vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu bewahren. Ist der Dritte „Subjekt", vermag er selbst seine Interessenverfolgung in die Hand zu nehmen. Er kann Widerspruch gegen Verwaltungsakte einlegen, vor allem aber kann er zu Gericht gehen: Er kann Verwaltungsakte anfechten, vorläufigen Rechtsschutz beantragen, sich u. U . vor Gericht mit der Verpflichtungs- oder der Unterlassungsklage 3 um staatliches Handeln zu seinen Gunsten bemühen oder jedenfalls die Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns feststellen lassen; er wird vor Gericht obsiegen, wenn das Recht, damit: sein Recht, verletzt ist. Unter Umständen kann er Entschädigung verlangen. Im folgenden wird ein Ausschnitt der Problematik ins Auge gefaßt: Es geht um den Dritten, der einen Verwaltungsakt anficht. Es wirft dies sowohl prozessuale Fragen auf, die Frage nach der Klagebefugnis im Sinne des §42 Abs. 2 V w G O , wie auch materiell-rechtliche, die Frage nach dem subjektiven Recht i. S. des §113 Abs. 1 S. 1 V w G O . Es soll hier nicht eingetreten werden in den Streit darüber, mit welcher Evidenz eine Rechtsverletzung gerade des Klägers als möglich erscheinen muß, um den Kläger die Hürden der Klagebefugnis überspringen zu lassen 4 . Vgl. nur R. Breuer, Baurechtlicher Nachbarschutz, DVB1. 1983, 431 (435). Vgl. die grundlegende Abhandlung von W. Martens, Öffentlich-rechtliche Probleme des negatorischen Rechtsschutzes gegen Immissionen, in: Hamburger Festschrift für F. Schack, 1966, S. 85 ff. " Vgl. dazu K.A. Bettermann, Klagebefugnis und Aktivlegitimation im Anfechtungsprozeß, in: Staatsbürger und Staatsgewalt. Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, Band 2, 1963, S. 496 ff, die Nachweise bei F.O. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Auflage, 1986, R d n . 4 3 f f zu § 4 2 , sowie speziell H. Soell, Aktuelle Probleme und Tendenzen im Immissionsschutzrecht, Z R P 1980, 105 (109). 2 3
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Es sei vielmehr unterstellt, daß jeweils eine Rechtsverletzung gegeben ist und nur noch die Frage angeschlossen, ob diese Rechtsverletzung eine solche gerade des Klägers ist. Diese Frage ist sowohl - nach der Rechtsprechung überschlägig 5 - innerhalb der Zulässigkeitsprüfung zu betrachten als auch für die Feststellung der Rechtsverletzung in §113 Abs. 1 S. 1 VwGO von Bedeutung, damit in jedem Fall Voraussetzung einer Aufhebung des Verwaltungsaktes 6 . Wichtig ist für beide Fragen, ob der Kläger sich auf eine sogenannte Schutznorm berufen kann. Die Kategorie der „Schutznorm" ist mehr eine Uberschrift für Probleme des verwaltungsgerichtlichen Drittschutzes als daß sich hinter ihr eine kohärente, geschweige denn dogmatisch anerkannte Lehre verbergen würde. Die Kritik an ihr, d. h. an der Vorstellung, der klagende Dritte müsse sich auf eine Norm berufen können, die seinen Schutz ins Auge faßt, ist so alt wie jene Theorie selbst7. Viele Autoren halten sie für sinnlos, und jede Variante, die insbesondere das Bundesverwaltungsgericht ins Gespräch gebracht hat, führte alsbald zu erneuten Schwanengesängen auf die Schutznormtheorie. Besonders das vom Bundesverwaltungsgericht etablierte Gebot der Rücksichtnahme - bedeutsam im Baurecht für den Außenbereich 8 , den nicht qualifiziert beplanten Innenbereich9 und den Planbereich10, aber auch schon angewendet im Recht des Untertagebaus", im maritimen12 Gewässerschutzrecht, zur Lösung des Konfliktes zwischen Rauchern
Nachweise bei Kopp, aaO (Fn. 4), Rdn. 39 zu §42. Vgl. dazu G. Schwerdtfeger, Grundrechtlicher Drittschutz im Baurecht, N V w Z 1982, 5 (6), und Breuer, aaO (Fn.2), S.436. - Erwiderung zu Schwerdtfeger bei J.Schwabe, Grundrechtlich begründete Pflichten des Staates zum Schutz gegen staatliche Bau- und Anlagengenehmigungen, N V w Z 1983, 523 ff. 7 Vgl. zum Diskussionsstand E. Schmidt-Aßmann, in: Th. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz, Rdn. 1 1 8 ff zu Art. 19 Abs. 4 (1985), mit zahlr. Nachw., sowie beispielhaft für grundsätzliche Kritik W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968, S. 81 ff; R. Bernhardt, Zur Anfechtung von Verwaltungsakten durch Dritte, J Z 1963, 302 (306f); M. Bothe, Die Entscheidung zwischen öffentlich-rechtlich geschützten Positionen Privater durch Verwaltung und Gerichte, J Z 1975, 399 (400f). - Eher positiv z.B. M.Kloepfer, Rechtsschutz im Umweltschutz, in: VerwArch 76 (1985), S. 371 (382) („im wesentlichen tragfähig"); U.Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1985, S. 100 f; E. Schmidt-Aßmann, Öffentlich-rechtlicher Grundeigentumsschutz und Richterrecht, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986, 107 (131). 8 Z.B. BVerwGE 52, 1 2 2 f f . ' Z.B. BVerwGE 55, 3 6 9 f f . 10 Z.B. B V e r w G N J W 1984, 1 3 8 f f ; grundsätzlich jetzt BVerwG DVB1. 1987, 4 7 6 f f . u Vgl. B.Stüer, Bergbau und Grundeigentum im Widerstreit, NuR 1985, 263 ff. 12 O V G Hamburg, NuR 1982, 23 ff, mit ablehnender Anmerkung Ph.Kunig; dazu ferner BVerwGE 66, 307 (309 f), und Ph. Kunig, Zur Rechtsstellung Dritter bei erlaubter Abfallbeseitigung auf Hoher See, J Z 1981, 295 ff. 5
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und Nichtrauchern13, im niedersächsischen Spielplatzrecht14 - , dazu die Aktivierung verschiedener Grundrechtspositionen15, haben sich mit der Schutznormtheorie in unübersichtlicher Weise vermengt. So hat das Bundesverwaltungsgericht schon aus dem Umstand bloßer Grundrechtsberührung und dem Vorhandensein einer objektiven Norm auf subjektive Rechtsverfolgbarkeit geschlossen16. Es soll hier keineswegs versucht werden, diesen argumentativen Sumpf trocken zu legen. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist vielmehr, für einige konkrete Interessenkonstellationen des Immissionsschutzrechtes die Frage nach subjektiven Rechten Dritter zu beantworten - dies in dankbarer Erinnerung an Wolfgang Martens, in dessen an immissionsschutzrechtlichen Beispielen reichen Lehrveranstaltungen der Verfasser vor Jahren fasziniert war von der Methodenklarheit eines großen akademischen Lehrers, der dogmatische Schärfe und Praxisnähe zu vereinen wußte wie kaum ein anderer. Nicht zweifelhaft kann sein, daß vom einfachen Gesetzesrecht und seiner Auslegung auszugehen ist17. Erst wenn einfaches geschriebenes Recht kein subjektives Recht für den Dritten erkennen läßt, macht es Sinn, nach ungeschriebenem oder höherrangigem Recht zu fragen. Für das Verhältnis von geschriebenem und ungeschriebenem Recht (zu dem das erwähnte Gebot der Rücksichtnahme zu zählen ist), ist diese Reihenfolge selbstverständlich. Für das Verhältnis von einfachem zu höherrangigem Recht ließe sich einwenden und wird eingewendet18, daß die - oft schwierige - Überprüfung des einfachen Rechts auf eine drittschützende Normwirkung unterbleiben könne, wenn jedenfalls Verfassungsrecht, also etwa Grundrechte, den Dritten ohnehin zur Klage befugen. Vor dem Hintergrund der Rechtsquellenhierarchie ist dies gewiß eine logische Argumentation; pragmatisch ist sie dennoch zurückzuweisen, denn angesichts der nicht ohne weiteres am Verfassungsgesetz ablesbaren Gestalt etwaiger verfassungsrechtlicher Umweltschutzverbürgungen ist jedenfalls Verfassungskonkretisierung, Fortdenken der Verfassung nötig - und dieses setzt verfassungsrechtlich gebotenen Respekt voraus für die Ausgestaltung grundrechtlicher Garantien durch den Gesetzgeber. Ehe wir uns in diesem Sinne einigen Einzelnormen des BundesImmissionsschutzgesetzes zuwenden wollen, sind zwei weitere Weichenstellungen wichtig. Zum einen kommt innerhalb der anwendbaren Z.B. OVG Münster NVwZ 1983, 485. Z.B. OVG Lüneburg NJW 1985, 217. 15 Überblick bei Kopp, aaO (Fn.4), Rdn.62 zu §42. 16 BVerwGE 66, 307 (309f); vgl. auch OVG Koblenz NVwZ 1987, 425 f. 17 Schmidt-Aßmann, aaO (Fn. 7, Festschrift), 130. 18 Vgl. M. Zuleeg, Hat das subjektive öffentliche Recht noch eine Daseinsberechtigung?, DVB1. 1976, 510 (514 f). 13
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immissionsschutzrechtlichen Normen der jeweils speziellsten der Vorrang zu. „Anwendbar" in einem weiteren Sinne sind nämlich bei jeder immissionsschutzrechtlichen Einzelfrage immer auch die §§ 1 und 3 des Gesetzes, die dessen Zweck umreißen bzw. die zentralen Begriffe des Gesetzes bestimmen. Es wird dort der Schutz von „Menschen", also von einzelnen Personen zum Zweck des Gesetzes gemacht; es werden „schädliche U m weltein Wirkungen" als solche definiert, die (auch) „die Nachbarschaft" belasten. § 3 Abs. 2 spricht bei der Definition der „Immission" wiederum von „Menschen". § 1 und § 3 B I m S c h G haben zweifellos den Sinn, die Schutzrichtung aller nachfolgenden gesetzlichen Bestimmungen anzugeben und somit eine wichtige Funktion für deren Auslegung. Wenn es richtig ist, daß bei der Auslegung potentiell drittschützender Normen die „gesamte Rechtsordnung", insbesondere auch die gesetzesimmanenten „Schutz- und Zweckbestimmungen" maßgebend sind", dann könnte hiermit schon die positive Antwort auf unsere Frage gegeben sein20 - und dies bezüglich sämtlicher Normen, die Immissionen, ihre Auswirkungskontrolle und Verhinderung betreffen. Ein solches Ergebnis kann indes nicht überzeugen. O b die Einzelnorm, wie etwa § 5 Abs. 1 N r . 1 B I m S c h G , ausdrücklich von „Nachbarschaft" spricht oder das - wie der in enger systematischer Nähe angesiedelte § 5 Abs. 1 N r . 2 B I m S c h G , der die Vorsorge regelt - unterläßt 21 , macht einen zu offensichtlichen Unterschied aus, als daß er mit den erwähnten Eingangsnormen des Gesetzes schlicht überspielt werden könnte 22 . Die zweite Weichenstellung betrifft die Struktur der einzelnen, potentiell drittschützenden Normen. Manche Normen des Gesetzes weisen einen sachlichen Regelungsgehalt auf - der Einfachheit halber sei wiederum § 5 Abs. 1 N r . 1 B I m S c h G genannt; andere Normen verweisen lediglich auf ein Bündel anderer Vorschriften oder sollen deren Einhaltung sichern: O b Teilgenehmigung ( § 8 B I m S c h G ) oder Vorbescheid ( § 9 B I m S c h G ) anfechtbar sind, ob der Nachbar nachträgliche Anordnungen ( § 1 7 B I m S c h G ) oder gar eine Untersagung, Stillegung und Beseitigung ( § 2 0 B I m S c h G ) erzwingen kann, hängt jeweils von den " So Kopp, aaO (Fn.4), Rdn.52 zu §42. Vgl. etwa die Argumentation von Chr. M. Seiler, Die Rechtslage der nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen im Sinne von §§22 ff Bundes-Immissionsschutzgesetz, 1985, S.91; H.-W.Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: U.Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, 633 (723). 21 Vgl. BVerwGE 65, 313 (320); OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 341 (342); den Unterschied verkennt das OVG Münster DVB1. 1976, 790. Zum Sinn des § 5 Nr. 2 a.F. BImSchG eingehend W. Martens, Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597 (602 f). - Zu § 5 Abs. 1 Nr. 3 OVG Münster NVwZ 1987, 146 (148). 22 Vgl. E. Kutscheidt, in: R.von Landmann / G. Rohmer, Gewerbeordnung, 13. Aufl., Bd. III (Stand März 1986), Rdn. 8 zu §1 und Rdn.6 zu § 3 BImSchG. 20
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in Bezug genommenen Vorschriften ab, so daß z . B . die Frage nach der Schutzrichtung von §9, der den Vorbescheid regelt, abstrakt falsch gestellt ist. Es kommt vielmehr darauf an, ob der konkrete Vorbescheid Bezug nimmt auf eine drittschützende N o r m . Nachdem nun dargelegt ist, was unter einem „Dritten" zu verstehen ist, warum es wichtig ist, über die Rechtsstellung Dritter Klarheit zu erzielen, daß die Beurteilung der Rechte Dritter unter dem Umstand leidet, daß sowohl verwaltungsprozeßrechtlich wie materiellrechtlich unterschiedliche Ansätze bestehen, daß das Thema in den Schnittpunkt von einfachem geschriebenen, von ungeschriebenen sowie von Verfassungsrecht führt, schließlich: daß es wichtig ist, bei der Auslegung des BImSchG auf die jeweilige individuelle Tragweite jeder einzelnen N o r m zu achten, sei gesagt, in welchen Schritten im folgenden die Frage nach den Rechten von Dritten und Nachbarn im Immissionsschutzrecht beleuchtet werden wird: Zunächst sind einzelne Normen des Gesetzes daraufhin zu überprüfen, ob ihr Wortlaut Dritten oder Nachbarn Rechte einräumt, oder ob jedenfalls ihre Auslegung solche Rechte hervorbringen kann (II). Es ist dann weiter zu fragen, ob es darüber hinaus ein immissionsschutzrechtliches Gebot der Rücksichtnahme gibt (III), und ob und wie das verwaltungsrechtlich gefundene Bild verfassungsrechtlicher Korrektur bedarf oder überhaupt zugänglich ist (IV). II. Zunächst also zu denjenigen Normen, denen nach ihrer eigenen Normenaussage ein drittschützender Charakter zukommt. Das ist zunächst bei § 5 Abs. 1 N r . 1 BImSchG der Fall, der die sogenannte Schutz- bzw. Abwehrpflicht des Betreibers genehmigungspflichtiger Anlagen, nämlich solcher, deren Betrieb in besonderem Maße schädliche Umwelteinwirkungen erwarten läßt, betrifft. Hier ist von der „Nachbarschaft" als geschütztem Personenkreis ausdrücklich die Rede. Zwar reicht die Erwähnung eines Personenkreises nicht immer aus, um denjenigen, die diesem Personenkreis angehören, ein subjektives Recht zu verleihen, doch wird in § 5 Abs. 1 N r . 1 BImSchG die Nachbarschaft ausdrücklich neben „die Allgemeinheit" gestellt - deren Teil die „Nachbarschaft" ohnehin ist. Diese zusätzliche Erwähnung ergibt nur dann einen Sinn, wenn man sie als Betonung des Schutzes gerade derjenigen Personen versteht, die in besonderer Weise dem Einwirkungspotential einer Anlage ausgesetzt sind23.
23 Vgl. W. Martens, Rechtsfragen der Anlagengenehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, in: H a m b u r g - Deutschland - Europa, Festschrift für H a n s Peter Ipsen, 1977, 449 (450).
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Die „Nachbarschaft" kann dabei durchaus auch aus einem „Nachbarn" bestehen - die von der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Lehre bei der Auslegung des Nachbarschaftsbegriffes in § 117 Abs. 1 O W i G geforderte Mindestzahl zweier Nachbarn 2 4 , findet keine immissionsschutzrechtliche Parallele, würde vielmehr willkürlichen Ergebnissen Vorschub leisten. Fraglich ist damit hier nur noch, wie der Kreis der Nachbarn zu umreißen ist. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, entsteht das Problem, ob nicht zum Kreise der Nachbarn gehörige Personen vielleicht aus anderen Gründen, mit Hilfe ungeschriebenen oder Verfassungsrechts also, eine subjektive Rechtsposition für sich in Anspruch nehmen können. D a der Nachbarbegriff uns noch häufiger begegnen wird, ist die Beantwortung dieser Frage einstweilen zurückzustellen. Der Nachbarbegriff wird auch in § 1 7 B I m S c h G verwendet, der die Zulässigkeit nachträglicher Anordnungen regelt - jene im Hinblick auf die „wirtschaftliche Vertretbarkeit" 2 5 lange besonders umstrittene N o r m , die nach der Novellierung von 1985 eine spezifizierte Verhältnismäßigkeitsregelung enthält. § 1 7 B I m S c h G gehört zu denjenigen oben erwähnten Bestimmungen, über deren drittschützende Richtung man keine allgemein bejahende oder verneinende Aussage machen sollte: Nachbarschutz hängt hier davon ab, ob der Betreiber gegen eine drittschützende N o r m , wie z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 1 B I m S c h G , verstößt 26 . Ausdrücklich angesprochen sind „Dritte" (diesmal nicht: „Nachbarn") in § 1 0 Abs. 2 B I m S c h G . Im Genehmigungsverfahren müssen ihnen Unterlagen in einem Umfang zugänglich sein, der es ermöglicht zu beurteilen, ob und in welchem Umfang sie von den Auswirkungen der Anlage betroffen werden können. Unterbleibt eine diesen Anforderungen genügende Auslegung, stellt sich die Frage nach der Anfechtbarkeit einer Genehmigungserteilung durch „Dritte". Man denkt hier sogleich an das noch immer gern verwendete Kriterium der Bestimmbarkeit des Personenkreises 27 , ohne das die Schutznormtheorie ihren Sinn verfehlt, 24 Vgl. E. Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 7. Auflage, 1984, Rdn. 14 zu § 117 und BayObLG N u R 1984, 74 (75), m.w.Nachw. 25 Vgl. hierzu die Studie von W. Hoppe, Die wirtschaftliche Vertretbarkeit im Umweltschutzrecht, 1984, S. 12 ff. 26 S. näher Jarass, aaO (Fn. 1), Rdn. 47 zu § 17 a. F.; generell für Nachbarschutz etwa L. v. Usslar, Juristische Aspekte des Waldsterbens, NuR 1983, 289 (291). 27 Vgl. die - recht enge - Rechtsprechung zum Baurecht: z . B . BVerwGE 27, 29 (33); 32, 173 (175); 52, 122 (129); zurückhaltender jetzt BVerwG DVB1. 1987, 476 (477); grundsätzliche Kritik an dem Kriterium z. B. bei W. Baumann, Betroffensein durch Großvorhaben - Überlegungen zum Rechtsschutz im Atomrecht, BayVBl. 1982, 257 (265). Das Schrifttum liegt zumeist auf einer mittleren Linie, vgl. etwa F.-L. Knemeyer. Der Schutzanspruch im Baurecht - Individualschutz durch die Verwaltung, DVB1. 1978, 37 ff.
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die Popularklage aus dem System der Verwaltungsgerichtsbarkeit auszuschließen. N u r Personen, deren Rechtsstellung das Gesetz erkennbar unterscheidet von der Rechtsstellung, die jeder Rechtsunterworfene hat, können Inhaber subjektiver Rechte sein. Andererseits ist es - wie Wolfgang Martens klar herausgearbeitet hat - gerade im technischen Sicherheitsrecht denkbar, daß die Zahl Anfechtungsbefugter sich dermaßen vergrößert, „daß die kumulierten Einzelinteressen gleichzeitig Interessen der Allgemeinheit" sind 28 . Eine Differenzierung innerhalb des Kreises der von §10 Abs. 2 BImSchG angesprochenen „Dritten" ist an einer systematischen und einer teleologischen Überlegung erkennbar: Verfahrensvorschriften müssen im Zusammenhang gesehen werden mit dem materiellen Recht, dessen zutreffende Umsetzung sie gewährleisten sollen. Sinn der Auslegungspflicht ist nicht nur29, das Informationsinteresse der Behörde zu befriedigen, sondern auch, daß Dritte erkennen können, ob sie von den Auswirkungen der Anlage betroffen werden können - damit diese Personen in die Lage versetzt werden, zur Verfolgung ihrer Rechte und Interessen Maßnahmen zu ergreifen oder jedenfalls zu bedenken. Es besteht also ein Zusammenhang zu Normen, die einigen Dritten, nämlich Nachbarn, solche Rechte gegenüber der Genehmigungserteilung einräumen. Daran wird deutlich, daß es gegenüber den Nachbarn rechtswidrig ist, wenn die Auslegungspflicht nicht erfüllt wird 30 . Dabei mag sich hinterher herausstellen, daß wegen §46 V w V f G derartige Verfahrensfehler bedeutungslos sind, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können und der Verwaltungsakt nicht nichtig ist. Dennoch schreibt das Gesetz dem Nachbarn die Rechtsmacht zu, dies jedenfalls überprüfen zu lassen 31 . Nach dieser Betrachtung der Rechtslage bei genehmigungsbedürftigen Anlagen sei noch ein Blick geworfen auf die Bestimmungen über nicht genehmigungsbedürftige Anlagen, die sich in den §§22 ff BImSchG finden. Von der „Nachbarschaft" ist in der Ermessensvorschrift des § 25 Abs. 2 BImSchG die Rede, wonach bei konkreten Gefahren Untersagungsverfügungen zulässig sind. Der nachbarschützende Charakter dieser Vorschrift ist zu bejahen, sie gibt allerdings dem Nachbarn nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Auch die Betreiber28 W. Martens, Der Schutz des einzelnen im Polizei- und Ordnungsrecht, D O V 1976, 457 (462). 29 In diesem Sinne aber W. Thieme, Die Zulässigkeit von Umweltschutzklagen, N J W 1976, 705f. Vgl. dazu auch V G Oldenburg D Ö V 1975, 862 f . m . k r i t . Anm. K.Schäfer. 30 Vgl. O V G Saarlouis N J W 1982, 2086; O V G Lüneburg N V w Z 1985, 357 (359). 51 Vgl. auch B V e r w G N J W 1983, 1507 f; a . A . Martens, a a O (Fn.23), 455. Zu diesem Problemkreis jetzt W. Cloosters, Rechtsschutz Dritter gegen Verfahrensfehler im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1986.
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pflichten des § 22 Abs. 1 N r . 1 und 2 können aber nachbarschützenden Charakter entfalten, nämlich dann, wenn diese Betreiberpflichten bei der Erteilung von nicht-immissionsschutzrechtlichen Genehmigungen, z.B. einer Baugenehmigung, zu beachten sind32. Innerhalb der Vorschriften über die Ermittlung von Emissionen und Immissionen (§26 bis §31 BImSchG) ist von Nachbarn gar nicht die Rede. Die §§26 und 29 Abs. 2 BImSchG fordern die Vornahme von Messungen, wenn schädliche Umwelteinwirkungen zu besorgen sind. Daß hier von „schädlichen Umwelteinwirkungen" die Rede ist (was nach § 3 Abs. 1 immer auch im Hinblick auf die Nachbarschaft beurteilt werden muß), reicht, wie oben dargelegt, allein noch nicht aus, diesen N o r m e n einen drittschützenden Charakter zu verleihen. Im vorliegenden Fall kommt aber ein weiteres hinzu: Die Vornahme von Messungen und vergleichbare Ermittlungen sind dem Nachbarn wegen des damit verbundenen, insbesondere finanziellen Aufwandes normalerweise nicht möglich, so daß die N o r m ineffizient bliebe, wenn ein drittschützender Charakter verneint würde. Da es andererseits wiederum im Ermessen der Behörde steht Ermittlungen anzuordnen, wird die Drittberechtigung im Ergebnis nicht zu unnötigem Verwaltungsaufwand führen. Sie wird sich nur auswirken, wenn tatsächlich nachweisbarer Anlaß zur Vornahme von Messungen gegeben ist. Was schließlich die Beschaffenheit von Anlagen oder Fahrzeugen, den gebietsbezogenen Immissionsschutz im Sinnne der Überwachung der Luftverunreinigung und die Aufstellung von Luftreinhalteplänen oder den Erlaß von Verwaltungsvorschriften (wie der T A Luft oder der T A Lärm) anlangt, so sind Anhaltspunkte für drittschützende N o r m e n weder in den Formulierungen, die der Gesetzgeber gewählt hat, noch durch Auslegung zu entdecken". Die Durchsicht des einfachen Rechts ergibt damit eine klare Differenzierung zwischen „Nachbarn" und „Allgemeinheit", die entweder schon im Wortlaut der einzelnen Bestimmungen zutage tritt oder aber diesen durch systematische oder teleologische Überlegungen beizulegen ist. Bei allen anderen Bestimmungen, also z.B. bei den Betreiberpflichten bezüglich Vorsorge, Reststoff- oder Abwärmeverwertung (also § 5 Abs. 1 N r . 2 bis 4 BImSchG), auch bei den Fragen, ob ein Vorbescheid zu erlassen ist oder ob Rechtsverordnungen über die Beschaffenheit von Stoffen und Produkten zu erlassen sind, bleibt zu klären, ob aus anderen
32 Vgl. O V G Lüneburg GewArch 1979, 345; O V G Koblenz N J W 1986, 2779 (2781); auch BVerwG D Ö V 1987, 293 (LS5); Seiler, aaO (Fn. 20), S. 91 f; s. aber auch D. Sellner/ W. Löwer, Immissionsschutzrecht der nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen, WiVerw 1980, 221 (241 f). 33 Auch nicht bei §52 BImSchG, vgl. zutreffend Jarass, aaO (Fn. 1), R d n . 4 zu §52.
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Rechtsgründen als dem Gesetzesrecht eine gerichtliche Verfolgbarkeit durch Dritte besteht. III. Nach unserem Ausgangspunkt kann sich eine Korrektur der bisherigen Ergebnisse nur aus übergreifenden Prinzipien des öffentlichen Rechts oder aber aus Verfassungsrecht ergeben. Abgesehen von grundrechtsbezogenen Argumenten ist hier das vom Bundesverwaltungsgericht schon 1967 angesprochene34, seit 1977 im Baurecht weiter entwikkelte35, in der Literatur viel gescholtene36, neuerdings aber auch von vielen akzeptierte37 Gebot der Rücksichtnahme zu beachten. Auf Verfassungsrecht kann das Gebot der Rücksichtnahme nicht gestützt werden - wie es Weyreuther für Art. 14 G G vorgetragen38 und Alexy aus einer Zusammenschau von Grundrechten und Art. 19 Abs. 4 entnommen hat39 (der allerdings Rechtsinhaberschaft nicht selbst kreiert, sondern die Verfolgbarkeit von Rechten gewährleistet40) oder wie es Hoppe und Schulte mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz postuliert haben41. Das Gebot der Rücksichtnahme, wie es die Rechtsprechung vertritt - und das soll hier in erster Linie interessieren - , gewinnt seine Identität jedenfalls gerade aus dem Umstand, daß es unterhalb der Verfassung ansetzen soll42: Es schiebt sich sozusagen zwischen das Gesetz und die Verfassung. Wenn es richtig ist, daß in zahlreichen Normen des Baurechts (im „gesamten Baurecht" 43 ) der Gedanke der Rücksichtnahme sich ausB V e r w G E 28, 148 ff. Den Ausgangspunkt bildete B V e r w G E 52, 122 ff. 36 S. insbes. K.Redeker, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme, DVB1. 1984, 870ff; W.Lenz, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme in der täglichen Praxis, BauR 1985, 402 ff. 37 S. etwa O.Schlichter, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme, DVB1. 1984, 875 ff. 38 F. Weyreuther, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme und seine Bedeutung für den Nachbarschutz, BauR 1975, 1 ff. 39 R. Alexy, Das Gebot der Rücksichtnahme im baurechtlichen Nachbarschutz, D Ö V 1984, 953 ff. 40 Vgl. B V e r f G E 51, 176 (185), und O. Bachof, Reflexwirkungen und subjektive Rechte im öffentlichen Recht, in: Gedächtnisschrift für W.Jellinek, 1955, S . 2 8 7 f f ; unzutreffend O V G Lüneburg N u R 1986, 209 ff, mit abl. Anm. Ph. Kunig. Richtig V G Hamburg N u R 1987, 87. 41 W. Hoppe, Bauplanungsrechtliche Grundsätze bei der Kollision und zur Ausbalancierung von Belangen, Jura 1979, 133 (143); M. Schulte, Die dogmatischen Grundlagen des Rücksichtnahmegebotes im Baurecht, U P R 1984, 212 (216 f). - Zur generalklauselartigen Verwendung des Rechtsstaatsprinzips s. Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986. 42 Vgl. nur BVerwG N J W 1984, 138ff; BVerwG N V w Z 1985, 37f. 43 Vgl. V G Berlin N V w Z 1985, 932 (933). 34
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drückt, so müßte man dies auch mindestens für einige Normen des Immissionsschutzrechtes sagen können 44 , wenn nicht für alle. Deren Bedeutung für den Drittschutz haben wir allerdings - Norm für Norm genommen - bereits erörtert. Die Grenzen insbesondere der bloßen Begriffsbestimmung des §3 BImSchG waren dabei deutlich geworden. Nur wenn also die Zusammenschau in Einzelnormen enthaltener Aussagen ein Mehr an Drittschutz erbrächte als ihn jene Einzelnormen für ihren jeweiligen Anwendungsbereich verlangen, wäre es gerechtfertigt, von einem immissionsschutzrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme zu sprechen, das dann seinerseits fruchtbar gemacht werden könnte für die Auslegung anderer Normen. Die Berechtigung eines solchen Vorgehens begegnet erheblichen Bedenken. Wie Peine45 und Dürr146 für das Baurecht dargelegt haben, überschreitet sie die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Nicht anders ist dies für das Immissionsschutzrecht zu beurteilen47. Dürr geht deshalb den - konsequenten - Schritt zur Annahme eines dem gesamten öffentlichen Nachbarrecht, ja dem „gesamten öffentlichen Recht, soweit es der Bewältigung von Interessenkonflikten dient", immanenten Gebotes der Rücksichtnahme, das seinen Ausdruck etwa auch in dem Rücksichtnahmegebot des § 1 der Straßenverkehrsordnung, in § 12 des Soldatengesetzes, im schulrechtlichen Toleranzgebot finden soll, das einen allgemeinen Rechtsgrundsatz nach Art des Schikaneverbots in § 2 2 6 B G B und - daß wir zu dieser Norm gelangen, scheint unvermeidlich - des §242 B G B darstellen soll48. Redeker hat zu Recht gesagt, daß das Gebot bei derartigem Verständnis nicht viel konkreter sei als das Sprichwort „Was Du nicht willst, das man Dir tu', das füge auch einem anderen nicht zu" 49 . Auch wenn man der jüngsten baurechtlichen Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts derartige Vorwürfe kaum noch wird machen können 50 , so besagt doch der Umstand, daß sich Normen wie die genannten auf einen gemeinsamen Gedanken zurückführen lassen, noch nichts über 44 Vgl. dazu E. Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 GG im Immissionsschutzrecht, in: AÖR 106 (1981), S.205ff, insbes. S.214, auch J.Baltes, Immissionsgrenzwerte und Art. 2 Abs. 2 GG, BB 1978, 130 ff. 45 F.-J. Peine, Das Gebot der Rücksichtnahme im baurechtlichen Nachbarschutz, DOV 1984, 963 ff. 46 H.Dürr, Das Gebot der Rücksichtnahme im öffentlichen Baurecht, NVwZ 1985, 719 ff. " So wohl auch BVerwG NJW 1984, 250. 48 AaO (Fn. 46), S.722f. 49 K. Redeker, aaO (Fn. 36), S. 879. 50 S. etwa BVerwG DVB1. 1985, 122 f und BVerwG DVB1. 1987, 476 ff, sowie den Bericht von K.-P. Dolde, Das Bebauungsrecht 1984/85, NJW 1986, 1321 ff.
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die Tauglichkeit dieses allgemeinen Gedankens, in Bereichen, in denen keine derartigen Konkretisierungen vorliegen, ihre Existenz richterrechtlich herbeizuführen51. Denn daß der immissionsschutzrechtliche Gesetzgeber darauf verzichtet hat, beispielsweise dem § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG eine am Gesetzestext erkennbare drittschützende Wirkung beizulegen, bedeutet nicht eine „Nicht-Regelung", damit eine Situation, in der richterrechtliche Lückenschließung legitim wäre. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Regelung getroffen, daß keine drittschützende Wirkung bestehen solle52. Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht darf es nur geben, wenn der Gesetzgeber nicht schon - wie der Umkehrschluß zeigen kann — selbst konkretisiert hat. Dies ist zu respektieren, es duldet die Korrektur durch „Prinzipien" nur, wenn und soweit das Fehlen des Drittschutzes verfassungswidrig wäre. Jedenfalls im Immissionsschutzrecht ist danach ein Bedürfnis für den Einsatz des Gebotes der Rücksichtnahme nicht zu erkennen53. IV. Nur noch Verfassungsrecht kann nach den bisherigen Ergebnissen die aus der Interpretation der einzelnen immissionsschutzrechtlichen Normen gewonnenen Erkenntnisse korrigieren. Dabei richtet sich der Blick auf die Grundrechte als Garanten subjektiver Rechte. Die einschlägige Diskussion, zunächst gern geführt unter Verwendung des Schlagwortes vom „Grundrecht auf Umweltschutz" 54 , dann eingemündet in eine mehr programmatische Dimension im Zusammenhang mit der Frage nach der Wünschbarkeit einschlägiger „Staatszielbestimmungen"55, schließlich geprägt von der „juristischen Entdekkung" verfahrensanleitender Aussagen einzelner Grundrechte56, hat in 51 Freilich findet dieses Vorgehen seine Parallelen auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit und der verfassungsrechtlichen Argumentation des Schrifttums, vgl. Kunig, aaO (Fn. 41), S. 302 und öfter. 52 Was bestritten wird, vgl. oben bei und in Fn.21. 53 So auch BVerwG N J W 1983, 1507. 54 Nachweise zum Diskussionsstand bei I.v. Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 3. Aufl., 1985, Rdn. 61 zu Art. 2, und Ph. Kunig, German Constitutional Law and the Environment, in: Adelaide Law Review 8 (1982/83), S. 318 ff; s. ferner H.Soell, Umweltschutz, ein Grundrecht? NuR 1985, 205 ff. - Aus der Rechtsprechung s. vor allem BVerwGE 54, 211 ff. - Rechtspolitisch wird ein derartiges Grundrecht heute nur noch vereinzelt gefordert, vgl. aber etwa die Abschlußerklärung des „10. Richterratschlags" vom März 1986, dokumentiert in Frankfurter Rundschau Nr. 61 vom 13. März 1986, S. 21. 55 Vgl. den Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge", hrsg. von den Bundesministern des Innern und der Justiz, 1983, S. 130 ff, und D. Rauschning, Aufnahme einer Staatszielbestimmung über Umweltschutz in das Grundgesetz?, D Ö V 1986, 489ff. 56 Vgl. aus neuerer Zeit D. Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, 865 ff, m.w.Nachw.
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jüngster Zeit vor allem neue Akzente gewonnen durch juristische Reaktionen auf die Gefährdung der Wälder57 - letzteres mit einem deutlich auf die Frage der Entschädigung des Waldeigentümers gerichteten Akzent. Auch wenn die Umweltschutzproblematik erst in den letzten Jahren hinreichend erkannt worden ist, auch wenn kein Zweifel sein kann, daß das Grundgesetz eine Verfassungsordnung ist, die sich auch ohne ausdrückliche Normtextänderung einem inhaltlichen Wandel nicht völlig verschließt (wie der Würdebegriff des Art. 1 G G , vielleicht auch das Sozialstaatsprinzip zeigen), so führt doch kein Weg daran vorbei, daß Wandel nur über eine Anpassung der Auslegung von Einzelnormen möglich ist, nicht durch „Zusammensetzung" von einzelnen Normen, deren Addition mehr als diese selbst ergeben soll. In diesem Sinne sind alle Versuche fruchtlos, aus den Entscheidungen der einzelnen Grundrechte für den Schutz wesentlicher Voraussetzungen menschlicher Existenz den qualitativ neuen Satz zu gewinnen, jeder einzelne könne staatliches Handeln abwehren oder fordern, das für einen bestimmten Zustand der Umwelt garantieren soll58. Auch die auf internationaler Ebene sich abzeichnenden Entwicklungen - ein Recht auf saubere Umwelt wird als völkerrechtliches Menschenrecht postuliert, hat schon Eingang in Kodifikationen gefunden59 ändert trotz Art. 25 G G nichts an der Rechtslage (weil es der unmittelbaren Umsetzbarkeit ermangeln würde) und nichts an den rechtspolitischen Perspektiven (weil es über eine programmatische Forderung nicht hinaus gekommen ist und sich nicht einmal im Ansatz zeigt, von wem die Gewährung dieses Rechtes eingefordert werden kann). Von dem positivrechtlichen Bestand der Einzelgrundrechte, von den „umweltrechtlichen Teilgewährleistungen"60, ist also auszugehen. Ihre Tragweite wird nur sichtbar, wenn man sich der Funktionen des Grund57 S. dazu von Usslar (Fn.26); E.voti Hippel, Staatshaftung für Waldsterben?, N J W 1985, 30 ff; H. Ebersbach, Ausgleichspflicht des Staates bei neuartigen immissionsbedingten Waldschäden, NuR 1985, 165 ff; H.F. Frhr. von Dörnberg, § 1 4 Satz 2 des BundesImmissionsschutzgesetzes als Staatshaftungsnorm bei emittenten fernen Waldschäden durch Immissionen, NuR 1986, 45 ff sowie O L G Köln N J W 1986, 589 ff, mit abl. Anm. E. von Hippel, und O L G München J Z 1987, 88 ff m. Anm. J. Schwabe, Zuletzt - und m.w. Nachw. - D. Murswiek, Nochmals: Staatshaftung für Waldschäden, NVwZ 1987, 481. 58 Vgl. dazu D. Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, in: W D S t R L 38 (1980), S. 167 ff. 5 ' Vgl. dazu D. Rauschning, Ein internationales Menschenrecht auf Schutz der Umwelt, in: Festschrift für W.Weber, 1974, S. 719 ff; J.Lücke, Das Recht des Einzelnen auf Umweltschutz als ein internationales Menschenrecht, in: ArchVR 16 (1974/75), S. 387ff. 60 So die Begriffswahl bei R. Scholz, Verfassungsfragen zum Schutz des Nichtrauchers, Beilage 10/79 zu Der Betrieb, S. 13.
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rechtsschutzes vergewissert. Es stellt sich also zu allererst die Frage nach der Funktion, in der Grundrechte in unserer Konstellation betroffen sein können: Die Abwehr-, die Leistungs- und die Verfahrensfunktion kommen in Betracht. Die meisten Stimmen in Rechtsprechung und Literatur sehen die Abwehrfunktion als betroffen an, deuten nicht nur vom Staat selbst vorgenommene Immissionen, sondern auch die Genehmigungserteilung oder die Untätigkeit der Behörde als Grundrechtseingriff. Dabei finden sich auffällige Relativierungen: Vom „Eingriff" (in Anführungszeichen), von „mittelbaren Eingriffen", von „Zurechnung", von „Garantenstellungen", von „gleichsam beiläufiger Beeinträchtigung"61 kann man lesen. Auf die Schwierigkeit, derartige Erweiterungen des Eingriffsbegriffs zu "begründen, sei hier nur hingewiesen: Jedenfalls Art. 14 G G ist, wie sein Abs. 1 S. 2 erweist, in besonderem Maße auf gesetzliche Ausgestaltung angewiesen". Die Verfassungsnorm selbst verpflichtet den Anlagenbetreiber genausowenig wie den Bauherrn zur Berücksichtigung dritter oder nachbarlicher Interessen. Auch wenn im Immissionsschutzrecht, anders als im Baurecht (aber vergleichbar dem Atom-, Luftverkehrs-, Wasserrecht) die Besonderheit hinzukommt, daß gemäß § 14 BImSchG durch die Genehmigungserteilung die privaten Rechte Dritter präkludiert werden, ändert dies nichts daran, daß die eigentliche Belastung faktischer Art ist. Ahnliche Schwierigkeiten, über die gesetzlichen Grundrechtskonkretisierungen hinauszugehen, stellen sich ein bei Art. 2 Abs. 2 S. 2 und bei Art. 2 Abs. 1 G G - was bei letzterer N o r m die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Drittschutz im Baurecht deutlich zeigt, vor allem wenn man berücksichtigt, daß dasselbe Gericht im Bereich wettbewerbsrelevanter Wirtschaftsförderung nicht zögert, Drittschutz aus Art. 2 Abs. 1 G G herzuleiten". Es ist offenkundig, daß Immissionsschutzrecht und Baurecht als Modelle primär bodenrechtlicher Konfliktbewältigung hier eine parallele Beurteilung erfordern. Nicht nur die Eingriffsfrage, sondern auch die Frage nach unmittelbaren Verfahrensgrundrechten wirft schwierige Probleme auf. Wenn hierzu in der Literatur ausgeführt wird, daß die „Einräumung von Verfahrenspositionen, die dem Grundrechtsschutz dienen, den Beteiligten Rechte gewährt, ihre Verletzung also die Klagebefugnis nach §42
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Als Beispiel des üblichen Verständnisses s. die Ausführungen bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 1986, S. 123 ff. 62 Dazu G. Schwerdtfeger, Baurechtlicher Drittschutz und Parlamentsvorbehalt, N V w Z 1983, 199 ff. 61 Vgl. BVerwGE 30, 191 ff.
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V w G O eröffnet" 64 , so ist dies problematisch: Jede Einräumung von Verfahrenspositionen weist einen Grundrechts&ez«g auf; allenfalls kann das verfassungsrechtliche Gebotensein der Verfahrensbeteiligung einen Rückschluß darauf zulassen, ob auch der einfache Gesetzgeber die Verfahrensbeteiligung als subjektives Recht ausgestalten wollte oder mußte. Eine gesetzliche Ausgestaltung aller bisher angesprochenen Problemstellungen hat der Gesetzgeber durch das BImSchG vorgenommen. Daß er dabei jedenfalls einigen Normen ausdrücklich Drittschutz beigelegt hat, daß er bei allen anderen Normen wenigstens die objektive Berücksichtigung von Gesundheit und Eigentum verlangt, macht deutlich, daß der Gesetzgeber die grundrechtlichen Wertentscheidungen gesehen hat. Es müßte gezeigt werden, daß seine Sichtweise, wie sie sich im Gesetz ausdrückt, den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht genügt, daß die Verfassung verlange, weitere Betroffene sollten aus Verfassungsgründen behördliche Entscheidungen auf dem Gebiet des Immissionsschutzrechts vor Gericht einklagen können. Das BImSchG unterschreitet die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht: Es kann deshalb offen bleiben, ob der unmittelbare Rückgriff auf die Grundrechte insbesondere des Art. 14 und des Art. 2 Abs. 2 S.2 überhaupt zulässig ist, oder ob diese nur durch gesetzgeberische Konkretisierung wirken können — wie Schwerdtfeger meint65; es kann ebenfalls offen bleiben, ob das BImSchG die grundrechtlichen Standards sogar überschreitet, wie Berger in einer gründlichen Analyse dargelegt hat66. Dringlicher erscheint die Frage, ob die bisherige Auslegung des einfachen Rechts die Verfassung hinreichend berücksichtigt und zwar die Auslegung desjenigen Begriffs, der nach dem Ergebnis der vorstehenden Überprüfung immissionsschutzrechtlicher Normen in allen Fällen entscheidend ist, bei denen überhaupt Drittrichtung angenommen werden kann, die Auslegung des Nachbarbegriffs also. Damit ergibt sich mittelbar auch ein Ertrag für die eben offen gelassenen Fragen, denn je weiter der Nachbarbegriff ist, desto weniger Bedürfnis kann bestehen, daneben noch unmittelbar auf Grundrechte zuzugreifen. Auch zur Bestimmung des Nachbarbegriffs ist zunächst vom Wortlaut auszugehen: Der Nachbar mag „Nebenwohner" sein, wie das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf den Großen BrockM S. B.-O. Bryde, in: von Münch, aaO (Fn.54), Rdn. 37 zu Art. 14, mit Kritik an der „früheren Verwaltungsrechtsprechung". 65 Schwerdtfeger, aaO (Fn. 6), S. 8 f. " U. G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen - Zum verwaltungsrechtlichen Drittschutz im Bauplanungsrecht, Immissionsschutzrecht und Kernenergierecht, 1982, S. 160 und öfter.
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haus gesagt hat67, oder „naher Bauer", wenn man den althochdeutschen Ursprung des Begriffes deuten will68 - doch ist die räumliche Weite, innerhalb derer Personen ansässig sind und an welche Formen von „Seßhaftigkeit" gedacht ist, vor allem und in erster Linie vom Sinn des Immissionsschutzrechtes her zu bestimmen. Dieser Sinn ist die Herstellung von Konkordanz zwischen den bei einem immissionsschutzrechtlichen Ressourcenkonflikt beteiligten Grundrechtspositionen, so wie es insbesondere Art. 14 Abs. 1 S . 2 G G und Art. 2 Abs. 2 S . 2 G G dem Gesetzgeber aufgeben. Diesem Hintergrund muß der Nachbarbegriff Rechnung tragen. Er kann sich also nicht, wie es sein wörtliches Verständnis nahelegen könnte (und wie es der frühere § 16 Abs. 1 G e w O zunächst im Auge hatte), auf Anwohner in unmittelbarer Nähe oder auf solche angrenzender Grundstücke beschränken; vielmehr hängt seine Reichweite zunächst ab von dem konkreten Einwirkungsbereich der einzelnen emittierenden Anlage: Nachbar einer Schmelzanlage für Roheisen, zugleich aber nicht mehr Nachbar einer Anlage, in der Tierhaare gelagert werden, kann eine Person sein, auch wenn beide Anlagen nebeneinander errichtet worden sind. Diese personenbezogene Differenzierung des Nachbarbegriffs vom Einwirkungsbereich her 6 ' ist auch nicht stets an dem Meßgebiet der T A Luft abzulesen, wie es vorgeschlagen worden ist 70 : Das kann zu weit sein, wenn schon jede Person, die sich im so gekennzeichneten Einwirkungsbereich aufhält, „Nachbar" sein soll, zu weit auch, wenn dies ein „Indiz" sein soll, zu eng, wenn nur Grundstückseigentümer in diesem Bereich Nachbarn sein sollen und wenn das Einwirkungspotential nicht berücksichtigt wird. Entscheidend ist vielmehr die an der objektiven grundrechtlichen Wertordnung abzulesende Differenzierung zwischen der Allgemeinheit und in besonderem Maße betroffene Personen. Es kommt an dieser Stelle die objektive Schutzpflicht zum Tragen, die das Bundesverfassungsgericht etwa in atomrechtlichen Entscheidungen 7 ' und im Düsseldorfer 72 und Salzburger 73 Flughafen-Beschluß angesprochen hat. Deshalb ist personenbezogen, nicht gebietsbezogen zu entscheiden.
67 B V e r w G N J W 1983, 1507 f, dazu eingehend P. Selmer, J u S 1983, 888 f.
Rechtsprechungsübersicht,
68 Den etymologischen Wurzeln des Nachbarbegriffs geht K. A. Pape, Die Rechtsstellung des Nachbarn nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz, Diss. Bonn 1984, S. 1, nach. " Vgl. O L G Lüneburg GewArch 1978, 341 (342 f), s. auch O V G Lüneburg G e w A r c h 1980, 341 ff. 70 So Pape, a a O (Fn. 68), insbes. S. 216 ff; s. dazu auch H. D. Jarass, Der Rechtsschutz Dritter bei der Genehmigung von Anlagen, N J W 1983, 2844 (2847). 71 B V e r f G E 49, 89 ff und B V e r f G E 53, 30 ff. 72 B V e r f G E 56, 54 ff. 73 B V e r f G N J W 1986, 2188 ff.
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Für die Abgrenzung des einzubeziehenden Personenkreises sind die unterschiedlichen Schutzbereichsmerkmale der Grundrechte zu beachten: Die grundrechtliche Wertordnung zeigt, welche individuellen Positionen besonderen - also über Art. 2 Abs. 1 G G hinausführenden Schutz genießen und können auf diese Weise zur Auslegung des Nachbarbegriffs beitragen. Es handelt sich hierbei nicht um einen direkten, unmittelbar ein subjektives Recht vermittelnden Rückgriff auf Grundrechte - was etwa bei Art. 14 GG, wie die baurechtliche Diskussion zeigt, zu einer Begrenzung auf den Eigentümer, allenfalls den schon im Besitz befindlichen und vormerkungsberechtigten Grundstückskäufer nötigen könnte 74 . Wenn das Eigentumsgrundrecht zur Auslegung des immissionsschutzrechtlichen Nachbarbegriffs eingesetzt wird, kann vielmehr angeknüpft werden an die allgemein akzeptierten Inhalte des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs 75 . Verschiedene private Rechte, Miete, Pacht, Besitz76, soweit sie teilnehmen am Schutz des Art. 14 G G (nicht aber Eigentum an „bergfreien" Bodenschätzen oder am Wasser), kommen in den Blick, mögen sie an Boden, an Pflanzen, Tieren, Sachen, Gewerbebetrieben bestehen. Immissionsschutzrechtlicher Nachbarschutz ist aber nicht abhängig von einer Fundierung allein im Normbereich des Art. 14 G G : Ein nicht schon von Art. 14 G G in den Bereich der Nachbarschaft gerückter Mensch kann wegen Art. 12 G G als Nachbar zu qualifizieren sein, wenn er aus beruflichen Gründen (einschließlich der Berufsausbildung 77 ) stets oder besonders oft sich in der Nähe einer Anlage aufzuhalten gewohnt ist, etwa als selbständiger Handelsvertreter mit einem „gewachsenen" Einzugsgebiet (das Bundesverwaltungsgericht hat dies in einem immissionsschutzrechtlichen Fall offen gelassen78), diesem Gedanken aber im Hamburger Krabbenfischer-Fall Raum gegeben79 - oder auch als abhängig Beschäftigter 80 . Die Freizügigkeitsgarantie des Art. 11 G G wird dagegen nur selten zur Auslegung des Nachbarbegriffs beitragen können, etwa wenn unbe74 Vgl. BVerwG DVB1. 1983, 898; O V G Berlin N V w Z 1986, 848 f, und die Bemerkungen bei Chr. Degenhart, Neuere Entwicklungen im baurechtlichen Nachbarschutz, JuS 1984, 187 (190). 75 Vgl. z. B. Bryde, aaO (Fn. 64), Rdn. 11 ff zu Art. 14. 76 Vgl. - unter Berufung auf „Sinn und Zweck" -J. Meyer, Die Rechte des Nachbarn gegenüber Immissionen beim Errichten und Betreiben einer Anlage nach dem BundesImmissionsschutzgesetz, Diss. Münster 1975, S. 6. 77 Zutreffend O V G Lüneburg N V w Z 1985, 357. 78 S. oben Fn. 56; zurückhaltend auch Thieme, aaO (Fn.29), 706; zum Grundrechtsschutz des Betreibers aus Art. 12 G G s. Martens, aaO (Fn.23), 462 f. 79 S. oben Fn. 16. 80 Vgl. Kutscheidt, aaO (Fn. 22), Rdn. 6 zu § 3, sowie mit detaillierten Überlegungen zur Abgrenzung O V G Lüneburg DVB1. 1984, 890 (891).
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wohntes, aber oft, nicht nur gelegentlich besuchtes Gebiet in Rede steht, dessen Besuch durch Immissionen völlig unattraktiv wird81, nicht aber zugunsten des gelegentlichen Ausflüglers oder wenn die Umweltsituation die Ansiedlung in einem Gebiet verhindert: Nachbar ist nicht, wer erst Nachbar werden will. Art. 2 Abs. 1 G G kann dagegen keinen Ertrag für die Abgrenzung der Nachbarschaft bieten82. Was die Wertentscheidungen insbesondere der Art. 12 und 14 G G anzeigen - jemand ist nicht mehr nur als „jedermann" betroffen, sondern in seinem durch das Grundrecht aus der Allgemeinheit herausgehobenen Status - deckt schon dermaßen viele Einzelfallkonstellationen ab, daß das Grundrecht auf Gesundheit (das sich als Quelle von subjektiven Rechten im Umweltverwaltungsrecht erst vor relativ kurzer Zeit gegenüber Art. 14 G G sozusagen verselbständigt hat) zwar daneben treten kann, aber kaum noch die Qualifizierung weiterer Einzelpersonen als Nachbarn verlangen wird. Insofern ist es zutreffend, wenn das Bundesverwaltungsgericht Personen, die sich bloß zu gelegentlicher Freizeitgestaltung in den Einwirkungsbereich einer Anlage begeben, nicht als Nachbarn qualifiziert83. Solche Personen tragen das sogenannte allgemeine, nicht ein besonderes Lebensrisiko. Daß es bei grundrechtsangeleiteter Auslegung zahlreiche Nachbarn geben kann, jedenfalls mehr als „Nebenwohner", steht dieser Lösung nicht entgegen. Dem Kriterium der Bestimmbarkeit84 genügt es, wenn gebündelte Individualinteressen von Kollektivinteressen noch unterscheidbar sind. Das wird im Immissionsschutzrecht, anders als im Atomrecht, regelmäßig problemlos der Fall sein. V. Es ergibt sich damit eine Lösung, die sich auf den Streit um die Schutznormtheorie nicht einlassen muß, die ein Gebot der Rücksichtnahme - für das Immissionsschutzrecht - nicht braucht (jenen „Irrgarten des Richterrechts"85 nicht betreten muß), die auch nicht fragen muß, ob und in welcher Funktion Grundrechte neben das einfache Recht treten können und sollen, ob sie gar verlangen, daß nicht nachbarschützende Normen ausnahmsweise doch nachbarschützende Normen sein sollen nach der hier vorgeschlagenen Lösung drücken sich die für unser 81 Vgl. dazu Ph. Kunig, in: von Münch, a a O (Fn. 54), Rdn. 19 zu Art. 11; s. auch H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 1984, Rdn. 43 zu Art. 11. 82 A . A . O V G Berlin N J W 1977, 2 2 8 3 f f ; auch Arndt, a a O (Fn.20), 721. 85 Vgl. oben Fn. 67. 84 S. oben bei und in Fn. 27. 15 R. Breuer, Das baurechtliche G e b o t der Rücksichtnahme - Ein Irrgarten des Richterrechts, DVB1. 1982, 1065 ff.
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Problem relevanten Wertentscheidungen der Grundrechte bereits in der Reichweite des Nachbarbegriffs aus. Auch eine etwaige Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von „Nachbarn", nämlich klagebefugten und anderen, entfällt dadurch. Und wer „schwer und unerträglich" in seinem Eigentumsrecht betroffen ist, - so ja die Rückfallformel der Rechtsprechung im Baurecht 86 - der ist im Immissionsschutzrecht immer auch Nachbar und damit klagebefugt, sofern ihm eine nachbarschützende N o r m zu Gebote steht. D a dies bei der Betreiberpflicht nach § 5 Abs. 1 N r . 1 B I m S c h G , deswegen auch weiten Umfangs bei den nachträglichen Anordnungen nach § 17 Abs. 1 B I m S c h G , zudem - wie wir sahen - bei der Yerfahrensnorm des § 10 B I m S c h G , bei den genehmigungsfreien Anlagen nach § 22 B I m S c h G und bei den Messungen nach den §§ 26 und 29 Abs. 2 B I m S c h G der Fall ist, wird kaum ein Fall bleiben, in dem sich ein Bedürfnis nach Korrektur dieses Bildes überhaupt nachweisen läßt. Lediglich die Fälle „heranrückender" Emittenten mögen hier — im Vorsorgebereich vor allem - noch Probleme aufwerfen 87 . Respekt für die einfachgesetzliche Ausgestaltung ist also nicht nur aus dogmatischen Gründen angezeigt, er gewährleistet auch sachgerechte Ergebnisse bei verfassungskonformer Auslegung - das Immissionsschutzrecht kann somit freigehalten werden von den Parallelschwierigkeiten des Baurechts. Und verfassungskonforme Auslegung ist immer der vorzugswürdige Weg gegenüber dem gesetzeskorrigierenden unmittelbaren Zugriff auf die Verfassung, dem notwendigerweise ein dezionistisches Element innewohnt. Solcher Respekt wird übrigens bezeichnenderweise von allen Meinungen aufgebracht, wenn es um die Betroffenheit der in einer Anlage beschäftigten Arbeitnehmer geht. O b w o h l diese in ihrer Gesundheit viel stärker betroffen sein können als der Nachbar im Sinne eines formal, gar nur nach der melderechtlichen Zuordnung bestimmten „Nebenwohner-Begriffs", der sein Haus vielleicht nur zum Übernachten und zu Zeiten betritt, wo eine Anlage nicht emittiert, kommt wegen des Ausreichens der Arbeitsschutzgesetze (nicht nur wegen der eher fiktiven „Freiwilligkeit" der Tätigkeit in einer Anlage) niemand auf die Idee, Arbeitnehmer insoweit als Grundrechtsbetroffene auszuweisen.
84 Vgl. nur B V e r w G E 32, 173 (179); 44, 244 (246); K. Finkelnburg/K.-M. Ortloff, Öffentliches Baurecht, 1981, S.272. Daß die Formel auch im Baurecht ihren Sinn verliert, bemerkt K.-M. Ortloff mit Recht, N V w Z 1987, 374 (380). Für Nachbarschutz als Ergebnis verfassungskonformer Auslegung jetzt auch U. Ramsauer, Die Rolle der Grundrechte im System der subjektiven öffentlichen Rechte, in: A Ö R 111 (1986), 501 (530f). 87 S. dazu K.-P. Dolde, Bestandsschutz im Immissionsschutzrecht, in: Festschrift für O . B a c h o f , 1984, S. 191 ff, sowie dem., Bestandsschutz von Altanlagen im Immissionsschutzrecht, N V w Z 1986, 873 ff.
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Wenn dort Respekt für das einfache Recht aufgebracht wird, spricht alles dafür, auch bezüglich der Rechtsstellung anderer Personenkreise die Möglichkeiten auszuschöpfen, die die Auslegung, einschließlich der verfassungskonformen Auslegung, bietet. Somit läßt sich zusammenfassen: Das Bundes-Immissionsschutzgesetz unterscheidet zwischen N o r men, die Dritten entweder ausdrücklich oder jedenfalls erkennbar subjektive Rechte einräumen und Normen, bei denen dies nicht der Wille des Gesetzes ist. Diese Dritten sind immer Nachbarn; es gibt keinen immissionsschutzrechtlichen Drittschutz, der nicht Nachbarschutz ist. Diese Ausgestaltung der Rechtslage ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Nachbarbegriff ist mit Inhalt zu füllen unter Berücksichtigung des Gesetzessinns und der objektiven verfassungsrechtlichen Entscheidungen, die besonderen Schutz für bestimmte Lebenspositionen verlangen. Wer das Gesetz verfassungskonform anwendet, erspart sich konstruktiven Aufwand, der zu Lasten der Rechtssicherheit und der Verständlichkeit für den Bürger geht, und ist nicht in Gefahr, in den Funktionsbereich des Gesetzgebers überzugreifen, in dessen Hand die Austarierung von Grundrechtskonflikten in erster Linie liegen sollte. Die in der Uberschrift zunächst vage umschriebene Fragestellung nach den Rechten von Dritten und Nachbarn ist sonach wie folgt zu beantworten: Im Immissionsschutzrecht sind nur solche Dritte, die zugleich Nachbarn sind, zu eigener Rechtsverfolgung befugt; Nachbar ist jeder, den die Grundrechtsordnung aus dem Kreise der Allgemeinheit hervorhebt.
Prinzipien der gemeinschaftlichen Kostenund Schadenstragung im Seerecht und außergewöhnliche Formen der Haverei im 18. Jahrhundert G Ö T Z LANDWEHR
I. Gewöhnliche Erscheinungsformen der Haverei „Die Haverey wird in die kleine oder ordinaire und in die große oder extraordinaire, auch sonst commune und grossa genannt, wie auch in die particulaire Haverey eingetheilet." In dieser Vorschrift gibt die Hamburger „Assecuranz- und Haverey-Ordnung" von 1731 (Tit. 21, Art. 2) die von der Rechtsdoktrin im 17. und 18. Jahrhundert 1 entwickelte und von der Gesetzgebung2 übernommene, bis heute5 gültige Einteilung der Haverei (Havarie) wieder4. 1 Aus der Vielzahl der seerechtlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts seien nur einige Autoren beispielhaft zitiert. Dabei ist hervorzuheben, daß der Begriff „particulaire Haverey" erst im 18.Jahrhundert aus dem französischen Recht übernommen wird. Quintyn Weytsen, Tractaet van Avaryen (verfaßt zwischen 1554 und 1563), 1651, §2 (in der Ausgabe von Adriaen Verwer, Nederlants See-Rechten, Avaryen en Bodemeryen, Amsterdam 1711, S. 183 ff); Arnold Vinnius, in: Petrus Peckius, In Titt. Dig. et Cod. ad rem nauticam pertinentes Commentarii (1556). Quibus nunc accedunt Notae cum ampia dote variarum circa rem Navalem observationum Beneficio Arnoldi Vinnii, Leiden 1647, S. 193 N o t e c); Joannes Loccenius, De jure maritimo et navali libri tres, 1651, Lib. II, Cap. VIII, N r . 3 (in: Jo. Gotti. Heineccius, Scriptorum de iure nautico et maritimo fasciculus, Halle u. Magdeburg 1740, S. 999); Johannes Marquard, De jure mercatorum et commerciorum singulari libri IV, Frankfurt 1662, Lib. III, Cap. IV, Rdn. 10-12 (S.390f); Reinold Kuricke, Jus maritimum Hanseaticum, 1667, ad Tit. VIII de iactu maris et Havaria, vor Art. 1 (in: J. G. Heineccius, s. o., S. 769); Josephus Laurentius Maria de Casaregis, Discursus legales de commercio, Florenz 1719, Disc. 45, Rdn. 16 (S.281); Hermann Langenbeck, Anmerckungen über das Hamburgische Schiff- und See-Recht, Hamburg 1727, S. 161 ff; Joh. Julius Surland, Grund-Sätze des Europäischen See-Rechts, Hannover 1750, §§324—327 (S. 62 f); Henning Wedderkop, Introductio in ius nauticum, Flensburg 1757, Lib. IV, Tit. 1, §§3-10 (S. 154 ff); Joannes Petrus Soltau, Dissertatio de eo, quod iustum est circa havariam particularem secundum statutum Hamburgense part. II. tit. XVII et XIX, Praes. Frid. Gottlieb Zoller, Leipzig 1774, §2 (S. lOff); Gottlieb Rudolph Ladehoff, Dissertatio de havariarum discrimine in primis ex legibus nauticis Germaniae septemtrionalis, Praes. Joannes Henricus Fricke, Kiel 1783, § § 2 f f , § § l l f f (S.2ff, 15ff); Franz Matthias Klefeker, Von der Havareigroßa oder extraordinaire, besonders nach den Gesetzen und Gewohnheiten der Reichsstadt Hamburg, Göttingen 1798, Cap. 1, § 1 (S. 13 f).
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1. Die kleine oder ordinäre Häver ei, die im übrigen auch als gemeine (communis) oder ordentliche Haverei bezeichnet wird5, umfaßt alle „ordinären" Ausgaben der Seereise, „als da sind ordinaires Lots-, Feuer-, Baacken-, Pfahl-, Schmach- und Lichter-Geld, Everführer-Lohn, Ancorage, ordinaire Quarantaine und dergleichen, wovon die Ladung zwey Drittel nach Lasten, nicht aber nach dem Werth gerechnet, das Schiff aber einen Drittel trägt"7. Seit dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 fallen diese Unkosten allein dem Verfrachter zur Last (Art. 622 Abs. 2 A D H G B ) . 2. - Zur großen oder extraordinären Haverei, auch Avaria Grossa genannt, rechnen „alle ausserordentliche zu Rett- und Erhaltung Schiffs und Guts angewandte Unkosten, und in solchen Fällen entstandener Schade, welche über Schiff, Gut und Frachten* vertheilet werden'"'. Nach der Hamburgischen Assekuranz- und Haverei-Ordnung gehören dazu insbesondere (Tit. 21, Art. 9): - die beim {„zum gemeinen Besten" erfolgten) Seewurf und „sonst zu Erhaltung Schiffs und Guts" entstandenen Schäden, - die durch („zu Rettung Schiffs und Guts" ausgeführtes) Kappen und Schlippen von Tauen und Schiffsgeräten eingetretenen Verluste, - die Kosten für das Flottmachen oder die Leichterung eines auf Grund gelaufenen Schiffes, - die bei der Verteidigung des Schiffes gegen Feinde, Kaper und Seeräuber an Schiff und Gut entstandenen Schäden, 2 Ordonnance de la marine von 1681 (Ord d 1 mar) III 7: Art. 1-9; Preußisches Seerech: von 1727 (Pr SR) VIII: Art. 23, 42-47; Brandenburg-Preußische Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1766 (Pr A H O ) §§204-217; Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794 (Pr ALR) II 8: §§1774 ff, 1785 ff, 1900 ff. 5 Hans Jürgen Abraham, Das Seerecht, 4. Aufl. 1974, §26 (S.229f); Hans Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht, 2. Aufl. 1950, §28 (S.375f); Philipp Heck, Das Recht der Großen Haverei, 1889. Siehe auch: Art. 622 Abs. 2, 702, 703 A D H G B ; §§621 Abs. 2, 700, 701 H G B . 4 Die Hamburgische Assekuranz- und Haverei-Ordnung (Hamb A H O ) folgt bei der Bezeichnung der Großen Haverei auch als Commune Haverei der französischen Terminologie in der Ordonnance de la marine III 7: Art. 6 („avaries grosses ou communes"). In den mittel- und nordeuropäischen Seerechten hat sich diese Benennung ansonsten nicht durchgesetzt. In diesen Seerechten wird vielmehr die Kleine Haverei auch als gewöhnliche oder commune Haverei bezeichnet. 5 Siehe Fn. 4. ' Lichter-Geld sind die Kosten für die Leichterung eines Schiffes, d. h. für die Umladung von Ladungsteilen auf Leichterschiffe beim Einlaufen in einen Hafen mit geringer Wassertiefe. 7 H a m b A H O XXI: Art. 3. ' Mit Fracht wird das Frachtgeld, der Frachtlohnanspruch des Schiffers oder der Reeder, bezeichnet. ' H a m b A H O XXI: Art. 7.
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- die für die Heilung und Verpflegung der bei der Verteidigung des Schiffes verwundeten Besatzungsmitglieder sowie durch Zuwendungen an die Witwen, Waisen und Eltern der getöteten getätigten Ausgaben, - die dem Schiffsvolk anläßlich der Verteidigung des Schiffes oder der Rettung aus sonstigen Gefahren versprochene Belohnung, - das an Kaper und Räuber „mit gutem Willen10 zu Befreyung Schiffs und Guts" gezahlte Lösegeld, - „wann in Kriegs-Zeiten Armateurs oder Commißions-Fahrer, die nicht zur feindlichen Parthey gehören, Waaren oder sonst etwas aus den Schiffen gegen versprochene Bezahlung nehmen und die Bezahlung nicht erfolget", - die außerordentlichen Lotsengelder11 sowie die Unkosten bei der Bergung eines lecken Schiffes oder beim Anlaufen eines Nothafens, - die Unkosten einer extraordinären Quarantäne12 und bei „nicht zu vermeidenden Zufällen". Die meisten der in der Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1731 genannten Fälle der Großen Haverei'3 sind bereits den mittelalterlichen Seerechtsquellen bekannt14. Sie finden sich auch im Hamburgischen Stadtrecht von 160315, im Schwedischen Seerecht von 1667", in der französischen „Ordonnance de la marine" von 1 6 8 1 i n der Rotterdamer Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 172118 sowie im Preußischen Seerecht von 1727" und sodann in der Brandenburg-Preußischen Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 176620. Zusätzlich nennen das Hamburger Stadtrecht von 1603 und das Preußische Seerecht noch folgende Schadensfälle:
10 Im Gegensatz zur gewaltsamen Wegnahme durch Seeräuber. Der Seeraub ist ein Fall der partikulären Haverei. Siehe unten Text zu Fn. 31 sowie III. 1. u. 2. b) (S. 629, 633). 11 Im Gegensatz zum ordentlichen Lotsengeld, das unter die Kleine Haverei fällt. Siehe oben Text zu Fn. 7. 12 Ordinäre Quarantänekosten sind Kleine Haverei. Siehe oben Text zu Fn. 7. 13 Oben sind die in der Hamburgischen Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1731 aufgezählten Fälle der Großen Haverei in einer systematischen Reihenfolge wiedergegeben. Die Hamb A H O hat in X X I : Art. 9 eine andere Ordnung. 14 Götz Landwehr, Die Haverei in den mittelalterlichen deutschen Seerechtsquellen, 1985 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, Jg. 3, Heft 2), S. 85 ff. 15 Hamb StR 1603 II 14: Art.42; II 16: Art.2, 10; II 19: Art. 1. " Schw S R V : Kap. 10; 11 §§3, 4; 12 § 1 ; 14 pr.; 17 pr. 17 Ord d 1 mar III 7: Art.6, 7; III 8: Art. 1-3, 13; III 3: Art. 16; III 4: Art. 11. 18 Rott A H O Art. 83-100. 19 Pr SR VIII: Art. 14-17, 24-29. 20 Pr A H O §§218, 220.
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- die Verluste durch Salz-Leckage infolge eindringenden Seewassers beim übermäßigen Segeln, dem sog. Prangen, „um ein Vorland zu vermeyden oder sonsten aus Noht Schiff und Gut zu erhalten"21, - die Schäden, die dadurch entstehen, daß das Schiff, um drohenden größeren Gefahren zu entgehen, absichtlich auf den Strand gesetzt wird, sowie die Abbringungskosten22, - die Kosten für Verpflegung und Heuer für das Schiffsvolk, wenn das Schiff während der Reise in einem Hafen von hoher Hand aufgehalten wird23, - die Unkosten für eine Admiralschaft sowie die an fremde bewaffnete Schiffe gezahlten Feuer- und Konvoigelder, soweit diese eine bestimmte Höhe je Schiffslast (20 Tonnen) übersteigen24. Für sämtliche Fälle der Großen Haverei stellte die gemeinrechtliche Wissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts ausgehend von den Aussagen der römischen Juristen zur Lex Rhodia de iactu (Digesten 14, 2) abstrakte Voraussetzungen fest, die in das Preußische Seerecht von 1727 Eingang fanden. Danach erfordert die Große Haverei: 1. daß ein Schaden an Schiff und Gut zur Verhütung größerer Verluste nach reiflicher Überlegung und mit Wissen und Willen des Schiffers und seiner Leute verursacht wird, 2. daß die Aufopferung in der Zeit äußerster Not, um Schiff und Ladung zu retten, geschieht, 3. daß dadurch Schiff und Gut auch wirklich gerettet werden25.
21 Hamb StR 1603 II 14: Art. 35. - Zur Anwendung dieser Bestimmung, die eigenartigerweise nicht in die Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1731 aufgenommen wurde, im 18. und auch im 19. Jahrhundert siehe: Hermann Langenbeck, Anmerckungen über das Hamburgische Schiff- und See-Recht, Hamburg 1727, S. 86 f; Meno Pohls, Darstellung des gemeinen Deutschen und des Hamburgischen Handelsrechts, Bd. III: Darstellung des Seerechts nach gemeinem und Hamburgischem Rechte, Hamburg 1830, §443 Nr. 10 (S.641 f), §446 Nr. 13 (S.682). 22 Pr SV VIII: Art. 7, 8, 14. 23 Pr SV V: Art. 30. 24 Pr SV V I I I : Art. 45. - Im 17. und 18. Jahrhundert wurden außerdem die Schäden und Verluste, die ein zu einer Admiralschaft vereinigter Verband von Handelsschiffen im Kampf mit Seeräubern und Feinden erlitten hatte, zur Großen Haverei gerechnet: Hamb StR 1603 II 14: Art.42. Siehe: Langenbeck (Fn.21), S . 9 6 f . 25 Pr SR VIII: Art. 23. - Zur Herausarbeitung der die Grundvoraussetzungen umfassenden abstrakten Definition der Großen Haverei durch die gemeinrechtliche Wissenschaft des 16. bis 18. Jahrhunderts siehe: Götz Landwehr, Das Preußische Seerecht vom Jahre 1727 im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 8 (1986) S. 113 ff ( 1 3 3 - 1 3 8 ) . - Im geltenden Recht sind die Voraussetzungen der Großen Haverei in ähnlicher Weise geregelt: §§700, 703 H G B (Art. 702, 705 A D H G B ) .
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Für alle davon erfaßten Einzelfälle der Großen Haverei ist charakteristisch, daß die Opfer einzelner zur Rettung von Schiff und Ladung aus einer Gefahrenlage nicht den davon zufällig Betroffenen allein zur Last fallen, sondern als Havarie Grosse von allen, den Reedern, dem Schiffer und den Befrachtern, gemeinschaftlich getragen werden (Art. 702 A D H G B ; §700 HGB). 3. Als partikuläre oder private Haverei bezeichnet die Hamburgische Assekuranz- und Haverei-Ordnung denjenigen Schaden, „der einem Schiff allein oder der Ladung allein und insbesondere, und nicht zu Abwendung gemeinsamer Gefahr zustoßet" (Tit. 21, Art. 11). Dazu gehören alle Verluste an Schiff und Ladung, die zufällig oder auf Grund höherer Gewalt durch Gefahren der See eintreten. Hinsichtlich solcher Vermögenseinbußen besteht keine Gefahrengemeinschaft zwischen Reedern, Schiffer und Befrachtern. Die vom Zufall betroffenen Güter werden nicht bewußt aufgeopfert, um Schiff und Ladung zu retten, sondern sie sind blindlings das Opfer der allgemeinen Seegefahr geworden, die jeder einzelne individuell in Kauf genommen hat. Die entstandenen Schäden müssen deshalb von den betroffenen Eigentümern, den Reedern und den Befrachtern, allein getragen werden26. Das Hamburger Stadtrecht von 1603 rechnet dazu: - den Verlust von Mast, Segel, Takel, Tauen und Anker „von der Macht des Sturms oder Ungewitters"27, - die Werfung von Ladungsgütern in Seegefahr, wenn das Schiff überladen und „unbeschuldiget von den Fracht-Leuten" ausgesegelt ist28, - das Verderben der Ladung in Seenot vor und nach, nicht aber während und durch die Werfung von Gütern 29 , - den unverschuldeten Verderb oder das Auslaufen von Frachtgut 30 , - den Verlust von Frachtgütern durch Seeraub31. 4. Aus dem Digesten-Titel über die Lex Rhodia de iactu und insbesondere der Paulus-Stelle in Dig. 14, 2, 2, pr. (a. E.: „aequissimum enim est, commune detrimentum fieri eorum, qui propter amissas res aliorum consecuti sunt, ut merces suas salvas haberent"") entwickelte die gemein26
Pr A H O §§209, 210. Hamb StR 1603 II 16: Art.2. 2 » Hamb StR 1603 II 14: Art. 24. 29 Hamb StR 1603 II 16: Art. 4. Die Bestimmung stammt aus dem Römischen Recht. 50 Hamb StR 1603 II 14: Art. 34. 31 Hamb StR 1603 II 19: Art. 1. Die Vorschrift ist aus dem Römischen Recht rezipiert worden. 52 Siehe auch: Hermogenian, Dig. 14, 2, 5, pr. 27
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rechtliche Seerechtswissenschaft" den in das Preußische Seerecht von 1727 aufgenommenen Satz (Kap. 8: Art. 1), daß aller Schaden, welchen „eines oder das andere" (gemeint sind Schiff oder Ladungsgut) „zum gemeinen Besten leidetvon beiden „gemeinschaftlich getragen werden muß". Dieser Grundsatz wurde bereits im 17. Jahrhundert nicht auf das Seerecht beschränkt. Er wurde vielmehr von der Wissenschaft auch auf andere Fälle angewandt, in denen durch das Vermögensopfer eines einzelnen eine mehreren zugleich drohende Gefahr abgewendet wurde. Das bezog sich auf Feuersbrünste und Kriegsschäden34. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand diese Rechtsanwendung Eingang in § 1043 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Hat jemand in einem Notfalle, um einen größeren Schaden von sich und anderen abzuwenden, sein Eigentum aufgeopfert, so müssen ihn alle, welche daraus Vorteil zogen, verhältnismäßig entschädigen. Die ausführlichere Anwendung dieser Vorschrift auf Seegefahren ist ein Gegenstand der Seegesetze." Wurde einerseits seit dem 17. Jahrhundert von der Wissenschaft der Versuch unternommen, die Prinzipien der seerechtlichen Aufopferung auf das allgemeine Zivilrecht zu übertragen, so finden sich andererseits während des 18. Jahrhunderts in der Praxis Ansätze, in der Seefahrt den Gedanken der gemeinschaftlichen Schadenstragung auch auf Sachverhalte auszudehnen, bei denen kein Vermögensopfer eines einzelnen zur Rettung aller aus einer gemeinschaftlichen Seegefahr erfolgt war und
33 Loccenius (Fn. 1), Lib. II, Cap. VIII, Nr.2 (S.999); Marquard (Fn. 1), Lib. III, Cap. IV, Rdn. 13 (S. 391); Martin Cubmann, Disputationem de Contributione propter Jactum vulgo Avaria, Praes. Georg Werner, Helmstedt 1665, Thes. X X I I (o. Sz.); Johannes van den Bergb, Disputatio Ad Legem Rhodiam de Jactu, Leiden 1688, Thes. VI (o. Sz.); Matthaeus Sonmans, Dissertatio ad Legem Rhodiam de Jactu, Leiden 1723, Cap. II (S. 5); Nicolaus Opperdoes, Disputatio ad Legem Rhodiam de Jactu, Leiden 1721, S. 10; Lucas Andreas von Bostell, Dissertatio de Contributione propter Jactum marinum, vulgo Havana, Straßburg 1735, §5 (S.6f). 54 Johannes Schilter, Praxis juris Romani in foro Germánico juxta ordinem Edicti Perpetui et Pandectarum Justiniani, Jena 1684, Ad L. Rhod. de Jactu, §29 (S.209); W.A. Lauterbach, Collegii theoretico-practici, a libro primo Pandectarum usque ad vigesimum, Pars Prima, 3. Aufl. Tübingen 1726, De Lege Rhodia de jactu, § 14 (S. 914); Johannes Voet, Commentarius ad Pandectas, 8. Aufl. Halle 1778, Ad Legem Rhodiam de iactu, §18 (S. 215); Samuel Stryk, Continuatio altera usus moderni Pandectarum, a Libro XIII usque ad X X I I , 6. Aufl. Halle u. Magdeburg 1735, De Lege Rhodia de jactu, § 12 (S. 92); Petrus van der Schelling, De lege Rhodia de jactu, diatribe theoretico-practica, Leiden 1722, Cap. XIV §11 (S. 50ff); Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, ein Commentar, Teil XIV, 1, Erlangen 1813, §890 (S.233f). Siehe auch: Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), 1985, §98 II (S. 497).
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nach allgemeinen Regeln jeder seinen erlittenen Verlust selbst zu tragen hatte. Das soll im folgenden an zwei eklatanten Beispielen näher dargestellt werden. II. Große Haverei in der Haff- und Pregelschiffahrt zwischen Königsberg und dem Vorhafen Pillau Vor der alten Handelsstadt Memel und der 1720 nach dem Nordischen Krieg mitsamt der Odermündung und einem Teil Vorpommerns an Brandenburg-Preußen gelangten Hansestadt Stettin sowie der erst 1744 mit der ostfriesischen Erbschaft erworbenen Hafenstadt Emden war Königsberg die bedeutendste Seehandelsstadt Preußens. Die Stadt hatte jedoch für die Seefahrt den Nachteil, daß sie etwa sieben Kilometer von der Mündung des Pregel in das Frische Haff landeinwärts gelegen war und daß Seeschiffe weder das Haff noch den Pregel befahren konnten. Die Schiffe mußten deshalb in dem am Ausgang des Haffs gelegenen Vorhafen Pillau vor Anker gehen. Dort wurde das gesamte Frachtgut in Leichterschiffe, die als Bordinge bezeichnet wurden, umgeladen und über das Haff und auf dem Pregel nach Königsberg transportiert. Für den Schiffsverkehr zwischen Pillau und Königsberg enthält das Preußische Seerecht von 172735 besondere Vorschriften über die Beschädigung oder den Verlust von Ladungsgütern in Bordingen sowie den Seewurf aus solchen Leichterschiffen zur Rettung von Fahrzeug und Ladung. 1. Wenn Frachtgut infolge einer Fahruntüchtigkeit des Bordings oder durch ein Verschulden der Bordingsleute beschädigt wird, dann soll primär der Schiffer, aus dessen Schiff das Gut in den Bording verladen worden ist, Schadenersatz vom Bordingsreeder verlangen und „folgends nur dasjenige, so desfals bey dem Bordings-Rehder nicht erhalten werden könnte, zur Haverey über Schiff und Gut gezogen werden" (Kap. 8: Art. 30). Ein Schaden, der durch zufällige Beschädigungen oder Verluste eintritt, wird dagegen, „obgleich selbiger ebenfals die rechtlichen Eigenschafften einer wahren Haverey völlig nicht hätte, durchgehens für Haverey-Grosse gerechnet und aus dem Schiffe und allen mit selbigem in Gemeinschafft stehenden Gütern erstattet werden" (Art. 30).
35 Zum Preußischen Seerecht von 1727 siehe: Götz Landwehr, Das Preußische Seerecht vom Jahre 1727 im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 8 (1986) S. 113-142. - Zur Regelung der Bordingsschiffahrt zwischen Pillau und Königsberg siehe im Pr SR auch VIII: Art. 2, 5, 9, 10.
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a) Der zweite Teil dieser Regelung findet sich bereits im „Churfürstlich Brandenburgischen Avarie-Recht" von 168436. Er geht zurück auf Digesten 14, 2, 4, pr. Diese Textstelle setzt aber zweierlei voraus: (1.) daß das Schiff nicht völlig gelöscht, sondern nur geleichtert wird, um in einen Fluß oder Hafen einlaufen zu können, und (2.) daß dem Schiff außerdem eine Gefahr droht („ne aut extra flumen periclitetur aut in ipso ostio vel portu"). An beiden Erfordernissen fehlt es aber, wenn die Ladung des Schiffes im Hafen von Pillau für den Weitertransport nach Königsberg in Bordinge umgeladen wird. Das wird auch vom Preußischen Seerecht nicht verkannt. Denn nicht ohne Grund heißt es in dem oben zitierten Artikel 30, daß „die rechtlichen Eigenschafften einer wahren Haverey" an sich nicht völlig vorhanden sind. Dennoch lag die Rechtsetzung in Preußen nicht ganz und gar außerhalb der allgemeinen Entwicklungstendenz. Während das Hamburger Stadtrecht von 1603 und ebenso die Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1731 noch verlangen, daß die Leichterung des Schiffes aus Not erfolgt sein muß", nennen sowohl das Schwedische Seerecht von 166738, das insoweit der seerechtlichen Ordonnanz Philipps II. für die Niederlande von 1563 folgt35, als auch die „Ordonnance de la marine" von 168140 diese Voraussetzung nicht. Diese Seerechte sehen es vielmehr als ausreichend an, daß ohne die Leichterung das Einlaufen des Schiffes in den Hafen nicht möglich ist und daß deshalb Teile des Ladungsgutes zum Besten des Ganzen den Risiken
36 „Avarie-Recht" §13. - Das von der seerechtsgeschichtlichen Forschung bislang übersehene „Churfürstlich Brandenburgische Avarie-Recht" vom 12. September 1684 ist gedruckt nur in Auszügen überliefert: Reinhold Christian von Derschau, Disputatio de Havaria, Germ. Haverey, Praes. Johann Henrich Hoyer, Königsberg 1700, Addenda, S.27-30: §§10, 12-19, 21, 23-27, 34-37; Melchior Lüheck, De jure avariae singulari Dissertatio, Königsberg u. Leipzig 1719, S.32, 35, 36, 39, 45, 48, 67: §§12, 15, 16, 25, 27, 36. 37 Hamb StR 1603 II 16: Art. 9: „Erfordert es die Noth, daß man ein Schiff muß lichten, damit es über Grund kommen und desto besser in den Häven möge gebracht werden, ...". Diese Bestimmung stammt aus dem Stadtrecht von 1497, P: Art. 40, und ist aus Dig. 14, 2, 4, pr. entlehnt. Hamb AHO X X I : Art. 9 Nr. 3; siehe oben I.2., S.620. 3! Schw SR V: Kap. 15 pr. 39 Ordonnanz Philipps II. von 1563, Tit. IV: Art. 10. - Vgl. auch: Rotterdamer Assekuranz- und Haverei-Ordnung von 1721, Art. 94. Demgegenüber bestimmt die Ordonnanz Karls V. von 1551 für die Niederlande (Art. 50), daß alle Schäden und Verluste am Ladungsgut, die während der Leichterung des Schiffes beim Einlaufen in den Bestimmungshafen entstanden sind, grundsätzlich nicht vom Schiffer zu erstatten sind (vgl. aber Fn. 44), sondern den einzelnen Befrachtern zur Last fallen. 40 Ord d 1 mar III 8: Art. 19.
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eines Transports mit Leichterschiffen ausgesetzt werden41. Dieses Erfordernis traf für die vollständige Entladung der Schiffe in Pillau allerdings ebenfalls nicht zu. b) Der erste Teil der Vorschrift des Kap. 8: Art. 30 im Preußischen Seerecht über die Erstattung schuldhaft verursachter Schäden ist dagegen eine Neuschöpfung. Das „Avarie-Recht" von 1684 sah für diesen Fall vor, daß „der Haupt-Schiffer, welcher die Bordings heuret, solchen Schaden ersetzen" muß, „weil der Kauffmann nicht wissen kan, ob der Schaden in dem Schiffe oder Bording geschehen ist". Der Schiffer aber sollte wiederum beim Bordingsreeder Regreß nehmen42. Diese Bestimmung ist wahrscheinlich auf Digesten 19, 2, 13, 1 (a. E.) zurückzuführen43, möglicherweise aber auch von der seerechtlichen Ordonnanz Karls V. von 1551 für die Niederlande beeinflußt44. Abweichend vom „AvarieRecht" setzt das Seerecht von 1727 mit seiner andersartigen Regelung den Weg fort, den das preußische Recht im Jahre 1684 zu beschreiten begonnen hatte, indem das „Avarie-Recht" Schäden, die während der Beförderung der Ladungsgüter in Bordingen durch Zufall entstanden waren, als Große Haverei einordnete (siehe oben a). In Fortentwicklung dieser grundsätzlichen Entscheidung bringt das Gesetz diejenigen Prinzipien zur Anwendung, welche die Seerechtswissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert für den Fall herausgearbeitet hatte, daß „es durch Schuld des Schiffers dahin gediehen, daß man zur Erhaltung Schiffes und Gutes zu einem See-Wurff resolviren muß"45. Dann sollten die Eigentümer der geworfenen Güter primär Schadenersatz vom Schiffer und von den Reedern verlangen. „Sind in allen diesen Fällen die Schiffer und hienächst die Schiffs-Rheder nicht im Stande, den daher gehabten Schaden einiger Befrachter des Schiffes gantz oder zum Theil wieder zu ersetzen, so muß derselbe durch gemeinen Beytrag, insoferne man sich des sonstig
41 Vgl.: Wilhelm Benecke, System des Assekuranz- und Bodmereiwesens, Bd. IV (Hamburg 1819), S.56. 42 „Avarie-Recht" § 1 4 (Fn.36). 43 Dig. 19, 2, 13, 1: „Si navicularius onus Mintumas vebendum conduxerit et, cum flumen Mintumense navis ea subire non posset, in aliam navem merces transtulerit, eaque navis in ostio fluminisperierit, teneturprimus navicularius? Labeo, si culpa caret, non teneri ait: ceterum si vel invito domino fecit vel quo non debuit tempore aut si minus idoneae navi, tunc ex locato agendum." 44 Art. 50 der Ordonnanz Karls V. von 1551 (vgl. Fn. 39) ordnet an, daß ausnahmsweise der Schiffer den bei der Leichterung eingetretenen Verlust zu erstatten hat, wenn er „by zynen toedoene (Zutun) ofte negligencie (Unvorsichtigkeit) gheschiede ofte oock, dat hy zulcke goeden ontlast (entladen) badde, zonder behoorlocke oorzaecke (Ursache) te hebben". 45 Joachim Lucas Stein, Abhandlung des Lübschen Rechts, Teil V: Abhandlung des Lübschen See-Rechts, Rostock o.J. (1746), § § 6 6 - 6 8 (S. 88-94), Zitat S.89.
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nicht wieder erholen kan, in subsidium wieder vergütet werden"". Dieser Rechtsgedanke wird im Seerecht von 1727 aufgegriffen und in Kap. 8: Art. 30 auf den Sachverhalt angewandt, daß ein Dritter, der Bordingsreeder, primär für den entstandenen Schaden einzustehen hat. Dem Institut der subsidiären Haverei war jedoch keine Zukunft beschieden. Das ALR dreht die Reihenfolge der Haftung um: Auch schuldhaft verursachte Schäden an den in Bordinge eingeladenen Gütern werden primär zur Großen Haverei gerechnet, jedoch können alle Betroffenen wegen ihres Havereibeitrages Ersatzansprüche gegen den Schädiger geltend machen (II 8: §§1813, 1814). Dieser Lösung, die das Schwedische Seerecht von 1667 bereits ansatzweise kennt47, folgt auch das geltende Recht (Art. 704 ADHGB; §702 HGB). 2. In Kap. 8: Art. 31 behandelt das Preußische Seerecht von 1727 den Seewurf von Gütern aus einem Bording als Große Haverei: Eine Schadenskontribution findet zunächst zwischen dem Bordingsreeder und den Eigentümern oder Empfängern der geworfenen und geretteten Ladungsgüter statt; der Schadensbeitrag, der dabei vom Frachtgut insgesamt zu tragen ist, wird wiederum verhältnismäßig auf das (ent- oder beladene) Schiff und dessen gesamte Ladung verteilt. Eine derartige gestufte Havereikontribution findet sich bereits im „Avarie-Recht" von 168448, sie kehrt wieder im ALR (II 8: §§1773, 1816). Den anderen Seerechten ist sie unbekannt. 3. Die Regelung in Kap. 8: Art. 30 und 31 des Preußischen Seerechts von 1727 stellt den Versuch dar, durch Erweiterung des Instituts der Großen Haverei die allgemeinen Risiken, die mit jeder Umladung von Frachtgut und dem Transport auf Leichterschiffen verbunden ist, auf alle Betroffenen, den Verfrachter und die Befrachter, verhältnismäßig zu verteilen. Das Prinzip, daß Opfer einzelner, die allen zugute kommen, auch von allen gleichmäßig zu tragen sind, trifft hier nicht mehr zu. Das Ganze ähnelt eher einer allgemeinen „Schadensteilung auf Gegenseitigkeit", die sich im Prinzip nur wenig von einer Versicherung unterscheidet. Mit der Anwendung des Instituts der Großen Haverei wollte man offenkundig die Königsberger Kaufleute gegen die Risiken der Pregelund Haffschiffahrt absichern. Dies führte jedoch nicht bloß zu einer 46 Joachim Lucas Stein (Fn. 45), § 68 (S. 94). - Zur Bedeutung eines Fehlverhaltens des Schiffers beim Seewurf und bei den sonstigen Havereifällen für den Ausschluß einer Schadenskontribution siehe: Johannes van den Bergh, Disputatio Ad Legem Rhodiam de Jactu, Leiden 1688, Thes. 3 (o. Sz,);Johan van Noortwyck, Disputatio ad L. Rhodiam de Jactu, Utrecht 1714, Thes. 2, 5 (S. 7);Joh.Jacobus de Beyer, Dissertatio de Lege Rhodia de Jactu, Praes. Johann Georg Scherz, Straßburg 1717, Cap. 2 §3 (S.5). 47 Schw SR V: Kap. 11. pr. (a.E.). 48 „Avarie-Recht" §13 (Fn.36).
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Schadensgemeinschaft der Befrachter, sondern ging auch zu Lasten der Verfrachter (Reeder), die mit dem Wert ihres Schiffes verhältnismäßig zur Kontribution beitragen mußten. Insoweit wurden die besonderen Risiken, die sich aus der geographischen Lage Königsbergs ergaben, auch auf die Betreiber der Seeschiffahrt abgewälzt. Der Außergewöhnlichkeit und Einseitigkeit dieses Interessenschutzes war man sich dabei durchaus bewußt, denn der Warentransport über das Haff von Pillau nach Danzig, Elbing und Braunsberg, der ebenfalls mit Bordingen durchgeführt wurde, war von dieser Regelung ausdrücklich ausgeschlossen (Kap. 8: Art. 12, 13).
III. Havaria conventionalis
oder freiwillige Haverei
1. Das Preußische Seerecht von 1727 enthält folgende bemerkenswerte Bestimmung (Kap. 8: Art. 41):
„Da übrigens ein Schiffer durch blosses Unglück, als See-Stürtzung, Caperey und dergleichen Zufall, unterwegens an seiner Ladung einigen Schaden bekommen, der zur Haverey sonst nicht gehöret, so ist er schuldig, solches bey seiner Ankunft auf dem Loß-Platze, vor Eröffnung der Lucken zum Lossen (Löschen), ohne Verzug, jedoch mit gäntzlicher Verschweigung, wessen oder was für Güter eigentlich und insbesondere der Schaden betroffen habe, den sämtlichen Empfängern zu melden, damit selbige sich erklären können, ob sie entweder insgesamt oder einige von ihnen solchen Schaden als eine frey willige Haverey über ihre Güter anschlagen und gemeinschafftlich tragen wollen oder nicht, so in ihrer Freyheit stehet. Würde der Schiffer hiebey wissentlich etwas versehen oder versäumen, soll er demjenigen, welchen der Schaden getroffen, den zehnten Theil desselben zu ersetzen schuldig seyn. Geschehe es aber aus Vorsatz oder Collusion und Verständniß mit einem oder den andern Interessenten, soll er, der Schiffer, den halben Schaden zu tragen gehalten seyn." Die havaria conventionalis ist keine Besonderheit des Preußischen Seerechts, sondern eine im 18. Jahrhundert in der Ostseeschiffahrt gängige Erscheinung 49 . Im Jahre 1746 wird sie in den von König Christian 49
Henning Wedderkop, Introductio in ius nauticum, Flensburg 1757, Lib. III, Tit. 6, §§ 53, 54 (S. 96 f); Em. Jo. Frid. Mantzel, Jus Mecklenburgicum et Lubecense, illustratum, una cum Accessionibus Jus Hamburgense, Rostock 1751, Centuria quarta, Judic. 99 (S. 250 f); Gottlieb Rudolph Ladehoff, Dissertatio de havariarum discrimine in primis ex legibus nauticis Germaniae septemtrionalis, Praes. Joannes Henricus Fricke, Kiel 1783, § 14 (S. 20f); Franz Ludwig von Canerin, Abhandlungen von dem Seerechte, Bd. II, Halle 1800, §107 (S. 61).
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VI. bestätigten V e r s i c h e r u n g s b e d i n g u n g e n der „Kopenhagenschen Assecuranz-Compagnie" geregelt 5 0 . U b e r das V o r k o m m e n der f r e i w i l l i g e n H a v e r e i i m l ü b i s c h e n Seerecht g e b e n z w e i F o r m u l a r e aus d e m Jahre 1722 u n d 1743 A u s k u n f t : „Demnach ich unterschriebener mit meinem Gallioth am heil. Pfingst-Abend von Reval glücklich allhier angekommen und einige Tage stürmichtes Wetter in der See gehabt, dahero in Sorgen stehe, daß einige nasse Waaren im Löschen sich befinden mögten, welches doch nicht hoffen will. Als habe hierdurch meinen H. Herren Befrachtern zu zeichnen oder solches anzeigen wollen, ob ihnen hierunter Haverey dero eigen risico von den eingeschifften Waaren zu stehen gefällig sey. Lübeck, den 27. May 1722. Hinrich NN. NN. NN. NN.
gestehet gestehet gestehet können. gestehet
rechtmäßige eigen risico. rechtmäßige rechtmäßige
Christoph
Riese.
Haverey. Haverey, Haverey.
bis der
Schiffer
hat
löschen
"51
Stellte sich n u n b e i m L ö s c h e n der L a d u n g heraus, daß einige Frachtgüter i n f o l g e des U n w e t t e r s b e s c h ä d i g t o d e r zerstört w a r e n , s o f a n d unter d e n Befrachtern o d e r L a d u n g s e m p f ä n g e r n , s o w e i t sie „rechtmä-
50 Assekuranz-Bedingungen für die Haverey-Rechnung von 1746, Art. IV, Nr. 1 u. 2. Bei: (Magens), Versuch über Assecuranzen, Havereyen und Bodmereyen insgemein, Hamburg 1753, S.1045ff, 1051: „In nachfolgenden Fällen können nach den Verordnungen verschiedener Städte zur particulier Haverey, oder besser gesagt, zur Gegeneinanderhaltung zwischen den Befrachtern auf das Gut alleine kommen: (1) Stückgüter, so in dem Räume von schweren Seestürtzungen hey hartem Wetter beschädigt werden. (2) Stückgüter, so aus dem Raum geplündert oder geraubet und die Flagge eingenommen wird, wo der Schiffer keine Anweisung etwas gewisses wegzunehmen gegeben. Und in diesen Fällen soll der Schiffer, sobald er auf einer Rhede oder Hafen den Ancker geworfen, dem Befrachter zu erkennen geben, entweder, daß er besorge, daß die Güter von schweren Seestürtzungen in dem Raum verdorben, oder auch daß Güter in dem Raum geraubet oder geplündert worden, oder beydes zugleich. Und hält derselbe mitlerzeit seine Lucken geschlossen und offenbaret nicht, von welcher Sorte das beschädigte oder geraubte ist, so daß er solches auf Verlangen eidlich erklären kann, bis daß sämtliche Befrachter sich erkläret haben, ob sie ihre eigne Gefahr laufen wollen, wen das geraubte oder beschädigte betreffen mag, oder auch Haverey zeichnen." 51 Hinrich Brokes, Selectae Observationes Forenses, Lübeck 1765, Obs. 420 (S. 461 f). Dort findet sich auch das zweite Formular vom 20. Dez. 1743, das danach wiedergegeben ist bei: Götz Landwehr, Die Bedeutung des lübischen Seerechts während des 18.Jahrhunderts, in: Schiffe und Seefahrt in der südlichen Ostsee, hg. von Helge Bei der Wieden, 1986 (Mitteldeutsche Forschungen Bd. 91), S. 129 ff (164 Fn. 128).
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ßige Haverei" gezeichnet hatten, eine verhältnismäßige Schadensverteilung nach den Grundsätzen der Haverei statt. Wer die Haverei-Zeichnung verweigert hatte, mußte die Schäden an seinen Gütern allein tragen. Von der Anerkennung derartiger freiwillig vereinbarten Schadensregulierungen durch die Gerichtspraxis zeugen auch zwei Lübecker Ratsurteile aus den Jahren 1751 und 175552. In allen Fällen, in denen eine freiwillige Haverei anerkannt war, lagen die oben dargestellten, von der gemeinrechtlichen Wissenschaft entwikkelten Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Schadenstragung nicht vor (siehe oben 1.2., S. 622). Im Gegensatz zur Großen Haverei handelt es sich bei der freiwilligen Haverei nicht um Vermögensopfer zur Abwendung einer allen drohenden Gefahrenlage, sondern um Zufallsschäden, deren Ausmaß den Befrachtern, möglicherweise aber auch dem Schiffer unbekannt war. Derartige Verluste hatte an sich jeder betroffene Eigentümer als partikuläre Haverei allein zu tragen. Für diese Vermögenseinbußen wurde durch vertragliche Abrede eine „Risikogemeinschaft" gebildet, um möglicherweise vorhandene Schäden nach den Grundsätzen der Haverei abwickeln zu können: „Havaria particularis per conventionem transit in communem"". Im Unterschied zur Großen Haverei werden die entstandenen Verluste aber nicht auf Schiff und Gut (Reeder, Schiffer und Befrachter), sondern nur unter den Befrachtern oder Ladungsempfängern verhältnismäßig verteilt. Dazu war erforderlich, daß alle oder mehrere, zumindest aber zwei Empfänger einer freiwilligen Haverei zustimmten. 2. Als besonderes Rechtsinstitut ist die freiwillige Haverei erst im 18.Jahrhundert durch die Seerechtspraxis, die Gesetzgebung und die Wissenschaft anerkannt worden. Die Wurzeln dieser Einrichtung liegen jedoch früher, sie reichen teilweise bis ins Spätmittelalter zurück. a) Das Dänische Seegesetz König Friedrichs II. von 1561 enthält folgende Bestimmung (Kap. 53): (1) Wenn Seewasser durch die nicht gehörig kalfaterte (d. h. mit Pech abgedichtete) Kohbrügge oder den Überlauf54 in das Schiff eindringt und Ladungsgüter beschädigt, ist der Schiffer zum Schadenersatz verpflichtet. (2) „Aber kumt de schade van nedden up (von unten her), so schal idt gahn aver schip und guht (d.h. als Große Haverei behandelt
Brokes (Fn.51), Obs. 420 (S. 461/62). " Ladehoff {Fn.49),S.21. 54 Die Kohbrügge und der Überlauf sind das Vor- und das Mitteldeck des Schiffes. 52
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werden), idt sehe (geschehe) denn dorch versuemnis des schippers und synes volekes (3) Geht Frachtgut durch Untreue oder Sorglosigkeit des Schiffers oder des Schiffsvolks verloren, so hat der Schiffer für den Schaden aufzukommen. (4) Verleckt flüssiges Gut oder brechen die Bänder an Fässern oder Tonnen, dann ist der Schiffer von Ansprüchen des Kaufmanns frei. Die Absätze (1), (3) und (4) dieses Kapitels übernehmen teilweise wörtlich die Artikel 42, 43 und 44 der seerechtlichen Ordonnanz Karls V. von 1551 für die Niederlande. Auffallend ist demgegenüber der hier allein interessierende Absatz (2). Der Art. 42 der Ordonnanz Karls V. enthält an seiner Stelle die Bestimmung, daß Schäden an der Ladung, die während eines Sturmes oder bei anderen Unglücksfällen infolge Seewassers, das durch den Uberlauf oder an anderer Stelle eingedrungen ist, entstanden sind, nicht vom Schiffer zu erstatten, sondern allein von den Eigentümern der beschädigten Güter zu tragen sind. Diese Vorschrift rezipiert das Dänische Seerecht nicht. Statt dessen wird in Absatz (2) geregelt, daß Schäden durch von unten eindringendes Wasser als Große Haverei über Schiff und Gut verteilt werden sollen. Die Herkunft dieser im nord- und mitteleuropäischen Seerecht singulären Bestimmung ist unbekannt. Offenkundig handelt es sich um eine Besonderheit der dänischen Seeschiffahrt. Im Jahre 1603 wurde die Vorschrift des Dänischen Seerechts von 1561 in das Hamburger Stadtrecht übernommen (Teil II, Tit. 14: Art. 35): „Wenn die Kohbrügge und der Ueberlauff und das Schiff oben Wassers nicht wol gedichtet und daher sich Schaden verursachet, so kommt der Schaden auf den Schiffer. Zerbricht aber solches durch Gewalt grossen Ungewitters, wird der Schaden für Haverey gerechnet, wie denn auch, wenn sich Schaden unter Wassers verursachet." Die Kaufmannschaft protestierte heftig gegen diese Bestimmung. Daraufhin stellte der Rat nach eingehender Prüfung der Rechtslage am 13. Februar 1618 fest, daß „in andern fürnehmen Seestädten gebräuchlich, daß in solchen Fällen ein jeder Eigenthums-Herr den Schaden, so sein Gut bekommen, selbst tragen muß, solches auch nicht allein den beschriebenen Kaiserlichen Rechten, sondern zugleich der Vernunft gemäß, alldieweil die andere unverdorbene Güter durch all solchen verderblichen Waaren-Untergang nicht gebessert, auch aus der Gefahr 55 Der Text wird hier nach der im Herzogtum Schleswig geltenden niederdeutschen Fassung des Seegesetzes von 1561 wiedergegeben.
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der See dadurch nicht entfreiet werden"56. Durch Rezeß von 1618 erhielt daraufhin der Artikel 35 (Teil II, Tit. 14) des Stadtrechts folgende bis zur Einführung des A D H G B von 1861 geltende Fassung: „Wann die Burkbrügge und Ueberlauff und das Schiff oben Wassers nicht wohl gedichtet und dahero sich Schade verursachet, so kommt der Schade auf den Schiffer; zerbricht aber solches mit Gewalt großen Ungewitters, wird der Schade vor Haverey nicht gerechnet. Wann auch sich Schade unter Wassers verursachet, trifft derselbe den Eigenthums-Herrn allein und sollen die andere Waaren denselben mitzutragen nicht schuldig seyn." In der Nordseeschiffahrt konnte sich die Regelung des dänischen Rechts demnach nicht durchsetzen. In Dänemark blieb sie demgegenüber bestehen. Sie wurde 1683 in das Danske Lov übernommen (Buch IV, Kap. 2: Art. 17) und galt bis ins 19. Jahrhundert. Zwischen der dänischen Regel und dem Institut der freiwilligen Haverei bestehen Ähnlichkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede. Eine wesentliche Abweichung liegt darin, daß die havaria conventionalis nur auf Grund vertraglicher Ubereinkunft eintritt. Weiterhin werden im dänischen Recht die durch Wassereinbruch entstandenen Schäden als Große Haverei über Schiff und Gut verteilt. Bei der freiwilligen Haverei erfolgt demgegenüber der Schadensausgleich allein unter den Haverei zeichnenden Ladungsempfängern. Gemeinsam ist beiden Instituten jedoch das Bestreben, die durch eingedrungenes Seewasser an Ladungsgütern entstandenen Schäden nicht den unmittelbar Betroffenen zur Last fallen zu lassen, sondern nach Havarie-Grundsätzen unter den beteiligten Ladungsinteressenten zu regulieren. b) Für den Seeraub, den zweiten Anwendungsfall für eine freiwillige Haverei, enthielten bereits die lübischen Rechtshandschriften des 15./ 16.Jahrhunderts, wahrscheinlich in Anlehnung an Digesten 14, 2, 2, 3, die Bestimmung, daß den dadurch entstandenen Schaden ein jeder selbst tragen muß „und dat schip und gudt, dat dar beholden werdt, dat darf nicht gelden na pennigtalen (d. h. nach Haverei-Grundsätzen 57 ), also verne de schipper und kopluede nene vorworde thosamende hebben gehat (falls der Schiffer und die Kaufleute keine vertragliche Abrede vorher zusammen getroffen haben)"58. Diese Vorschrift findet inhaltlich 56 Der Stadt Hamburg Gerichts-Ordnung und Statuta, hg. auf Veranlassung des Vereins für Hamburgische Geschichte, 1842, S. 381/82, Fußnote zu Art. 35 (Part. II, Tit.
" Über die Bedeutung der Ausdrucksweise „na marktal" oder „na pennigtal" G. Landwehr (Fn. 14), S. 24-27. 58 Brokes (Fn.51), Appendix, Kodex III: Art. 279 (S. 108).
siehe:
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unverändert Eingang in das Revidierte Lübecker Stadtrecht von 158659. Von dort wird sie wörtlich in das Hansische Seerecht von 1614 übernommen (Tit. 8: Art. 4). Sie kehrt unverändert wieder im Rostocker Stadtrecht von 1757 (Buch VI, Tit. 5: Art. 1). Das Schwedische Seerecht von 1667 enthält für Schäden und Verluste durch Seeraub eine ähnliche aus dem hansischen Recht entlehnte Regelung, die vom dänischen Seerecht im Danske Lov von 1683 rezipiert wird60. Vertragliche Abreden über die gemeinschaftliche Schadenstragung beim Seeraub sind demnach seit dem ausgehenden Mittelalter im Ostseeraum verbreitet61. c) Das Revidierte Lübecker Stadtrecht von 1586 bestimmt, daß der befrachtende Kaufmann nicht verpflichtet ist, Schäden und Verluste an „Anker, Takel, Tau und anderer Schiffsbereitschaft" mitzutragen, „es wäre denn zwischen dem Schiffer und Kauffmann ein anders bedinget" (Buch VI, Tit. 2: Art. 6). Diese Vorschrift geht wörtlich auf ein Urteil des Rostocker Rates zurück, das im Jahre 1522 vom Lübecker Rat als Oberhof bestätigt wurde62. Der Inhalt ist vermutlich beeinflußt von Digesten 14, 2, 6 (a. E.). Interessant ist auch hier wiederum, daß vertragliche Vereinbarungen über die Schadenstragung im lübischen Seerecht nicht unüblich waren63. d) Schließlich sei in diesem Zusammenhang auf eine Bestimmung in dem um 1350 in Barcelona entstandenen Consolai de mar hingewiesen. Diese Seerechtskompilation wurde im 18. Jahrhundert von der Rechtswissenschaft und der praktischen Seerechtsliteratur allenthalben herangezogen und in Einzelfällen von der Gerichtspraxis als Seegewohnheitsrecht (Usance der See) anerkannt. Kap. 194 des Consolats behandelt den Fall, daß sich während der länger dauernden Löschung eines Schiffes plötzlich die Witterung ändert, so daß bei stürmischem Wetter weiter gelöscht werden muß und dadurch höhere Kosten entstehen: „Dann sind die Kaufleute, deren Güter um einen billigen Lohn an Land kamen, nicht gehalten, denjenigen Kaufleuten etwas beizutragen, deren Güter 59 Rev Lüb StR 1586 VI 5: Art. 1: „Wann Kaufleuten in der See ihr Gut genommen wird, einem mehr, dem andern weniger, ein jeglicher muß seinen eigenen Schaden tragen, und dürffen diejenigen, welche keinen Schaden gelitten, so wol auch der Schiffer wegen des Schiffs nichts dem Benommenen erstatten, es wäre dann, daß sie sich zuvorn eines andern mit einander verglichen. " 60 Schw SR V: Kap. 14 pr.; Danske Lov Buch IV, Kap. 3: Art. 18. " Das Hamburger Stadtrecht von 1497 (P: Art. 50) und ebenso das Stadtrecht von 1603 (II 19: Art. 1) enthalten ebenfalls die Bestimmung, daß ein Seeraub nicht als Große Haverei anzusehen ist. Ihnen fehlt aber ein Hinweis auf abweichende vertragliche Abreden. Sie waren anscheinend in der Nordseeschiffahrt nicht üblich. 62 Lübecker Ratsurteile, hg. von Wilhelm Ebel, Bd. I-IV (1955-1967), II, 929. ° Siehe auch: Joachim Lucas Stein (Fn.45), §§69, 70 (S. 54 ff).
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zu einem viel teueren Lohn entladen sind, wenn nicht zwischen ihnen ein Vertrag gemacht war, daß das eine Gut die Kosten des andern tragen helfen sollte, wenn die Entladung desselben mehr kostete." 3. Die freiwillige Haverei ist ein Institut der Seerechtspraxis. Sie geht zurück auf das seit dem ausgehenden Mittelalter in den Seerechtsquellen zutage tretende Bestreben, einen Schadensausgleich, wie er bei der absichtlichen Opferung von Schiff oder Ladung anerkannt war, durch vertragliche Abrede auch bei Verlusten stattfinden zu lassen, die durch Zufall oder höhere Gewalt entstanden waren. Ohne eine derartige Vereinbarung hatten solche Schäden nach altem Seerecht die betroffenen Eigentümer allein zu tragen 64 . Die gesetzliche Normierung der havaria conventionalis im Preußischen Seerecht von 1727 und die Regelung in den Kopenhagener Seeversicherungsbedingungen von 1746 zeugen davon, daß vertragliche Abreden über eine gemeinschaftliche Schadenstragung im Ostseeraum weit verbreitet waren. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 und in der späteren Seerechtsgesetzgebung erscheint die freiwillige Haverei nicht mehr 65 . Sie wurde durch die weiter voranschreitende Ausbreitung und umfassende gesetzliche Regelung der Seeversicherung im 18. Jahrhundert überflüssig gemacht. An die Stelle der vertraglichen Gefahrengemeinschaft der Befrachter oder Ladungsempfänger trat nunmehr ausschließlich die Risikogemeinschaft der Assekurierten.
IV. Ergebnis Der bereits der Antike in der Lex Rhodia de iactu bekannte Gedanke gemeinschaftlicher Schadenstragung bei einem Vermögensopfer einzelner zur Rettung aller aus einer Seegefahr ist von der Rechtswissenschaft und der Seerechtsgesetzgebung des 17. und 18.Jahrhunderts zu dem Institut der Großen Haverei zusammengefaßt und ausgebaut sowie gegenüber der Kleinen Haverei und der partikulären Haverei scharf abgegrenzt worden. Gleichzeitig aber sind Versuche der Seerechtspraxis anzutreffen, die Idee des Schadensausgleichs nicht auf Sonderopfer in einer Gefahrensituation zu begrenzen, sondern auch auf andere Risiken der Seefahrt zu erstrecken. So wurden durch die gesetzliche oder die M In den Anfängen des deutschen Seerechts hat die Beteiligung des Schiffers an den durch Seewurf entstandenen Schäden sowie der Kaufleute an den durch Kappen von Mast und Segel eingetretenen Verlusten ihren Rechtsgrund in einer (vertraglichen) Verwillkürung des Schiffers und der Kaufleute. Auch darüber hinaus finden sich im mittelalterlichen Seerecht Anklänge an eine vertraglich begründete Risikogemeinschaft. Siehe dazu: Götz Landwehr (Fn. 14), S. 41-50, 99 ff, sowie S. 73/74, 92 f. 65 Vgl. Carl von Kaltenborn, Grundsätze des praktischen Europäischen Seerechts, Bd. II, Berlin 1851, S. 128 ( X X X I I I ) .
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vertragliche Ausdehnung des Instituts der Haverei die Voraussetzungen für eine Schadensverteilung unter den am Risiko Beteiligten geschaffen. Dasselbe Ziel verfolgte die seit dem 16. Jahrhundert über die Niederlande in Mittel- und Nordeuropa sich ausbreitende Seeversicherung. Sie hat infolge ihrer Dynamik und der ihr eigenen rechtlichen Flexibilität den Sieg davongetragen. Die Idee der Risikogemeinschaft auf Versicherungsbasis war zukunftsträchtiger als das Prinzip der Haverei in Gestalt der havaria conventionalis. Die freiwillige Haverei und ebenso das auf Königsberg beschränkte Institut der Leichterungshaverei sind deshalb nach verhältnismäßig kurzer Lebensdauer aus dem Rechtsleben verschwunden. Der Gedanke, Risiken anderer nicht zur Großen Haverei gehörender oder überhaupt nicht mit der Schiffahrt zusammenhängender Schadensfälle nach Havarie-Grundsätzen zu behandeln, ist jedoch nicht in Vergessenheit geraten, sondern wird bis heute gelegentlich zur Diskussion gestellt66. Erst im Jahre 1962 hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß ein Kraftfahrer, der in einer plötzlichen Gefahrenlage sich selbst schädigt, um einen anderen davor zu bewahren, durch das Kraftfahrzeug überfahren zu werden, vom Geretteten zwar nicht vollen, aber angemessenen Ersatz verlangen kann. In den Urteilsgründen weist das Gericht u.a. darauf hin, daß der Schaden durch eine für beide Beteiligten zufällige Gefahrenlage ausgelöst wurde, „wie es in ähnlicher Weise im Seerecht bei der Großen Haverei der Fall ist", bei der „alle Schäden, die dem Schiff oder der Ladung oder beiden zum Zwecke der Errettung beider aus einer gemeinsamen Gefahr zugefügt werden, von den Beteiligten gemeinschaftlich zu tragen sind (§ 700 HGB)" 6 7 . Das vom Seerecht bereits in der Antike entwickelte Prinzip gemeinschaftlicher Schadenstragung erweist sich demnach immer noch als eine lebenskräftige Rechtsschöpfung.
66 Vgl. Josef Esser, Schuldrecht, Allgemeiner und Besonderer Teil, 2. Aufl. 1960, §§181, 1; 182, 2 (S. 748, 750 f). 67 B G H (6. Senat) v. 27.11.1962, B G H Z 38, 270 ff (278) = J Z 1963, 547 ff (549).
Kompetenzrechtliche Probleme des Gesamthafenbetriebs KLAUS-PETER MARTENS*
Die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt hat auch den Bereich der Hafenarbeit nachhaltig beeinflußt. Aus dem Bündel hafenspezifischer Gründe sei nur auf die zunehmende Automatisierung durch die Container-Verschiffung und die bekannten Wettbewerbsverzerrungen hingewiesen, die zu einer spürbaren Schlechterstellung der deutschen Seehäfen gegenüber der holländischen und belgischen Hafenwirtschaft geführt haben. Diese Arbeitsmarktprobleme haben das in vielen Jahren gedeihliche Verhältnis zwischen dem in allen Häfen eingerichteten Gesamthafenbetrieb und den Hafeneinzelbetrieben erheblich verschlechtert. Im Mittelpunkt steht die personalpolitische Auseinandersetzung über den Einsatz der Hafenarbeiter - der vom Gesamthafenbetrieb eingestellten Arbeiter einerseits und der von den Hafeneinzelbetrieben eingestellten Arbeiter andererseits. Gesamthafenbetrieb und Hafeneinzelbetriebe haben in gleicher Weise ein vordringliches Interesse an dem optimalen Einsatz ihrer Arbeitnehmer 1 . Da aber der Gesamthafenbetrieb über keinen eigenen Hafenbetrieb verfügt, seine Arbeitnehmer also nur in den Hafeneinzelbetrieben beschäftigt werden können, muß der Gesamthafenbetrieb gerade in Zeiten der Arbeitsverknappung darauf dringen, daß dieser Beschäftigungsbereich ausgeweitet wird, anderenfalls er sein Personal abbauen müßte. Umgekehrt sind die Hafeneinzelbetriebe zur Vermeidung von Kündigungen darauf angewiesen, ihre Arbeitnehmer innerhalb der Vollzeitbeschäftigung flexibel einzusetzen, die Beschäftigung von Gesamthafenarbeitern also tunlichst zu vermeiden. Es geht mithin im Kern um die „richtige" Verteilung der Hafenarbeit. * Der Verf. war mit Wolfgang Martens nicht blutsverwandt, wohl aber in mancher Hinsicht wesensverwandt: in der Leidenschaft für die Stadt Hamburg, in der kritischen Anhänglichkeit gegenüber der Universität und der treuen Ergebenheit für die juristische Fakultät. U m so schmerzlicher war für uns beide die politische Auseinandersetzung über die Zukunft der Juristenausbildung in Hamburg, insbesondere die vielfach, auch offiziell geäußerte Schmähung der traditionellen Juristenausbildung und unserer gemeinsamen Fakultät. 1 Zu diesem Spannungsverhältnis aus kündigungsrechtlicher Sicht BAG N Z A 1986, S. 155.
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Klaus-Peter Martens
Dieses Verteilungsproblem hat sich anläßlich der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung zugespitzt. Der Gesamthafenbetrieb betrachtet den Bereich derartiger Aushilfsbeschäftigung als sein beschäftigungspolitisches Dominium, während die Hafeneinzelbetriebe darin nicht nur einen Akt gegenseitiger Betriebshilfe sehen, sondern auch einen Akt betrieblicher Personalpolitik, können sie ihr Stammpersonal doch nur dann ohne Kündigung erhalten, wenn es gelingt, die in der Hafenwirtschaft ohnehin erheblichen Beschäftigungsschwankungen durch zwischenbetriebliche Arbeitnehmerüberlassung aufzufangen. In diesem Streit sind Grundfragen aufgeworfen worden, die bisher mangels konkreten Streitanlasses noch gar nicht oder doch nur am Rande behandelt worden sind. Sie betreffen die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit der dem Gesamthafenbetrieb gesetzlich2 verliehenen Normsetzungsbefugnis und ihre inhaltlichen Grenzen sowie das Verhältnis des GesamthafenbetriebsG bzw. seiner Ausführungsregelungen zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AUG). Diese drei Problembereiche sollen im folgenden behandelt werden. I. Verfassungsrechtliche Problematik einer Normsetzungsbefugnis des Gesamthafenbetriebs 1. Kompetenzrechtliche Grundlagen In § 1 GesamthafenbetriebsG werden die zuständigen Arbeitgeberverbände bzw. einzelne Arbeitgeber und die zuständigen Gewerkschaften ermächtigt, durch schriftliche Vereinbarung „zur Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" einen besonderen Arbeitgeber (Gesamthafenbetrieb) zu bilden. Und in § 2 Abs. 1 GesamthafenbetriebsG ist vorgesehen, daß der Gesamthafenbetrieb nach Maßgabe der geltenden Gesetze seine Rechtsform, seine Aufgaben, seine Organe und seine Geschäftsführung, insbesondere auch die Grundsätze für die Erhebung, Verwaltung und Verwendung von Beiträgen und Umlagen bestimmt. Diese Regelungen bedürfen nach §2 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG der Genehmigung durch die oberste Arbeitsbehörde des Landes. Von dieser Ermächtigung ist in nahezu allen Hafengebieten Gebrauch gemacht worden 3 . Inhalt der entsprechenden Koalitionsvereinbarungen 2 So § 2 Abs. 1 Gesetz über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb) v. 3. August 1950 (BGBl. 1950, S.352). 3 In Hamburg durch „Vereinbarung über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter in Hamburg (Gesamthafenbetrieb)" vom 9. Februar 1951 zwischen der Arbeitsgemeinschaft Hamburger Hafen-Fachvereine e. V. und der ÖTV; in Bremen durch „Vereinbarung über die Schaffung eines Gesamthafenbetriebes für die Häfen im Lande Bremen" (Bremen-Stadt und Bremerhaven) vom 12.Dezember 1975 bzw. vom l . M ä r z 1982 zwischen dem Hafenbetriebsverein im Lande Bremen e.V. und der ÖTV.
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ist u. a. die Errichtung eines paritätisch besetzten Regelungsorgans 4 , das zugleich zum Erlaß von Vorschriften über die Organisation der Hafenarbeit, insbesondere über den Einsatz der Arbeiter der Hafeneinzelbetriebe und der Arbeiter des Gesamthafenbetriebs ermächtigt wird. Aufgrund dieser Ermächtigung besteht in Bremen eine Verwaltungsordnung, in Hamburg eine Satzung, die in unterschiedlicher Weise die zwischenbetriebliche Arbeitnehmerüberlassung regeln5. Diese Vorschriften wirken unmittelbar und zwingend - vergleichbar den Wirkungen eines Tarifvertrags (§ 4 Abs. 1 TVG) - auf alle vom GesamthafenbetriebsG erfaßten Arbeitsrechtsbeziehungen ein. Wegen dieser unmittelbaren und zwingenden Wirkung können die in der Verwaltungsordnung bzw. der Satzung enthaltenen Vorschriften - wiederum vergleichbar den Tarifregelungen - als Rechtsnormen qualifiziert 4 In Hamburg Vorstand, in Bremen Ausschuß für Personal und Arbeit genannt. Jenseits dieser terminologischen Unterschiede besteht jedoch Ubereinstimmung in der organisationsrechtlichen Zweispurigkeit der gesamthafenbetrieblichen Organisations- und Regelungsbefugnisse. Während der Gesamthafenbetrieb, dieser repräsentiert durch den Vorstand bzw. den Ausschuß für Personal und Arbeit, vor allem zum Erlaß der für die Organisation der Hafenarbeit erforderlichen Regelungen zuständig ist, ist die Gesamthafenbetriebs GmbH (Hamburg) bzw. der Gesamthafenbetriebsverein im L.ande Bremen e. V. für die arbeitsrechtliche Ausführung der Gesamthafenarbeit und die Organisation der Hafenarbeit zuständig. Demgegenüber findet sich verschiedentlich auch eine organisationsrechtliche Einheitslösung - so für den Gesamthafenbetrieb Duisburg. Dort ist der mit den Regelungskompetenzen betraute Verwaltungsausschuß Vereinsorgan des „Gesamthafenbetrieb Duisburg e.V.". Dieses Vereinsorgan wird ebenfalls paritätisch besetzt, indem der O T V das Recht eingeräumt wird, diesen Verwaltungsausschuß hälftig in eigener Autonomie zu besetzen - dazu § 7 der Satzung, abgedr. bei Völtzer, Rechtsfragen zum GesamthafenbetriebsG, Diss. Hamburg 1957, Anhang III. - Wird wie in Hamburg und Bremen eine solche doppelspurige Zuständigkeit praktiziert, dann stellt sich die früher außerordentlich kontrovers behandelte Frage nach der Rechtsnatur des Gesamthafenbetriebs. Während die „exekutiven" Funktionen einem Verband mit üblicher Rechtsform (GmbH oder Verein) übertragen werden, übt der Gesamthafenbetrieb die „legislativen" Funktionen ohne ausdrücklich gewählte Rechtsform aus. Deshalb ist seine Rechtsnatur umstritten: nichtrechtsfähiger Verein, Gesellschaft bürgerlichen Rechts, Interessenschaft des Sozialrechts, Verbandsperson sui generis, quasi-tarifliche Einrichtung des Sozialrechts sowie teilrechtsfähiges Gebilde des Privatrechts - dazu im einzelnen Völtzer, aaO, S. 26 ff; ]. Assmann, Rechtsfragen zum Gesamthafenbetrieb, Diss. Köln 1965, S. 37-75, der freilich die gesetzliche Fiktion des Gesamthafenbetriebs als eines Gesamthafenarbeitgebers bei weitem überschätzt und deshalb auch zu der unrichtigen Ansicht gelangt, nicht die als Organgesellschaft fungierende Gesamthafenbetriebsgesellschaft mbH, sondern der Gesamthafenbetrieb sei betriebsratspflichtig (aaO, S. 75-81); a. A. die ganz überwiegende Literatur; vgl. nur Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl. (1981), §1 Rdn. 93 m . w . N . sowie ausführlich Müllner, Aufgespaltene Arbeitgeberstellung und Betriebsverfassungsrecht (1978), S. 113-123. 5 In Bremen ist die zwischenbetriebliche Arbeitnehmerüberlassung nach §13 der Verwaltungsordnung i. V. m. der Entschließung zu § 13 generell zulässig, in Hamburg hingegen nach § 7 der Satzung generell unzulässig und nur in den in der Richtlinie zu § 7 geregelten Ausnahmefällen zulässig.
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werden. Dieser Rechtsnormcharakter ergibt sich aus § § 2 , 3 GesamthafenbetriebsG 6 . Allerdings ist lediglich in § 3 GesamthafenbetriebsG diese Normativwirkung ausdrücklich hinsichtlich der Beiträge und Umlagen, nicht aber hinsichtlich der sonstigen Arbeitsrechtsbeziehungen geregelt worden. Im Kontext der historischen Entwicklung und unter Betracht des gesetzlichen Regelungsauftrags „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse" sowie nach Sinn und Zweck des in § 2 Abs. 1 GesamthafenbetriebsG genannten Regelungsbereichs, vor allem aber aufgrund der Außenseiterregelung des § 1 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG muß aber davon ausgegangen werden, daß eine solche allgemeine Normsetzungsbefugnis immanenter Bestandteil der gesetzlichen Funktionsbeschreibung ist. Träger dieser Normsetzungsbefugnis sind nach dem Wortlaut des GesamthafenbetriebsG nicht die Sozialpartner, sondern der Gesamthafenbetrieb. Dieser wird lediglich durch Vereinbarung der Sozialpartner errichtet, um sodann als handlungsfähiges Gebilde die gesetzlichen Regelungskompetenzen auszuüben. Auch dazu ist wiederum der Vergleich mit dem Tarifrecht hilfreich, nämlich der Vergleich mit einer gemeinsamen Einrichtung. Diese wird ebenfalls durch Vereinbarung der Sozialpartner, also durch Tarifvertrag, konstituiert, indem sich die Sozialpartner über die Errichtung, Rechtsform und Zweckwidmung der gemeinsamen Einrichtung einigen und in Ausführung dieser Einigung die erforderlichen Maßnahmen vornehmen, um die rechtliche Existenz der gemeinsamen Einrichtung herbeizuführen. Ist sodann die gemeinsame Einrichtung rechtlich existent, dann treten die Sozialpartner rechtsformal in den Hintergrund, und Träger der Regelungsbefugnisse sind sodann die Organe der gemeinsamen Einrichtung. Diese Verteilung der Regelungsbefugnisse auf die Sozialpartner einerseits und den Gesamthafenbetrieb andererseits ist also unter Betracht der tariflichen Rechtslage keine Anomalie, sondern offensichtlich in Anlehnung an das tarifrechtliche Vorbild der gemeinsamen Einrichtung konzipiert worden 7 .
' A . A . Völtzer (Fn.4), S. 134, weil das GesamthafenbetriebsG nur die Sozialpartner, nicht aber einen von diesen bestellten Ausschuß ermächtige. Mithin sei eine Subdelegation erforderlich, „zu der das Bundesgesetz jedoch die erforderliche Befugnis nicht ausspricht"; wie hier den Rechtsnormcharakter bejahend B A G AP Nr. 1, 2 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; L A G Hamburg SAE 1954, S. 171 ff m. Anm. Wollenberg; J. Assmann (Fn.4), S. 22 ff; E. Wiebel, Die Gesamthafenbetriebe, Diss. Würzburg 1953, S.33. 7 Zur Vergleichbarkeit von gemeinsamer Einrichtung und Gesamthafenbetrieb vgl. Plett, RdA 1955, S. 50 ff sowie Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (1966), S. 13 ff, 23 ff mit jeweils unterschiedlichen Standpunkten.
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Die inhaltlichen Grenzen dieser Normsetzungsbefugnis ergeben sich aus der in § 1 Abs. 1 GesamthafenbetriebsG formulierten Zwecksetzung. Danach soll der Gesamthafenbetrieb gebildet werden „zur Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter". Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht also nicht die Organisation der Hafenarbeit schlechthin, sondern lediglich die arbeitsrechtliche Organisation von Hafenarbeit für Arbeitnehmer, die keinem Hafeneinzelbetrieb durch einen auf Dauer vereinbarten Arbeitsvertrag zugeordnet sind. Gelegentlich anfallende Arbeitsleistungen in den Hafeneinzelbetrieben sollen nicht durch gelegentlich von den Hafeneinzelbetrieben angeworbene Arbeitnehmer erbracht werden, sondern durch Arbeitnehmer, die auf Dauer von dem Gesamthafenbetrieb fest angestellt worden sind und den Hafeneinzelbetrieben nach deren konkretem Bedarf gelegentlich überlassen werden. Der Schutz dieser Arbeitnehmer und die Organisation ihrer Arbeitsverhältnisse steht im Mittelpunkt des GesamthafenbetriebsG 8 . Aus diesen Gründen führt auch der Gesamthafenbetrieb nicht zur personalpolitischen oder gar unternehmerischen Verdrängung der Hafeneinzelbetriebe; der Gesamthafenbetrieb ist vielmehr im Vergleich zu den Hafeneinzelbetrieben nur ein mit einer arbeitsmarktpolitischen Sonderfunktion betrautes, sektoriell zuständiges Rechtsgebilde. Nach der Konzeption des GesamthafenbetriebsG stehen somit auch weiterhin die Hafeneinzelbetriebe im Vordergrund, während der Gesamthafenbetrieb lediglich von ergänzender Bedeutung ist. 2. Kompetenzrechtliche Kontrolle nach Art. 80 GG In Literatur und Rechtsprechung sind - wenn auch nur vereinzelt verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese dem Gesamthafenbetrieb verliehene Normsetzungsbefugnis erhoben worden'. Es wird geltend gemacht, daß eine solche Normsetzungsbefugnis nicht demokratisch legitimierter Gremien mit dem Demokratieprinzip und insbesondere mit Art. 80 G G unvereinbar sei. Diese Bedenken sind jedoch - um das Ergebnis voranzustellen - unberechtigt, weil Art. 80 G G nicht einschlägig ist.
* Weitergehend Schelp, Erl. zu § 1 GesamthafenbetriebsG, in: Das dtsch. Bundesrecht, Stand Nov. 1967, der dem GesamthafenbetriebsG eine Ermächtigung des Gesamthafenbetriebs entnimmt, auch soziale Schutzmaßnahmen für die ständigen Hafenarbeiter, die an sich Arbeitnehmer der Hafeneinzelbetriebe seien, treffen zu können. Diese Ansicht ist jedoch aus mehreren Gründen nicht vertretbar. ' Dazu Gramm, RdA 1958, S.330, 338, allerdings ohne nähere Problembehandlung. Eine ausführliche Begründung der Verfassungswidrigkeit findet sich jedoch in der Entscheidung des LAG Bremen v. 8. Oktober 1985, 4 Sa 70/85, S. 12 ff.
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a) Das Grundrecht auf arbeitsrechtliche Selbstverwaltungsautonomie Diese dem Gesamthafenbetrieb verliehene Normsetzungsbefugnis ist keine singulare Ausnahmebefugnis. So kann nach § 19 HeimarbeitsG ( H A G ) der Heimarbeitsausschuß „nach Anhörung der Beteiligten Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen mit bindender Wirkung für alle Beteiligten festsetzen, wenn Heimarbeit in nennenswertem Umfang geleistet wird und unzulängliche Entgelte gezahlt werden". Ein solcher Heimarbeitsausschuß besteht aus drei Beisitzern aus Kreisen der beteiligten Auftraggeber, drei Beisitzern aus Kreisen der in Heimarbeit Beschäftigten und einem von der zuständigen Arbeitsbehörde bestimmten Vorsitzenden, der nicht Auftraggeber, Zwischenmeister, in Heimarbeit Beschäftigter oder Gleichgestellter sein darf (§ 4 Abs. 2 H A G ) . Der Grund dieser Sonderregelung liegt in der unzulänglichen Organisierbarkeit dieses Teilarbeitsmarktes. D a es in den Wirtschaftszweigen, in denen in mehr oder minder großem Umfang Heimarbeit üblich ist, teilweise an organisierten Tarifparteien fehlt, sieht das H A G ein dem Tarifvertragssystem vergleichbares Regelungsverfahren vor. Auch dem GesamthafenbetriebsG liegt eine Regelungssituation zugrunde, die durch Tarifvertrag nicht oder doch nur unzureichend geregelt werden kann. Zwar mangelt es nicht an der Organisierbarkeit der im Gesamthafenbetrieb tätigen Arbeitnehmer; denn nach Verstetigung ihrer Arbeitsverhältnisse durch den Gesamthafenbetrieb sind sie, obwohl sie ständig den ihnen in den Hafeneinzelbetrieben zugewiesenen Arbeitsplatz wechseln, doch insgesamt für die zuständige Gewerkschaft ansprechbar und erleben täglich die allgemeinen Arbeitnehmerbelange im Hafen. Gleichwohl versagt das Tarifvertragssystem deshalb, weil es nicht primär um die Regelung der Arbeitsverhältnisse, sondern primär um die Einrichtung eines Arbeitgebers, des Gesamthafenbetriebs, und die Regelung seines Verhältnisses zu den anderen im Hafen tätigen Arbeitgebern, den Hafeneinzelbetrieben, geht. Somit wären die Tarifvertragsparteien ohne die im GesamthafenbetriebsG enthaltene Ermächtigungsgrundlage nicht befähigt, „zur Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" einen besonderen Arbeitgeber (Gesamthafenbetrieb) zu bilden. Da es sich mithin nicht um eine der Tarifautonomie immanente Regelungsangelegenheit handelt, mußte und konnte der Gesetzgeber ein dem Tarifvertragssystem vergleichbares Regelungsverfahren statuieren 10 . 10 Sobald dieser Arbeitgeber rechtlich existent ist, können auch die mit ihm begründeten Arbeitsverhältnisse durch Tarifvertrag wie üblich erfaßt werden; so auch Gramm, RdA 1958, S.330, 337. Insofern muß selbstverständlich auch die Tarifautonomie respektiert werden. Die .inhaltliche Regelung der Arbeitsverhältnisse von Gesamthafenbetriebsarbei-
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Ist somit die Regelungssituation des H A G und des GesamthafenbetriebsG weitestgehend vergleichbar, so liegt es nahe, die zum H A G gewonnenen Erkenntnisse auch auf die verfassungsrechtliche Beurteilung des GesamthafenbetriebsG zu übertragen. Den gegen das GesamthafenbetriebsG unter dem Aspekt des Art. 80 Abs. 1 G G erhobenen Bedenken entspricht die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 19 H A G . Diese Vorschrift sei verfassungswidrig, weil sie nicht die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 G G erfülle. Auch als autonomes Satzungsrecht kämen die bindenden Festsetzungen nicht in Betracht; denn den Heimarbeitsausschüssen fehle die dazu erforderliche demokratische Legitimation, da sie nicht aus dem Kreis der betroffenen Adressaten besetzt würden". Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht 12 vor allem auf den systematischen Zusammenhang abgestellt, der zwischen den Regelungen im H A G und dem Arbeitsrecht, im besonderen dem für diese Materie zentralen Tarifrecht bestehe, dessen Besonderheiten durch Art. 9 Abs. 3 G G zugelassen und garantiert seien. Wegen dieses systematischen Zusammenhangs wird nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die dem Heimarbeitsausschuß gesetzlich eingeräumte Normsetzungsbefugnis ebenso von der in Art. 9 Abs. 3 G G angelegten Regelungsautonomie gedeckt wie die den Koalitionen vorbehaltene Tarifautonomie. Art. 9 Abs. 3 G G enthält aus dieser Sicht ein berufsrechtliches Freiheitsrecht, aufgrund dessen die zuständigen Regelungsparteien ihre arbeitsrechtlichen Regelungsangelegenheiten in eigener Autonomie rechtsverbindlich verfassen können. Durch diese über die Tarifautonomie hinausreichende Regelungsautonomie darf freilich nicht in den durch Art. 9 Abs. 3 G G primär geschützten Koalitionsfreiheitsbereich eingegriffen werden, so daß diese weitergehende Regelungsautonomie nur subsidiär zur Anwendung kommen darf. N u r unter der Voraussetzung, daß im Einzelfall das Tarifvertragssystem versagt, darf der Gesetzgeber im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 G G andere Regelungsparteien mit Regelungsbefugnissen arbeitsrechtlicher Selbstverwaltung betrauen. Daß diese Voraussetzungen sowohl im Bereich der Heimarbeit als auch im Bereich des Gesamthafenbetriebs erfüllt sind, ist schon dargelegt worden.
tern auf der Grundlage des GesamthafenbetriebsG verstieße mithin gegen Art. 9 Abs. 3 GG. " So B A G A P N r . 6 zu § 1 9 H A G m. zust. A n m . Schneider; ebenso Arbeitsgericht Gießen A P N r . 4 zu § 1 9 H A G ; a . A . L A G Frankfurt A P N r . 5 zu § 1 9 H A G , „da als N o r m g e b e r die zuständige Arbeitsbehörde anzusehen ist, die sich des mit sachkundigen und branchenbezogenen und natürlich auch sachlich interessierten Personen besetzten Heimarbeitsausschusses bedient. 12 BVerfGE 34, S. 307 ff = A P N r . 7 zu § 19 H A G .
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Das Bundesverfassungsgericht hat des weiteren darauf abgehoben, daß das Regelungsverfahren in möglichst enger Anlehnung an das Tarifvertragsrecht geregelt ist. Die Regelungsparteien müssen gleichsam als rudimentäre Tarifparteien auftreten. So wie § 4 Abs. 2 H A G nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts diesem Erfordernis entspricht, ebenso ist das durch Koalitionsvereinbarung nach § 1 Abs. 1 GesamthafenbetriebsG errichtete Regelungsorgan ein rudimentäres Tarifgremium. Es wird ebenfalls paritätisch besetzt. Seine Mitglieder unterliegen dem Beste\lungsrecht des zuständigen Arbeitgeberverbands bzw. der zuständigen Gewerkschaft. Das Bundesverfassungsgericht ist auch auf die rechtliche Bedeutung des der zuständigen Arbeitsbehörde vorbehaltenen Zustimmungsrechts eingegangen. Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 H A G bedürfen die Festsetzungen der Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde. Und ebenso ist in § 2 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG vorgesehen, daß die Regelungen nach Abs. 1 der Genehmigung durch die oberste Arbeitsbehörde des Landes unterliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Zustimmungserfordernis analog der in § 5 TVG vorgesehenen Zuständigkeit des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung anläßlich der Allgemeinverbindlicherklärung behandelt. Da die Festsetzungen des Heimarbeitsausschusses von vornherein alle in ihrem Geltungsbereich tätigen Personen erfassen würden, komme ihnen die Wirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages zu ( § 1 9 Abs. 2 Satz 4 HAG). Dieser rechtliche Zusammenhang besteht auch im Rahmen der vorliegenden Problematik. Nach § 1 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG umfaßt der Gesamthafenbetrieb „auch Betriebe, deren Unternehmer weder Mitglied des Arbeitgeberverbandes sind noch selbst die Vereinbarung nach Abs. 1 abgeschlossen haben, sofern die Betriebe, die dem die Vereinbarung abschließenden Arbeitgeberverband angehören oder die selbst die Vereinbarung abgeschlossen haben, nach Feststellung der obersten Arbeitsbehörde des Landes oder der von ihr bestimmten Stelle im Durchschnitt des dem Abschluß der Vereinbarung vorangegangenen Kalendervierteljahres insgesamt nicht weniger als 50 v. H. der Hafenarbeiter beschäftigt haben". Da diese Außenseiterbetriebe vom Gesamthafenbetrieb umfaßt werden, werden sie auch von seinen Regelungen erfaßt. Wegen dieser Außenseiterwirkung kommt der Verwaltungsordnung des Gesamthafenbetriebs eine den Wirkungen eines allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags vergleichbare Bedeutung zu. Aus diesen Gründen ist wie nach § 5 TVG so auch nach § 2 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG die Genehmigung bzw. Zustimmung des Arbeitsministers nicht nur einfachgesetzlich, sondern auch von Verfassungs wegen geboten 13 . 13 Zum Verhältnis von § 5 TVG und § 1 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG vgl. J. (Fn.4), S. 20 ff.
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Im Ergebnis können somit die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungskonformität des § 19 H A G in gleicher Weise der verfahrensrechtlichen Beurteilung des § 2 GesamthafenbetriebsG bzw. seiner Ausführungsregelungen zugrunde gelegt werden. Die vorstehend dargelegten Zusammenhänge rechtfertigen es, diese von der obersten Arbeitsbehörde des Landes genehmigten Regelungen „als Rechtsregeln der gleichen Art wie die Normativbestimmungen eines Tarifvertrages anzusehen. Sie gewinnen wie diese ihre Qualität als Rechtsregeln aus der staatlichen Anerkennung, die in Art. 9 Abs. 3 G G wurzelt. Auch hinsichtlich der Gestaltung der Rechtsbeziehungen", innerhalb derer die Hafenarbeitnehmer des Gesamthafenbetriebs und der Einzelhafenbetriebe tätig werden, „gilt die Zurücknahme der staatlichen Regelungszuständigkeit zugunsten der Gestaltungsfreiheit der unmittelbar Beteiligten" 14 hinsichtlich der Organisation der Arbeitsrechtsbeziehungen im Hafen. b) Die Allgemeinverbindlichkeit
der
Ausführungsregelungen
Die vorstehenden Überlegungen werden unter anderem Aspekt bestätigt. Dazu ist anzuknüpfen an den Besetzungsmodus des Regelungsorgans und das Nominationsrecht der Sozialpartner. In anderem Zusammenhang ist schon ausgeführt worden, daß die durch das GesamthafenbetriebsG ermächtigten Sozialpartner in dem Regelungsorgan nur in rechtlich anderer Form, tatsächlich jedoch als die in § 1 GesamthafenbetriebsG genannten Sozialpartner auftreten. Deshalb stellen derartige Regelungen der Sache nach eine Vereinbarung der zuständigen Sozialpartner dar. Ihre unmittelbare und zwingende Wirkung entspricht der Regelung des § 4 T V G und ist deshalb ein regelungstypisches Charakteristikum des den Sozialpartnern durch Art. 9 Abs. 3 G G garantierten Rechts auf koalitionsgemäße Selbstverwaltung der Arbeitsrechtsbeziehungen 15 . Auch die weitergehende, gegen die „Außenseiterbetriebe" gerichtete Bindungswirkung, die sich aus § 1 GesamthafenbetriebsG ergibt, ist keine für die Vereinbarung der Sozialpartner untypische Regelungswirkung. Aus zahlreichen, hinreichend bekannten Gründen bedürfen derartige Vereinbarungen der Allgemeinverbindlichkeit, deren Voraussetzungen in § 5 T V G geregelt sind. Auch innerhalb des Gesamthafens läßt sich der Arbeitsmarkt offensichtlich nicht in verschiedene Teilbereiche aufgliedern, die einerseits der zwingenden Regelung unterliegen, andererseits davon freigestellt werden. Freilich sind wie auch So B V e r f G E 34, S.307, 320 zu § 19 H A G . Auch die Wirksamkeit der Tarifnormen wird verschiedentlich unter Berufung auf A r t . 8 0 G G in Frage gestellt; so z . B . H.Schneider, in: Festschrift für Philipp Möhring (1965), S.521, 524; dagegen freilich die überwiegende Ansicht; vgl. nur Wiedemann/ Stumpf, T V G , 5. Aufl. (1977), § 1 R d n . 2 5 m . w . N . 14
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sonst die Interessen der Außenseiterbetriebe unter Betracht ihrer negativen Koalitionsfreiheit angemessen zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat deshalb in § 1 GesamthafenbetriebsG eine Kompromißregelung gewählt, die sich weitestgehend an § 5 T V G anlehnt. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die quantitativen Voraussetzungen, die durch die koalitionsangehörigen oder dem Gesamthafenbetrieb freiwillig beigetretenen Hafeneinzelbetriebe erfüllt sein müssen; das gilt aber auch im Hinblick auf das Genehmigungserfordernis des § 2 Abs. 2 GesamthafenbetriebsG. Besteht somit eine weitgehende Deckungsgleichheit zwischen der Allgemeinverbindlichkeitsregelung des GesamthafenbetriebsG und des § 5 T V G , so liegt es nahe, die zu § 5 T V G entwickelte verfassungsrechtliche Beurteilung auch auf die vergleichbare Regelung des GesamthafenbetriebsG zu übertragen. Die Verfassungskonformität des § 5 T V G hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen festgestellt". Im Mittelpunkt der Entscheidungen steht wiederum die Feststellung, daß Art. 80 G G nicht einschlägig ist. Insbesondere in der Entscheidung Bd. 44, S. 322 wird diese Feststellung ausführlichst begründet. Danach ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen „ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 G G findet". Und speziell zu Art. 80 G G ist ausgeführt worden: „Läßt es die Verfassung einerseits zu, daß der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung, soweit es sich um den Inhalt von Arbeitsverhältnissen handelt, weit zurücknimmt und den Koalitionen ein Vorrecht einräumt, so bindet sie ihn andererseits bei ergänzenden Normsetzungsakten in diesem Bereich nicht streng an die Formen von Gesetz und Rechtsverordnung. Soweit hier eine Beteiligung des Staates notwendig wird, haben sich in dem Bestreben, den maßgeblichen Einfluß der Koalitionen auch insoweit zu erhalten, besondere Normsetzungsformen herausgebildet" (S. 347). - „Die für die Rechtsverordnungen geltende Vorschrift des Art. 80 G G ist auf das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung schon deshalb nicht anwendbar, weil die allgemeinverbindlichen Tarifnormen keine Rechtsverordnungen darstellen. Im übrigen ließe sich die Aufstellung allgemeinverbindlicher Tarifnormen wie auch ihre Aufhebung nach dem geltenden Recht weder mit dem Maßstab des Gewaltenteilungsgrundsatzes im allgemeinen noch mit dem des Art. 80 G G im besonderen zutreffend beurteilen" 17 .
" BVerfGE 44, S. 322 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG; 55, S. 7 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG. " BVerfGE 44, S.322, 349; weitere Fundstellen AuR 1977, S. 30 m. Anm. Kempen = EzA Nr. 5 zu § 5 TVG m. Anm. Badura. Im Ergebnis ebenso BAG AP Nr. 12, 14 zu § 5 TVG.
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In Übereinstimmung mit dieser verfassungsrechtlichen Beurteilung der Allgemeinverbindlicherklärung läßt sich hinsichtlich der Verwaltungsordnung, ihrer bindenden Wirkung und ihres personellen Geltungsbereichs, eindeutig feststellen, daß ein Verstoß gegen Art. 80 G G nicht in Betracht kommt. Durch das GesamthafenbetriebsG ist den Sozialpartnern ein autonomer Regelungsbereich überantwortet worden, den sie in Ausübung ihrer in Art. 9 Abs. 3 G G garantierten Koalitionsfreiheit und der damit verbundenen Tarifautonomie in eigener Verantwortung wahrnehmen. Der Staat hat auch durch das GesamthafenbetriebsG seine Zuständigkeit von vornherein weit zurückgenommen und die Befugnis der Koalitionen, selbst Rechtsregeln zu setzen und wieder aufzuheben, anerkannt. Diese Autonomieverleihung ist deshalb an Art. 9 Abs. 3 G G , nicht jedoch an Art. 80 G G zu messen. Daraus folgt, daß im einzelnen auch unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe anzulegen sind. 3. Die inhaltlichen
Regelungsgrenzen
Dieser Rückgriff auf Art. 9 Abs. 3 G G läßt auch die immanenten Regelungsgrenzen erkennen, die dieser arbeitsrechtlichen Selbstverwaltungsautonomie von Verfassungs wegen gesetzt sind. Einerseits darf dadurch nicht in die Normsetzungsprärogative der primär in Art. 9 Abs. 3 G G geschützten Koalitionen eingegriffen werden; andererseits müssen die konkreten Einzelvorschriften in einem arbeitsrechtlichen Regelungszusammenhang stehen, müssen mithin von dem Regelungsauftrag des Art. 9 Abs. 3 G G gedeckt sein und dürfen sich nicht mit den wirtschaftlichen Außenbeziehungen der Hafeneinzelbetriebe befassen oder gar den Kernbereich der unternehmerischen Entscheidungsautonomie berühren 18 . Ebenso wie durch Tarifvertrag nach der in der Literatur überwiegend vertretenen Ansicht nicht die unternehmerischen Sachentscheidungen geregelt werden können, ebenso kann auch durch die Verwaltungsordnung nicht in den Kernbereich der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit eingegriffen werden19. Freilich ist zu bedenken, daß diese Regelungsgrenzen fließend sind und im Einzelfall nur unter Betracht aller konkreten Regelungswirkun18 BVerfGE 44, S.322, 349: „Ihre verfassungsrechtliche Grenze findet diese Befugnis darin, daß es sich um Rechtsregeln zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen handeln muß."
" Vgl. aus der Literatur nur Wiedemann/Stumpf, T V G , Einl. Rdn. 186 ff m. w. N . Diese Ansicht wird verschiedentlich unter Berufung auf allgemeine Systemzusammenhänge einer Wettbewerbswirtschaft, die die Existenz autonomer Wirtschaftseinheiten voraussetzt, verschiedentlich aber auch unter Berufung auf Art. 12, 14 G G und die darin enthaltene Autonomie unternehmerischer Betätigungsfreiheit begründet; näher dazu Wiedemann, Festschrift für St. Riesenfeld (1983), S.301 ff = R d A 1986, S.231.
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gen festgestellt werden können. In abstracto mag die Unterscheidung zwischen arbeitsrechtlichen Regelungswirkungen einerseits und unternehmerischen Regelungswirkungen andererseits sinnfällig sein. Da die konkreten Tarifregelungen stets auf einem arbeitsrechtlichen Regelungsanlaß beruhen und eine arbeitsrechtliche Zielsetzung verfolgen, ist nahezu immer auch ein arbeitsrechtlicher Regelungszusammenhang feststellbar. Der Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsautonomie läßt sich sodann nur im Einzelfall unter Betracht der konkreten Regelungswirkungen, der konkreten Eingriffsintensität und der konkreten Arbeitnehmerinteressen beurteilen. Auch der Rückgriff auf den Kernbereich der unternehmerischen Entscheidungsautonomie bietet keine verläßliche Argumentationshilfe, ist doch auch dieser Kernbereich von begrifflicher und normativer Unschärfe. Deshalb kann nur allgemein festgestellt werden, daß die im GesamthafenbetriebsG angelegte Selbstverwaltungsautonomie zwar mit Art. 9 Abs. 3 G G vereinbar ist und von diesem Grundrecht auch verfassungsrechtlich gedeckt wird, daß diese Selbstverwaltungsautonomie aber keine im Vergleich zur Tarifautonomie weitergehenden Regelungsbefugnisse vermittelt, sondern im wesentlichen denselben Grenzen unterliegt, die auch der Tarifautonomie gesetzt sind. II. Die Regelung der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung auf der Grundlage des GesamthafenbetriebsG Als Ermächtigungsgrundlagen für die Regelung der zwischenbetrieblichen Überlassung von Hafeneinzelbetriebsarbeitern kommt § 1 GesamthafenbetriebsG i. V. m. der nach dieser Vorschrift erforderlichen Koalitionsvereinbarung in Betracht. In § 1 Abs. 1 GesamthafenbetriebsG wird die gesetzliche Zielsetzung allgemein mit der Formulierung „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" umschrieben. Freilich wird daraus die Dimension dieses Regelungsbereichs nicht hinreichend erkennbar, so daß er der Konkretisierung bedarf. 1. Die Rechtsstellung des Gesamthafenbetriebs als Anbieter von Gesamthafenarbeitern Die Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse könnte sich theoretisch in der Angebotsfunktion des Gesamthafenbetriebs erschöpfen. Danach wäre der Gesamthafenbetrieb lediglich Anbieter von Hafenarbeitern. Der Gesamthafenbetrieb wäre demnach einem Personal-Leasing-Unternehmen vergleichbar, das ebenfalls als Anbieter von Beschäftigung in fremden Unternehmen auftritt. Wie ein solches Personal-LeasingUnternehmen hätte sich auch der Gesamthafenbetrieb um die Beschäfti-
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gung der von ihm angestellten Gesamthafenarbeiter in den Haieneinzelbetrieben zu bemühen, würde mithin das wirtschaftliche Risiko eines entsprechenden Beschäftigungsbedarfs tragen. Dieses Risiko ist nicht allzu gering zu bemessen, da aus dieser lediglich angebotsorientierten Sicht die personalpolitische Dispositionsfreiheit der Hafeneinzelbetriebe nicht tangiert werden würde. Sie träten in Konkurrenz mit dem Gesamthafenbetrieb auf dem Arbeitsmarkt auf und könnten je nach Bedarf wahlweise eine Beschäftigung auf Dauer oder eine Beschäftigung kurzfristiger Art anbieten. Nach diesem angebotsorientierten Modell ist der Gesamthafenbetrieb also durchaus in der Lage, stetige Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter rechtlich einzurichten. O b und in welchem Umfang er dazu faktisch befähigt ist, ist im wesentlichen abhängig von der freien Nachfrage der Hafeneinzelbetriebe nach Überlassung von vorübergehend benötigten Arbeitnehmern. Sofern die Hafeneinzelbetriebe beim Gesamthafenbetrieb keine Arbeitnehmer nachfragen, sondern diese unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt anwerben, wird der Gesamthafenbetrieb eine restriktive Einstellungspolitik betreiben müssen, andernfalls das wirtschaftliche Risiko wegen der unzulänglichen Beschäftigung untragbar wäre. Dieses angebotsorientierte Modell ermöglicht also zwar theoretisch die rechtliche Verstetigung von Arbeitsverhältnissen für Hafenarbeiter, gewährleistet aber praktisch in keiner Weise, daß dieser rechtlichen Verstetigung auch die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit des Gesamthafenbetriebs entspricht. Daraus wird deutlich, daß die „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" nicht dem freien Spiel der Kräfte auf dem Hafenarbeitsmarkt überlassen werden kann, sondern daß es dazu einer personalpolitischen Reglementierung der Hafeneinzelbetriebe bedarf. Die Einrichtung eines besonderen Arbeitgebers, des Gesamthafenbetriebs, ist kein funktionstaugliches Mittel zur Umsetzung der mit dem GesamthafenbetriebsG beabsichtigten Zielsetzung, sofern nicht zugleich die personalpolitischen Freiheiten der Hafeneinzelbetriebe eingegrenzt werden 20 .
2. Das Beschäftigungsmonopol des Gesamthafenbetriebs für den Spitzenbedarf der Hafeneinzelbetriebe Derartige der Zielsetzung „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" entsprechende Funktionsbedingungen sind nur erfüllt, wenn der Gesamthafenbetrieb als besonderer Arbeitgeber über ein 20 Im Ansatz deshalb zutreffend L A G Bremen v. 27. Juni 1 9 8 5 - 3 Sa 3 6 1 - 3 6 2 / 8 3 , S. 18: „Der Gesamthafenbetrieb kann seine Aufgabe, der Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter zu dienen, nur dann erfüllen, wenn er auch Maßnahmen zu seiner eigenen Existenzsicherung treffen kann."
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Monopol zur Erledigung solcher Beschäftigungen verfügt, die nur vorübergehend anläßlich eines Spitzenbedarfs in den Hafeneinzelbetrieben anfallen 21 . Diesem Beschäftigungsmonopol des Gesamthafenbetriebs für besonderen Arbeitsbedarf korrespondiert ein Benutzungszwang der Hafeneinzelbetriebe, d. h. die Hafeneinzelbetriebe sind verpflichtet, sich zur Erledigung derartiger Tätigkeiten der vom Gesamthafenbetrieb angestellten Arbeitnehmer zu bedienen. Auf diese Weise wird jeglicher Spitzenbedarf den Gesamthafenarbeitern reserviert. Dadurch wird es dem Gesamthafenbetrieb ermöglicht, langfristig zu disponieren und so die Verstetigung von Hafenarbeitsverhältnissen durch Abschluß entsprechender Dauerverträge zu optimieren. Sein wirtschaftliches Beschäftigungsrisiko wird erheblich gemindert. Zwischen der gesetzlichen Zielsetzung „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" und einem den Hafeneinzelbetrieben auferlegten Beschäftigungszwang von Gesamthafenarbeitern anläßlich der Erledigung eines Spitzenbedarfs besteht mithin ein unmittelbarer, sachnotwendiger Zusammenhang. Die autonome Einstellung von Aushilfsarbeitern durch die Hafeneinzelbetriebe würde an dem Zustand unständig beschäftigter Hafenarbeiter nichts ändern und zudem dazu führen, daß auch der Gesamthafenbetrieb seine gesetzliche Aufgabe nicht erfüllen könnte. D a es im Belieben der Hafeneinzelbetriebe stünde, entweder eigene Aushilfskräfte einzustellen oder Arbeiter des Gesamthafenbetriebs anzufordern, wäre niemals absehbar, in welchem Umfang der Gesamthafenbetrieb Hafenarbeiter auf Dauer einstellen könnte oder müßte. Das wirtschaftliche Risiko derartiger Einstellungen wäre nicht kalkulierbar. Eine rechtlich und wirtschaftlich gesicherte Stellung des Gesamthafenbetriebs ist mithin nur dann gewährleistet, wenn er über das rechtliche Monopol zur Erledigung aller im Hafen anfallenden Arbeiten verfügt, die in den Hafeneinzelbetrieben anläßlich eines Spitzenbedarfs anfallen und mit deren Stammpersonal nicht erledigt werden können. Die vorstehenden Überlegungen lassen zugleich auch die ermächtigungsrechtlichen Grenzen erkennen. Die „Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" ist nur in jenem Hafenarbeitsbereich erforderlich, der als Spitzenbedarf in den Hafeneinzelbetrieben anfällt. Sofern also in den Hafeneinzelbetrieben auf Dauer eingerichtete Arbeitsplätze bestehen, liegt kein von der gesetzlichen Ermächtigung erfaßter Regelungsgegenstand vor. Durch derartige Arbeitsverhältnisse wird der Zweck des Gesetzes schon auf der Ebene der Hafeneinzelbetriebe 21 Deshalb besteht auch allgemein für die Hafeneinzelbetriebe ein Verbot, Aushilfsarbeiter ohne Einwilligung des Gesamthafenbetriebs zu beschäftigen - so 5 9 A b s . 1 der Satzung in H a m b u r g sowie § 1 6 Abs. 2 der Verwaltungsordnung im Lande Bremen.
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erreicht, so daß es einer weitergehenden Arbeitgeberstellung seitens des Gesamthafenbetriebs nicht bedarf. Der Gesamthafenbetrieb kann und darf nur dann Arbeitsverträge abschließen, wenn dazu deshalb ein Bedarf besteht, weil Hafenarbeiten anfallen, die durch das Stammpersonal der Hafeneinzelbetriebe nicht übernommen werden können. Das GesamthafenbetriebsG erfaßt m. a. W . nur einen Teilbereich des Hafenarbeitsmarktes. Dieser erstreckt sich auf jene Arbeitnehmer, die sich ohne die Rechtsfigur des Gesamthafenbetriebs als unständige Hafenarbeiter in den Hafeneinzelbetrieben betätigen müßten. Dieser Teilarbeitsmarkt ist zwingend dem Gesamthafenbetrieb vorbehalten, der dort - wie dargestellt — über ein arbeitsvertragliches Abschlußmonopol verfügt. Der andere Teilarbeitsmarkt, auf dem die Hafeneinzelbetriebe ihre auf Dauer zu beschäftigenden Hafenarbeiter anwerben, unterliegt ihrer uneingeschränkten Vertragsautonomie 22 .
3. Beschäftigungsmonopol und zwischenbetriebliche Arbeitnehmerüberlassung Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen ergibt sich auch unmittelbar eine Antwort auf die rechtliche Beurteilung der zwischenbetrieblichen Überlassung von Hafeneinzelbetriebsarbeitern. Folgt man der vorstehend entwickelten Konzeption, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß eine solche zwischenbetriebliche Arbeitnehmerüberlassung auf der Grundlage des GesamthafenbetriebsG grundsätzlich unterbunden werden kann. Durch ein solches Verbot der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung soll offensichtlich erreicht werden, daß ein einzelbetrieblicher Spitzenbedarf nur durch vom Gesamthafenbetrieb angestellte Arbeitnehmer erledigt wird. Es handelt sich um typische Fälle unregelmäßiger, zusätzlicher und kurzfristig zu erledigender Hafenarbeit, die mit dem Stammpersonal des Hafeneinzelbetriebes nicht durchführbar ist, so daß dieser Hafeneinzelbetrieb auf die kurzfristige Beschäftigung betriebsfremder Arbeitnehmer im Wege der gelegentlichen Arbeitnehmerüberlassung ausweichen muß. Eine solche auf fremder Betriebshilfe beruhende Beschäftigung könnte nun in der Tat die Funktionsfähigkeit des Gesamthafenbetriebs nicht unerheblich beeinträchtigen. Er könnte seine gerade zum Zweck der Ausführung solcher ad-hoc-Tätigkeiten in den Hafeneinzelbetrieben angestellten Arbeitnehmer entsprechend weniger beschäftigen und müßte deshalb ein unverhältnismäßiges Beschäftigungsrisiko tragen. Eine solche von den Hafeneinzelbetrieben praktizierte gegenseitige Selbsthilfe kollidiert deshalb eindeutig mit dem gesetzlichen Funktionsauftrag des Gesamthafenbetriebs und kann des22 Das gilt auch im Hinblick auf die betriebliche Regelung von Überstunden. Die dagegen gerichtete Vorschrift des § 11 der Satzung in Hamburg ist deshalb unwirksam.
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halb von diesem durch eine entspechende Regelung untersagt oder auch nur eingeschränkt werden 23 . Anders ist hingegen zu entscheiden, wenn lediglich ein Fall der Arbeitsberührung vorliegt, die betriebsfremden Arbeitnehmer also nur kurzfristig in Erfüllung eines zwischen den beiden Hafeneinzelbetrieben bestehenden Vertragsverhältnisses tätig werden und dabei auch den betriebsfremden Hafenbetrieb aufsuchen müssen. In diesen Fällen wird keine betriebsfremde Tätigkeit verrichtet, sondern werden eigene Wirtschaftsinteressen wahrgenommen. Ebenso ist grundsätzlich zu entscheiden, sofern die Beschäftigungskonstellation über den Fall bloßer Arbeitsberührung hinausgeht, gleichwohl aber auf der Grundlage eigener Vertragspflichten gehandelt wird. Besonders bedeutsam ist dieser Zusammenhang im Rahmen von Subkontrakten. Sofern derartige Subkontrakte nicht zwecks Umgehung der unzulässigen Arbeitnehmerüberlassung vereinbart werden 24 , bestehen weder gegen ihre Wirksamkeit noch gegen ihren Vollzug durchgreifende Bedenken. Auch wenn zur Vertragserfüllung die Beschäftigung von Hafenarbeitern des einen Vertragspartners in dem betriebsfremden Hafeneinzelbetrieb des anderen Vertragspartners erforderlich ist, ist eine solche betriebsfremde Beschäftigung zulässig. Ein Beschäftigungsverbot ist von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage deshalb nicht gedeckt, weil das GesamthafenbetriebsG offensichtlich nicht die allgemeinen Vertragsbeziehungen, die die Hafeneinzelbetriebe miteinander eingehen, behindern will. Die Subkontrakte zeichnen sich aber gerade dadurch aus, daß nicht nur Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden, sondern ein wirtschaftlicher Erfolg vereinbart und das damit verbundene Wirtschaftsrisiko übernommen wird. Im Mittelpunkt steht mithin nicht die Beschäftigung fremder Arbeitnehmer, sondern der Einsatz eigener Arbeitnehmer, um eine eigene erfolgsabhängige Vergütung zu erlangen. Eine solche wirtschaftliche Kooperation hat zwar auch beschäftigungspolitische Bedeutung; von vorrangiger Bedeutung ist jedoch die unternehmerische Vergemeinschaftung eines wirtschaftlichen Erfolges. Eine derartige Kooperation zu unterbinden, fällt nicht in die ausschließlich arbeitsmarktrelevante Zuständigkeit des Gesamthafenbetriebs. Dieser ist zur Regelung der
Ähnlich wohl auch Sandmann/Marschall, A Ü G Stand Juli 1985, Art. 1 § 1 Rdn. 46. D a z u im einzelnen B A G A P N r . 2 zu § 1 A U G ; Durchführungsanweisungen der Bundesanstalt für Arbeit zum A Ü G (Teil-DA zu § 1 A Ü G ) , N Z A 1986, S. 778 ff; v. Hoymngen-Huene, B B 1985, S. 1669ff; Marschall, N Z A 1984, S. 150ff; Becker, Z f A 1978, S. 131 ff; Göhel, BIStSozArbR 1973, S. 324 ff; Gick, Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung zwischen Verbot und Neugestaltung (1983), S. 164 ff; Hempel, D a s Spannungsverhältnis zwischen dem sozialen Schutz der Arbeitnehmer und den wirtschaftlichen Interessen der Verleiher und der Entleiher bei der Arbeitnehmerüberlassung (1975), S. 173 ff. 25
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Hafenarbeit befugt, sofern durch betriebsfremde Hafenarbeiter einzelbetriebliche Tätigkeiten verrichtet werden, nicht aber wenn eigene Vertragsleistungen mit eigenem Personal innerhalb eines anderen Hafeneinzelbetriebes erbracht werden. Es ist zwar einzuräumen, daß durch ein solches die subkontraktliche Beschäftigung einbeziehendes Verbot die „Monopolstellung" des Gesamthafenbetriebs und - damit verbunden - seine wirtschaftliche Position nicht unerheblich verstärkt werden würden. Auch die Kontrolle fremder Hafenarbeit und die Beschäftigung eigener Hafenarbeiter würden dem Gesamthafenbetrieb erheblich erleichtert werden, wenn derartige Subkontrakte schlechthin unwirksam oder nicht durchführbar wären. Gleichwohl ist daran festzuhalten, daß der Gesamthafenbetrieb über keine beschäftigungspolitische Allkompetenz verfügt, sondern strikt auf seine Befugnis zur Regelung des betrieblichen Spitzenbedarfs beschränkt ist. Besteht kein solcher Bedarf, weil der wirtschaftliche Erfolg kooperativ aufgeteilt worden ist, dann entfällt auch die Zuständigkeit des Gesamthafenbetriebs.
4. Grundrechtliche
Regelungsgrenzen
a) Die sozialpolitische Zielsetzung des GesamthafenbetriebsG und die Eingriffsintensität seiner Regelungen
Auch ohne detaillierte Grundrechtserörterung läßt sich schon vorab feststellen, daß eine Grundrechtsverletzung innerhalb des vorstehend dargestellten Ermächtigungsrahmens nicht ersichtlich ist. Dabei ist vor allem zu bedenken, daß die gesetzliche Regelung durch die sozialpolitische Dringlichkeit des gesetzlichen Anliegens geprägt wird. Es ist bekannt, daß ohne die rechtliche Existenz des Gesamthafenbetriebs zahlreiche Hafenarbeiter ohne dauerhafte Anstellung wären. Sie müßten sich je nach Bedarf der Hafeneinzelbetriebe als unständige Hafenarbeiter betätigen und so auf jenen gesetzlichen Arbeitnehmerschutz verzichten, der eine entsprechende Bestandsdauer des Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Auch die einzelbetriebliche Regelung ihrer Arbeitsbedingungen wäre vergleichsweise schlechter als die den festangestellten Arbeitnehmern eingeräumten Arbeitsbedingungen. Insgesamt ist also die arbeitsrechtliche und die vertragsrechtliche Stellung dieser als unständige Hafenarbeiter tätigen Arbeitnehmer außerordentlich ungesichert und vergleichsweise schlecht konditioniert. Auf die selbstregulativen Kräfte des Arbeitsmarktes ist deshalb nicht zu hoffen, weil in den Hafeneinzelbetrieben nur gelegentlich ein vermehrter Arbeitsbedarf anfällt, so daß die Hafeneinzelbetriebe auch nur gelegentlich auf diese „Reserve" unständiger Hafenarbeiter zurückgreifen würden.
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Diesem defizitären Arbeitnehmerschutz wird durch die Einrichtung des Gesamthafenbetriebs entgegengewirkt 25 . Die in den Hafeneinzelbetrieben anfallenden Zusatzarbeiten werden vom Gesamthafenbetrieb gleichsam gebündelt und den vom Gesamthafenbetrieb festangestellten Arbeitnehmern zugewiesen. Auf diese Weise werden trotz desselben Arbeitsanfalls aus den ehemals unständigen Aushilfsarbeitern auf Dauer festangestellte Hafenarbeiter. Sie verfügen über denselben gesetzlichen Arbeitnehmerschutz wie die in den Hafeneinzelbetrieben beschäftigten Hafenarbeiter, und ihre vertraglichen Arbeitsbedingungen werden im Zweifel denjenigen der Hafeneinzelbetriebsarbeiter entsprechen. Diese Überlegungen zeigen deutlich auf, daß die Einrichtung des Gesamthafenbetriebs eine für die rechtliche Struktur der Hafenarbeit überragende Funktion hat, deren sozial- und arbeitsmarktpolitischer Stellenwert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die mit der Einrichtung des Gesamthafenbetriebs verbundenen Belastungen der Hafeneinzelbetriebe sind demgegenüber relativ gering. Zudem haben sie gegenüber dem Gesamthafenbetrieb ein Recht auf Zuweisung der von ihnen zur Deckung eines gelegentlichen Mehrbedarfs benötigten Hafenarbeiter. Damit entfällt die sonst erforderliche Anwerbung entsprechender Aushilfskräfte auf dem Arbeitsmarkt. Zudem bieten die vom Gesamthafenbetrieb zur Verfügung gestellten Arbeitnehmer die Gewähr ausreichender Befähigung. D a sie ständig im Hafen beschäftigt werden, zudem wegen der unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse in den Hafeneinzelbetrieben über wichtige Erfahrungen verfügen und von dem Gesamthafenbetrieb hinreichend geschult werden, ist davon auszugehen, daß sie im Vergleich zu den auf dem Arbeitsmarkt als Aushilfsarbeiter verfügbaren Arbeitnehmern bei weitem besser befähigt sind. Der Gesamthafenbetrieb sorgt mithin nicht nur für ein ständiges Angebot von zusätzlichen Arbeitskräften, sondern zugleich für ein Angebot leistungsfähiger Arbeitnehmer. Insgesamt streitet also zugunsten des Gesamthafenbetriebs die arbeitsrechtliche Schutzintention des GesamthafenbetriebsG, das den sonst als unständig tätigen Hafenarbeitern einen umfassenden Arbeitnehmerschutz gewähren will. Angesichts dieses relativ eindeutigen Befunds liegt die Vermutung nahe, daß sowohl das GesamthafenbetriebsG als auch die darin enthaltenen Regelungskompetenzen mit dem Grundrechtsschutz der Hafeneinzelbetriebe vereinbar sind. Insbesondere ist zu bedenken, daß dieser im GesamthafenbetriebsG angelegte Arbeitnehmerschutz ebenfalls durch Art. 12 G G berührt wird. Auch die Arbeitnehmer sind Träger des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 G G , so daß auch ihr Schutz 25 „Zur Schaffung stetiger Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter" - so § 1 GesamthafenbetriebsG.
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innerhalb des Art. 12 G G zu berücksichtigen ist26. Es liegt mithin ein Konflikt mehrerer in gleicher Weise durch Art. 12 G G geschützter Grundrechtsträger vor, so daß nicht einseitig auf die Grundrechtsinteressen einer Partei abgestellt werden darf27. b) Der Grundrechtsschutz
nach Art. 12 GG
Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat das Grundrecht des Art. 12 G G ständig fortentwickelt. Diese Entwicklung ist begründet worden durch das Apotheken-Urteil 28 . Dort ist in grundsätzlicher Hinsicht unterschieden worden zwischen der Berufswahl- und der Berufsausübungsfreiheit. Da vorliegend vor allem die Art und Weise der Unternehmensführung in personalpolitischer Hinsicht relevant ist, kommt grundsätzlich nur ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit in Betracht. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Die Freiheit der Berufsausübung kann beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen. Der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen 29 ." Diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt in seinem Mitbestimmungs-Urteil bestätigt und unter dem Aspekt des gebotenen Arbeitnehmerschutzes ausgewertet30. Danach sei grundsätzlich auch die „Unternehmerfreiheit" i. S. freier Gründung und Führung von Unternehmen durch Art. 12 Abs. 1 G G geschützt. Entscheidend sind vor allem jene Urteilspassagen, in denen das Bundesverfassungsgericht mit besonderem Nachdruck auf die gegenläufigen Arbeitnehmerinteressen, konkret: deren Mitbestimmungsinteressen, hingewiesen hat. Wie gezeigt, besteht auch im hiesigen Zusammenhang der Konflikt in der Divergenz von Unternehmensinteressen einerseits und Arbeitnehmerinteressen - den Interessen der vormals unständigen Hafenarbeiter an einem dauerhaften Arbeitsverhältnis - andererseits. Hinsichtlich dieses Interessenschutzes sind die Hafenarbeiter ebenso Träger des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 G G wie die sonstigen Arbeitnehmer im Hinblick auf ihre Mitbestimmungsinteressen. Dazu vor allem B V e r f G E 50, S . 2 9 0 , 364 f (Mitbestimmung). Zudem besteht der Grundrechtskonflikt nicht im Widerstreit gegenläufiger U n t e r nehmensinteressen, wie es sonst der Konfliktstypik entspricht, sondern im Widerstreit von Arbeitnehmer- und Unternehmerinteressen. Rechtsformal kann dem Gesamthafenbetrieb zwar Unternehmensqualität zuerkannt werden. Sachlich stellt der Gesamthafenbetrieb vergleichbar einer gemeinsamen Einrichtung nichts anderes als eine Bündelung von Arbeitnehmerinteressen dar. E r ist somit eine Veranstaltung zur Verfolgung von Arbeitnehmerinteressen. 28 B V e r f G E 7, 3 7 7 ff. 26 27
29 50
B V e r f G E 7, S . 3 7 7 LS. 6 a. B V e r f G E 50, S . 2 9 0 , 362ff.
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Erforderlich ist demnach, daß die Einschränkung der Berufsfreiheit durch sachgerechte und vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt ist. Sachgerechte und vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls liegen dem GesamthafenbetriebsG wegen des damit bezweckten Arbeitnehmerschutzes offensichtlich zugrunde. Es besteht auch kein Zweifel, daß die darin enthaltenen Regelungen und Regelungskompetenzen geeignet und erforderlich sind, das Gesetzesziel, die arbeitsvertragliche Integration der ohne dieses Gesetz unständigen Hafenarbeiter, zu erreichen. Auch die Schwere und Intensität des Eingriffs stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe 31 . Unter Betracht der vorstehend aufgezeigten ermächtigungsrechtlichen Regelungskompetenzen ist offensichtlich, daß die Hafeneinzelbetriebe in ihrer personalpolitischen Autonomie nicht im Kernbereich eingeschränkt werden. Vielmehr liegt lediglich ein geringer, wenn auch spürbarer Eingriff in einen Teilbereich ihrer Personalpolitik vor. Den Hafeneinzelbetrieben wird nicht verwehrt, eigenes Stammpersonal nach eigenem Bedarf einzustellen oder zu entlassen. Lediglich zur Deckung eines gelegentlichen Spitzenbedarfs sind sie aufgrund des GesamthafenbetriebsG und der darauf basierenden Ausführungsregelungen verpflichtet, die erforderlichen Arbeitnehmer vom Gesamthafenbetrieb anzufordern bzw. die Beschäftigung von anderen Hafeneinzelbetrieben überlassener Aushilfsarbeiter zu unterlassen. Insgesamt handelt es sich also um eine Einschränkung von geringerer Intensität, die unter Betracht der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung des GesamthafenbetriebsG angemessen und den betroffenen Hafeneinzelbetrieben durchaus zumutbar ist. Ein Verstoß gegen Art. 12 G G ist also nicht erkennbar 32 . Anders ist hingegen ein etwaiges Verbot von Subkontrakten zu beurteilen. Wie schon ausgeführt worden ist, wird der Subkontrakt auf der Grundlage eigener unternehmerischer Leistungen vollzogen. Somit werden die Arbeitnehmer im eigenen Unternehmensinteresse eingesetzt, nicht jedoch anderen Hafeneinzelbetrieben überlassen. Ein generelles Jl
BVerfGE 30, S.292, 316. Ebenso besteht kein Verstoß gegen Art. 14 G G . Dieses Grundrecht schützt nur den konkreten Bestand an Vermögenswerten Gütern vor ungerechtfertigten Eingriffen, also nur Rechtspositionen, die einem Rechtssubjekt bereits zugeordnet sind - so BVerfGE 20, S.31, 34; 30, S.292, 334f; 31, S.229, 239. Außerhalb dieses Schutzbereichs liegen hingegen Chancen und Verdienstaussichten, die sich erst in der Zukunft realisieren - so BVerfGE 30, S.292, 335; 45, S.272, 296. Die Einschränkung der personalpolitischen Befugnisse der Hafeneinzelbetriebe stellt jedoch keinen Eingriff in die unternehmerische Vermögenssubstanz dar, sondern betrifft die unternehmerische Betätigungsfreiheit, die sich zukünftig entsprechend verengt und dadurch geringere Geschäftschancen bietet. Im übrigen entsprechen diese Einschränkungen grundsätzlich der Sozialbindung des unternehmerisch genutzten Vermögens. )2
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oder auch nur quantitativ eingeschränktes Verbot der Subkontrakte geht deshalb weit über die Steuerung der personalpolitischen Entscheidungsbefugnisse hinaus, indem das unternehmerische Außenverhalten geregelt wird. Es ist einzuräumen, daß durch ein solches Verbot die Kontrolle der Arbeitnehmerüberlassung wesentlich erleichtert wird, weil dadurch die in der Praxis schwierige Abgrenzung zwischen unzulässiger Arbeitnehmerüberlassung und zulässigem Vollzug von Subkontrakten entfallen würde. Derartige Beweisprobleme rechtfertigen jedoch kein generelles oder eingeschränktes Subkontrakt-Verbot, da sich dieses Beweisinteresse auch mit anderen, weniger gravierenden Mitteln befriedigen läßt32*. Als solche kommen in Betracht Vermutungs- und Beweislastregelungen sowie ein Katalog von „Seriositätsindizien". Wegen dieser Alternativregelungen ist ein solcher Eingriff in die unternehmerische Betätigungsfreiheit nicht erforderlich und verstößt somit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. III. Die personalpolitischen Dispositionsbefugnisse des Gesamthafenbetriebs im Vergleich zur AÜG-Regelung Die vorstehenden Überlegungen zur zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung und zum Abschluß von Subkontrakten lassen erkennen, daß zwischen der im GesamthafenbetriebsG angelegten Regelung und den Vorschriften des A U G eine Wesensverwandtschaft, zumindest aber eine Funktionsverwandtschaft besteht. Darauf deutet jedenfalls die differenzierte Behandlung der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung einerseits und der Subkontrakte andererseits hin, die auf der Grundlage des A U G ebenfalls unterschiedlich beurteilt werden.
1. Das generelle Regelungsverhältnis des GesamthafenbetriebsG und des AUG unter Betracht der unterschiedlichen Schutzinteressen Die vorstehend angedeutete Gleichbehandlung der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung nach dem A U G einerseits und nach dem GesamthafenbetriebsG andererseits könnte deshalb problematisch sein, weil beide Regelungen von unterschiedlichen Schutzrechtsintentionen getragen werden 33 . Das A U G bezweckt unmittelbar den gebotenen 1 ! ' Insofern bestehen Bedenken gegen die Regelung des § 6 Abs. 4 der Verwaltungsordnung für den Gesamthafenbetrieb im Lande Bremen. Dort wird die Zulässigkeit von Hafenarbeit im Subkontrakt für andere Hafeneinzelbetriebe grundsätzlich untersagt, wenn sie innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten zu mehr als 50 % praktiziert wird. 35 Im übrigen wird nahezu einhellig vertreten, daß die auf der Grundlage des GesamthafenbetriebsG praktizierte Arbeitnehmerüberlassung durch den Gesamthafenbetrieb nicht vom A Ü G erfaßt wird, sondern vorrangig nach dem GesamthafenbetriebsG zu beurteilen ist; vgl. dazu nur Becker/Wulfgramm, Kommentar zum AUG, 3. Aufl. (1985), Einl. Rdn. 28 m. w. N.
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Arbeitnehmerschutz anläßlich der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung. Deshalb kommt es vor allem darauf an, unseriösen Praktiken in Form inhumanen „Arbeitnehmerhandels" mit aller Strenge vorzubeugen. Aus diesem Grund hat das A U G die Arbeitnehmerüberlassung generell unter einen Erlaubnisvorbehalt gestellt (Art. 1 § 2 A U G ) . Im Rahmen des Verfahrens über die Erlaubniserteilung werden vor allem die erforderliche Zuverlässigkeit des Arbeitgebers und seine Betriebsorganisation überprüft (Art. 1 § 3 A b s r f Z i f f . 1, 2 A Ü G ) . Zudem unterliegt der Arbeitgeber einer fortlaufenden Verwaltungskontrolle, der er durch Anzeigen und Auskünfte entsprechen muß (Art. 1 § 7 A U G ) . Dieses gesamte Kontrollsystem wird nicht nur gewerberechtlich, sondern auch durch eine subsidiäre Einstandspflicht des Entleihers sanktioniert (Art. 1 § 10 A U G ) . Aus der Gesamtschau dieser Einzelregungen folgt eindeutig, daß das A Ü G den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers bezweckt, der sich in einem rechtlich und wirtschaftlich stabilen Arbeitsverhältnis befinden soll. Auch das GesamthafenbetriebsG ist unbestreitbar ein Arbeitnehmerschutzgesetz. Die ohne die Einrichtung des GesamthafenbetriebsG unständigen Arbeitnehmer sollen auf Dauer verfügbare Arbeitsplätze erhalten und auf diese Weise in den gesetzlichen und vertraglichen Arbeitnehmerschutz umfassend einbezogen werden. Zu den rechtlichen und wirtschaftlichen Funktionsbedingungen des GesamthafenbetriebsG zählt u. a. eine restriktive Praxis der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung, weil andernfalls der wirtschaftliche Status des Gesamthafenbetriebs mangels Kalkulierbarkeit des von den Hafeneinzelbetrieben angemeldeten Spitzenbedarfs gefährdet wäre. Während also die Einzelregelungen des A U G unmittelbar den erforderlichen Arbeitnehmerschutz bezwecken, beruht die im GesamthafenbetriebsG angelegte Restriktion zwischenbetrieblicher Arbeitnehmerüberlassung auf einer Regelung, die primär auf eine Entlastung der wirtschaftlichen Risikolage des Gesamthafenbetriebs, auf eine Ausweitung seines Beschäftigungsmonopols abzielt und somit nur mittelbar konkreten Arbeitnehmerinteressen dient. Sie stellt m. a. W . eine beschäftigungspolitische Verteilungsregelung zugunsten des Gesamthafenbetriebs dar. Trotz dieser unterschiedlichen Schutzzwecke kann gleichwohl im Ergebnis auf eine vergleichende Beurteilung der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung und der damit verbundenen Folgeprobleme abgestellt werden, da sie in beiden Regelungsbereichen von grundsätzlich gleicher Bedeutung sind. Dabei kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob diese Vergleichbarkeit ohne jegliche Einschränkung besteht. Es sei angemerkt, daß z. B. hinsichtlich des Merkmals der „Gewerbsmäßigkeit" eine differenzierte Behandlung in Betracht kommen kann. Innerhalb des A U G ist dieses Merkmal von grundsätzlicher
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Bedeutung, weil nur die gewerbsmäßige, mit Gewinnerzielungsabsicht betriebene Arbeitnehmerüberlassung die besondere Gefahrensituation für den einzelnen Arbeitnehmer belegt34. Innerhalb des GesamthafenbetriebsG kann auf diese Voraussetzung verzichtet werden, weil sich diese Gefahrensituation eben nicht stellt, sondern die beschäftigungspolitischen Verteilungsinteressen des Gesamthafenbetriebs unabhängig von der Gewerbsmäßigkeit der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung berührt werden. Derartige Randkorrekturen ändern aber nichts daran, daß jedenfalls im Kernbereich die Arbeitnehmerüberlassung in beiden Gesetzesbereichen nach vergleichbaren Kriterien zu beurteilen ist. 2. Ubereinstimmende Beurteilung der Arbeitnehmerüberlassung und des Subkontrakts nach dem AUG und dem GesamthafenbetriebsG Die vorstehenden Überlegungen sollen abschließend unter Betracht der zwischenbetrieblichen Arbeitnehmerüberlassung einerseits und der Durchführung von Subkontrakten andererseits verdeutlicht werden. Grundsätzlich gilt, daß die Beschäftigung von Arbeitnehmern anläßlich eines Subkontrakts im Anwendungsbereich des A U G und im Anwendungsbereich des GesamthafenbetriebsG einheitlich zu beurteilen ist. Auf die ermächtigungs- und grundrechtlichen Schranken, die einem generellen Verbot des Subkontrakts innerhalb des GesamthafenbetriebsG bzw. seiner Subregelungen entgegenstehen, ist schon ausführlich hingewiesen worden. Ebenso eindeutig ist der Meinungsstand unter Betracht der AUG-Regelung. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Rahmen eines Subkontrakts, sei es eines "Werk- oder Dienstvertrages, stellt keinen nach Art. 1 § 1 Abs. 1 A U G erlaubnispflichtigen Tatbestand dar35. Trotz dieser einhelligen Ansicht steht das Thema des Subkontrakts bzw. Subunternehmervertrags nach wie vor im Mittelpunkt der mit dem A Ü G befaßten Literatur. Nach wie vor unbewältigt ist das Problem, unter welchen Voraussetzungen die Ausführung eines solchen Subkontrakts eine Umgehung der erlaubnispflichtigen Arbeitnehmerüberlassung darstellt. Von besonderer Brisanz ist dieses Problem für den Bereich des Baugewerbes, da die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung dort generell unzulässig ist (§ 12 a AFG). Dieses Verbot ist nur dann tatsächlich durchsetzbar, wenn es gelingt, Umgehungen durch
34 Dazu Becker/Wulfgramm, (Fn. 33), Art. 1 §1 Rdn.29 sowie Martens, D B 1985, S. 2144, 2150. 35 Dazu nur Becker/Wulfgramm, (Fn.33), Art. 1 §1 Rdn.35; Marschall, N Z A 1984, S. 150; v. Hoyningen-Huene, BB 1985, S. 1669, 1670.
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Abschluß von Subkontrakten zu verhindern36. Als ein rechtlich und faktisch geeignetes Mittel kommt dafür die Regelung von Vermutungstatbeständen in Betracht37. Unter dem Aspekt der ermächtigungsrechtlichen, im GesamthafenbetriebsG angelegten Schranken ist eine solche Regelungskompetenz zulässig. Die Vermutung dient der Durchsetzung der vom GesamthafenbetriebsG geschützten Arbeitnehmerinteressen und steht in einem unmittelbaren Sachzusammenhang mit der beschäftigungspolitischen Vorrangstellung des Gesamthafenbetriebs, dient der Kontrolle zwischenbetrieblicher Arbeitnehmerüberlassung und ist deshalb ein geeignetes Mittel, um die Funktionsfähigkeit des Gesamthafenbetriebs abzusichern. Ohne eine derartige Vermutung müßte der Gesamthafenbetrieb im einzelnen nachweisen, daß aufgrund der organisatorischen Verflechtung und der vereinbarten Risikoverteilung tatsächlich eine unzulässige Arbeitnehmerüberlassung betrieben wird und der zwischen den Parteien abgeschlossene Subkontrakt lediglich die äußere Verkleidung zwischenbetrieblicher Arbeitnehmerüberlassung darstellt. Ein solcher Nachweis läßt sich nur erbringen, wenn dazu im einzelnen die betrieblichen Verhältnisse und der organisatorische Vollzug derartiger Vereinbarungen bekannt sind. Dazu bedarf es eines Einblicks in einen fremden Geschäftsbereich, der nur mit erheblichem Aufwand zum Nachteil aller beteiligten Parteien möglich ist. Daraus wird deutlich, daß eine solche Vermutung lediglich an das im Beweisrecht anerkannte Prinzip der Sachnähe anknüpft. Danach trägt grundsätzlich derjenige die Beweislast, in dessen Sphäre die streitige Tatsache fällt und der deshalb über die geeigneten Mittel verfügt, um die erforderlichen Informationen zu beschaffen38. Ein solcher Vermutungstatbestand stellt somit keine atypische Regelung dar, sondern ist eine Konsequenz des in der Sphäre des Subunternehmers befindlichen Tatsachenmaterials.
36 Uber die rechtstatsächliche Bedeutung dieses Abgrenzungsproblems legen die Berichte der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des A Ü G beredtes Zeugnis ab; vgl. dazu Erster Bericht BT-Drucks. 7/2365, S. 10f; Zweiter Bericht BTDrucks. 7/5631, S . 7 f ; Dritter Bericht BT-Drucks. 8/2025, S.9; Vierter Bericht BTDrucks. 8/4479, S. 15; Fünfter Bericht BT-Drucks. 10/1934, S. 17ff. 37 In dem Referentenentwurf 1975 zur Ergänzung des A Ü G war in Art. 1 §1 Abs. 2 eine solche Vermutungsregelung vorgesehen; dazu im einzelnen Becker, ZRP 1976, S. 288 ff; ders., BIStSozArbR 1976, S.225, 228 ff; Gick, (Fn.24), S. 175 ff; Hempel, (Fn.24), S. 182 ff. - Die von Becker dagegen geäußerten Bedenken hinsichtlich der Vermutungswirkung für das Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren treffen vorliegend nicht zu. Im Gegensatz zur „mehrdimensionalen" Bedeutung einer solchen AÜG-Regelung erschöpft sich die Vermutungsregelung im Anwendungsbereich des GesamthafenbetriebsG in ihrer „eindimensionalen" Wirkung. Sie betrifft nur das privatrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamthafenbetrieb und den Hafeneinzelbetrieben. 38 Dazu im einzelnen m.w. N. Prutting, S. 213 ff.
Gegenwartsprobleme der Beweislast (1983),
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Aus diesen Gründen steht die damit verbundene Belastung auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Dringlichkeit der sie rechtfertigenden Gründe. Der Subunternehmer kann sich jederzeit „exkulpieren", indem er aufgrund der ihm zugänglichen Informationen nachweist, daß der Vollzug des Subkontrakts nicht der Umgehung unzulässiger Arbeitnehmerüberlassung dient. Unverhältnismäßig wäre die mit dem Vermutungstatbestand verbundene Eingriffswirkung allenfalls dann, wenn der Subunternehmer für jeden Einzelkontrakt unter einem Rechtfertigungszwang stehen würde. Deshalb erscheint es geboten, die Vermutung an quantitative Mindestvoraussetzungen anzuknüpfen, wenn z . B . Subkontrakte in einem entsprechenden Umfang (mehr als x Prozent des Geschäftsvolumens) praktiziert werden. Unter diesen eingeschränkten Voraussetzungen kollidiert ein solcher Vermutungstatbestand auch nicht mit Art. 12 G G .
Keine Staatshaftung für die Bankenaufsicht? Eine Korrektur der Rechtsprechung durch den Gesetzgeber GERT NICOLAYSEN
I. Einleitung
Im Jahre 1979 hatte der Bundesgerichtshof in seinen vielbeachteten Urteilen zum Wetterstein-Fonds1 und zum Fall des Bankhauses Herstatt2 die Möglichkeit von Amtspflichten der Kreditaufsicht gegenüber Gläubigern von Kreditinstituten bejaht; Einleger könnten daher bei Pflichtverletzungen der Bankenaufsicht Ansprüche aus Staatshaftung haben. Demgegenüber stellt das Dritte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen vom 20.12.1984 3 fest: „Das Bundesaufsichtsamt nimmt die ihm nach diesem Gesetz zugewiesenen Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahr"'. Diese Novellierung ist neben den zentralen Inhalten des Änderungsgesetzes, z. B. über die bankenaufsichtliche Konsolidierung von Kreditinstitutsgruppen (§10a KWG), weithin unbeachtet geblieben6. Sie verdient Aufmerksamkeit. Das Thema der Drittwirkung von Amtspflichten ermöglicht und gebietet, noch einmal das Gespräch mit Wolfgang Martens aufzunehmen. Seine Gedanken und Anregungen dazu sind nachzulesen; sein nüchtern prüfender Blick ist unvergessen; sein guter Rat, seine verläßliche Hilfe werden uns immer fehlen. Zur Wirtschaftsaufsicht hat Martens die frühere Rechtsprechung kritisiert. Noch vor der Wende des BGH in den genannten Entscheidungen hat er den „Individualbezug" der Aufsichtspflichten gesehen, zwar nicht ausnahmslos oder auch nur regelmäßig, aber dort, „wo in concreto
Urteil v. 1 5 . 2 . 1 9 7 9 , BGHZ 74, 144. Urteil v. 12. 7.1979, BGHZ 75, 120; noch in einem Urteil v. 1 5 . 3 . 1 9 8 4 hat der BGH den Grundsatz bestätigt, N J W 1984, 2691. J BGBl. I 1693. 4 So der neue § 6 Abs. 3 K W G . 5 Gleichlautend für die Versicherungsaufsicht, s. jetzt § 8 1 Abs. 1 VersAufsG. ' Vgl. zum Uberblick die Einführung in das Gesetz von W. M. Waldeck, Die Novellierung des Kreditwesengesetzes, N J W 1985, 888; ]. Henke, Die neuen Bestimmungen des K W G , W P M 1985, 41. 1
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Rechtsgüter des einzelnen gefährdet sind" 7 : „Liegen dem Aufsichtsamt z. B. Anhaltspunkte für den bevorstehenden Zusammenbruch eines Kreditinstitutes vor, so erwachsen daraus Amtspflichten gegenüber denjenigen, die diesem Institut Vermögenswerte anvertraut haben" 8 . O b Amtspflichten einem Dritten gegenüber bestehen oder nur den Schutz der Allgemeinheit bezwecken, hat Wolfgang Martens wegen der von ihm fruchtbar gemachten Parallele zur Abgrenzung zwischen subjektivem Recht und Rechtsreflex interessiert, und dies als Grundlegung für den „Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln", dessen Durchsetzung er als einer der ersten maßgeblich gefördert hat'. Mit Sorge sah er später, daß zaudernde Polizeipräsidenten diese Errungenschaft des Rechtsstaats angesichts von Randalierern und Hausbesetzern verkommen lassen könnten10. Die gleiche Frage: ob Rechtsnormen auch die Interessen Dritter zu schützen bestimmt sind, stellt sich im Verwaltungsprozeßrecht bei den Verwaltungsakten mit Drittwirkung. Der noch vom Ursprung des Problems herrührende Begriff der „Nachbarklage" 11 läßt kaum genügend die Dimensionen erkennen, in denen die Verwaltungsgerichte dank dieser Rechtsfigur ein dominierender Faktor technischer, wirtschaftlicher und schließlich auch gesellschaftlicher Entwicklungen geworden sind12. Ahnliches Potential könnte in der „Konkurrentenklage" 13 schlummern, für die indes der rechtliche Anknüpfungspunkt der im Wettbewerb zu schützenden Interessen wohl noch weiterer Klärung bedarf14. Erst in diesem Zusammenhang, wie Martens ihn zwischen der Problematik des subjektiven öffentlichen Rechts und des Rechts der Amtshaftung aufgewiesen hat, wird der Rang der Frage deutlich: Wenn der bloße Reflex von der rechtlich relevanten und geschützten Position abzugrenzen ist, dann wird damit das Thema der Stellung des Einzelnen zum Staat gestellt, und es ist über die Intensität der rechtlichen Durchdringung im Geflecht dieser Verhältnisse zu entscheiden. Die Feststellung, daß - im jeweils konkreten Einzelfall relevanter Normen - „der Staat für den 7 W. Martens, 457, 462.
Der Schutz des einzelnen im Polizei- und Ordnungsrecht, D Ö V 1976,
' A a O S. 462 Fn. 6 0 ; zu diesem Zeitpunkt war im Herstatt-Fall erst das Urteil des L G Bonn ergangen, das noch auf der traditionellen Linie lag. ' W. Martens, Z u m Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln, JuS 1962, 245, 2 4 9 f. 10 W.Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, D Ö V 1982, 89, 9 7 f . " S. auch dazu W.Martens aaO (Fn. 7) D Ö V 1976, S . 4 6 2 ; weitere Nachweise s. bei Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1986, S . 2 0 4 . 12 Vgl. hierzu auch W. Martens, Tendenzen der Rechtsprechung zum Sofortvollzug der Zulassung von großtechnischen Anlagen, DVB1. 1985, 541. " Zur Konkurrentenklage s. Erichsen/Martens aaO (Fn. 11) S . 2 0 5 m. w . N . H Vgl. dazu G. Nicolaysen, Wirtschaftsfreiheit, in Gs. für Chr. Sasse 1981 Bd. 2, S. 651, 6 5 6 f.
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Bürger da ist", steht zwar nicht stets gleich in der krassen Alternative, daß andernfalls „der Bürger für den Staat da ist", indes ist doch zu beantworten, ob der Einzelne nur eher zufällig und als Objekt günstiger Regelungen von ihnen profitiert, oder ob er als selbständiges Rechtssubjekt zu betrachten ist, dem von der Rechtsordnung „um seiner selbst willen" eine eigene Position zuerkannt wird. Auch zum Problem der „drittschützenden Wirkung" von Amtspflichten kann in dieser globalen Perspektive besserer Zugang erwartet werden. Vielleicht kann es dann gelingen, über die Zufälligkeiten der zivilgerichtlichen Kasuistik hinaus zu einem überzeugenden System verfassungsorientierter Bewertung der Amtspflichten zu gelangen 15 .
II. Die Neuregelung des KWG als Korrektur der Rechtsprechung Der neue § 6 Abs. 3 K W G hat unverkennbar die Amtshaftung im Auge: Durch die hiermit eindeutig ausgedrückte Orientierung der Aufgaben des Aufsichtsamts ausschließlich auf das „öffentliche Interesse" soll eine Drittwirkung der Amtspflichten ausgeschlossen werden, die auch die Einleger der Banken einbezieht, so daß im Falle fehlerhafter Aufsicht eine Amtshaftung zugunsten von Bankkunden nicht mehr in Betracht kommt. Die Regierungsbegründung zum Gesetzesentwurf" nennt ausdrücklich die beiden Entscheidungen des B G H 1 7 , in denen die „jahrelang fast unbestrittene Auffassung" des begrenzten Schutzzwecks der Aufsicht 18 verworfen wurde". Demgegenüber beruft sich die Regierungsbegründung auf die „ursprüngliche Vorstellung des Gesetzgebers" sowie auf die Entscheidung des B V e r w G zur Versicherungsaufsicht 20 , spricht daher von Klarstellung und Verdeutlichung des Schutzzweckes und will an das hergebrachte Verständnis von der Zielrichung der staatlichen Banken15 H.-U. Erichsen, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, W D S t R L Heft 35, 1977, S. 171, 210 Fn.236 beanstandet das Begründungsdefizit in den Entscheidungen ordentlicher Gerichte in Amtshaftungssachen; s. vor allem auch F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1983 S. 36 ff. 16 BRat, Drucks. 60/84 v. 2 4 . 2 . 1 9 8 4 . 17 B G H Z 74, 144 und 75, 120, s . o . F n . 1 und 2. 18 Einen Uberblick über die Rechtsprechung und Literatur vor den Entscheidungen des B G H geben Kopf/Bäumler, Die neue Rechtsprechung des B G H zur Amtshaftung im Bereich der Bankenaufsicht, N J W 1979, 1871 sowie H.-J. Papier, Wirtschaftsaufsicht und Staatshaftung - B G H Z 74, 144 und B G H N J W 1979, 1879, in JuS 1980, 265, 266 f. Zum Problem insgesamt s. auch die Arbeiten von Gisela Meister, Drittbezogene Amtspflichten bei der staatlichen Aufsicht über Banken und Versicherungen, 1982 und E. Bleibaum, Die Rechtsprechung des B G H zur Staatshaftung im Bereich der Bankenaufsicht, 1982. " Regierungsbegründung aaO S. 20. 20 BVerwGE 61, 59.
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aufsieht anknüpfen, die schon in der Regierungsbegründung zum K W G im Jahre 1959 zum Ausdruck gebracht worden sei21. Wenn somit der Gesetzgeber durch die Ergänzung des § 6 K W G durch einen 3. Absatz offen auf die neue Rechtsprechung des B G H zielt, so ist dies kein Einzelfall. Ein weiteres Beispiel bietet in jüngster Zeit die Differenz zwischen B F H und Gesetzgeber im Zusammenhang mit der finanzgerichtlichen „Geprägerechtsprechung". Nach dieser Judikatur wurden die Erträge der Gesellschafter einer G m b H & C o . K G ohne Rücksicht auf die Art der Tätigkeit der Gesellschaft als gewerbliche Einkünfte qualifiziert. In einer Grundsatzentscheidung hatte der Große Senat des Bundesfinanzhofs mit dieser Rechtsprechung gebrochen 22 . Diese Entscheidung, die großes Aufsehen erregte 23 , rief alsbald den Bundesminister der Finanzen auf den Plan. Nach seiner Vorlage, die inzwischen Gesetz geworden ist, wird für die „gewerblich geprägte Personengesellschaft" eine mit der früheren, vom Großen Senat des B F H aufgegebenen Rechtsprechung annähernd gleiche Rechtslage wiederhergestellt 24 . Legislative contra Judikative: Es scheint fast, als seien Gewaltenteilungsprobleme im Spiel25. Dennoch ist festzustellen, daß rechtliche Bedenken aus dieser Perspektive nicht zu entwickeln sind. Von einem Eingriff der Legislative in die Rechtsprechung unter Verletzung ihrer rechtstaatlich garantierten Unabhängigkeit kann nicht die Rede sein26. Es ist der Gesetzgeber, der den Inhalt der Gesetze festlegt und ändert; „les Juges de la Nation ne s o n t . . . que la bouche qui prononce les paroles de la Loi" 2 7 . Das gilt auch für das Recht der Staatshaftung und für die Entscheidung über die Drittbezogenheit von Amtspflichten. Allerdings A a O S. 20, s. auch ebenda S. 19. Beschluß vom 2 5 . 6 . 1 9 8 4 , B F H E 141, 405 = BStBl. II 1984, 751. 23 S. die Nachweise bei M. Streck, Zwischenbilanz der Rechtsentwicklung nach dem Gepräge-Beschluß des Großen Senats, D S t R 1986, 3, Fn. 2. 24 S. § 1 5 Abs. 3 N r . 2 E S t G i . d . F . von Art. 7 N r . 6 SteuerbereinigungsG 1986 v. 19.12.1985, B G B l . I 2436. S. dazu Hennerkes/Binz, Das sogenannte Gepräge-Gesetz, B B 1986, 235. 25 Vgl. etwa Brigitte Knobbe-Keuk, Wieder ein Tritt für die Finanzrechtsprechung. Die Finanzverwaltung demoralisiert das oberste Steuergericht, B B 1985, 820. Die dort vor allem gegen den Gesetzentwurf und gegen die Exekutive gerichteten Angriffe erstrecken sich auch auf die Legislative, „falls der Gesetzgeber der Verwaltung, blind wie ein Büttel, folgt" (aaO S. 821). S. auch die Kritik bei Flume, Der Entwurf eines Gepräge-Rechtsprechungsgesetzes, in Der Betrieb 1985, 1152 und weitere Nachweise zum Gesetzesvorhaben bei Streck a a O (Fn. 23) S. 5 Fn. 5. 26 Auch der B F H , der in seiner Entscheidung vom 10. 7.1986 die Verfassungsmäßigkeit der „Geprägegesetzgebung" bejaht, stellt fest, daß es keine Unabhängigkeit der Gerichte vom Gesetzgeber gibt. Der Betrieb 1986, 1854 f. 27 Montesquieu, L'Esprit des Loix, Liv. X I , C h a p . V I , vol. I p . 3 1 8 , Ed. Amsterdam MDCCLV. 21
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lassen die Gesetze in dieser Frage oft weiten Raum für die Auslegung, und so erscheint sie leicht als eine Domäne der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die an der Unvorhersehbarkeit ihrer Antworten geübte Kritik erweist immer wieder, wie locker die Bindung durch das Gesetz sein kann. Aber das Gesetz bleibt die Grundlage für den Richterspruch; mit der Analyse der N a t u r des Amtsgeschäfts, seinem Zweck, seiner rechtlichen Bestimmung rekurriert das Gericht auf die „die Amtspflicht begründenden Bestimmungen" 28 . Zu diesen Bestimmungen gehört'nunmehr §6 Abs. 3 K W G ; er läßt keinen Zweifel: Die Amtspflichten des Bundesaufsichtsamts werden nur (noch) im öffentlichen Interesse wahrgenommen 2 9 . Mit dieser vorläufigen juristischen Würdigung der KWG-Novelle soll allerdings nicht jegliches Interesse an dem Vorgang geleugnet werden. Es bleibt die Feststellung, daß der Gesetzgeber mit seiner „Klarstellung" die Rechtsprechung korrigieren will. Das wirft Fragen auf: Hielt der Gesetzgeber - und eine weitere Konkretisierung der bewegenden Kräfte soll hier nicht versucht werden - die Entscheidung des B G H für falsch, etwa wegen unrichtiger Wertungen und nicht zutreffender Würdigung der bestehenden Gesetzlage? Hätten die Richter danach die Grenzen richterlicher Funktion überschritten und ihrerseits einen Ubergriff in die Legislative vollzogen? Eher ging es doch wohl um die gesetzgeberische Durchsetzung einer politischen Lösung des Interessenkonflikts gegenüber einer im juristischen Rahmen sehr wohl vertretbaren richterlichen Interpretation nach den Vorstellungen des Gerichts von Richtigkeit und Gerechtigkeit. Das Gesetz hätte demgemäß eine rechtspolitische Entscheidung getroffen. - Auf dieser Ebene kann dann allerdings über Rang- und Stilfragen diskutiert werden, so wie Brigitte Knobbe-Keuk30 zum Entwurf des „Geprägegesetzes" beklagt, das Ergebnis des jahrelangen verantwortungsbewußten Bemühens der Richter um die richtige Rechtsanwendung werde mit einem verwegenen Schuß aus der H ü f t e hinweggefegt. In ihrer Funktion rechtspolitischer Gestaltung ist die Gesetzgebung indes rechtlich grundsätzlich frei und, wie gezeigt, auch zu einer Korrektur der Rechtsprechung befugt. Sie bleibt jedoch auch in dieser Funktion selbstverständlich an die Verfassung gebunden. Es ist daher zu fragen, ob die Entscheidung des § 6 Ab. 3 K W G über die Ausrichtung der Bankenaufsicht nur auf das Interesse der Allgemeinheit mit dem Grundgesetz vereinbar ist. 28
Vgl. z . B . B G H Z 74, 144, 146f; F. Ossenbühl a a O S.36. O b gleiches gilt, soweit die Bundesbank Aufgaben der Kreditaufsicht w a h r n i m m t , bleibt offen. 30 A a O (Fn.25) S.821. 29
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III. § 6 Abs. 3 KWG und die Verfassungsgarantie der Staatshaftung (Art. 34 GG) In der Regierungsbegründung zu § 6 Abs. 3 KWG31 wird der Ausschluß der Amtshaftung gegenüber Einlegern der Kreditinstitute ausdrücklich zum vorrangigen Zweck der Neuregelung erklärt: „In erster Linie soll . . . ausgeschlossen werden, daß einzelne Personen, die in geschäftlichen Beziehungen zu Kreditinstituten . . . stehen, . . . Schadensersatzansprüche gegen den Staat erheben können". Angesichts der verfassungsrechtlichen Mindestgarantie der Staatshaftung in Art. 34 GG" könnte diese Aussage kühn erscheinen. So hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu § 6 Abs. 3 KWG Bedenken im Hinblick auf die grundgesetzliche Verankerung des Amtshaftungsrechts sowie unter rechtssystematischen Gesichtspunkten geäußert. Es sei nicht unproblematisch, „daß der einfache Gesetzgeber mit der bloßen Aussage, daß bestimmte Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrzunehmen seien, Amtshaftungsansprüche generell ausschließen können soll"33. Indessen hat der Gesetzgeber in § 6 Abs. 3 KWG nicht den Weg eines „frontalen" Angriffs gegen die Amtshaftung für die Bankenaufsicht gewählt und nicht Schadenersatzansprüche der Einleger ausdrücklich ausgeschlossen oder eingeschränkt 34 . Vielmehr wird hier der Haftung eine der in Art. 34 GG selbst vorgegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen, nämlich die drittschützende Wirkung der Amtspflicht entzogen, und - wie schon oben festgestellt35 - ist es grundsätzlich der Gesetzgeber, der über die Schutzrichtung der Amtspflichten bestimmt, sodaß diese Entscheidung auch zu seiner Disposition steht. So hat auch der BGH in seinem maßgeblichen Urteil zum Wetterstein-Fonds seiner Entscheidung zugunsten des Gläubigerschutzes zugrundegelegt, daß es in § 6 Abs. 1 KWG an einer einschränkenden Zielsetzung des Gesetzes fehle36. Diese Einschränkung hat der Gesetzgeber nunmehr in § 6 Abs. 3 KWG nachgeliefert 37 . 31 32
AaO (Fn. 16) S.20. Vgl. W.Meyer, Rdn. 12 zu Art. 34 in v.Münch, Grundgesetzkommentar, 2. Aufl.
1983. BT-Drucks 10/1441, S. 58. Regelungen wie §§ 11 ff PostG zeigen, daß solche Einschränkungen wegen der nur „grundsätzlichen" Verantwortung des Staates in Art. 34 G G nicht von vornherein verfassungswidrig sind, s. BGH N J W 1964, 41; BVerwG N J W 1975, 1333. 35 S. oben zu II, bei Fn. 27. 36 BGHZ aaO (Fn. 1) S. 149; bemerkenswert ist dabei, daß der BGH die drittschützende Wirkung von Amtspflichten nach dem K W G nicht auf § 6 Abs. 2 K W G gestützt hat, obwohl dort ausdrücklich die Sicherheit der den Kreditinstituten anvertrauten Vermögenswerte genannt wird; s. dazu noch unten. 37 Auch die Regierungsbegründung aaO (Fn.31) beruft sich ausdrücklich auf die zitierte Wendung des BGH. 55
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Angesichts der hohen Einstufung, die das Grundgesetz (wie auch schon Art. 131 W R V ) der Amtshaftung mit der Zuerkennung des Verfassungsrangs gegeben hat, kann allerdings die einfache Schlußfolgerung aus der positivrechtlichen Ausrichtung des Schutzzwecks in § 6 Abs. 3 K W G nicht befriedigen. Es möchte zweifelhaft sein, ob dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet sein soll, auf diesem Wege über das Eintreten der Amtshaftung nach Belieben zu verfügen. Auch die oben zitierten Bedenken des Bundesrates 38 entspringen ersichtlich dieser Sorge 39 . Ein Haftungsausschluß, wie ihn die Regierungsbegründung als Ziel der Novellierung formuliert hat 40 , darf daher nicht auf eine Weise bewerkstelligt werden, die als eine Umgehung des Art. 34 G G erscheint. Ausnahmen von dem im Art. 34 G G verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Amtshaftung läßt die Rechtsprechung nur in restriktiver Handhabung solcher Möglichkeiten zu41. In diesem Zusammenhang könnte die Frage nach der inhaltlichen Tragweite des neuen § 6 Abs. 3 K W G relevant sein: Sollen durch die Orientierung der Amtspflichten des Bundesaufsichtsamts ausschließlich am öffentlichen Interesse auch die Aufgaben des Amtes geändert werden oder die Art, wie das Amt sie wahrzunehmen hat? Wenn das nicht der Fall ist und die Veränderung der Zweckbestimmung sich als nur formal erweisen würde, so könnte dies als ein Indiz für die Absicht des Gesetzgebers gewertet werden, die Verfassungsgarantie der Amtshaftung auszuhebein, denn das Bestimmungsrecht des Gesetzgebers erscheint nur insoweit sinnvoll und akzeptabel, wie es um die realen Inhalte der Amtspflichten geht. Aus der Art und dem Zweck der Amtspflichten ergibt sich sodann der Kreis der geschützten Dritten. Eine Begrenzung der Haftung ohne inhaltliche Veränderung der Amtspflichten müßte den Weg einer ausdrücklichen und offenen Ausnahme von Art. 34 G G einschlagen 42 . In dieser Perspektive erscheint es allerdings als zweifelhaft, ob § 6 Abs. 3 K W G inhaltliche Änderungen der Amtspflichten bezweckt. Die Kontrollen des Bundesaufsichtsamts, die Bewertung der wirtschaftliS. F n . 3 3 . So sind wohl auch die Äußerungen von Klaus Vogel im ähnlichen Zusammenhang des Art. 19 Abs. 4 G G zu verstehen, es könne nicht auf den Willen des Gesetzgebers ankommen, ein subjektives Recht zu gewähren oder zu versagen, s. Drews/Wacke/Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr 9. Aufl. 1985, S. 402 f und 577. 40 S . o . F n . 3 3 . 41 Vgl. etwa B G H Z 12, 89, 96; 28, 30, 34; s. auch F. Ossenbühl aaO (Fn. 15) S. 56ff. 42 Zum Zusammenhang zwischen Zwecknorm, Aufgabennorm, Handlungsanweisungen und Schutzpflichten vgl. F.-L.Knemeyer, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, W D S t R L Heft 35, 1977, S.221, 236, 274 ff unter besonderer Bezugnahme auf § 1 BImSchG und 1 A t o m G . 38
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chen Situation der Banken, der Umfang der Sorgfaltspflichten, die Maßstäbe der Prüfungen: dies alles kann doch wohl unter dem neuen Gesetz nicht anders aussehen als vorher, ebensowenig übrigens, wie die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in dieser Hinsicht einen Wandel in anderer Richtung beabsichtigt oder gebracht hätte. Das verstärkt den Eindruck, daß die Haftungsbegrenzung durch den Ausschluß der Staatshaftung für die Einleger der Kreditinstitute der einzige Zweck der Novellierung war. Die Regierungsbegründung des Gesetzentwurfs enthält indes noch einen Hinweis auf ein Motiv dieser Begrenzung, das in diesem Zusammenhang relevant sein könnte. Es heißt dort 43 , die Anerkennung der Staatshaftung im Bereich der Bankaufsicht gegenüber Dritten begründe „die Gefahr von zu weit gehenden Maßnahmen der die Aufsicht ausübenden Personen", und dadurch werde die „marktwirtschaftskonforme Aufsichtskonzeption" gefährdet, die den Kreditinstituten „einen sehr großen Spielraum für eine eigene wirtschaftliche Betätigung" belasse. Mit dieser Begründung wird ein Entgegenkommen des Gesetzes gegenüber Kreisen der Kreditwirtschaft bestätigt, die eine Verschärfung der Aufsicht nach der Erweiterung der Amtshaftung durch die Urteile des B G H befürchtet hatten 44 . Diese Schlußfolgerung könnte zu Überlegungen führen, ob die Novelle nicht doch den materiellen Inhalt der Amtspflichten betrifft und z. B. eine großzügigere Handhabung der Aufsicht wünscht, die sodann zum Schutz der Gläubiger der Banken nicht ausreicht. Indessen bereitet eine solche Vorstellung Unbehagen: Das hohe Ansehen des Bundesaufsichtsamts sollte Spekulationen über Zusammenhänge zwischen Amtshaftung und Zuverlässigkeit der Aufsicht verhindern 45 . Auch gibt es wohl keine Kontrollen, die im Interesse der Öffentlichkeit nicht notwendig sind, sondern nur zum Schutz der Gläubiger dienen und daher jetzt wegfallen könnten 4 6 ; über § 6 Abs. 2
AaO (Fn. 33) S. 20. So etwa in einer Stellungnahme des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes im Schreiben v. 2 9 . 9 . 1 9 8 2 an das Bundesministerium der Finanzen, S. 7, in dem damals mit dieser Begründung das Fehlen einer dem § 6 Abs. 3 entsprechenden Regelung in der Novelle beklagt wird; vgl. auch die Kritik an den Urteilen bei O.-E. Starke, W M 1979, 1402; auch sonst werden Konsequenzen befürchtet, z . B . im Sinne einer vermehrten Bürokratisierung, so H.-J.Papier aaO (Fn. 18) S.269; einer Gängelung der Banken, so G. Püttner, von der Bankenaufsicht zur Staatsgarantie für Bankeinlagen? J Z 1982, 47, 49; einer strikteren Aufsicht, so Pietzcker, Mitverantwortung des Staates, Verantwortung des Bürgers, J Z 1985, 209, 214. 45 Das Argument der Regierungsbegründung erinnert an die verstaubten Versuche zur entgegengesetzten Rechtfertigung der Subsidiarität der Amtshaftung nach § 839 Abs. 1 S. 2 BGB: Das Verweisungsprivileg solle gerade die Entschlußfreude des Beamten fördern (vgl. die Darstellung bei F. Ossenbühl aaO S. 47 f m. w. N.). 46 Anders aber wohl H.-J. Papier aaO (Fn. 18) S. 269. 43 44
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KWG ist ohnehin der Schutz der den Kreditinstituten anvertrauten Vermögenswerte untrennbar mit der Sicherung eines funktionierenden Bankensystems im Interesse der Allgemeinheit verknüpft: Wer das Kreditwesen aus volkswirtschaftlichen Gründen schützen will, der muß (auch) verhindern, daß die Einleger ihre Guthaben durch Bankenzusammenbrüche verlieren, und die Frage ist allein, ob diese Schutzpflicht auch den Einlegern gilt oder ihnen nur als Reflex zugute kommt. Davon darf aber die Intensität der Aufsicht nicht abhängen. Somit sind die Bedenken nicht ausgeräumt, daß § 6 Abs. 3 KWG durch Einschränkung der Amtshaftung die grundsätzliche Verfassungsgarantie des Art. 34 G G umgeht. IV. Einlegerschutz und Wirtschaftsverfassung Die Freiheit des Gesetzgebers, den Schutzzweck der Amtspflichten zu bestimmen, steht unter dem selbstverständlichen Vorbehalt der Verfassung. Das war an Art. 34 G G zu zeigen, der eine unbeschränkte legislative Disposition auch über die tatbestandlichen Voraussetzungen der Staatshaftung verbietet, die zu einer Aushöhlung dieser Verfassungsgarantie führen könnte. Es gilt indes noch deutlicher in der Fragestellung, ob nicht Amtspflichten selbst und gerade auch ihre Schutzrichtung von der Verfassung bestimmt werden und daher der einfache Gesetzgeber nicht beliebig über sie verfügen kann. Die verfassungsrechtliche Annäherung an die Amtspflichten der Bankenaufsicht soll hier unter die Uberschrift der Wirtschaftsverfassung gestellt werden. Damit soll eine Würdigung der Aufsicht nach dem KWG als eines der wichtigen Fälle der Wirtschaftsaufsicht 47 sowohl in ihren ökonomischen Zusammenhängen wie auch nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Wirtschaftsverfassung in der Spannweite zwischen legislativer Gestaltungsfreiheit und verfassungsrechtlichen Bindungen versucht werden. Dabei steht hier Grundsätzliches nicht in Frage; die nach langen Kämpfen und bitteren Erfahrungen in Deutschland erst in der Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre durch Notverordnungen eingeführte Beschränkung der Gewerbefreiheit durch staatliche Aufsicht über die Kreditinstitute 48 hält auch der Garantie der Berufsfreiheit unter Art. 12 GG ohne weiteres stand: in ihrer gegenwärtigen Gestalt des Kreditwesengesetzes von 1961 und seiner Novellierungen sind sie zum großen Teil längst auf ihre Verfassungsmä-
47 Grundlegend zur Wirtschaftsaufsicht s. M. Bullinger, Staatsaufsicht in der Wirtschaft, in W D S t R L H e f t 22, 1965, S.264; E.Stein, Die Wirtschaftsaufsicht, 1967. 48 Vgl. W. Möschel, Das Wirtschaftsrecht der Banken, 1972, 204 ff.
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ßigkeit hin abgeklopft worden 4 ', die indes hier auch im übrigen nicht problematisiert werden soll. Das öffentliche Interesse an einem funktionierenden Bankensystem und an seiner Sicherung durch die Bankenaufsicht kann nicht ernstlich bestritten werden. Das Gedeihen der Volkswirtschaft hängt essentiell davon ab, daß die Banken Kapital sammeln und Kredite vergeben, die Investitionen ermöglichen; die Banken sorgen für den Zahlungsverkehr, auf sie ist das Instrumentarium der Bundesbank zur monetären Steuerung ausgerichtet, durch ihre Reaktion wird es wirksam. - Die Funktionsfähigkeit dieses Systems hängt nicht zuletzt vom Vertrauen des Publikums in seine Sicherheit ab. Schon die Krise einer einzigen Bank kann eine Kettenreaktion 50 auslösen, die gesamtwirtschaftliche Konsequenzen hat. Indem der Staat durch seine Aufsicht Sorge trägt für die Sicherheit des Bankenapparats, schützt er daher letztlich seine eigene Existenz und das Wohl der Bürger in ihrer Gesamtheit 51 . Auch der einzelne wird durch die Bankenaufsicht geschützt; zumindest profitiert der Einleger und Gläubiger eines Kreditinstituts davon, daß der Staat Vorkehrungen für die Sicherheit des Bankensystems getroffen hat und daß diese Vorkehrungen folgerichtig auch „die Sicherheit der den Kreditinstituten anvertrauten Vermögenswerte" betreffen (§ 6 Abs. 2 K W G ) . Aber ist dieses individuelle Interesse auch der Zweck der staatlichen Aufsicht oder nur ihr Reflex? Die Antworten des Bundesgerichtshofs in seinen beiden Entscheidungen von 1979 und des Bundesgesetzgebers in der neuen Bestimmung des § 6 Abs. 3 K W G von 1984 sind nur die Höhepunkte der Auseinandersetzung, die vorher und zwischendurch in Literatur und Rechtsprechung geführt wurde: O b die Neuregelung ein „Machtwort" der Legislative war, das den Streit beendet hat, bleibt abzuwarten. So wie dem Bundesgerichtshof in zunehmenden Maße Äußerungen vorausgingen, die eine nur reflexive Begünstigung des Einlegers durch die Amtspflichten für nicht mehr zeitgemäß hielten und in den Entwicklungen des öffentlichen Rechts Argumente fanden, seine individuelle Position aufzuwerten 52 , so gab es vor dem Eingreifen des Gesetzgebers mehrere Autoren, die den B G H kritisierten
4 ' Zum ÄnderungsG von 1984 ist über eine Verfassungsbeschwerde der Sparkassen im Zusammenhang mit der ihnen verweigerten Einführung eines Haftsummenzuschlags noch nicht entschieden. 50 Vgl. Karsten Schmidt, Insolvenzprophylaxe durch Wirtschaftsaufsicht? Der Betrieb 1982, 1044, 1048 m . w . N . 51 In den Zielbestimmungen des § 6 Abs. 2 KWG wird am Ende ausdrücklich die Abwehr erheblicher Nachteile für die Gesamtwirtschaft genannt. s- S. außer W. Martens aaO (Fn. 7 u. 8) auch R. Scholz in seiner kritischen Besprechung des BGH-Urteils zur Versicherungsaufsicht (BGHZ 58, 96) in NJW 1972, 1217; H. Beck, Kommentar z. KWG §6, Rdn. 111 ff; differenzierend K.Bender, Die Amtspflichten des
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und zum Konzept der nur auf die Allgemeinheit ausgerichteten Amtspflichten zurückkehren wollten". Unbehagen erregten vor allem die Konsequenzen der neuen Linie des B G H , die man darin sah, daß der Staat nunmehr für Verluste eintreten müsse, die aus den zweiseitigen privatrechtlichen Beziehungen zwischen Kreditinstituten und ihren Gläubigern herrührten 54 . Das Stichwort ist „Staatsgarantie für Bankeinlagen" 55 , oder es heißt, der Staat könne in Gefahr geraten, „zum allgemeinen Ausfallbürgen" zu werden 56 . Im Herstatt-Fall hatte in der Vorinstanz auch das O L G Köln verneint, daß der Staat mit den Mitteln der Bankenaufsicht dem einzelnen Bankkunden „die Garantie für das ordnungmäßige Geschäftsgebaren der von diesem aus freiem Entschluß gewählten B a n k " übernehmen wolle und könne 57 . Mit diesen Gründen wird ersichtlich vom Ergebnis her argumentiert. Dabei darf aber der rechtliche Zusammenhang nicht vergessen werden, in dem von einer „Garantie" nicht die Rede sein kann. Es geht um Amtshaftung, es müssen also bestimmte Amtspflichten des Bundesaufsichtsamts nach dem K W G ermittelt werden. Der B G H hat überdies die drittschützende Wirkung dieser Amtspflichten nicht pauschal bejaht, sondern differenzierend; er untersucht die Voraussetzungen jeweils einzeln 58 . Ferner muß eine Verletzung dieser Pflichten festzustellen sein, und die Verletzung muß kausal für den Schaden des Einlegers sein, und schließlich haftet der Staat nur bei Verschulden seiner Beamten. Keinesfalls also waren mit den Urteilen des B G H alle Dämme gebrochen, vom Tatbestand einer Garantiehaftung war diese Rechtsprechung weit entfernt. Bankenzusammenbrüche sind unvermeidlich; sie können auch durch eine noch so strikte Aufsicht nicht verhindert werden 59 . Aber dem muß keine Automatik der Staatshaftung entsprechen 60 ; im Gegen-
Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen gegenüber einzelnen Gläubigern eines Kreditinstituts, N J W 1978, 622; Zustimmung fanden die Urteile des B G H bei Kopf/Bäumler aaO (Fn. 18). " Vgl. schon oben in Fn. 44. 54 Vgl. E. Schwark, Individualansprüche Privater aus wirtschaftsrechtlichen Gesetzen, J Z 1979, 670, 673. 55 So G. Püttner, Von der Bankenaufsicht zur Staatsgarantie für Bankeinlagen? J Z 1982, 47; s. auch Karsten Schmidt aaO (Fn. 50). 56 H.-J. Papier aaO (Fn. 18) 269. 57 N J W 1977, 2213. 58 B G H Z 74 aaO (Fn. 1), bes. S. 146 f. 59 So die Gesetzesbegründung zum K W G von 1961, BT-Drucks. 3/1114 S.20. 60 Demgegenüber meint G. Püttner aaO (Fn. 55) S. 48 f, daß bei nahezu jedem Bankzusammenbruch, der nicht auf kriminellem oder ganz spontanem Handeln beruht, der gesamte Ausfall der betroffenen Bankgläubiger von der öffentlichen Hand zu tragen sein würde.
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teil kann gerade die Unvermeidbarkeit eines solchen Falles zu dem Schluß führen, daß kein verschuldetes Fehlverhalten der Bankenaufsicht den Zusammenbruch verursacht hat61. Im übrigen enthalten die Bedenken aus dem Gesichtspunkt einer staatlichen „Garantiehaftung" noch kein rechtliches Argument, und so werden zum Teil auch nur rechtspolitische Zweifel vorgetragen 62 ; dabei wird auch auf die Gefährdung der marktwirtschaftlichen Ordnung hingewiesen 63 . D e m ist nachzugehen. Die Zuordnung der Frage zum Komplex der Wirtschaftsverfassung führt mit dem Bundesverfassungsgericht zu rechtlichen Anknüpfungen: Grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, also keine Verfassungszweifel bei „Verstößen" gegen wirtschaftspolitische Konzeptionen, etwa gegen das marktwirtschaftliche Modell, wohl aber Beachtung des Grundgesetzes als Grenze der dem Gesetzgeber jeweils als sachgemäß erscheinenden Wirtschaftspolitik 64 . Die wirtschaftspolitische Zuordnung des Drittschutzproblems der Bankenaufsicht kann hier nicht vertieft behandelt werden. Indes leuchtet ein, daß nach marktwirtschaftlichen Prinzipien jeder das Risiko seiner ökonomischen Dispositionen grundsätzlich selbst zu tragen hat und daß der Staat dementsprechend nicht in privatrechtliche Beziehungen interveniert. Es ist aber fraglich, ob diese Grundsätze im Fall der Bankenaufsicht damit begründet werden können, daß staatliche Intervention zu Verlusten an Freiheit führt. Die Freiheit der Einleger ist jedenfalls nicht betroffen, und die Kreditinstitute unterliegen den Reglements des Kreditwesengesetzes ungeachtet der Schutzrichtung dabei wahrzunehmender Amtspflichten 65 . In diesem Zusammenhang geht der Hinweis auf den marktwirtschaftlichen Konnex zwischen Risiko und Freiheit 66 insoweit also fehl, und es besteht kein Anlaß, statt von Schutz hier polemisch von Bevormundung zu sprechen. Den einzelnen Bürger und Bankkunden auf seine eigene Verantwortung zu verweisen, ist durch das Prinzip
61 Es soll hier nicht untersucht werden, ob der B G H in den einschlägigen Entscheidungen alle genannten tatbestandlichen Voraussetzungen jeweils hinreichend geprüft hat; Püttner a a O scheint das zu bezweifeln. 62 Karsten Schmidt a a O ( F n . 5 0 ) S. 1048. 63 So auch G. Püttner aaO (Fn. 55) S. 4 9 f; ähnlich Kopf/Bäumler a a O (Fn. 18) S. 1872: Der Zusammenhang von Freiheit und Risiko müsse beachtet werden. 64 So schon das Investitionshilfeurteil, B V e r f G E 4, 7, 17 ff; eingehend ausgeführt im Mitbestimmungsurteil, B V e r f G E 50, 290, 338. 65 Dabei wird auch hier zugrundegelegt, daß die Konsequenz der Amtshaftung nicht eine inhaltliche Veränderung und Verstärkung der Amtspflichten ausgelöst hat, s. oben bei Fn. 45 f; für die Amtspflichten war nach wie vor das K W G maßgeblich. 66 Vgl. nochmals Kopf/Bäumler aaO (Fn. 18); allgemein dazu s. bei W. Möschel, Bankenrecht und Wirtschaftsordnung, B B 1975, 1025.
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allein nicht zu rechtfertigen, wenn kein praktischer Vorteil oder Nutzen zu erkennen ist. Erst wenn an die Entschädigungsfolge angeknüpft wird und nicht an die Wahrnehmung der Aufsichtspflichten, die sowieso erfolgt, bewirkte die veränderte Interpretation des B G H faktische Änderungen, und die Steuerungs- und Auslesefunktion eines unverfälschten Wettbewerbs könnte ins Spiel gebracht werden. (Das Eingreifen des Einlagensicherungsfonds soll dabei hier zunächst außer Betracht bleiben.) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Erwägungen in dieser Richtung bleiben indessen vage und theoretisch. Ein Kunde wird bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und also bei der Auswahl seiner Bank vielleicht noch die Verläßlichkeit der Bankenaufsicht einbeziehen, aber die Möglichkeiten des Schadenersatzes im Wege der Amtshaftung werden ihn kaum verleiten, alle anderen Kriterien der Bonität zu vernachlässigen. - Was die Verluste der Einleger durch den Zusammenbruch einer Bank angeht, so wird zwar im Falle des Eintretens einer Staatshaftung der marktwirtschaftliche Mechanismus aufgehoben, daß die Gläubiger solche Schäden selbst tragen (und nicht der Steuerzahler), es ist aber wenig plausibel, daß dadurch die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs in der Marktwirtschaft beeinträchtigt wird (etwa bei den Sparern?). Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Problematik wird noch deutlicher, wenn der Einlagensicherungsfonds deutscher Banken in die Betrachtung einbezogen wird67. Wettbewerbswirtschaftlich gesehen hat das Eintreten des Fonds für Verluste der Einleger die gleiche Wirkung wie das Eintreten der Staatshaftung, geht sogar noch darüber hinaus, weil die Tatbestandsvoraussetzungen der Amtshaftung nicht vorliegen müssen - hier besteht also eine echte Garantiehaftung. Unterschiedlich ist allerdings die Finanzierung: hier durch die Beiträge der Mitglieder, dort durch den Staat. Der Fonds paßt insofern allerdings besser in die marktwirtschaftliche Landschaft, dies freilich nur aus der Perspektive des Grundsätzlichen und nicht in den praktischen Effekten für Markt und Wettbewerb. Übrigens trifft es nicht zu, daß wegen der Existenz des Fonds die Gesetzesergänzung in §6 Abs. 3 KWG den Einlegerschutz nicht beeinträchtige68. Die Ansprüche der Gläubiger der Kreditinstitute werden vor allem in denjenigen Fällen der Staatshaftung nicht vom Sicherungsfonds des Kreditgewerbes geschützt sein, in denen der Amtsfehler des Auf67 S. dazu etwa E. Schwark, Einlagensicherung bei Banken, N J W 1974, 1849; O. Starke, Staatliche Bankenaufsicht und Einlagensicherung, Versicherungswirtschaft 1976, 280; Reiner Schmidt, Der Einlagensicherungsfonds deutscher Banken als Berufsschranke, Z H R 1982, 48. 68 So aber die Regierungsbegründung des Dritten Änderungsgesetzes aaO (Fn. 16) S.20; s. auch Bahre/Schneider, KWG-Kommentar, 3. Aufl. 1986, §6 A n m . 4 a.E., S. 119.
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sichtsamts schon darin bestand, ihre Qualität als Kreditinstitute i. S. von § 1 K W G nicht erkannt und sie daher nicht der Bankenaufsicht unterworfen zu haben. Diese Situation lag z. B. dem „Wetterstein"-Urteil des BGH 6 9 zugrunde: Das Bundesaufsichtsamt hatte zunächst angenommen, der betreffende Fonds betreibe keine Bankgeschäfte im Sinne von § 1 K W G und hatte deswegen von Aufsichtsmaßnahmen Abstand genommen. Ohne den vom B G H dort bejahten Amtshaftungsanspruch wäre der Kläger dieser Sache daher schutzlos gewesen, obwohl die Regierungsbegründung zu §6 Abs. 3 dem Einlegerschutz „unter sozialen Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung" zuerkennt - allerdings unter Verweisung auf die Einlagensicherungseinrichtungen des Kreditgewerbes. Zusammenfassend ist festzustellen: Die wirtschaftlichen Aspekte einer drittschützenden Wirkung von Amtspflichten der Bankaufsicht gegenüber Einlegern und damit einer Staatshaftung bei Amtspflichtverletzungen zu ihren Gunsten haben in Bezug auf die marktwirtschaftlichen Prinzipien von Freiheit und Wettbewerb jedenfalls keine rechtlichen Argumente gegen den Drittschutz ergeben; §6 Abs. 3 K W G mag daher marktwirtschaftlichen Postulaten entsprechen, er widerlegt indessen die Rechtsprechung des B G H nicht, sondern bedeutet nur eine rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers gegen sie. In dieser Entscheidung über die ihm zweckmäßig erscheinende Politik ist der Gesetzgeber grundsätzlich frei, muß indes die in der Verfassung enthaltenen Grenzen beachten70. V. Verfassungsrang des Drittschutzes Der Gesetzgeber kann die drittschützende Wirkung von Amtspflichten nicht ausschließen, wenn diese aus der Verfassung abzuleiten ist. Die Wirksamkeit des §6 Abs. 3 K W G in seinem Versuch, die Amtspflichten der Bankenaufsicht des Bundesamts ausschließlich auf die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses zu orientieren und damit die vom B G H ermittelte Ausrichtung auch auf die Einleger von Kreditinstituten zu revozieren, würde scheitern, wenn dieser Drittschutz aus der Verfassung abgeleitet werden kann. Die Suche nach solchen Ableitungen muß nicht in den Urteilen des B G H ansetzen. Seine Begründungen stoßen kaum in die Verfassungsdimension vor, indes können sie, mit der Argumentation aus dem Gesetz selbst, seiner Entstehung und dem Werdegang sowie aus ordnungsrechtlichen und gewerbepolizeilichen Aspekten, sehr wohl vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund gesehen und vielleicht auf ihn zurückgeführt werden. " B G H Z 74, 144, 145, 154 f. 70 S. oben Fn. 64.
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In einem noch einmal wieder wirtschaftsverfassungsrechtlichen Zusammenhang könnte die Garantie der Sozialstaatlichkeit in Betracht gezogen werden. Sie liefert Argumente für Ordnungs- und Aufsichtsfunktionen des Staates und gegen Laissez-faire, vor allem zur Sicherung sonst schutzloser oder schwacher Positionen. Allerdings führt der Hinweis auf die Wirtschaftsverfassung sogleich zu den Einwänden: Auch die Sozialstaatlichkeit läßt dem Gesetzgeber und seiner Gestaltungsfreiheit weiten Raum. Sicherlich können die Reglementierungen des Kreditgewerbes und die Bankenaufsicht mit sozialstaatlicher Begründung gegenüber liberalen Vorstellungen aus der Gewerbefreiheit oder der Marktwirtschaft gerechtfertigt werden 71 , aber in der sozialstaatlichen Perspektive könnte dem Gesetzgeber zugestanden werden zu entscheiden, wie er bei der Wahrnehmung dieser gesamtwirtschaftlichen Aufgabe die Interessen des einzelnen berücksichtigen will. N u r in dem Maße bindet der Sozialstaat diese Entscheidungen, wie es um soziale Fürsorge, sozialen Ausgleich oder die Bekämpfung sozialer N o t ginge72. Im übrigen ist die Sozialstaatsklausel nicht der Standort von Rechten des einzelnen; sie sind vielmehr in den Individualrechtsgarantien des G r u n d gesetzes verbürgt. Die Interpretation der Grundrechte als Schutzpflichten des Staates gegenüber dem einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht eindrucksvoll demonstriert 73 . Die dort für das Leben entwickelte umfassende Pflicht, den einzelnen auch vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren, kann in ihrer grundsätzlichen Bedeutung auch auf das Eigentum übertragen werden. So hat Wolfgang Martens kritisiert, wenn bei der Frage des Anspruchs auf polizeiliches Einschreiten differenziert wird zwischen einer angeblich absoluten Verpflichtung zum Schutz immaterieller Rechte und der Abwehr eines Vermögenschadens nur nach Ermessen: „So wird der Verfassungsrang des Eigentums ausgeblendet" 74 . Auch für das Eigentum des Art. 14 G G , wie für das Recht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G , besteht der Zusammenhang mit der Schutzpflicht „aller staatlichen Gewalt" gegenüber der Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 G G . Er folgt aus der Qualität des Eigentums als einer Grundlage der persönlichen Freiheit und ihrer Garantie, wie das Bundesverfassungsgericht sie entwickelt und in ständiger Rechtsprechung bestätigt hat75. Art. 14 G G sichert somit den Freiheitsraum im vermö71
S. dazu oben zu IV. Zu dieser Interpretation des Sozialstaatsbegriffs s. G.Nicolaysen, Wohlstandsvorsorge, in Fs. H . P . Ipsen, 1977, S.485, 493 f. 73 S. z.B. die ScWeyer-Entscheidung, BVerfGE 46, 160. 74 W. Martens, D Ö V 1982 aaO (Fn. 10) S. 97. 75 BVerfGE 24, 367, 389; 50, 290, 339; vgl. H.-J. Papier in Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Komm. z. G G , Art. 14, Rdn. 1-5. 72
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gensrechtlichen Bereich und ermöglicht dem einzelnen dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens. Die Bankenaufsicht schützt Vermögenswerte Rechte der Einleger. Der verfassungsmäßige Rang des Schutzgutes begründet nach den erörterten Zusammenhängen diesen Schutz als eine Pflicht des Staates und bestimmt damit den Zweck und den Rang dieser Pflicht. Sie steht nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Im Urteil des B G H ist dieser verfassungsrechtliche Bezug im Hinweis auf die (gewerbe)polizeirechtliche Parallele zur Bankenaufsicht verborgen: „Nach heutiger Auffassung" umschließe der polizeiliche Auftrag der Gefahrenabwehr auch den Schutz der Rechte und Rechtsgüter des einzelnen, der also nicht mehr nur reflexartig über die Allgemeinheit geschützt sei76. Die verfassungsrechtliche Wurzel für die Entwicklung hat Wolfgang Martens deutlich offengelegt, als er für den polizeirechtlichen Individualschutz das Hineinwachsen des „Dritten" „aus der Rolle eines bloßen Destinatärs obrigkeitlicher Interessenwahrnehmung in den Status eines anspruchsberechtigten Rechtssubjekts" erklärte: „Diese Aufwertung entspricht dem grundgesetzlichen Bekenntnis zum Rechtsstaat, das es gebietet, die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und dem Staat grundsätzlich als solche des Rechts aufzufassen und auszugestalten" 77 . Diese Zusammenhänge hat der Gesetzgeber des § 6 Abs. 3 K W G verkannt.
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B G H Z 74 aaO (Fn. 1) S.152. W. Martens, D Ö V 1982 aaO (Fn. 10) S. 96.
Recht auf Arbeit Recht auf Arbeitslosenunterstützung FRANZ RULAND
I. Arbeit als verfassungsrechtlich relevante Grundfunktion menschlichen Daseins 1. Die Verteilung der Arbeit Ende 1986 gab es in der Bundesrepublik über 2,2 Mio. registrierte Arbeitslose. Allgemein wird davon ausgegangen, daß man diese Zahl um 1 Mio. nicht registrierte Arbeitslose erhöhen muß. Von den registrierten Arbeitslosen erhalten rund 740 000 Arbeitslosengeld und 570 000 Arbeitslosenhilfe. Uber 900 000 erhalten weder Arbeitslosengeld noch -hilfe1. Dementsprechend steigt die Zahl der Arbeitslosen, die auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen sind, ständig an. Es werden inzwischen mehr als 250 000 Personen sein, bei denen der Verlust des Arbeitsplatzes die Hauptursache der Hilfegewährung ist. Daneben darf nicht übersehen werden, daß Ende 1985 13 600 der (damals) rund 680 000 Bezieher von Arbeitslosengeld und rund 68 000 der (damals) rund 570 000 Bezieher von Arbeitslosenhilfe auf ergänzende laufende Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen waren2. Arbeitslosigkeit wird für die von ihr Betroffenen zunehmend mehr zu einem Dauerproblem. Die Dauerarbeitslosigkeit nimmt ständig zu. Während Ende 1975 nur 1,3 % der Arbeitslosen zwei Jahre oder länger arbeitslos waren, beläuft sich der Satz nunmehr auf über 14 %\ Je länger die Arbeitslosigkeit für den einzelnen dauert, desto geringer werden seine Chancen, wieder in Arbeit vermittelt zu werden. Langfristig ist zwar infolge der demographischen Entwicklung mit einer Entlastung des Arbeitsmarktes zu rechnen. Starke Jahrgänge werden „in Rente gehen", nur noch schwächere Jahrgänge werden in das Erwerbsleben eintreten. Doch nicht einmal optimistische Annahmen gehen davon aus, daß das Problem der Arbeitslosigkeit bis Ende dieses Jahrtausends überwunden sein wird. Es muß außerdem immer mit einer Problemgruppe gerechnet ' Vgl. Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt f ü r Arbeit 1987, 3 f f , 11; s.a. BTDrucks. 10/6623, S.3. 2 Vgl. BT-Drucks. 10/6055, S. 17f; 10/6623, S.5; s.a. BT-Drucks. 10/6634, S.13. 3 BT-Drucks. 10/6623, S.6; bei einem Jahr Arbeitslosigkeit: 1977 - 1 4 , 3 % ; 1985 31 % , vgl. BT-Drucks. 10/6634, S. 15; s.a. Lompe/Pollmann, N D V 1986, 114 (116f).
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werden, deren Vermittlung sich vor allem aus subjektiven Gründen schwierig gestaltet. Da die zunehmende Technisierung der Arbeitsplätze an deren Inhaber immer größere Qualifikationsanforderungen stellt, muß befürchtet werden, daß der Anteil derer, die nicht mithalten können, größer wird. Das Problem der Arbeitslosigkeit wird sich daher in seiner Struktur wandeln. Heute ist die Situation dadurch gekennzeichnet, daß der zu großen Nachfrage nach Arbeit ein zu geringes Angebot an Arbeitsplätzen gegenüber steht. Dies wird sich trotz aller Rationalisierungen wegen der demographischen Entwicklung langfristig einpendeln. Es wird dann darum gehen, ausreichend einfachere Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Diese Langfristaufgabe ist wichtig und bedarf der Vorbereitung. Drückend im Moment aber sind die hohe Zahl der Arbeitslosen insgesamt, das Zunehmen der Dauerarbeitslosigkeit und die ständig wachsende Zahl der jugendlichen Arbeitslosen, die zudem das Hauptkontingent derer stellen, die weder Arbeitslosengeld noch -hilfe beziehen 4 . 2. Arbeit als Voraussetzung von Freiheit Arbeit ist „eine existentielle Grundkategorie der Praxis des vergesellschafteten Menschen" 5 . Die Chance, arbeiten und Geld verdienen zu können, ist für die meisten heute primäre Voraussetzung fast jedweder Freiheitsausübung. Deshalb hat zu den von der Arbeiterbewegung immer wieder geforderten Grundrechten auch das „Recht auf Arbeit" gehört 6 . Es ist, wie schon Talleyrand erkannte, „das einzige Recht der Besitzlosen" 7 . Daher wurde die Forderung nach Arbeit dem liberalen Schutz von Freiheit und Eigentum entgegengehalten. So hat Necker 1775 die Frage gestellt: „Was helfen uns eure Eigentumsgesetze? Wir besitzen ja nichts. Was eure Rechte der Gerechtigkeit? Wir haben ja nichts zu 4 BT-Drucks. 10/5930, S.31; auch in BT-Drucks. 10/6634, S. 13 wird der Anteil der Jugendlichen als „besonders hoch" angegeben, dann aber zu sehr bagatellisierend hinzugefügt, daß dieser Personenkreis nicht zum Schutzbereich der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe zähle. 5 So Badura, Der Staat 1975, 17 (20); s. a. BVerfGE 7, 377 (397); 50, 290 (362); Ryffel, in: Ryffel/Schwartländer (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit, 1983, S.216; Scheel, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1978, 485 ff; Schneider, W D S t R L 43, S. 15. 6 Zur Geschichte: Badura, Der Staat 1975, 17 (20); Häberle, AöR 109 (1984), S. 635 ff; Henning, in: Ryffel/Schwartländer (Fn. 5), S. 31 ff; Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, 1981, S. 1 7 2 f ; Krause, in: Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrecht im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 402 ff; Martiny, in: Borsdorf/Hemmer/Leminsky/ Markmann (Hrsg.), Gewerkschaftliche Politik - Reform aus Solidarität, 1977, S. 458 ff; Monjau, Recht auf Arbeit, HDSW Bd. 8, 1964, S. 743 ff; Ramm, in: Ryffel/Schwartländer (Fn. 5), S. 66 ff; Schäfer, VSSR 1982, 297 (301 ff). 7 Vgl. Krause (Fn.6), S.407.
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verteidigen. Was eure Gesetze der Freiheit? Wenn wir morgen nicht arbeiten, müssen wir verhungern 8 ." Auch wenn die Dramatik dieser Äußerungen bei uns Geschichte ist, es bleibt die Angewiesenheit nahezu aller auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft, um mit dem daraus erzielten Erlös den eigenen Unterhalt zu bestreiten und den individuellen Freiheitsraum zu gestalten. Arbeit ist für die meisten die einzige Möglichkeit, der von der Gesellschaft zu Recht erwarteten und geforderten Selbstverantwortlichkeit' gerecht zu werden. Auf die Solidarität der Mitbürger hat nur der Anspruch, der sich nicht selbst helfen kann, der insbesondere nicht in der Lage ist, durch Arbeit für sich selbst zu sorgen10. Arbeit ist aber nicht nur Pflicht des eigenen Broterwerbs wegen sondern auch Chance". Ihr Ertrag eröffnet materiell Freiheitsrechte, die dem, der nur auf staatliche Hilfe angewiesen ist, faktisch verschlossen sind. Arbeit ist daher auch zwar nicht das einzige, aber ein wichtiges Mittel der Selbstverwirklichung. Sie öffnet Gestaltungsmöglichkeiten, knüpft soziale Kontakte und verschafft soziale Anerkennung. Arbeit vermittelt trotz der Erkenntnis, daß jedermann ersetzbar ist, das Gefühl des Gebrauchtwerdens, trägt auch dazu bei, der eigenen Existenz Sinn zu geben. 3. Arbeitslosigkeit:
Ein Angriff auf die
Menschenwürde
„Arbeitslosigkeit ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Wer in eine Arbeitswelt hineingewachsen ist und dann aus ihr herausfällt, erfährt - neben ökonomischen Schwierigkeiten - jedenfalls in unserer Kultur die Entbehrlichkeit, die Nutzlosigkeit seiner Person 12 ." Die Probleme der Arbeitslosigkeit sind in diesen Sätzen gebündelt. Die soziale N o t der Arbeitslosen ist trotz aller Sozialleistungen und trotz aller Mißbrauchsfälle, die sich nicht leugnen lassen, bedrückend. StatistiA a O S. 405. ' Vgl. statt aller Zacher, W D S t R L 43, S. 92 f; ders., Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 10; s.a. BVerfGE 12, 129ff; zur umfangreichen Diskussion, ob sich aus einem „Recht auf Arbeit" auch eine „Pflicht zur Arbeit" ergibt: Götz, W D S t R L 41, S. 1 6 f ; Schäfer, VSSR 1982, 297 (305); Schneider, W D S t R L 43, S. 32; Schwerdtner, ZfA 1977, 47 ff. 10 § 2 Abs. 1 B S H G ; dazu Hummel-Liljegren (Fn. 6), S. 93 ff. " Vgl. Baruzzi, Recht auf Arbeit und Beruf, 1983, S . 7 f f ; Brugger, in: Ryffel/ Schwartländer ( F n . 5 ) , S. 128 f; Ryffel, ebd., S. 214 f; Volkmann-Schluck, ebd., S. 184; zum Verhältnis von Arbeit und Freiheit auch Ehrenberg/Fuchs, Sozialstaat und Freiheit, 1980, S. 29 ff. 12 So Pietzcker, in: Recht auf Arbeit, Vorträge anläßlich des Symposiums zum 70. Geburtstag von K . J . Partsch, 1984, S. 15; ähnlich Achterberg, J Z 1975, 713 (720); Fenn, in: Recht auf Arbeit (aaO), S . 2 6 ; Schiffauer, E u G R Z 1982, 41 (42); Schwartländer, in: Ryffel/Schwartländer ( F n . 5 ) , S . 2 5 3 ; s.a. B A G E 33, 185 (191): „Die Möglichkeit zu arbeiten und die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu sichern, sind für die Würde des Menschen wesentlich." 8
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ken erschließen den Umfang des Problems 13 , die Beschreibung von Einzelschicksalen seine Intensität 14 . Länger dauernde Arbeitslosigkeit führt zur Verarmung. So berichtet der Deutsche Städtetag, daß der Anteil der Arbeitslosen an den Sozialhilfebedürftigen mittlerweile 29 % , in Städten mit hoher Arbeitslosigkeit sogar bis zu 45 % beträgt 15 . Zur materiellen N o t der Arbeitslosen, die in vielen Fällen durch fortbestehende Schuldenlast 16 noch drückender wird, kommt das Gefühl der sozialen Deklassierung hinzu 17 . Sie zeigt sich in dem Bruch der bisherigen über den Beruf vermittelten sozialen Kontakte, sie wird deutlich in dem Gefühl, auf andere angewiesen zu sein, und spürbar spätestens bei dem Umgang mit den die Leistung gewährenden Behörden. Die wirtschaftliche N o t und das Engwerden der persönlichen Freiheitsspielräume haben Rückwirkungen auf die psychische Situation des einzelnen, bedrohen das familiäre Zusammenleben - all das zusammengenommen ist für den Betroffenen wie eine Spirale nach unten18. Wegen der negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit für den einzelnen und für die Gesellschaft ist die Politik bemüht, die Arbeitslosigkeit soweit wie möglich zurückzudrängen. Uber Erfolg oder Mißerfolg dieser Politik ist hier nicht zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, daß selbst die in den letzten Jahren neugeschaffenen Arbeitsplätze die Zahl der Arbeitslosen nicht spürbar haben senken können. Außerdem kommen Befürchtungen auf, daß selbst diese bescheidenen Erfolge bei einem Einbruch der Konjunktur zerrinnen könnten und die Arbeitslosenzahl wieder steigen könnte. II. Das „Recht auf Arbeit" und seine Grenzen 1. Kein subjektives „Recht auf Arbeit" Unbestritten ist Arbeitslosigkeit eine ganz grundsätzliche Herausforderung des Sozialstaates 19 . Wie er sie annimmt und ihrer gerecht wird, ist 13 Lompe/Pollmann, NDV 1986, 114 (115 ff); Mitschein, Statistische Monatshefte Nds. 1985, 42ff; Wienand, NDV 1986, 481 (482); s.a. Balsen, Die neue Armut, 1984. 14 Vgl. Begemann/Heldrich, in: Hassemer/Hoffmann-Riehm (Hrsg.), Arbeitslosigkeit als Problem der Rechts- und Sozialwissenschaften, 1980, S.303; Brinkmann, MittAB 1984, 454ff; Naegele, WSI-Mitteilungen 1979, 650 (657); s.a. Wagner-Wehowsky, päd. extra 3/81, S.16. 15 Vgl. Lompe/Pollmann, NDV 1986, 114ff; Merchel, NDV 1986, 273. " Dazu Kohl, NDV 1986, 354 ff. 17 Vgl. Erhardt-Kramer, NDV 1986, 474 ff; Kieselbach, TuP 1985, 122 ff; Merchel, NDV 1986, 273. " Hierzu nochmals Merchel, NDV 1986, 273 (2784 ff m. w.N.). " Dazu Däubler, in: Achten (Hrsg.), Recht auf Arbeit - eine politische Herausforderung, 1978, S. 159, 163, 169; Häherle, JZ 1984, 345 (347ff); Hummel-Liljegren (Fn.6), S. 173f; Ramm (Fn.6), S.89ff; s.Z. Fenn (Fn. 12), S.26; Tomuschat, W D S t R L 43, S. 127.
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politisch zu entscheiden. Doch kommen immer wieder Überlegungen auf, diese politische Entscheidung stärker an verfassungsrechtliche Vorgaben zu binden. Die Verfassung könne gegenüber der existentiellen Angewiesenheit des Menschen auf Arbeit einerseits und seiner Gefährdung durch Arbeitslosigkeit andererseits nicht schweigen20. Je mehr Arbeit für alle zum Problem, zum schier unerreichbaren Wunschziel wird, desto lauter wird die Forderung, das „Recht auf Arbeit" als Grundrecht in die Verfassung aufzunehmen21. Doch gibt das scheinbar Paradoxe Sinn: Erst die Gefährdung eines Rechtsgutes läßt das Ausmaß seiner Schutzbedürftigkeit und -Würdigkeit erkennen. Das gleiche erleben wir bei der Forderung nach einem „Grundrecht auf eine saubere Umwelt" 22 . Die Diskussion um eine Verankerung des Rechts auf Arbeit in der Verfassung kam in der Verfassungsgeschichte der letzten 200 Jahre immer wieder auf23. Schon früh sind dabei aber auch die Grenzen eines solchen Rechts deutlich geworden, wenn man es als subjektiv einklagbaren Anspruch versteht. Versuche, es in dieser Richtung zu realisieren, gab es vor allem in Frankreich24. Die „ateliers publics", die 1789 und später - 1848 - nochmals eingerichtet wurden, um den Anspruch der einzelnen Bürger auf Arbeit zu verwirklichen, scheiterten nach kürzester Zeit an den entgegenstehenden ökonomischen Rahmenbedingungen25. In Deutschland gab es ähnliche Versuche. So dienten der Chaussee- und Eisenbahnbau auch als öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen26. Mit ihnen wohl meinte Bismarck 1884 ein Recht auf Arbeit für alle rechtfertigen zu können27, aber sein Optimismus war angesichts der
20 Dazu Bieback, in: Achten (Fn. 19), S. 106; Däubler, ebd., S. 165; Schiffauer, EuGRZ 1983, 41 f. 21 Dazu Barth, Recht auf Arbeit, 1976; Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, 1981; Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit, 1974; Spieker, WSI-Mitteilungen 1979, 156ff; s.a. Achterberg, J Z 1975, 713 (720); Baruzzi (Fn. 11), S.31; zur Diskussion im Ausland: von Maydell, Tomuschat, in: Recht auf Arbeit (Fn. 12), S. 62ff, 45ff; Wipfelder, RdA 1985, 93 (98 ff). 22 Zu ihm etwa Klein, in: FS Weber, 1974, S.643; Maus, J A 1979, 287ff; Steiger, Mensch und Umwelt, 1975. 25 Vgl. Lange, in: Soziale Grundrechte, 1981, S. 49ff; im übrigen die Hinweise in Anm. 6. 24 Dazu Krause (Fn.6), S.408, 420; Schäfer, VSSR 1982, 297 (302f). 25 Schäfer, aaO (Fn.24). 26 Dazu Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 1980, S.205ff; s.a. Schäfer, VSSR 1982, 297 (304). 27 Zitat bei Krause (Fn.6), S.402, A n m . l ; Schäfer, VSSR 1982, 297 (298); dazu Henning (Fn.6), S.49; Schneider, W D S t R L 43, S.32 m. w . N .
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Arbeitslosenzahlen, die es damals gab28, schon seinen Zeitgenossen unverständlich. Wegen der Unmöglichkeit seiner Realisierung war schon die Aufnahme des Rechts auf Arbeit in die Paulskirchenverfassung 1848 abgelehnt worden 29 . Arbeit für angemessenen Lohn lasse sich durch Dekrete nicht schaffen. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte - er ist in der Endphase der Weimarer Republik geliefert worden. Art. 163 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Verfassung, wonach jedem Deutschen die Möglichkeit gegeben werden sollte, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben, hat die Massenarbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise nicht verhindern können. Arbeit für alle kann rechtlich nur ein Postulat sein30. Uber seine Realisierung entscheiden allein die wirtschaftlichen Gegebenheiten 31 . Arbeit für alle als ein gegen den Staat gerichteter Anspruch setzt des weiteren voraus, daß dieser über die Besetzung der Arbeitsplätze mitentscheiden kann32. Daher kann - wenn überhaupt - ein Recht auf Arbeit nur in den Systemen zentraler Planwirtschaft möglich sein, in denen der Staat Rahmen und Details wirtschaftlicher Planung vorgibt 33 . In diesen Systemen ist dann aber die Freiheit der Berufswahl zwangsläufig eingeschränkt. Ist der Staat der einzige Arbeitgeber, gilt letztlich seine Entscheidung, auf welche Position der einzelne gesetzt wird. Dieser ist ohne Alternativen der staatlichen Übermacht gegenüber hilflos. Deshalb wird ganz überwiegend und 28 Vgl. die Zahlen bei Benöhr, ZRG (Germ.) 98 (1981), 95 (114, Anm. 140); Tennstedt, in: Blohmke (Hrsg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3, 1976, S.287. " Dazu und zu den Diskussionen: Bentele, Das Recht auf Arbeit in rechtsdogmatischer und ideengeschichtlicher Betrachtung, 1949, S. 148; Martiny (Fn.6), S. 453 ff; Petzet/ Sutter, Der Geist der Paulskirche, 1923, S. 139 ff; Schäfer, VSSR 1982, 297 (304). 30 Soweit ein Recht auf Arbeit gefordert wird - vgl. z.B. Achterberg, JZ 1975, 713 (720); Badura, Der Staat, 1975, 17 (20, 22, 38); ders., in: FS Berber, 1973, S. 11 (21, 35); Böckenförde, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm, Soziale Grundrechte, 1981, S.7 (9); W. Bogs, in: Sozialer Rechtsstaat - Weg oder Irrweg?, 1964, S. 50; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1977, S.153f, 230; Gagel, AFG, Stand: 1986, §1 Rdn.56ff; Kittner, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm, aaO, S.91; ders., in: Kittner (Hrsg.), Arbeitsmarkt - ökonomische, soziale und rechtliche Grundlagen, 1982, S. 11 (91 ff); Schäfer, VSSR 1982, 297 ff; Schmidt, Der Staat 1981, Beiheft 5, S. 11 (24); Scholz, in: Böckenförde/ Jekewitz/Ramm, aaO, S. 75ff; Stingl, VSSR 1979, 67 (72); Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S.798; s.a. die Hinweise in Anm. 21 - ist mit diesem Recht (zumeist) nur ein nicht einklagbares Postulat gemeint, dazu auch die Hinweise in Anm. 34, 39. 31 Dazu Rath (Fn.21), S. 107ff; Schiffauer, EuGRZ 1982, 41 (43). 32 Vgl. Grimm, Einführung in das öffentliche Recht, 1985, S. 79; Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 109 f; Krelle, in: Recht auf Arbeit (Fn. 12), S. 78; Papier, DVB1. 1984, 801 (811); Rüfner, in: FS Wannagat, 1981, S.387. 33 Dazu etwa Chysky, BIStSozArbR 1984, 232 ff; Georg, RdA 1984, 336 ff; Häherle, AöR 109 (1984), 641, 647ff; Pfarr, DuR 1973, 124ff; Rath (Fn.21), S. 77; Westen, in: Ryffel/Schwartländer (Fn. 5), S. 135 ff.
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zu Recht ein individuelles, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Arbeit abgelehnt34. Es wäre mit dem Verzicht auf eine marktwirtschaftliche Ordnung erkauft. 2. Die Verpflichtung des Staates zur
Vollbeschäftigungspolitik
Trotzdem bleibt es sinnvoll über die Verankerung eines Rechts auf Arbeit in der Verfassung nachzudenken. Ein solches Recht könnte zwar keinen Anspruch auf einen Arbeitsplatz - schon gar nicht auf einen angemessenen35 - begründen, es böte aber die Chance, aus ihm „mehrdimensional" verstanden36 - „Grundfreiheiten der Arbeit" abzuleiten37. Eine weitere Dimension könnte eine stärkere - aber dennoch nach wie vor nicht justitiable - Verpflichtung des Staates zu einer Vollbeschäftigungspolitik sein38. Eine solche Verpflichtung klingt zwar in Art. 109 Abs. 2 G G an, wonach Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen haben. Sie ist einfachgesetzlich in § 1 des Stabilitätsgesetzes (StabG) präziser formuliert. Bund und Länder haben mit ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beizutragen. In beiden Bestimmungen wird deutlich, daß der hohe Beschäftigungsstand zwar ein - auch verfassungsrechtlich vorgegebenes — wichtiges Ziel staatlicher Politik ist, aber doch auch nur eines unter mehreren und daß es in Konfliktssituationen notwendig werden kann, zwischen Maßnahmen zur Sicherung der Vollbeschäftigungspolitik einerseits und
34 BAGE 16, 134; Göll, ZRP 1986, 198 (201); Grimm (Fn.32), S. 78 ff; Häberle, J Z 1984, 345 (348); Lecheler, W D S t R L 43, S. 70; Merten, in: FS Stingl, 1984, S.295f; Papier, DVB1. 1984, 801 (810); Pietzcker, NVwZ 1984, 550 (556); ders. (Fn. 12), S. 17f; Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S.492; Schäfer, VSSR 1982, 297 (306); Schneider, W D S t R L 43, S.31; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rdn.39ff; Schwerdtner, ZfA 1977, 47ff; Wipfelder, RdA 1985, 93 (96); Zöllner, in: Vdhlgen d. 52.DJT, 1978, S.91 ff. 35 In diese Richtung etwa Hummel-Liljegren (Fn. 6), S. 178. 36 Häberle, JZ 1984, 345 (352); den., JZ 1986, 581 (582). 37 Zu ihnen: Badura, Der Staat 1975, 17 (22 ff); den. (Fn.30), S.21 ff; Häberle, AöR 109 (1984), S. 639 ff; Schneider, W D S t R L 43, S. 34 ff. 38 Badura (Fn.30), S.21; Brugger (Fn. 11), S. 124ff; Gagel (Fn.30), §1 Rdn.57a; Häberle, JZ 1984, 345 (348); Kittner (Fn.30), S.92; Papier, DVB1. 1984, 801 (811); Schäfer, VSSR 1982, 297 (306 ff); Schmidt, Der Staat 1981, Beiheft 5, S. 10 (24); Schneider, W D S t R L 43, S. 23 f, 31 f; Scholz (Fn. 30), S. 83; Wipfelder, RdA 1985, 93 (94); Staatszielbestimmungen - Staatsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, S. 67 ff; s.a. BayVGHE 13, 141 ff; kritisch selbst insoweit: Haverkate (Fn.32), S. 110; Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, 1967, S.33f; Zacher (Fn.30), S. 798.
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solchen zur Stabilitätspolitik andererseits abzuwägen 3 '. Eine einseitige Dominanz der Vollbeschäftigungspolitik zu Lasten der anderen wirtschaftlichen Grundziele läßt sich derzeit weder aus Art. 109 Abs. 2 G G noch aus § 1 StabG folgern. Dies gilt aber auch umgekehrt. So gibt es keine Dominanz der Stabilitätspolitik gegenüber einer Politik, die auf Vollbeschäftigung zielt. Es ist vielmehr Aufgabe der Politik, die Maßnahmen zu ergreifen, die alle vier Ziele möglichst gleichgewichtig erreichen. Enthielte jedoch Art. 12 G G ein „Recht auf Arbeit", dann könnte es, wenn es schon nicht in der Lage wäre, einen subjektiv einklagbaren Anspruch auf einen Arbeitsplatz zu begründen, doch immerhin der Verpflichtung des Staates zur Vollbeschäftigungspolitik einen rechtlichen Vorrang vor den anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Zielen verschaffen 40 . Die faktische Notwendigkeit, zwischen den vier Zielen des Stabilitätsgesetzes abzuwägen, bliebe aber dennoch bestehen. So können Maßnahmen, mit denen das Preisniveau stabil gehalten oder ein angemessenes Wirtschaftswachstum erzielt werden soll, mittelbar auch zur Vollbeschäftigung beitragen. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik von Bund und Ländern läßt sich nur in den Zielen, aber nicht im Detail des Vollzugs durch Grundrechte festlegen. III. Als Surrogat für den Arbeitslosen: Das Recht auf Arbeitslosenunterstützung Entzieht sich damit die Verpflichtung des Staates zur Vollbeschäftigungspolitik — von Extremfällen abgesehen — einer gerichtlichen Kontrolle, scheint ihre Verankerung in Art. 12 G G , weil für den einzelnen sanktionslos, überflüssig und daher unangebracht zu sein. Eine solche Interpretation würde aber Art. 12 G G zum Grundrecht nur derer werden lassen, die im Besitze eines Arbeitsplatzes sind. Den Arbeitslosen könnte dieses Grundrecht nichts bieten11. Daher bleiben die Ausgangsfragen, ob Art. 12 G G als Grundrecht des arbeitenden Menschen der Arbeitslosigkeit gegenüber stumm sein kann, ob denn dem, der keine Arbeit finden kann, nichts aus seinem Recht auf Arbeit bleibt, ob die Verfassung ihn wirklich leer ausgehen lassen kann. " Vgl. von Arnim, W D S t R L 43, S . 9 0 f ; Benda, in: FS Stingl, 1984, S . 4 2 ; hieback, ' E u G R Z 1985, 657 (661); Möller, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, Art. 109 G G , 2. Aufl., 1969, § 1 Anm. 8; Papier, DVB1. 1984, 801 (811); Scholz (Fn. 30), S . 8 1 ; ders. (Fn. 34), R d n . 4 4 f f ; Thiele, in: Ryffel/Schwartländer (Fn. 5), S. 100. 40 In diesem Sinne etwa Ehrenberg/Fuchs (Fn. 11), S . 2 6 2 f ; Schäfer, VSSR 1982, 297 (311); Schneider, W D S t R L 43, S. 24; s. a. Brugger (Fn. 11), S. 131. 41 Das ist die Konsequenz etwa des Ansatzes von Haverkate (Fn.32), S. 80, 105 f.
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These dieses Beitrages ist, daß Art. 12 GG ein Recht auf Arbeit statuiert, aus dem die Verpflichtung des Staates folgt, unter Wahrung des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts für eine möglichst weitgehende Vollbeschäftigung zu sorgen. Für den Arbeitslosen, an dem diese Bemühungen erfolglos vorbeigegangen sind, bleibt als Surrogat seines Anspruchs auf Arbeit der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung 42 . Ihn wenigstens kann und hat der Staat zu realisieren. Die soziale Sicherung im Falle der Arbeitslosigkeit ist somit nicht nur im Sozialstaatsprinzip sondern auch und vor allem in Art. 12 GG verfassungsrechtlich begründet. 1. Der historische Zusammenhang In dieser doppelten Zielrichtung - primär der Arbeitsplatz, hilfsweise: die Arbeitslosenunterstützung - ist das Recht auf Arbeit seit jeher verstanden worden. So verhieß schon die französische Verfassung von 1793, die „Jakobinerverfassung", in Art. 21: „Die Gesellschaft (übernimmt) den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, daß sie ihnen Arbeit gibt, oder denjenigen, welche arbeitslos sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert 43 ." Ahnlich lautete Art. 8 der Präambel der französischen Verfassung von 1848: „Die Republik ist verpflichtet, durch brüderliche Unterstützung die Existenz der bedürftigen Bürger zu sichern, sei es durch Vorsorge für Arbeit in den Grenzen ihrer Hilfsquellen, sei es durch Hingabe von Unterstützungen, falls die Familie nicht zu helfen vermag, an die, die außer Stande sind, zu arbeiten 44 ." Diese doppelte Zielsetzung bestimmte auch die - letztlich erfolglos gebliebenen - Diskussionen im Paulskirchenparlament 45 . In Art. 163 Abs.2 der Weimarer Verfassung ist sie Verfassungsinhalt geworden: „Soweit ihm (jedem Deutschen) angemessene Arbeit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das nähere wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt." An diese Bestimmungen haben einige Verfassungen der Bundesländer ange-
42 Ansätze für das folgende bereits bei Ruland, Sicherung gegen Arbeitslosigkeit auch für Referendare und Lehramtsanwärter, 1983, S . 7 2 f f ; ders., RdJB 1984, 85 (90 ff). 45 Zitiert nach Böckenförde (Fn.30), S . 7 ; s.a. Badura, Der Staat 1975, 17 (19); Henning (Fn. 6), S. 36 f f ; s. a. Krause (Fn. 6), S. 415; daraus folgern Martiny (Fn. 6), S. 458 und Schäfer, VSSR 1982, 297 (302) zu Unrecht, daß schon am Beginn der verfassungspolitischen Bemühungen „die Grundrechtsforderung nach einem Recht auf Arbeit . . . durch den Anspruch auf seine Surrogate - allgemeine Vollbeschäftigungspolitik und individuelle soziale Sicherung - vollständig verdrängt worden" sei, eine Tendenz, die fast alle Versuche einer Kodifizierung des Rechts auf Arbeit bis heute beherrscht habe. 44 Krause (Fn.6), S.422. 45 Zu ihr Bentele (Fn.29); Henning (Fn.6), S. 38 ff; Krause (Fn.6), S.422 f f ; Martiny (Fn.6), S.460; Schiffauer, EuGRZ 1982, 41 (50).
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knüpft 46 . So räumt Art. 12 Abs. 1 der Verfassung von Berlin47 jedermann ein Recht auf Arbeit ein. Es ist durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Wirtschaftslenkung zu verwirklichen. Wenn Arbeit nicht nachgewiesen werden kann, besteht nach Satz 3 dieser Bestimmung „Anspruch auf Unterhalt aus öffentlichen Mitteln" 48 . In ähnlicher Weise garantiert Art. 49 Abs. 3 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen 49 , daß, wer ohne Schuld arbeitslos ist, Anspruch auf Unterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen hat. Gleichlautend ist Art. 28 Abs. 3 der Verfassung des Landes Hessen 50 . 2. Die teilhaberechtliche
Dimension des Art. 12 GG
Das Grundgesetz beschränkt sich demgegenüber auf den Schutz der Berufsfreiheit, die für abhängig Beschäftigte wie für Selbständige gleichermaßen gilt51. Von einem Recht auf Arbeit oder der Gewährleistung des Surrogats in Form der Arbeitslosenunterstützung ist nicht mehr die Rede. Mit Art. 12 scheint sich das Grundgesetz auf die liberale Abwehr staatlicher Eingriffe in Berufswahl und -ausübung zurückgezogen zu haben52. Eine staatliche Verantwortung dafür, daß die grundrechtlich geschützte Berufswahl nicht wegen des Fehlens realer Berufschancen leerläuft, ließe sich dann - wenn überhaupt - nur aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten. Diese scharfe Trennung zwischen den Grundrechten einerseits und dem Sozialstaatsprinzip andererseits wird aber weder der Notwendigkeit einer in sich geschlossenen Gesamtinterpretation der Verfassung" noch dem Stellenwert sowohl des Sozialstaatsprinzips 54 als auch des grundrechtlich geschützten objektiven Werts der Arbeit gerecht. 44 Dazu Hernekamp, Soziale Grundrechte, 1979, S. 2 9 ; Lange, in: Böckenförde/Jekew i t z / R a m m ( F n . 3 0 ) , S . 5 5 ; Wipfelder, R d A 1985, 93 (94); Zacher, Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 13 ( A n m . 2 2 ) . 47 Verordnungsblatt 1950 I, 433 ff. 41 Z u r Sondersituation dieser Bestimmung: L S G Berlin, Das Beitragsrecht/Meuer, § 1 7 2 R V O S. 436 A 18 a 9. 49 GBl. 1947, 251. 50 GVB1. 1946, 229. 51 Zu dieser Doppelgeltung: Brugger ( F n . l l ) , S. 112; Lecheler, W D S t R L 43, S . 6 3 f ; Papier, DVB1. 1984, 801 ff; Pietzcker, N V w Z 1984, 550 (554); Ramm ( F n . 6 ) , S . 9 2 ; Schneider, W D S t R L 43, S. 18, 23. 52 So dezidiert Haverkate (Fn. 32), S. 80, 105 f; s. a. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 684 ff; Wipfelder, R d A 1985, 93 und Papier, DVB1. 1984,
801 (802). 55 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl., 1985, Rdn. 71; Möller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1978, S. 170 ff; Rüfner (Fn. 32), S. 381. 54 Zu ihm statt aller Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 4 7 7 f f ; ders., R d A 1981, 1 3 7 f f ; Zacher, in: FS Ipsen, 1977, S . 2 0 6 f f ; s.a. Bieback, E u G R Z 1985, 6 5 7 f f .
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Es besteht keine Notwendigkeit, die grundsätzliche Diskussion wieder aufzugreifen, ob sich aus den Grundrechten Teilhaberechte ergeben 55 . Das Bundesverfassungsgericht hat dies sowohl in dem Numerusclausus-Urteil 56 als auch im Hochschulverfassungs-Urteil 57 bejaht. „Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen 58 ." Dabei unterscheidet die Rechtsprechung zwischen „derivativen" und „originären" Teilhabeansprüchen 59 . Derivative Teilhaberechte sind Rechte auf gleiche Beteiligung an staatlich geschaffenen, daher schon vorhandenen, der Allgemeinheit dienenden Einrichtungen. In diesen derivativen Teilhaberechten bündeln sich die spezielle grundrechtliche Verbürgung, z . B . der freien Wahl des Ausbildungsplatzes, das Sozial staatsprinzip und der allgemeine Gleichheitssatz zu einem besonderen Gleichheitssatz, der sich - ähnlich wie Art. 3 Abs. 2 G G - nicht in einem Willkürverbot erschöpft 60 , sondern von dem Gesetzgeber Realisierung der Gleichheit im Rahmen des Möglichen fordert. Diese „derivativen" Teilhabeansprüche sind bei aller Kritik, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Interpretation der Grundrechte als Teilhaberechte erfahren hat, unbestritten 61 . „Originäre" Teilhabeansprüche würden dem einzelnen einen aus Grundrechten abgeleiteten Anspruch darauf einräumen, daß der Staat Einrichtungen schafft, mit denen der einzelne sein Grundrecht realisieren kann. Das Bundesverfassungsgericht hält auch solche „originäre" Teilhaberechte für denkbar 62 . Das Bundesverwaltungsgericht hat sie im Bereich der Privatschul-Subventionen bereits bejaht 63 . Die Kritik an der - wie es heißt - „sozialstaatlichen Mutation der Grundrechte" 6 4 ist weit 55 Dazu Bieback, EuGRZ 1985, 657 (663ff); Böckenförde, N J W 1974, 1529 (1536); Haverkate (Fn.32), S. 63 ff; Hesse (Fn.53), S. 289ff; den., EuGRZ 1978, 427ff; Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970; Ossenbühl, N J W 1976, 2100 (2104); Redeker, in: FS BVerwG, 1978, S. 511 ff; Rüfner (Fn.32), S.386ff; Sendler, D Ö V 1978, 581 ff. 56 BVerfGE 33, 303 ff. 57 BVerfGE 35, 79 (114 ff). 58 BVerfGE 33, 303 (330 f). 59 Vgl. Faller, EuGRZ 1981, 611 (615); Hesse, EuGRZ 1978, 427ff; Katz, Staatsrecht, 7. Aufl., 1985, Rdn. 580 ff. 60 Dazu Zacher, AöR 93 (1968), 362 ff. 61 Vgl. nur Bieback, EuGRZ 1985, 657 (667); Faller, EuGRZ 1981, 611 (615); Hesse (Fn.53), Rdn.289; Ossenbühl, N J W 1976, 2100 (2104); Rüfner (Fn.32), S.380. 62 Vgl. BVerfGE 33, 303 (333 ff). 63 BVerwGE 23, 247; 27, 360. 64 So Friauf DVB1. 1971, 675; ähnlich Ossenbühl, N J W 1976, 2100 (2104).
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verbreitet 65 . J e mehr Leistungsansprüche aus den Grundrechten gefolgert würden, desto mehr verlagere sich die Verantwortung für finanzpolitische Prioritäten von dem Parlament zu den Gerichten, insbesondere zu dem Bundesverfassungsgericht. Die in der Literatur häufig bejahte 66 Frage, ob sich aus Art. 12 G G eine „originäre" Verpflichtung des Staates ergibt, ein System der sozialen Sicherung für Arbeitslose zu schaffen, ist inzwischen müßig. Ein solches System existiert seit 1927 67 . Der Gesetzgeber selbst hat die Notwendigkeit einer solchen sozialen Sicherung bejaht und mit ihrer Einrichtung daraus die Konsequenz gezogen. Die Frage kann daher nur noch lauten, ob die Existenz eines solchen Systems sozialer Sicherung für Arbeitslose zur Disposition des Gesetzgebers steht. Dabei geht es - um Mißverständnissen vorzubeugen - nicht um die Ausgestaltung der Leistungen im Detail, sondern nur darum, ob das System als solches ersatzlos gestrichen werden könnte, so daß notleidende Arbeitslose ausschließlich auf das allgemeine System der Sozialhilfe verwiesen wären. Diese Frage muß verneint werden. Das „ O b " eines solchen Systems, seine Existenz, ist verfassungsfest 68 . Grund hierfür ist nicht die Kompetenzregelung in Art. 74 N r . 12 G G . Aus ihr kann eine Institutsgarantie weder der Sozialversicherung insgesamt noch speziell der Arbeitslosenversicherung abgeleitet werden 69 . Die Bestandsgarantie eines Systems sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit ergibt sich vielmehr aus dem Zusammenspiel des Sozialstaatsprinzips einerseits und der in Art. 12 G G gewährleisteten Freiheit von Arbeit und Beruf andererseits. Wegen seiner Unschärfe kommt das Sozialstaatsprinzip über recht allgemein gehaltene Vorgaben für die staatliche Sozialpolitik nicht hinaus 70 . Diese Unschärfe verliert sich aber in dem Maße, in dem dem Sozialstaatsprin-
65 Vgl. statt aller Brügge (Fn. 11), S. 120 ff; Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, 1974, S. 29ff; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2104); Rupp, AöR 101 (1976), 183 ff; Wank, Das Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht und im Arbeitsrecht, 1980, S.29ff; Weigand, DVB1. 1974, 657; s.a. Bieback, EuGRZ 1985, 657 (664). 66 Vgl. Badura, in: FS Berber (Fn. 30), S.36; Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, 1971, S. 15f; Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S.20; Scholz (Fn.30), S. 82; Tomandl (Fn.38), S. 30 f; Weiler, Arbeitslosigkeit und Arbeitsrecht, 1969, S. 151; Wittkämper, Arbeitsmarkt und öffentlicher Dienst - Herausforderung, Aufgabe, Verantwortung, 1979, S. 9; Zacher (Fn.30), S.799; s. a. Jantz, ZVersWiss. 1973, 213 (214). 67 Zu seiner Geschichte W. Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 1981, S. 95 ff; Schieckel, SGb 1977, 425 ff; über sie wurde auch schon zur Zeit Bismarcks diskutiert, vgl. dazu Henning (Fn. 6), S. 48. 68 Vgl. die Nachweise in Anm. 66, 82 ff. 69 Vgl. BVerfGE 39, 302 (314); früher schon BVerfGE 11, 310 (320ff); weitergehend aber Häherle, JZ 1984, 345 (353, Anm. 70). 70 Vgl. Bieback, EuGRZ 1985, 657f; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1975, S.42; Rüfner (Fn. 32), S.382; Suhr, Der Staat 1970, 68 (73 f).
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zip die Aufgabe zuwächst, der individuellen Chance, Freiheitsrechte realisieren zu können, verfassungsrechtlichen Schutz zu bieten 71 . Diese Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips ist zwangsläufig. Die Grundrechte sind - wie auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont 72 - Grundlagen der verfassungsrechtlichen Wertvorstellungen, Elemente der objektiven Ordnung 73 und beschränken als solche nicht nur die Staatstätigkeit, sondern geben ihr auch Richtlinien und Ziele vor. Die Aufgabe des Staates, „Grundrechtspolitik" zu betreiben 74 , ist allgemein. Sie reicht von der Ausgestaltung des Zivilrechts hin bis zu der des Sozialrechts. Denn die, die sich die von den Grundrechten vorausgesetzten Handlungsmöglichkeiten nicht selbst schaffen können, sind zumeist auf monetäre - Hilfen des Staates angewiesen. Die Notwendigkeit, daß der Staat ihnen Hilfe gewährt, ist um so eindeutiger, je existentieller der grundrechtlich geschützte Wert für den einzelnen ist. Arbeit ist in unserer Gesellschaft - darauf war eingangs schon hingewiesen worden - eine Grundnotwendigkeit individueller Selbstbehauptung. Arbeit verschafft Einkommen und vermittelt soziale Sicherung, die ihrerseits - gerade wegen der Arbeit als Vorleistung - zu eigentumsgeschützten Ansprüchen führt 75 . Einkommen läßt Eigentum entstehen und eröffnet auch sonstige Freiheitsräume. Dieses Zusammenhangs wegen ist für die ganz überwiegende Mehrheit Arbeit noch vor dem Eigentum 76 Basis individueller Freiheit. Wegen dieser ganz elementaren Bedeutung der Arbeit für den einzelnen trägt der Sozialstaat in besonderer Weise Verantwortung dafür, daß auch jeder, der arbeiten will, Arbeit findet 77 . Aber auch der Sozialstaat kann nicht Unmögliches versprechen. Eine Arbeitsplatzgarantie wäre unerfüllbar. Die Verpflichtung des Staa71 Ähnlich Badura, Der Staat 1975, 17 (41); Pitschas (Fn.34), S . 5 0 9 f ; Scholz (Fn.30), S. 82 f; Werner, AöR 81 (1956), 84 (99); Zacher (Fn.54), S.220. 72 BVerfGE 7, 198 (205); 21, 362 (372); 33, 303 (330); 35, 79 (114); 49, 89 (142); st. Rspr. zuletzt BVerfG, BB 1987, 126 (127). 75 Ebenso Böckenförde, N J W 1974, 1529 (1533f); Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 17ff; Müller, EuGRZ 1983, 337 (338ff); Ossenbühl, N J W 1976, 2100 (2101); Rüfner (Fn.32), S.386; Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, 1979, S.225 (und öfters). 74 Dazu Bieback, EuGRZ 1985, 657 (665); Böckenförde, N J W 1974, 1529 (1538); Häberle, W D S t R L 30, S. 103; Ossenbühl, N J W 1976, 2100 (2105); Rüfner, aaO. 75 Dazu grundsätzlich BVerfGE 53, 257 (290); 58, 81 (112f); 69, 272ff; zusammenfassend: Ruland, DRV 1986, 13 ff. 76 Zum Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum: Badura (Fn.66), S . 3 3 f ; Dürig, in: FS Apelt, 1958, S. 13 (31): Eigentum als „geronnene A r b e i t H ä b e r l e , J Z 1984, 345 (358, 351); ders., W D S t R L 30, S. 101; ders., AöR 109 (1984), S.652; Ryffel (Fn.5), S. 218 ff; 261 ff; Schäfer, VSSR 1982, 297 (314); Schneider, W D S t R L 43, S. 19; Schiffauer, E u G R Z 1982, 41 (48f); s.a. B A G E 30, 163 (175); Art.24 Abs. 1 S.2 Verf. N W : „Der Schutz der Arbeitskraft hat Vorrang vor dem Schutz des materiellen Besitzes." 77 Vgl. die Nachweise in Anm. 38.
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tes zur Vollbeschäftigungspolitik besteht zwar, wird aber durch möglicherweise konkurrierende Ziele der Finanz- und Wirtschaftspolitik relativiert. So ist das einzige, womit der Sozialstaat seiner Verpflichtung gegenüber dem gerecht werden kann, der, obwohl er sich darum bemüht, keine Arbeit finden kann, die Gewährung finanzieller Leistungen. Damit wird die Verteilung der Arbeit durch die Umverteilung ihres Ertrages korrigiert. Dies wenigstens sicherzustellen, ist verfassungsrechtlich vorgegebene Aufgabe des Sozialstaates. Er kann sie nicht dadurch erledigen, daß er die Arbeitslosen wie alle sonst in N o t Geratenen auf die Sozialhilfe verweist, die mit dem soziokulturellen Existenzminimum den kleinsten gemeinsamen Nenner der sozialen Gleichheit absichert 78 . Der Staat trägt eben wegen seiner Verpflichtung zur Vollbeschäftigungspolitik gesteigerte Verantwortung für die, die trotz dieser Politik ohne Arbeitsplatz geblieben sind. Der Anspruch auf soziale Sicherung im Falle der Arbeitslosigkeit ist als Surrogat des Rechts auf Arbeit mehr als der sich aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 und Art. 1 Abs. 1 G G ergebende Anspruch auf (subsidiäre) Hilfe in der N o t zur Existenzsicherung. Bei der sozialen Sicherung gegen Arbeitslosigkeit schwingt ein Element der Entschädigung mit", Entschädigung dafür, daß es dem Staat nicht gelungen ist, dem Recht des einzelnen auf Arbeit im Zuge einer effektiven Vollbeschäftigungspolitik Rechnung zu tragen. So wie der Staat Verbrechensopfer über das Maß der allgemeinen Sozialhilfe hinaus sichert, weil es ihm nicht gelungen ist, das Opfer vor Verbrechen zu schützen 80 , so sichert er den Arbeitslosen über das Maß der allgemeinen Sozialhilfe hinaus, weil es ihm nicht gelungen ist, das ihm auch verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. In beiden Fällen werden Grundrechtseinbußen, die die staatliche Rechtsordnung nicht hat verhindern können, durch Geldleistungen oberhalb des Niveaus der Sozialhilfe kompensiert. Das ist auch im Falle der Arbeitslosigkeit gerecht, weil es eben auch um eine Entschädigung dafür geht, daß der Berechtigte trotz seines Rechts auf Teilhabe vom Arbeitsleben (ohne eigenes Verschulden) ausgeschlossen ist. Es spricht wegen dieser Überlegungen viel dafür, wie es Scholz formuliert hat, „auch die staatliche Arbeitslosenhilfe einer definitiven Verfassungsgarantie" zu unterstellen 8 '.
A . A . Schiffauer, EuGRZ 1982, 41 (58). So schon Ruland, in: von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1983, S.350f; ders. (Fn.42), S. 78. 80 Dazu Schulin, Soziale Entschädigung als Teilsystem kollektiven Schadensausgleichs, 1981, S.103f m . w . N . ; Stolleis, in: FS Wannagat (Fn.32), S.582; s.a.'BSG, J Z 1980, 199. 81 (Fn.30), S.82; s.a. Scheuner, W D S t R L 28, 232. 78 79
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Diese Zusammenhänge erlauben die Feststellung, daß, nachdem sich der Gesetzgeber für die Einführung einer Arbeitslosenversicherung entschieden hat und es sich gezeigt hat, daß eine solche Institution grundsätzlich in der Lage ist, den von ihr erwarteten Schutz auch zu gewähren, gehindert ist, diese Institution ersatzlos wieder zu beseitigen. So hat auch das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, daß die Arbeitslosenversicherung als Zweig der Sozialversicherung ganz wesentlich das Sozialstaatsprinzip mitausgestaltet 82 . In der Literatur wird - unter Berufung auch auf die verfassungsgeschichtlichen Vorbilder - die Arbeitslosenunterstützung als teilhaberechtliche Komponente des Rechts auf Arbeit angesehen83. Aus dem Recht auf Arbeit ergäbe sich für den einzelnen zumindest ein Recht auf Unterstützung im Falle der Arbeitslosigkeit84. Die Arbeitslosenunterstützung wird somit einer Verfassungsgarantie unterstellt. Der Gesetzgeber ist zwar nicht an die gegenwärtige Ausgestaltung der sozialen Sicherung im Falle der Arbeitslosigkeit gebunden 85 , er darf das System aber nicht ersatzlos wegfallen lassen. Aus Art. 20 in Verbindung mit Art. 12 G G ergibt sich eine Verpflichtung des Sozialstaates, ein System der Arbeitslosenversicherung beizubehalten. Der Gesetzgeber ist sich dieser Verpflichtung bewußt, wie das in §3 Abs. 2 N r . 4 SGB I ausgebrachte „soziale Recht auf wirtschaftliche Sicherung bei Arbeitslosigkeit und bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers" deutlich macht86. Diesem unter dem Vorbehalt gesetzlicher Konkretisierung stehenden „sozialen Recht" kommt zwar keine
82 BVerfGE 21, 239 (251); 51, 115 (125); ähnlich Badura, Der Staat 1975, 17 (38); Bieback, EuGRZ 1985, 657 (667); Ipsen, D Ö V 1952, 217 (218); Katzenstein, VSSR 1982, 167 (200); Olbersdorf, AuR 1955, 129 (138); Zacher (Fn. 30), S. 798; s. a. B G H Z 20, 1 (3). 83 Vgl. etwa Badura (Fn. 66), S. 36; Brugger (Fn. 11), S. 127; Häberle, AöR 109 (1984), 639; Schiffauer, EuGRZ 1982, 41 (43); Scholz (Fn.30), S.78; s.a. Göll, ZRP 1986, 198 (201). 84 Vgl. die Nachweise in Anm. 66. 85 Dazu statt aller Merten, VSSR 1980, 101 (105). " Der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierte und ins deutsche Recht transformierte Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II, 1569) statuiert zwar in Art. 6 Abs. 1 ein „Recht auf Arbeit". D o c h ist damit kein subjektives Recht auf einen Arbeitsplatz gemeint. Die Bestimmung versteht sich vielmehr als Vertragspflicht der Mitgliedstaaten, eine Wirtschafts- und Arbeitspolitik zu betreiben, die dem einzelnen die größtmögliche Chance gibt, einen freigewählten Arbeitsplatz zu erlangen (vgl. Zuleeg, RdA 1974, 321, 327). Für die hier zu beantwortende spezielle Frage läßt sich aus dieser Bestimmung schon deshalb nichts herleiten, weil sie „nicht auf die Arbeitslosenunterstützung ausweicht, falls das Recht auf Arbeit nicht erfüllt werden kann" (Zuleeg aaO). Der Europäischen Sozialcharta kommt zwar Gesetzeskraft zu, sie garantiert aber nur einen unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Teil II, Art. 1 Nr. 3).
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anspruchsbegründende Kraft zu87, es muß aber im Sinne einer Selbstverpflichtung des Gesetzgebers verstanden werden, ein solches System sozialer Sicherung funktionsfähig zu erhalten. Diese Aufgabe entbindet ihn allerdings nicht von der primären Verpflichtung, seine Wirtschaftsund Finanzpolitik am Ziel der Vollbeschäftigung zu orientieren 88 . Von stärkerem aktuellen Gewicht ist das Grundrecht auf Arbeit als derivatives Teilhaberecht. Das soziale Sicherungssystem gegen Arbeitslosigkeit muß aus Gleichheitsgründen so umfassend ausgestaltet sein, daß allen von dem Risiko möglicherweise Betroffenen Schutz und Sicherung zuteil werden kann89. Dem Gesetzgeber steht somit bei der Frage, welche Personenkreise er gegen Arbeitslosigkeit schützen will, keine bis an die Willkürgrenze reichende Gestaltungsfreiheit zu. Der Gesetzgeber muß vielmehr grundsätzlich alle Personenkreise, die typischerweise arbeitslos werden können, in den Schutz gegen Arbeitslosigkeit mit einbeziehen 90 . Das gilt jedenfalls für diejenigen, die auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft in abhängiger Beschäftigung angewiesen sind. Denn gerade das impliziert ihre soziale Gefährdung 91 . Sie vor allem muß er in dieses System einbeziehen, soweit sie arbeiten wollen, daher der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen und ohne Verschulden arbeitslos geworden sind. IV. Konsequenzen für die Ausgestaltung der Sicherung gegen Arbeitslosigkeit Gerade der letzte Aspekt macht deutlich, daß diese verfassungsrechtlichen Vorgaben Rückwirkungen auf die Ausgestaltung der Sicherung bei Arbeitslosigkeit auch im Detail haben. Zwei Themenkreise seien zum Schluß nur noch kurz angesprochen: - Wäre es nicht sinnvoll, auch für Arbeitslose ein „garantiertes Grundeinkommen" vorzusehen? - Müßte nicht der gegen Arbeitslosigkeit gesicherte Personenkreis erweitert werden? Hier gibt es in mehrfacher Hinsicht Lücken, die möglicherweise nicht ohne verfassungsrechtliche Relevanz sind.
87 von Maydell, GK-SGB I, 2. Aufl., 1982, §2 Rdn.ll; Merten, VSSR 1974, 342; Rüfner (Fn. 32), S. 387. 88 So mit Recht Brunner (Fn. 66), S. 15; Glotz, GMH 1986, 180 (190); von Münch, ZBR 1978, 125 (126); Pitschas (Fn.34), S.495; Schäfer, VSSR 1982, 297 (311); Weller (Fn.66), S. 151. 85 BVerfGE 18, 275 (267); 366 (377). 90 Vgl. Ruland (Fn. 42), S. 77. Art. 53 Abs. 3 Verf. RhPf. fordert eine dem ganzen Volk zugängliche Arbeitslosenversicherung. 91 Dazu Zacher, in: Vhdlgen d. 47.DJT, 1968, S . 0 8 .
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1. Garantiertes Grundeinkommen für Arbeitslose? Die derzeit intensiv geführte Grundrentendiskussion 92 hat längst ihre Begrenzung auf die Alterssicherung abgelegt. Gefordert wird ein garantiertes Grundeinkommen für alle, die nicht arbeiten können, weitergehend aber auch für alle die, die nicht arbeiten wollen". Ernsthaft diskussionsfähig sind solche Überlegungen aber nur, soweit mit ihnen unverschuldete Arbeitslosigkeit abgesichert werden soll94. Ein garantiertes Grundeinkommen auch für freiwillig Arbeitslose widerspräche dem Sozialstaatsprinzip. Denen, die arbeiten und für sich selbst aufkommen, wäre die wegen dieser Leistung an freiwillig Arbeitslose erhöhte Steuerquote nicht zumutbar 95 . Eine solche Umverteilung würde auch das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit aufheben. Konsequenz dessen wäre, daß eine immer kleinere Zahl von Arbeitenden eine immer größer werdende Zahl von Nichtarbeitenden alimentieren müßte 96 . Wie bei allen Grundsicherungsmodellen muß auch bei denen für den Fall der Arbeitslosigkeit differenziert werden: Ein Lösungsmodell könnte sein, alle Arbeitslosen auf ein einheitliches garantiertes Grundeinkommen zu verweisen. Es wäre dies eine Übertragung des von Miegel/Wahl vorgestellten Grundrentenmodells 97 auch auf den Fall der Arbeitslosigkeit. Ein solches Modell könnte zu seiner Begründung noch all die Stimmen anführen, die immer wieder darauf hinweisen, daß Arbeitslosigkeit kein versicherbares Risiko darstelle98. Dafür sei es zu sehr von gesamtwirtschaftlichen Faktoren abhängig. 92
Vgl. Biedenkopf, Die neue Sicht der Dinge, 1985, S. 400 ff; Miegel/Wahl, Gesetzliche Grundsicherung - private Vorsorge, 1985, S.62ff; s.a. BT-Drucks. 10/6582 (Vorschlag der Grünen); s.a. Stolleis, in: Forschung in Frankfurt, Heft 4, 1985, S. 16ff; Zacher, Sozialer Fortschritt 1984, 1 (7); kritisch: Clausing, DAngVers 1985, 480ff; Grohmann, AuS 1985, 346ff; Heier, Sozialer Fortschritt 1986, 137ff; Klanberg, N D V 1986, 437ff; Klanberg/Prinz, Sozialer Fortschritt 1986, 229 ff; Leyendecker, DRV 1986, 143 ff; Meißner, SozSich 1986, 215 ff; Rosenberg, Sozialer Fortschritt 1985, 204 ff; Ruland, FamRZ 1986, 950 (955 f); Schmähl, DAngVers 1986, 122ff. 93 Vgl. etwa Dahrendorf, in: „Die Zeit", Nr. 4/1986, S.32; Göll, ZRP 1986, 198 (201); Opielka/Vobruba, Das garantierte Grundeinkommen, 1986; Schwab, in: Schmid (Hrsg.), Befreiung von falscher Arbeit, Thesen zum garantierten Mindesteinkommen, 1984, S. 83; s.a. Bust/Bartels, Recht auf Einkommen?, Beilage zu „Das Parlament" B28/84; s.a. Vorschlag der „Grünen", zuletzt etwa BT-Drucks. 10/6582, S.3. 94 Vgl. Glotz, G M H 1986, 180 (182 f). 95 Dazu Pitschas (Fn.34), S.513; Rüfner (Fn.32), S.383. 96 Kritisch daher Glotz, G M H 1986, 180 (185 f); Klanberg, N D V 1986, 437 (441); Klanberg/Prinz, Sozialer Fortschritt 1986, 229 (234 ff). 97 Vgl. Anm. 92. 9 ' Vgl. zu diesem Grundproblem: Achinger/Höffner/Muthesius/Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen, 1955, S. 88; W.Bogs, Arbeitslosenversicherung, HDSW, Bd. 1, 1956, S.312 (313); Preller, Praxis und Probleme der Sozialpolitik, Bd.2, 1970, S. 467 ff; Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland (Sozialenquete), Bericht erstattet von Bogs, Achinger, Meinhold, Neundörfer, Schreiber, 1966, Rdn.364, 386, 470.
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Dennoch sprechen auch im Bereich der Arbeitslosensicherung alle Argumente dafür, den Gedanken der Arbeitslosen^ ersieh erung nicht aufzugeben. Würden die Arbeitslosen auf ein allgemeines steuerfinanziertes Grundeinkommen verwiesen, müßte dieses zwangsläufig einheitlich sein". Mit dem Einkommensbezug wäre auch die Funktion der Leistung, den Lebensstandard in etwa aufrechtzuerhalten, aufgegeben. N u r eine mit einkommensabhängigen Beiträgen finanzierte soziale Sicherung kann einkommensabhängige Leistungen gewähren 100 . Diese einkommensabhängigen Leistungen genießen - wie das Bundesverfassungsgericht in letzter Zeit immer wieder hervorhebt - den Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG' 0 '. Dies gilt auch für die Leistungen der Arbeitslosenversicherung 102 . Sie sind damit der politischen Beliebigkeit entzogen. Der Einkommensbezug der Leistungen ist zudem in der Lage, dem unterschiedlichen Bedarf der Arbeitslosen nach sozialer Sicherung zu entsprechen und damit der Funktion der Einkommensersatzleistung, den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, in etwa gerecht zu werden. Es wäre - um es an einem Beispiel deutlich zu machen gleichheitswidrig, dem, der nur teilzeitbeschäftigt war, den gleichen Anspruch auf Arbeitslosengeld einzuräumen wie dem, der voll erwerbstätig war. All diese Differenzierungsmöglichkeiten kann am besten ein System liefern, das über die Einkommenshöhe Bedarf, Vorleistung und Einkommensersatz miteinander koppelt. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß derzeit - wenn auch mehr aus unsystematischen finanziellen Überlegungen heraus - der Versicherungsgedanke im Leistungssystem des A F G durch eine Verlängerung der Bezugszeiten für das Arbeitslosengeld stärker betont werden soll103. Der Versicherungsgedanke kann aber nicht allein maßgeblich sein. Eine auf Versicherung aufgebaute soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit versagt in all den Fällen, in denen der Arbeitslose vorher nicht beitragspflichtig beschäftigt war104. Da wegen des Äquivalenzprinzips 105 auch
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Dazu ausführlicher Ruland, DRV 1985, 13 (30 f); Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 225; Winterstein, Das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 14; Zacher, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, 1980, S.25. 100 Ruland, aaO. 101 Vgl. o. Anm. 75. 102 BVerfGE 72, 9 (18ff); BVerfG, DVB1. 1987, 358; BSGE 38, 98 (103); 43, 128 (130); Benda, Sozialrechtliche Eigentumspositionen im Arbeitskampf, 1986, S. 95 ff; Heinze, in: Vhdlgen d. 55.DJT, 1985, S.E70; Isensee, DB 1986, 433; Papier, ZRP 1986, 72ff. 103 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung des Versicherungsschutzes bei Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, BT-Drucks. 11/198. Mit dem Versicherungsprinzip kaum vereinbar ist allerdings die altersmäßige Differenzierung.
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zwischen der Dauer der Beitragszahlung und der der Leistungsgewährung ein Zusammenhang bestehen muß, erschöpft sich der Anspruch auf die Versicherungsleistungen je nach der Dauer der vorangegangenen beitragspflichtigen Beschäftigung 106 . Schon dieser Fälle wegen ist es notwendig, daß das System der Arbeitslosenversicherung ergänzt w i r d durch ein steuerfinanziertes System der Arbeitslosenunterstützung. Die Arbeitslosenhilfe w i r d dieser Ergänzungsfunktion im Prinzip gerecht. Eine Notwendigkeit, sie unabhängig von der Einkommens- oder Vermögenssituation des Arbeitslosen zu gewähren, besteht nicht. Vorleistungen des Arbeitslosen, die einen unbedingten Anspruch erfordern würden 107 , fehlen gerade. Die subsidiäre Ausgestaltung einer Sozialleistung ist eines der möglichen Mittel, die Leistung nur denen z u k o m m e n zu lassen, die ihrer bedürfen. Daher hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zur Arbeitslosenhilfe 108 deren Subsidiarität nie beanstandet. Eine andere Frage ist es, wieweit die Voraussetzung der Subsidiarität erstreckt werden soll. Dabei ist aber eines zu betonen, daß wegen der Sonderstellung der Arbeitslosenhilfe auch, was ihre Subsidiarität anbetrifft, ein deutlicher Unterschied zur Sozialhilfe bestehen muß. Die Deutung auch der Arbeitslosenhilfe als Entschädigungssystem erklärt auch, w a r u m jedenfalls in den Fällen, in denen der Arbeitslose vorher Einkommen bezogen hat, die Arbeitslosenhilfe - anders als die Sozialhilfe - einkommensabhängig gewährt wird. 2. Der gegen Arbeitslosigkeit
gesicherte
Personenkreis
Der Forderung, daß all diejenigen, die, obwohl sie arbeiten wollen und deshalb der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen, trotzdem arbeitslos sind, in das System sozialer Sicherung gegen Arbeitslosigkeit einzubeziehen sind, trägt die Abgrenzung der Personen, die Anspruch auf originäre Arbeitslosenhilfe haben, jedoch nur unzureichend Rechnung. Die Arbeitslosenhilfe setzt grundsätzlich eine vorhergehende beitragspflichtige Beschäftigung von 150 Kalendertagen voraus 109 . Damit sind all die Personen von der Arbeitslosenhilfe ausgeschlossen, die unmittelbar nach ihrer Ausbildung entweder keinen Arbeitsplatz gefunden haben oder ihn nicht lange (150 Kalendertage) halten konnten. Ungeschützt sind des weiteren die Personen, die etwa nach Auflösung einer Ehe wieder in das Erwerbsleben eintreten müssen. Ein großer Teil Vgl. § § 1 0 4 , 1 0 7 f A F G . Zu ihm Ruland, D R V 1985, 13 f f ; ihm mißt das BVerfG (E51, 114, 124 f) zu wenig Bedeutung bei; siehe andererseits E42, 176 (188); 60, 68 (77) m Vgl. § § 1 0 6 f A F G . 107 Zu dieser Frage Ruland, N J W 1986, 21 (26 m. w. N.). 108 BVerfGE 9, 20 ff; 67, 186 ff. 109 Vgl. § 1 3 4 I N r . 4 l i t . b A F G . 104
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dieser Problemfälle war lange Zeit über die Arbeitslosenhilfe-Verordnung abgesichert, die zahlreiche Tatbestände der vorhergehenden beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt hat110. Die Arbeitslosenhilfe-Verordnung ist aber insoweit durch das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz mit Wirkung ab 31. März 1982 gestrichen worden 111 . Damit sind all die genannten Personengruppen in verfassungsrechtlich problematischer Weise der Sozialhilfe überantwortet worden. Aus ihrem Recht auf Arbeit ergibt sich für sie nicht einmal mehr ein Anspruch auf die gegenüber der Sozialhilfe qualifizierte Arbeitslosenhilfe. Ihr Recht auf Arbeit ist endgültig und völlig leergelaufen. Es gibt daneben noch weitere auffällige Lücken bei dem Personenkreis, der gegen Arbeitslosigkeit gesichert ist. All die Personen, die nicht mindestens halbtags beschäftigt sind, sind gegen Arbeitslosigkeit ungeschützt112. Grund dafür ist, daß das Arbeitsförderungsrecht wesentlich auf den Personenkreis zugeschnitten ist, der durch Arbeit seine Existenzgrundlage verdient113. Konsequenterweise steht eine kurzzeitige Beschäftigung auch der Annahme der Arbeitslosigkeit nicht entgegen. Das erzielte Einkommen wird allerdings weitgehend angerechnet114. Aber trotz dieser nach geltendem Recht noch akzeptablen Legitimation der Beitragsfreiheit kurzzeitiger Beschäftigungen bleibt zu fragen, ob sie im Zuge der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitszeiten 115 sinnvoll ist. Die Differenzierung zwischen der Geringfügigkeit der Beschäftigung, die zur Beitragsfreiheit in der Kranken- und Rentenversicherung führt116, einerseits und der Kurzzeitigkeit der Beschäftigung, die zur Beitragsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung führt, vermag angesichts dieser Entwicklung nicht mehr sehr zu überzeugen. Dies gilt besonders dann, wenn man berücksichtigt, daß das Einkommen z.B. der Ehefrau aus einer kurzzeitigen Beschäftigung in vielen Fällen den Lebensstandard der Familie ganz wesentlich beeinflussen kann.
110
Vgl. §§ 1-5 der Arbeitslosenhilfe-Verordnung vom 7. 8.1974 (BGBl. I 1929). Art. 16 §§ 1 f A F K G (BGBl. 1981 I, 1497). 112 Vgl. §169 N r . 6 i.V. m. §102 A F G ; s.a. Hummel-Liljegren (Fn.6), S. 177, der zu Recht darauf hinweist, daß auch die Halbtagstätigkeit von Art. 12 G G erfaßt wird. Siehe nunmehr auch §2 I BeschFG v. 26.4.1985 (BGBl. I, 710). 113 So Gagel (Fn.30), §169 Rdn.25. 114 §115 A F G . 115 Dazu Danne, Das Job-Sharing, 1986; Glaubrecht/Wagner/Zander, Arbeitszeit im Wandel, 1984; von Hoyningen-Huene, BB 1982, 1490 ff; Landenberger, ZSR 1985, 321 ff, 393 ff; Mager/Winterfeld/Döbel/Seelmann, Beschäftigungsförderungsgesetz 1985, Kurzkommentar, 1985; Ruland, DRV 1987, 21 ff; s.a. Buttler/Oettle/Winterstein (Hrsg.), Flexible Arbeitszeit gegen starre Sozialsysteme, 1986; Veränderungen in der Arbeitswelt und soziale Sicherung, 1986. Vgl. § 8 SGB IV.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft Ordnungsrecht unter der Herrschaft der Insolvenzrechtsdoktrin? KARSTEN SCHMIDT
I. Einführung 1. Einheit der Rechtsordnung und interdisziplinäre Jurisprudenz Unter interdisziplinärer Arbeit kann in der Rechtswissenschaft sehr Unterschiedliches verstanden werden. Regelmäßig wird dabei an die Aufnahme metajuristischer Kategorien gedacht, aber interdisziplinäre Rechtswissenschaft kann auch ein bescheideneres, dafür leichter kon:rollierbares und kalkulierbares Ziel haben: Verständigung unter den Rechtsdisziplinen! Wer Wolfgang Martens kannte, weiß, daß er interdisziplinären Ansätzen im erstgenannten Sinne mit unmißverständlicher Skepsis, einer Zusammenarbeit unter den Rechtsdisziplinen dagegen mit größter Offenheit gegenüberstand. Solcher Dienst an der „Einheit der Rechtsordnung" 1 ist in der Tat unentbehrlich, und nicht selten verhilft der Blick über die Grenzen des eigenen Fachs hinaus nicht nur zu unentbehrlichen Informationen, sondern sie hat auch kritische Funktion. N u r wer über die Grenzen des Fachs hinausblickt, kann nämlich die Verantwortung dafür tragen, daß nicht liebgewonnene Theoreme, Gedankenlosigkeiten, vielleicht sogar Irrtümer aus der einen Disziplin als ungeprüfte Prämissen mit schwer absehbaren Folgen in eine Nachbardisziplin übernommen werden. Daß es solcher Kontrolle bedarf, soll am Beispiel eines Prozesses dargestellt werden, dessen Diskussion gleichsam als Nachtrag zu Wolfgang Martens' letztem großen Werk 2 begriffen werden soll: zum Recht der Gefahrenabwehr.
' So der zur Parömie gewordene Titel bei Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; dazu auch Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, 1971, S. 1 f; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 161. 1 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986.
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Karsten Schmidt
2. Der Ausgangsfall Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht'' hatten über folgenden Fall zu entscheiden: Eine G m b H & Co. KG betrieb eine Industrielackfabrik. Uber das Vermögen der Kommanditgesellschaft wurde das Konkursverfahren eröffnet, während ein Konkurs über das Vermögen ihrer Komplementär-GmbH mangels Masse abgelehnt wurde. Der spätere Kläger wurde zum Konkursverwalter ernannt. Am 18.6.1975 ordnete das Landratsamt, gestützt auf wasserrechtliche Vorschriften, zur Behebung von Gefährdungen des Grundwassers gegenüber dem Kläger als Konkursverwalter u. a. an, verschiedene in unterirdischen Behältern lagernde chemische Flüssigkeiten zu entfernen und - ebenso wie die in zahlreichen Fässern gelagerten Lösungsmittelabfälle — beseitigen zu lassen. Gleichzeitig wurde die Ersatzvornahme angedroht. Der Konkursverwalter setzte sich hiergegen mit der Begründung zur Wehr, er habe die zu beseitigenden Gegenstände aus der Masse freigegeben. Tatsächlich hatte er — nach Zugang der Ordnungsverfügung! - gegenüber der KG mit Schreiben an ihre Komplementärin die Freigabe der in der Anordnung des Landratsamts bezeichneten Behälter und Fässer erklärt. Der hierauf gestützte Widerspruch und die Anfechtungsklage blieben erfolglos. Auf die Berufung des Klägers hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das erstinstanzliche Urteil und die angefochtene Anordnung mit der Begründung auf, der Kläger sei nicht der richtige Adressat der angefochtenen wasserrechtlichen Anordnung. Richtiger Adressat einer Maßnahme nach Art. 68 Abs. 3 BayWG sei derjenige, der für die Nichterfüllung der wasserrechtlichen Verpflichtung verantwortlich sei. Durch die gegenüber der Komplementärin der in Konkurs gefallenen G m b H & Co. KG erklärte Freigabe der zu beseitigenden Gegenstände habe der Kläger sein Verwaltungs- und Verfügungsrecht als Konkursverwalter wieder verloren. Die hiergegen zugelassene Revision des Landratsamts hatte keinen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht sah revisibles Recht nicht als verletzt an und bestätigte deshalb das auf Aufhebung des Verwaltungsakts lautende Berufungsurteil. Wörtlich ist folgendes zu lesen: „Nach § 6 K O verliert der Gemeinschuldner mit der Eröffnung des Konkursverfahrens die Befugnis, sein zur Konkursmasse gehöriges Vermögen zu verwalten und darüber zu verfügen. Das Verwaltungs- und Verfügungsrecht wird durch den Konkursverwalter ausgeübt. Daher obliegt dem Konkursverwalter grundsätzlich auch die Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten, die sich auf Gegenstände der Konkursmasse beziehen.
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BayVGH, KTS 1983, 462 m. Anm. Kölsch. ' BVerwG, BayVBl. 1984, 759 = BB 1984, 1071 = N J W 1984, 2437 m. Anm. Schulz = ZIP 1984, I I I = KTS 1984, 691.
Zustandshaftung im K o n k u r s einer Handelsgesellschaft
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Der Konkursverwalter hat das Verfügungsrecht über die zur Konkursmasse gehörenden Gegenstände nur zur Herbeiführung der gleichmäßigen Befriedigung aller Konkursgläubiger (Mentzel/Kuhn/Uhlenbruch KO, 9. Aufl., §6 Anm. 37; BVerfGE 51, 405/407). Er ist berechtigt, was in §114 KO vorausgesetzt wird, einen zur Konkursmasse gehörenden Gegenstand aus der Konkursbefangenheit freizugeben (vgl. u. a. RGZ 60, 107; 79, 27, 94, 55; 105, 313; BGHZ 35, 180; BGH LM Nr. 14 zu § 17 KO; BGH LM Nr. 13 zu §6 K O ; BGH LM Nr. 1 zu §11 KO). Die Freigabe löst den freigegebenen Gegenstand oder das freigegebene Recht aus dem Konkursbeschlag und läßt insoweit die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse des Gemeinschuldners wieder aufleben (vgl. BGH LM Nr. 13 zu §6 KO; BGH LM Nr. 1 zu §11 KO). Nach der Freigabe eines konkursbefangenen Gegenstandes oder Rechtes gehen die öffentlichrechtlichen Verpflichtungen, die sich darauf beziehen, grundsätzlich von diesem Zeitpunkt an auf den Gemeinschuldner über (vgl. PrOVG 68, 215/217 f) . . . Die Auffassung der Revision, daß die aufgelöste Komplementär-GmbH als Empfängerin der Freigabeerklärung als nicht mehr existent zu behandeln sei, woraus sich die Unwirksamkeit der Freigabeerklärung ergebe, entspricht nicht den Bestimmungen des Gesellschaftsrechts und der einschlägigen Rechtsprechung. Denn im Gesellschaftsrecht ist zwischen der Auflösung der Gesellschaft und ihrem Erlöschen durch Vollbeendigung - in der Regel nach Liquidation - zu unterscheiden. Auflösung bedeutet nicht Beendigung der Gesellschaft, sondern Eintritt in das Liquidations- oder Abwicklungsstadium. Durch die Auflösung wird weder die Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft noch ihre Handlungsfähigkeit vernichtet. Sie besteht bis zum Abschluß der Liquidation fort (vgl. dazu u. a.: Ulmer, im Großkommentar HGB, 3. Aufl., § 131 Anm. 3; Fischer, GmbHG, 9.Aufl., §60 Anm. 1; Scholz/Schmidt, GmbHG, 6.Aufl., §60 Anm. 1 ff; Hachenburg/Schmidt, GmbHG, 6. Aufl., §60 Anm. 1 ff; Baumbach/Duden/Hopt, HGB, 25. Aufl., §131 Anm. 1; BGHZ 53, 264). Daraus ergibt sich, daß die zum Zeitpunkt der Freigabeerklärung aufgelöste und in Liquidation befindliche Komplementär-GmbH weiterhin persönlich haftende Gesellschafterin der im Konkurs befindlichen Kommanditgesellschaft - KG - mit den durch den Konkurszweck eingeschränkten Rechten und Pflichten geblieben war (vgl. BGH LM Nr. 12 zu §240 ZPO; BGH LM Nr. 16, §899 RVO). Die Komplementär-GmbH einer GmbH & Co. KG verliert ihre Alleinvertretungsbefugnis auch dann nicht, wenn die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der GmbH mangels Masse abgelehnt wird (so ausdrücklich BGH, Urteil vom 8.10.1979 - II ZR 257/78 BGHZ 75, 178). Die Freigabe durch den Konkursverwalter wäre nur dann ins Leere gegangen und damit unwirksam, wenn die Komplementär-GmbH zum Zeitpunkt der Freigabeerklärung nicht nur aufgelöst, sondern bereits durch Beendigung erloschen wäre. Dies ist hier aber nicht der Fall, da die Liquidation der GmbH nach den unstreitigen und für das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz erst während des Berufungsverfahrens abgeschlossen wurde. Daraus folgt, daß der Kläger als Konkursverwalter nach den Vorschriften des Gesellschaftsrechts die von der wasserrechtlichen Anordnung betroffenen Gegenstände und Stoffe wirksam gegenüber der aufgelösten, aber noch nicht beendeten GmbH freigeben konnte."
3. Zur Bedeutung
der Sache
a) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird, soweit ersichtlich, im Standardschrifttum zustimmend referiert5. Das ist nicht erstaunlich, wenn man sich darauf beschränkt, eine bislang im Konkursrecht herr5 Vgl. Mohrbutter/Mohrbutter, Hdb. der Vergleichs- und Konkursverwaltung, 5.Aufl. 1985, Rdn.690; Kuhn/Uhlenbruch KO, lO.Aufl. 1986, §6 Rdn.35.
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Karsten Schmidt
sehende Auffassung ordnungsrechtlich fortzudenken. Befragt man indes das Rechtsgefühl, so vermag der Standpunkt des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht zu befriedigen. Die Gerichte setzen den Konkursverwalter instand, die ordnungsrechtliche Zustandsverantwortlichkeit von der Liquidationsmasse abzulösen und sie dem Gemeinschuldner zuzuweisen. Ist der Gemeinschuldner eine natürliche Person, so mag dies seine Berechtigung haben. Die natürliche Person hat außerhalb der Konkursmasse einen eigenen Verantwortlichkeitsbereich. Sie haftet auch nach der Konkursabwicklung mit eigenem neu erworbenen Vermögen für Folgelasten weiter 6 . Völlig anders verhält es sich bei einer insolventen Verbandsperson. Beim insolventen Verband belastet die Verweisung der Verantwortlichkeit auf eine konkursfreie Vermögensmasse im Ergebnis den Staat. Das konkursfreie Vermögen eines solchen Verbandes — insbesondere einer Handelsgesellschaft — kann allenfalls in verwertungsunfähigen Objekten bestehen, die noch auf die Vollbeendigung ihres Rechtsträgers warten. Als Fundus für die Erfüllung ordnungsrechtlicher Pflichten ist eine solche angeblich konkursfreie „Masse neben der Masse" evident ungeeignet. Das Verwaltungsgericht hatte im Ausgangsfall noch sein Rechtsgefühl sprechen lassen: Die Freigabe sei unzulässig gewesen, weil sie zur Folge haben könne, daß die Behörde die geforderten Maßnahmen auf Kosten der Allgemeinheit selbst oder im Wege der Ersatzvornahme durch einen Beauftragten vornehmen müsse; mit der Freigabe würden auch die Vorschriften über die Vorwegberichtigung von Massekosten und Masseschulden (§§ 57, 58 N r . 2, 59 K O ) unzulässig und rechtsmißbräuchlich umgangen. Das mochte schlechte Rechtsdogmatik sein, hätte jedoch die Rechtsmittelgerichte hellhörig machen müssen. Statt aber das Sachproblem zu diskutieren, griff der Verwaltungsgerichtshof auf das kleine Einmaleins des Insolvenzrechts zurück: Die Freigabe verlustbringender Gegenstände durch den Konkursverwalter sei zulässig; nach der Freigabe entstehende Kosten seien keine Massekosten oder Masseschulden mehr; die hieraus resultierende Rechtsfolge müsse man hinnehmen, wenn eine Freigabe überhaupt zulässig sei. - Das Musterbeispiel einer petitio prineipii! h) Die rechtspolitische Bedeutsamkeit unseres Ausgangsfalls ist hoch einzuschätzen. Das versteht sich in Anbetracht der umweltrechtlichen und umweltpolitischen Turbulenzen unserer Tage nahezu von selbst. 6 Es gibt im deutschen Konkursrecht keine Enthaftung durch Konkurs; dazu rechtspolitisch Menzinger, Das Nachforderungsrecht im Konkurs. Fragwürdigkeit und Grenzen, 1982; Ackmann, Schuldbefreiung durch Konkurs?, 1983; Knüllig-Dingeldey, Nachforderungsrecht oder Schuldbefreiung, 1984.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
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Hinzu kommt indes ein spezifisch konkursrechtlicher Aspekt: Der Konkursverwalter ist zu optimaler Verwertung und zur Erzielung einer maximalen Konkursquote verpflichtet7, und er haftet nach § 82 K O allen Beteiligten - darunter vor allem die Gläubiger8 — für die Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten. Diese gesetzliche Amtshaftung des Konkursverwalters9 wirkt naturgemäß verhaltenssteuernd, und die dem Verwalter auferlegten Pflichten können nicht ohne Einfluß auf die Praxis der Konkursabwicklungen sein. Schon heute ist anerkannt, daß der Konkursverwalter den Gläubigern gegenüber zur Freigabe quotenschmälernder Güter verpflichtet sein kann10. Trifft dies aber zu, so ist zu erwarten, daß die Freigabemaßnahme des Konkursverwalters der Industrielackfarben GmbH & Co. KG Nachahmer finden wird. Solange der Standpunkt der Verwaltungsgerichte unkorrigiert im Raum steht, müßte einem Konkursverwalter geradezu Leichtsinn bescheinigt werden, wollte er in einem vergleichbaren Fall nicht von seiner angeblichen Freigabebefugnis Gebrauch machen. II. Ordnungsrechtliche Grundlagen der herrschenden Auffassung 1. Die ordnungsrechtliche
Verantwortlichkeit der und ihrer Organe
Handelsgesellschaften
a) Die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit privatrechtlicher Verbände und ihrer organschaftlichen Vertreter ruht auf einer doppelten Grundlage: zum einen auf der Unterscheidung trennbarer Rechtssubjekte, zum anderen auf der Unterscheidung der ordnungsrechtlichen Haftungstatbestände. Beide - sowohl der Verband als auch die in ihm handelnde natürliche Person - kommen als Handlungsstörer oder als Zustandsstörer in Betracht. Der sog. Handlungs- oder Verhaltenshaftung unterliegt, wer durch sein Verhalten eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung verursacht hat11. Die Haftung trifft in erster Linie natürliche Personen für eigenes willkürliches Tun oder Unterlassen, sie kann aber auch - vermittelt durch Repräsentanten - ais 7 Vgl. BFH, Rdn.36.
KTS 1971, 111 ( 1 1 3 f ) ; BGH,
B B 1985, 6 8 4 ; Kuhn/Uhlenbruch
8 Vgl. RGZ 87, 151 (152); 144, 179 (181); 149, 182 (185); BGH, Böhle-Stamschräder/Kilger, K O , 14. Aufl. 1983, § 6 Anm. 7.
§6
N J W 1973, 1198;
9 Dazu eingehend Karsten Schmidt, KTS 1976, 191 ff; krit. Wolfgang Lüke, Die persönliche Haftung des Konkursverwalters, 1986, S. 46 ff mit reichen Nachweisen. 10 Jaeger/Henckel, K O , 9. Aufl., 1. Lfg. 1977, § 6 Rdn. 17; Kölsch, KTS 1983, 469. " § 6 I Bad.-W. PolG; Art. 7 I Bay. P A G ; § 5 I Bln. A S O G ; § 5 I Br. PolG, § 8 I Hamb. S O G ; § 12 Hess. S O G , § 6 I Nds. SOG, § 4 I N . - W . P o l G ; § 4 1 Rh.-Pf. P V G ; § 18 i. V. m. § 19 I Saarl. P V G ; § 185 Schl.-H. L V w G ; s. a. § 4 M E PolG (1977); § 6 Alternativentwurf Arbeitskreis Polizeirecht (1979).
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Zustandshaftung für einen Geschäftsherrn bestehen, der nicht unmittelbar agiert hat12. Das wird sich für Handelsgesellschaften als bedeutsam erweisen. Geht von dem Zustand einer Sache eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, so trifft die sog. Zustandshaftung den Inhaber der tatsächlichen Gewalt und den Eigentümer. Traditionsbedingt nennt die Ländergesetzgebung heute noch teilweise den Eigentümer an erster Stelle13, und darin ist ihr Wolfgang Martens gefolgt14. Die größere Zahl der ordnungsrechtlichen Normen nennt heute im Zuge der Anpassung an § 5 des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes zuvörderst den Inhaber der tatsächlichen Gewalt und sodann neben dem Eigentümer, aber nicht kumulativ, andere Berechtigte 15 . Die Begründung der Innenministerkonferenz erläutert das Konzept des Musterentwurfs mit der Erwägung, in erster Linie müsse der Inhaber der tatsächlichen Gewalt verantwortlich sein, weil die Eigentumsverhältnisse in Einzelfällen schwer zu ermitteln sein könnten16. Diese Modernisierung der Gesetzestexte hat aber nur redaktionelle Bedeutung. Sie begründet, wie Wolfgang Martens17 betont hat, keinen rechtlichen Vorrang der Haftung des Inhabers der tatsächlichen Gewalt. Auch dies ist für die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit von Handelsgesellschaften bedeutsam: Die Gesellschaften können als Inhaber tatsächlicher Gewalt, als Eigentümer oder als sonstige Berechtigte verantwortlich sein. Allerdings setzt dies voraus, daß sie überhaupt als Träger ordnungsrechtlicher Pflichten in Betracht kommen. Damit ist ein Problem angesprochen, das so alt ist wie die Diskussion um juristische Personen und Handelsgesellschaften überhaupt: die Frage, inwieweit diese Rechtsträger gleich natürlichen Personen haften können. b) Juristische Personen des Privatrechts - insbesondere also Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und rechtsfähige Vereine - können ordnungspflichtig sein18. Sie können nicht nur der Zustandshaftung, sondern auch der Handlungshaftung unterliegen 19 . Im Bereich der HandVgl. nur Drews/Wacke/Vogel/Martens, S.309f. Vgl. § 7 Bad.-W. PolgG; § 9 Hamb. SOG; § 14 Hess. SOG; §20 Saarl. PVG; §186 Schl.-H. LVwG. 14 Drews/Wacke/Vogel/Martens, S. 326 ff. 15 Vgl. § 5 ME PolG; Art. 8 Bay. PAG; § 11 Bln. ASOG; § 6 Br. PolG; § 7 Nds. SOG; § 5 N.-W. PolG; § 5 Rh.-Pf. PVG. 16 Vgl. Heise/Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 2. Aufl. 1978, S. 36. 17 Drews/Wacke/Vogel/Martens, S. 329. 1! PrOVGE 2, 399 (407) (betr. juristische Person des öffentlichen Rechts); Drews/ Wacke/Vogel/Martens, S.294; Rietdorf/Heise/Bockenförde/Steblau, POR NordrheinWestf., 2. Aufl. 1972, §16 Rdn.9; Hans, POR, 1970, S.68; v.Mutius, Jura 1983, 300f unter Hinweis auf §§11, 12 I N r . 3 VwVfG. " Hans J. Wolff, Organschaft und Juristische Person I, 1933, S.223. 12
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Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
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lungshaftung ist ihnen das Verhalten ihrer Leitungsorgane - Vorstand oder Geschäftsführer — zuzurechnen 20 . Werden die Leitungsorgane ausgetauscht, so dauert doch die Handlungsverantwortlichkeit der juristischen Person an. Im Bereich der Zustandshaftung verhält es sich ähnlich21 : Nicht nur als Eigentümer, sondern auch als Inhaber der - durch die Leitungsorgane ausgeübten! - tatsächlichen Gewalt kann eine juristische Person des Privatrechts ordnungspflichtig sein. Es ist die juristische Person selbst, die mittels ihrer Entscheidungsträger tatsächliche Gewalt ausübt 22 . Geht man nun von dieser hier nicht im einzelnen zu begründenden Zurechnungslehre aus, so wird man bei ihrer Anwendung auf juristische Personen nicht stehenbleiben können 23 . Nicht nur die juristische Person, sondern auch die Gesamthandsgesellschaft kann Träger von Rechten und Pflichten sein24. Für den Bereich der Handelsgesellschaften ist dies auch im Gesetz, nämlich in § 124 HGB, zum Ausdruck gebracht. Diese Verselbständigung der Gesamthand zum Rechtsträger ist auch im öffentlichen Recht nicht ohne Folgen. Daß Gesamthandsgemeinschaften jedenfalls, wenn sie Handelsgesellschaften sind - der Ordnungspflicht unterliegen können, ist allgemein anerkannt 25 . Schon das Preußische Oberverwaltungsgericht hat dies wiederholt für Handelsgesellschaften ausgesprochen. Dem Urteil vom 15.10.1896 26 lag ein Fall zugrunde, bei dem die Königliche Polizeidirektion zu Hannover einer offenen Handelsgesellschaft die Beseitigung von Immissionen aufgegeben hatte. Die Klägerin wandte ein, die Verfügung habe sich nur gegen den Mitinhaber, aber nicht gegen „die Firma" richten dürfen. Demgegenüber stand das Gericht auf dem Standpunkt, polizeiliche Anordnungen könnten sich nicht nur an physische Personen, sondern z. B. auch an eine offene Handelsgesellschaft richten. Gleichfalls um eine offene Handelsgesellschaft ging es im Urteil vom 24.4.1906 27 . Hier hatte die Polizeiverwaltung einer O H G aufgegeben, 20
Götz, P O R , 8. Aufl. 1985, Rdn.202. Vgl. auch insofern Hans J. Wolff, S.223. 22 Vgl. zu dieser vor allem im Privatrecht herausgearbeiteten Zurechnungslehre eingehend Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1986, S. 194 ff. 23 Auch dazu eingehend Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 200 ff. 24 Grundlegend Flume, Die Personengesellschaft, 1977, S. 50 ff; str. 25 PrOVGE 18, 187; Drews/Wacke/Vogel/Martens, S.294; Rietdorf/Heise/Bockenförde/Stehlau, § 16 O B G Rdn. 11; zumindest für die o H G und KG Hans, S. 68; v. Mutius, Jura 1983, 301; Dietel/Gintzel, Allgemeines Verwaltungs- und Polizeirecht für NordrheinWestf., 10. Aufl. 1982, S. 131; vgl. auch für den nichtrechtsfähigen Verein OVG Lüneburg, N J W 1979, 735. 26 PrOVG, PrVwBl. 18 (1896/97), 187. 27 PrOVGE 48, 363. 21
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„Ausnischungen" in der Brandmauer ihres Grundstücks ausmauern zu lassen. Der Hauptgesellschafter erhob hiergegen Klage mit der Begründung, „aus formellen juristischen Gründen" dürfe eine Verfügung gegen eine offene Handelsgesellschaft nicht ergehen. Das OVG bejahte die Klagebefugnis, weil der Gesellschafter auch als Nicht-Adressat in seinen Rechten verletzt sei, aber es wies die Klage als sachlich unbegründet ab, denn unabhängig davon, ob die offene Handelsgesellschaft juristische Person sei oder nicht, könne sie doch jedenfalls unter ihrer Firma Rechte erwerben (§ 124 H G B ) . Könne sie aber Grundeigentum erwerben, so sei sie auch Trägerin öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen. c) Geht man von der ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Handelsgesellschaften aus, so muß klar zwischen ihr und der Verantwortlichkeit der für die Gesellschaft agierenden Leitungspersonen unterschieden werden. Beide sind voneinander verschiedene Rechts- und Verantwortungsträger. Auch wenn die Zustellung in jedem Fall gegenüber dem Leitungsorgan erfolgt28, ist es doch nicht dasselbe, ob das Leitungsorgan als natürliche Person oder der Verband aus der ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit in Anspruch genommen wird. Beides mag einmal zusammentreffen. Wir haben es dann mit zwei ordnungspflichtigen Rechtsträgern zu tun. An der grundsätzlichen Unterscheidung ändert dies aber nichts.
2. Die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit im Konkurs nach dem gegenwärtigen Stand von Praxis und Literatur a) Nach § 6 K O hat die Konkurseröffnung die Folge, daß der Gemeinschuldner die Befugnis zur Vermögensverwaltung und zur Verfügung über sein Vermögen verliert (Abs. 1). Das Verwaltungs- und Verfügungsrecht wird im Konkurs durch den Konkursverwalter ausgeübt (Abs. 2). Es leuchtet ein, daß diese Veränderung auch im Recht der Gefahrenabwehr nicht folgenlos sein kann. Die Frage ist nur, welcher Art diese Folgen sind. b) Im Konkurs der natürlichen Person geht die herrschende Auffassung davon aus, mit der Verfahrenseröffnung ende die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit für die der Konkursverwaltung unterliegenden Gegenstände. So entschied schon im Jahr 1902 das Kammergerichtder Gemeinschuldner - in casu ein in Konkurs gefallener Kaufmann, der der Wegereinigungspflicht nicht nachgekommen war - sei nicht mehr zur Ausübung der Benutzungsrechte an seinem Grundstück berufen und 28 Vgl. Rietdorf/Heise/Bockenförde/Stehlau, Martens, S. 294. 29 DJZ 1902, 127.
§16 O B G R d n . 9 ;
Drews/Wacke/Vogel/
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deshalb nicht der richtige Adressat polizeilicher Anordnungen. Die Doktrin des Verwaltungsrechts ebenso wie die des Konkursrechts teilt diese Sicht30. Allerdings ist vor dem Mißverständnis zu warnen, der Gemeinschuldner sei gleichsam zum untauglichen Subjekt im Recht der Gefahrenabwehr gestempelt. N u r das der Eigenverwaltung entzogene Vermögen ist von dem angeblichen Fortfall der Ordnungspflicht betroffen. Es wird also streng zwischen einem privaten Gemeinschuldnerbereich und einem Konkursverwalterbereich unterschieden. Im Gemeinschuldnerbereich ist der Gemeinschuldner selbst - und nur er - ordnungspflichtig, im Konkursverwalterbereich nur der Verwalter. Die Grenze ist durch den Begriff der Konkursmasse bestimmt, und dazu gehört nach § 1 K O nur das einer Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen des Gemeinschuldners, welches ihm zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört; aus diesem vom Konkursverwalter verwalteten Sondervermögen können im Lauf des Verfahrens Gegenstände ausscheiden, z. B. durch Verbrauch, durch Vernichtung, durch Veräußerung, aber nach herrschender Auffassung auch durch Freigabehandlungen des Konkursverwalters. Während nun die ordnungsrechtlichen Folgen einer Dereliktion gemäß §959 BGB umstritten sind31, gibt es kaum wesentlichen Streit um die Folgen der Freigabe aus der Konkursmasse. Das hängt damit zusammen, daß die vom Konkursverwalter auszuübende Herrschaftsmacht wieder dem Gemeinschuldner zuwächst, so daß der Träger der Sachherrschaft lediglich ausgetauscht wird und nicht ersatzlos in Fortfall gerät. Es ist nur verständlich, wenn sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht auf der Basis der herrschenden Auffassung leicht getan haben. Eine wirksame Freigabe kann für die der Sache anhaftenden öffentlich-rechtlichen Pflichten nicht folgenlos sein. Schon 1914 hat das Preußische Oberverwaltungsgerich f2 für die Gemeindegrundsteuer entschieden, daß die Heranziehung für ein aus der Konkursmasse freigegebenes Grundstück an den Gemeinschuldner und nicht an den Konkursverwalter zu richten sei. Ist einmal die Freigabebefugnis des Verwalters anerkannt, so folgt hieraus auch die enthaftende Wirkung der Freigabe. Ganz im Gegensatz zu einer dem 30 RGZ 93, 1 (2); PrOVGE 32, 335 (336f); Drews/Wacke/Vogel/Martens, S.327f; Götz, Rdn.209; Scholler/Broß, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1982, S.209 F n . 3 2 ; Reiff/Wöhrle/Wolf, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 3. Aufl. 1984, § 7 Rdn. 6; Jaeger/Henckel, § 6 Rdn. 139. 31 Für ausnahmslose Befreiung von der Zustandshaftung etwa Götz, Rdn. 213; Hans, S. 72; für Fortbestand der Zustandshaftung, wenn kein Nachfolger in der Zustandshaftung vorhanden ist: Scholler/Broß, S.207; Rietdorf/Heise/Bockenförde/Stehlau, §18 O B G Rdn. 7. M PrOVGE 68, 215.
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Berufungsurteil in unserem Ausgangsrechtsstreit gewidmeten Anmerkung" kann deshalb festgehalten werden, daß das Kernproblem nicht in den ordnungsrechtlichen Folgen der Freigabe, sondern in ihrer Zulässigkeit liegt. Kann, so muß die Frage lauten, der Verwalter im Konkurs einer Handelsgesellschaft ordnungsrechtlich lästige Gegenstände aus der Masse freigeben? Der Angelpunkt des Ausgangsfalls liegt damit im Insolvenzrecht.
III. Die konkursrechtsdogmatischen Grundlagen der herrschenden Auffassung 1.
Konkurszweckbestimmung
Die herrschende Auffassung ist nicht durch Zufall entstanden, sondern sie ist Ausdruck einer traditionellen Konkursrechtsdoktrin. Ausgangspunkt dieser Doktrin und Brennpunkt der Diskussion ist zunächst die Bestimmung des Verfahrenszwecks. Konkurszweck ist nach herrschender Auffassung eine Verwertung der Konkursmasse und eine gleichmäßige Verteilung des Erlöses an die Gläubiger54. Der Konkurs ist nach dieser traditionellen Deutung ein Verfahren der Gesamtvollstrekkung, dessen Besonderheiten sich einzig und allein daraus erklären, daß zugunsten aller ungesicherten Gläubiger (nicht zugunsten eines einzelnen Titelgläubigers) auf das gesamte der Vollstreckung unterliegende Vermögen des Schuldners (nicht bloß nach Maßgabe des Spezialitätsprinzips auf einen gepfändeten Gegenstand) zugegriffen wird. Der Verwaltungs- und Abwicklungscharakter des Konkursverfahrens ist nach dieser herrschenden Meinung nicht Prinzip, sondern nur notwendige Konsequenz daraus, daß das glatte Zugriffs- und Verwertungsmodell der Einzelzwangsvollstreckung auf eine naturgemäß kompliziertere Gesamtvollstreckung nicht übertragbar ist. 2. Funktionsbestimmung des Konkursverwalteramts a) Mit dieser Konkurszweckbestimmung korrespondiert die Diskussion um das Amt des Konkursverwalters. Nach jahrzehntelangen Fehden bemüht sich zwar die Konkursrechtsdoktrin unserer Tage, die Belanglosigkeit der Konkursverwaltertheorien darzulegen35. Uberall da jedoch, wo eindeutige positivrechtliche Entscheidungen fehlen, spielen Rück33
Kölsch,
KTS 1983, 467.
Vgl. nur Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, 11. Aufl. 1983, Rdn. 9 5 0 ; Jauernig, Zwangsvollstreckungs- und Konkursrecht, 17. Aufl. 1985, S. 159. 34
" Vgl. pointiert Baumann, Konkurs und Vergleich, 2. Aufl. 1981, S. 71 f; Grunsky, Grundzüge des Zwangsvollstreckungs- und Konkursrechts, 3. Aufl. 1983, S.57i; Jauernig, S. 185.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
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griffe auf die Theorie des Konkursverwalteramts eben doch immer wieder eine Rolle 36 . Üblicherweise werden folgende Hauptauffassungen unterschieden: aa) Nach der herrschenden Auffassung ist der Konkursverwalter nicht gesetzlicher Vertreter des Gemeinschuldners, sondern Amtstreuhänder. Er übt im eigenen Namen ein ihm vom Gesetz übertragenes privates Amt aus". bb) N u r vereinzelt vertreten wird die sog. Vertretertheorie, nach der der Konkursverwalter gesetzlicher Vertreter des Gemeinschuldners in bezug auf die Masse ist38. cc) O h n e derartige Festlegungen verfährt die Theorie vom neutralen Handeln 3 '. Sie läßt die Konstruktion des Vertreterhandelns im Ergebnis offen und beschränkt sich auf die Vermögensbezogenheit dieses Handelns. dd) U m grundsätzliche Klärung bemüht sich dagegen die sog. Organtheorie. Sie sieht die Konkursmasse selbst als Rechtsträger und den Konkursverwalter als deren Organ an40. ee) Der Verfasser selbst hat diesen Theorien eine „neue Organtheorie" gegenübergestellt, die den berechtigten Belangen der Organtheorie entgegenkommen will, ohne auf die Zuordnung der Rechte und Pflichten beim Gemeinschuldner zu verzichten 41 . Träger der Masse und der dazu gehörenden Rechte und Pflichten ist der Gemeinschuldner. Ist er eine natürliche Person, so ist der Konkursverwalter sein gesetzlicher Vertreter. Ist der Gemeinschuldner eine juristische Person oder ein als Gesamthand ver-
36 Vgl. Karsten Schmidt, KTS 1984, 346 ff; exemplarisch BGHZ 88, 331; dazu krit. Kuhn/Uhlenbruck, § 6 Rdn. 17; Karsten Schmidt, N J W 1984, 1341; Teske, KTS 1984, 277 ff; Olzen, J R 1984, 286; s. aber Jauernig, S. 185. 37 RGZ 29, 29 (36); 35, 28 (31); 52, 330 (333); BGHZ 24, 393 (396); 32, 114 (118); 49, 11 (16); 88, 331 (334); Grunsky, Grundzüge, S . 3 7 f ; Baur/Stürner, Rdn. 1019; ganz h . M . ; zuletzt wieder Kuhn/Uhlenbruck, § 6 Rdn. 17 mit umfassenden Nachweisen. 38 Jaeger/Lent, KO, 8. Aufl., Bd. I 1958, Vorbem. XIV 2 zu § § 6 - 9 ; EnneccerusNipperdey, AT BGB, 15. Aufl. Bd. II 1960, S. 1106; Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, S. 781; Larenz, AT BGB, 6. Aufl. 1983, S. 573 f; Pawlowski, AT BGB, 2. Aufl. 1983, Rdn. 688; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl. 1966, § 5 0 Anm. G III; Thomas/Putzo, ZPO, 14. Aufl. 1986, §51 Anm. III 1 d aa; Bley, ZZP 62 (1941), 113f; Lent, ZZP 62 (1941), 129 ff. 39 Dölle, in: Festschrift Schulz, Bd. II 1951, S.273; Mohrbutter, Hdb. des gesamten Vollstreckungs- und Insolvenzrechts, 2. Aufl. 1974, S. 732. 40 Hellwig, Anspruch und Klagrecht, 1900, S. 228 ff; ders., Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts Bd. I, 1903, S. 295 ff; Bötticher, ZZP 71 (1958), 318 f; ders., ZZP 77 (1964), 55 ff; Hanisch, Rechtszuständigkeit der Konkursmasse, 1973, S. 23 ff, 275 ff; Erdmann, KTS 1967, 87 ff; Stürner, ZZP 94 (1981), 286 ff. « Karsten Schmidt, KTS 1984, 345-400.
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selbständigter Verband, so agiert der Konkursverwalter als Liquidator, mithin als Vertretungsorgan dieses Verbandes. Die beiden Konstellationen und Konstruktionen gemeinsame Kategorie ist die der gesetzlichen Vertretung. b) So wenig Anlaß besteht, in Standardfällen auf den alten Streit um die Rechtsstellung des Konkursverwalters einzugehen, so bemerkenswert ist die aus diesen Theorien sprechende Zweck- und Strukturbestimmung. Die herrschende Amtstheorie stellt den Konkursverwalter als Treuhänder neben den Gemeinschuldner, und sie läßt ihn Vermögenskompetenzen des Gemeinschuldners wahrnehmen, dies aber nur, soweit die Masse betroffen ist, und der Umfang der Masse bestimmt sich nach dem Gesamtvollstreckungsauftrag des Verwalters. Diese Konzeption kann nicht ohne Auswirkungen auf die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit sein. Die herrschende Amtstheorie weist dem Konkursverwalter neben dem Gemeinschuldner einen eigenen Verantwortlichkeitsbereich zu und zieht eine strenge Trennungslinie zwischen diesem Bereich und dem Gemeinschuldnerbereich. Was die Zurechnung von Handlungen angeht, so lautet das trennende Schlagwort: „das Amt"; in vermögensrechtlicher Hinsicht lautet es: „die Masse". Amt und Masse grenzen nach dem Rechtsbild der herrschenden Ansicht auch die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit ab: Als Verhaltensstörer haftet der Konkursverwalter dann - aber auch nur dann — wenn er die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Rahmen seiner Tätigkeit verursacht hat. Als Zustandsstörer haftet er immer bei Zugrundelegung der herrschenden Ansicht — aufgrund der Innehabung tatsächlicher Gewalt. Nur die Masse unterliegt aber seiner Gewalt. Durch die Freigabe aus der Konkursmasse entläßt er die gefährdenden Gegenstände aus seinem Verantwortungsbereich und befreit sich damit aus der Zustandshaftung. 3. Die herrschende
Ansicht zur Zulässigkeit der
Freigabe
a) Es steht für die herrschende Auffassung außer Zweifel, daß der Konkursverwalter Gegenstände aus der Masse freigeben kann42. Das gilt auch für den Konkurs einer Handelsgesellschaft43. Die in §162 Abs. 1 K O erwähnte Beschlußfassung der Gläubiger im Schlußtermin über 42 RGZ 60, 107 (109); 79, 27 (29); 94, 55 (56); 105, 313 (314 f); BGHZ 35, 180 (181); 46, 249 (250); OLG Nürnberg, MDR 1957, 683; Baur/Stürner, Rdn. 1054; Jauernig, S. 182; Mohrbutter/Mohrbutter, Rdn.687ff; Jaeger/Henckel, § 6 Rdn. 17; Kuhn/Uhlenbruck, §6 Rdn. 35; Kalter, KTS 1975, 12. 45 RGZ 127, 197 (200); BGHZ 35, 180 (181); Jaeger/Henckel, § 6 Rdn. 18; Kalter, KTS 1975, 12; krit. Friedrich Weber, J Z 1963, 223; Karsten Schmidt / Wolf Schulz, ZIP 1982, 1021 f; Karsten Schmidt, ZIP 1985, 722.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
711
unverwertbare Vermögensstücke bedeutet nach der herrschenden Auffassung nicht, daß solche Vermögensstücke bis zu diesem Zeitpunkt in der Masse gehalten werden müssen. Der Konkursverwalter kann zwar, um sich gegen potentielle Schadensersatzansprüche zu sichern, zur Entscheidung über die Freigabe vor dem Schlußtermin die Einberufung einer Gläubigerversammlung verlangen44, aber das ändert nichts an seiner Zuständigkeit für die Freigabe von massezugehörigen Gegenständen. Wie eindeutig die konkursrechtliche Lage in den Augen der herrschenden Ansicht ist, wird in den Entscheidungsgründen des Bundesverwaltungsgerichts überdeutlich: „Eine Freigabe von Gegenständen durch den Konkursverwalter ist nur dann unwirksam, wenn sie offensichtlich dem Konkurszweck, eine gleichmäßige Befriedigung aller Konkursgläubiger herbeizuführen, zuwiderläuft und wenn dies unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten f ü r einen verständigen Menschen offensichtlich ist (vgl. R G Z 76, 244; B G H Z 35, 180; B G H L M N r . 3 zu § 6 K O ; B G H L M Nr. 2 zu § 1 2 2 3 B G B ; B G H , Urteil v o m 1 3 . 1 . 1 9 8 3 - III ZR 88/81 - , N J W 1983, 2018). Dieser Fall liegt hier nicht vor. Die Freigabe der Lagerbehälter samt Inhalt war f ü r alle Konkursgläubiger von Vorteil, da die Behälter keinen wirtschaftlichen W e r t darstellen und aus Gründen des Gewässerschutzes unter erheblichem A u f w a n d beseitigt werden mußten. Daß der Beklagte selbst nicht Konkursgläubiger war, folgt aus den mit der Revision nicht angreifbaren Erwägungen des Berufungsgerichts zur mangelnden Konkretisierung der Beseitigungsanordnung durch den Erstbescheid. Daher ist die Freigabe aus der Sicht des Konkursrechts nicht zu beanstanden."
b) Die herrschende Auffassung hat es im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut mit der Begründung leicht. Das Gesetz setzt die Zulässigkeit einer Freigabe voraus, denn die Freigabe führt nach §114 KO zur Löschung eines etwa im Grundbuch eingetragenen Veräußerungsverbots. Eine Diskussion findet nur statt, soweit es um die Folgen der Freigabe geht. Die Freigabe wird von der herrschenden Amtstheorie nur als eine Entlassung aus der Verwaltungskompetenz des Konkursverwalters aufgefaßt45, während die Organtheorie von einem rechtsändernden Vorgang ausgehen muß: Der freigegebene Gegenstand fällt nach ihr aus dem rechtlich verselbständigten Sondervermögen „Konkursmasse" heraus und in das Vermögen des Gemeinschuldners wieder hinein; es liegt eine verfügungsgleiche Überführung des Gegenstands aus einem Vermögen in ein anderes vor46. Die zivilprozessualen Folgen einer solchen Freigabe sind besonders umstritten für den Fall, daß die freigegebene Sache streitbefangen ist. Eine traditionelle, vor allem vom Reichsgericht 44 Vgl. LG Wiesbaden, M D R 1970, 598; Mohrbutter/Mohrbutter, R d n . 6 8 8 ; Kuhn/ Uhlenbruck, § 6 R d n . 3 5 . 45 BGH, L M Nr. 13 zu § 6 K O = M D R 1979, 44; LM Nr. 1 zu § 11 K O = N J W 1973, 2065; BVerwG, BayVBl. 1984, 759 = BB 1984, 1071 = N J W 1984, 2 4 2 7 = ZIP 1984, 722; BayVGH, K T S 1983, 462, 464. 46 Hanisch, S . 2 1 3 .
712
Karsten Schmidt
und vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung geht von einem gesetzlichen Parteiwechsel aus, womit der Verwalter auch der Last des schwebenden Prozesses enthoben wäre47. Einleuchtender - für die Organtheorie übrigens geradezu zwingend 48 - ist die in der Literatur mehr und mehr geforderte (analoge) Anwendung des § 2 6 5 ZPO 4 9 . An der grundsätzlichen Anerkennung der Freigabemöglichkeit durch Praxis und Lehre ändert dies nichts. 4. Die Grundlagen
des
Freigaberechts
Das Konzept der Freigabe ruht auf einer doppelten Voraussetzung. a) Die erste Voraussetzung heißt: Neben der Konkursmasse gibt es ein konkursfreies - und damit auch konkursverwaltungsfreies! - Vermögen des Gemeinschuldners. Auch dieser Grundsatz ist im Gesetz angelegt: Umfaßt das Konkursverfahren als Konkursmasse das gesamte einer Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen des Gemeinschuldners, welches ihm zur Zeit der Konkurseröffnung gehört (§ 1 K O ) , so gibt es neben dieser Masse auch massefreie Gegenstände, nämlich das pfändungsfreie Vermögen 50 und den nachträglichen Hinzuerwerb des Gemeinschuldners 51 . Ist dies aber richtig, so kann mit dem übereinstimmenden Willen der Betroffenen ein Gegenstand auch von der einen Vermögensmasse in die andere getan werden, etwa indem der Gemeinschuldner nachträglichen Hinzuerwerb in die Masse überführt 52 oder indem der Verwalter Gegenstände wieder in die Hand des Gemeinschuldners legt53. Diese erste Voraussetzung erklärt, daß jedenfalls durch beiderseitige Billigung eine Verlagerung von Vermögensgegenständen möglich sein kann. 47 Vgl. mit Unterschieden im einzelnen RGZ 79, 27 (29f); BGHZ 46, 249 (252); BGH, WM 1967, 508; OLG Stuttgart, N J W 1973, 1756; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl. 1986, S.791; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 45. Aufl. 1987, § 2 4 0 A n m . 3 ; Thomas/Putzo, §265 A n m . 3 d . 48 Repräsentativ Hanisch, S.213; Bötticher, J Z 1963, 585f. 49 Vgl., auch hier mit Unterschieden im einzelnen, de Boor, Zur Lehre vom Parteiwechsel und vom Parteibegriff, 1941, S. 65 f; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1961, S. 164 f; Grunsky, Die Veräußerung der streitbefangenen Sache, 1968, S. 9 6 f ; Jaeger/Henckel, § 6 Rdn. 116ff; Kuhn/Uhlenbruch § 6 Rdn.27a. 50 Vgl. nur Jaeger/Henckel, § 1 Rdn. 62 ff. 51 Vgl. nur Jaeger/Henckel, §1 Rdn. 117ff; Kuhn/Uhlenbruch:, §1 Rdn. 94 ff. 52 Vgl. RGZ 26, 66 (67); OLG Nürnberg, KTS 1959, 127; Jaeger/Henckel, §1 Rdn. 118; Böhle-Stamschräder/Kilger, §1 A n m . 8 B ; Fritz Baur, DB 1951, 1557; a.M. Lang, Aufrechnungsrecht, 1906, S. 256 Fn. 12; nicht in die Konkursmasse fällt, was der Verwalter nach Weisung des Gemeinschuldners verwenden soll; Kuhn!Uhlenbruch, §1 R d n . 9 3 b ; Fritz Baur, D B 1971, 1557; daß durch Zweckwidmung eine Zuständigkeit außerhalb der Masse begründet werden kann, ist unbestreitbar. 55 Vgl. oben, Fn.46.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
713
b) N u n ist die Freigabe aus der Insolvenzmasse kein Vorgang, der der Billigung des Gemeinschuldners bedarf54. Das Vorhandensein zweier Vermögensmassen rechtfertigt also noch nicht die Freigabemöglichkeit. Entscheidend ist vielmehr der Gedanke des „abandonment of burdensome property" 55 . 554 Abs. 1 des Bankruptcy Code der USA von 198056 drückt diesen Grundsatz mit folgenden Worten aus: "After notice and a hearing, the trustee may abandon any property of the estate that is burdensome to the estate or that is of inconsequential value to the estate." Dieses Konzept der Freigabe auch ohne den Willen des Gemeinschuldners rückt das Interesse der Masse, nicht mit lästigen Vermögensgegenständen belastet zu sein, einseitig in den Vordergrund 57 . 5. Zwischenbilanz Die soeben getroffene Feststellung führt zur Konkurszweckbestimmung zurück und verdeutlicht, wie eng die insolvenzrechtlichen Prämissen unserer Ausgangsentscheidungen zusammenwirken: - die ausschließlich am Befriedigungsinteresse der Gläubiger orientierte Bestimmung des Konkurszwecks, - die Trennung der diesem Konkurszweck gewidmeten Konkursmasse vom massefreien Vermögen, - die hiermit verbundene getrennte Zuständigkeit des Konkursverwalters und des daneben im konkursfreien Bereich weiterhin zuständigen Gemeinschuldners, - die Befugnis des Konkursverwalters, lästige Gegenstände in den Gemeinschuldnerbereich hinüberzuschieben. Mit diesen Prämissen steht und fällt die hier diskutierte Rechtsprechung. IV. Insolvenzrechtliche Kritik der herrschenden Auffassung 1. Neubesinnung im Insolvenzrecht der Handelsgesellschaften Sämtliche Grundlagen der herrschenden Auffassung über die Freigabe gefährlicher Güter aus der Konkursmasse sind, wie in anderem Zusammenhang eingehend dargelegt wurde, jedenfalls für den Konkurs von Handelsgesellschaften abzulehnen. Hinter ihnen verbirgt sich nämlich 54
Vgl. Jaeger/Henckel, § 6 Rdn. 24. Vgl. schon für das alte US-amerikanische Recht Hanisch, S.211. 56 Title 11 U . S . Code (Bankruptcy) as amended through the 96th Congress, Second Session (1980). 57 Vgl. Hanisch, S.213. 55
714
Karsten Schmidt
eine Vorstellung vom Konkurs der Handelsgesellschaften, die rechtspolitisch verfehlt und auch insolvenzrechtsdogmatisch überholt ist. Das rechtspolitische Schlagwort lautet: vom Konkursrecht der Gesellschaften zum Insolvenzrecht der Unternehmen 58 . Die insolvenzrechtsdogmatische Überlegung läßt sich auf die Formel bringen: Der Konkurs einer Handelsgesellschaft ist nicht als bloße Gesamtvollstreckung zu begreifen, sondern als ein staatlich geordnetes Liquidationsverfahren mit einem obligatorischen Fremdverwalter als Liquidator59. Die einschlägigen Bestimmungen (§§131 Nr. 3 H G B , 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG, 60 Nr. 4 GmbHG) bezeichnen die Konkurseröffnung als einen Auflösungsfall60, betonen allerdings, daß diese Auflösung keine Abwicklung nach gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen auslöst (vgl. §§ 145 Abs. 1 H G B , 264 Abs. 1 AktG) und daß deshalb nicht die organschaftlichen Vertreter als Liquidatoren berufen sind (§ 66 Abs. 1 GmbHG). Was stattfindet, ist ein insolvenzrechtliches Liquidationsverfahren, und in diesem fungiert der Konkursverwalter nicht, wie es die herrschende Amtstheorie61 will, im eigenen Namen als amtstreuhänderischer Verwalter der Konkursmasse, sondern als obligatorischer Fremdliquidator der in Konkurs gefallenen Gesellschaft62. Dieses Konzept hat weitreichende Konsequenzen, denn es leitet von einem rein exekutorischen Verständnis des Konkursbeschlags und der konkursmäßigen Verwertung über zu einer neuen Qualität des Gesellschaftskonkurses: Es geht um die staatlich geordnete Abwicklung des Unternehmensvermögens bei Insolvenz des Unternehmensträgers. Eine solche Abwicklung begreift aber das gesamte Gesellschaftsvermögen in sich, nicht nur die für die Gläubiger interessanten Aktiven.
58 Vgl. Karsten Schmidt, Z I P 1980, 2 3 0 ff; sodann eingehend den., Möglichkeiten der Sanierung von U n t e r n e h m e n . . . , Gutachten D zum 54. D J T , 1982, S. D 35 ff. 59 Vgl. eingehend Kanten Schmidt, KTS 1984, 3 4 5 ff; rechtspolitisch ders., Gutachten, S. D 4 8 f ; ders., Z I P 1985, 7 2 3 ; ders., Z G R 1986, 1 8 7 f . 60 Anders § 42 Abs. 1 B G B für den rechtsfähigen Verein, aber bei der dort formulierten Rechtsfolgenanordnung (Verlust der Rechtsfähigkeit) handelt es sich um ein nachweisbares Redaktionsversehen (vgl. Karsten Schmidt, KTS 1984, 3 6 8 f); die h . M . sieht sich zu sonderbaren Verrenkungen genötigt wie z. B. bei BGH, W M 1986, 160 = Z I P 1986, 2 4 0 = JuS 1986, 562 m. Anm. Karsten Schmidt: Der Verein verliere nach § 4 2 B G B die Rechtsfähigkeit, aber da dies zu denselben Rechtsfolgen führe wie die Auflösung, gelte der Verein entsprechend § 49 B G B noch als rechtsfähig. Rechtspolitisch ist der Auflösungscharakter der Konkurseröffnung fragwürdig (vgl. nun auch Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, Leitsatz 1.2.10 Abs. 6), aber dies beruht auf der Vereinheitlichung des Reorganisations- und Liquidationsrechts. " Oben, Fn. 37. " Vgl. oben, Fn. 59.
Zustandshaftung im Konkurs einer Handelsgesellschaft
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2. Der Konkursverwalter der Handelsgesellschaft: nur Amtstreuhänder der Gemeinschuldnerin und Wahrer der Gläubigerinteressen? Neu zu durchdenken ist damit auch die Funktion des Konkursverwalters in der Insolvenz einer Handelsgesellschaft. Der Aufgabenkreis des Konkursverwalteramts kann nur nach Maßgabe des Konkursverfahrenszwecks abgegrenzt werden. In rechtskonstruktiver Hinsicht kommt die hier geforderte Neubesinnung darin zum Ausdruck, daß der Verwalter nicht mehr als ein in einem eigenen Bereich neben der Gemeinschuldnerin tätiger Amtstreuhänder, sondern als obligatorischer Drittliquidator der Gesellschaft eingeordnet wird63. Dieses Konzept hat unmittelbare Auswirkungen auch auf die ordnungsrechtliche Würdigung. Sieht man den Konkursverwalter der Handelsgesellschaft als deren Organ an, so muß man deutlich zwischen seiner eigenen Verantwortlichkeit und der Erfüllung von ordnungsrechtlichen Pflichten durch die von ihm vertretene Handelsgesellschaft unterscheiden. Als Organ der Gesellschaft nimmt der Konkursverwalter nur deren ordnungsrechtliche Pflichten wahr. Als Organ der Gesellschaft ist er Zustellungsempfänger bei ordnungsrechtlichen Verfügungen, die gegenüber der Gesellschaft ergehen. Als Organ der Gesellschaft ist er schließlich ohne Befreiungsmöglichkeit zuständig, solange nicht die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit der Gesellschaft beendet ist. Gerade vor dem Hintergrund unserer Ausgangsentscheidungen wird man ersehen, daß das hier dargestellte insolvenzrechtsdogmatische Konzept nicht nur der Freude am Systematisieren dient, sondern gravierende Rechtsfolgen hat. 3. Konkursfreies Vermögen von Handelsgesellschaften? a) Der herrschenden Auffassung, die den Massebegriff des § 1 K O ungeprüft auf Handelsgesellschaften anwendet und auch hier die Freigabe aus der Konkursmasse gestattet, ist hiernach zu widersprechen 64 . Der Massebegriff des § 1 K O ist durch zweierlei gekennzeichnet: zum einen durch ein rein exekutorisches Konkursmodell und zum anderen durch die Orientierung am Modellfall der natürlichen Person. So erklärt sich die Beschränkung auf das der Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen, und so erklärt sich auch die blitzlichtartige Festlegung des Konkursbeschlags auf das dem Gemeinschuldner im Zeitpunkt der 63
Vgl. oben, Fn. 59. Vgl. zum folgenden ausführlich Karsten Schmidt /Wolf Schulz, ZIP 1982, 1015 ff; Karsten Schmidt, ZIP 1985, 722 f m . w . N . ; N J W 1987, 812ff; sympathisierend jüngst Kuhn/Uhlenbruck, § 1 R d n . 4 a ; abl. Hachenburg/Ulmer, G m b H G , 7. Aufl. 1984, §63 Rdn. 72 a, wo dem Verf. eine Gleichsetzung der Gesellschaft mit dem von ihr betriebenen Unternehmen unterstellt wird; Verf. hat aber immer klar zwischen dem Unternehmen und dem Unternehmensträger unterschieden; vgl. z.B. Karsten Schmidt, Handelsrecht, 2. Aufl. 1982, S. 64 ff; ders., JuS 1985, 256. 64
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Konkurseröffnung zustehende Vermögen. Das Gesetz stellt sich den Gemeinschulder als ein Rechtssubjekt vor, das eine vermögenserhebliche Privatexistenz auch außerhalb des Vollstreckungsverfahrens hat. Es weist ein pfändungsfreies Minimum und auch den späteren Hinzuerwerb dieser Privatexistenz zu und beschränkt demgemäß den Gesamtvollstreckungszugriff der Gläubiger auf die in § 1 KO bezeichneten Vermögensgegenstände. Auf das Verfahren der konkursmäßigen Liquidation einer Handelsgesellschaft paßt dieser Massebegriff nicht. Hier gibt es, wie gegenüber der herrschenden Meinung an anderer Stelle ausführlich begründet wurde, kein massefreies Vermögen, sondern Konkursmasse, Liquidationsmasse und Unternehmen sind kongruent. b) Mit dem hier präsentierten Insolvenzmodell verschafft sich ein rechtsdogmatisch angelegtes, dabei aber rechtspolitisch folgenreiches Konzept Geltung, das zur Neubesinnung im Insolvenzrecht mahnt. Ein an das hier zugrundegelegte Konzept anknüpfender Hamburger Doktorand, Wolf Schulz, der die Ausgangsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ablehnend besprochen hat65, arbeitet in seiner 1986 erschienenen Dissertation mit gewichtigen rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Argumenten auf eine Versöhnung von Konkursrecht und Liquidationsrecht bei der Abwicklung insolventer Handelsgesellschaften hin66: Wird ein Konkursverfahren durchgeführt, so ist neben dem Zweck der Aktivenverwertung der Vollbeendigungszweck in das Insolvenzverfahren einzubeziehen; es geht nicht an, das Konkursverfahren bei Handelsgesellschaften auf die Aktivenverwertung zugunsten der Gläubiger zu beschränken und daneben die Öffentlichkeit und den Rechtsverkehr mit einer gesellschaftsrechtlichen Abwicklung unverwertbarer Vermögensteile zu belasten 67 . Ebensowenig darf sich von der anderen Seite her das gesellschaftsrechtliche Liquidationsrecht bei insolventen Gesellschaften auf Kosten Dritter verselbständigen, wenn ein Konkursverfahren wegen Fehlens einer die Verfahrenskosten deckenden liquiden Masse nicht eröffnet wird 68 . Unabhängig von einzelnen noch diskussionsbedürftigen Folgerungen69 können diese von Wolf Schulz herausgearbeiteten Grundgedanken als konsequente Fortsetzung des vom Verfasser entwickelten Konzepts angesehen werden. Wörtlich heißt es in seiner Kritik des vom Bundesverwaltungsgericht in unserer Ausgangsentscheidung eingenommenen 65
Wolf Schulz, N J W 1984, 2428. Wolf Schulz, Die masselose Liquidation der GmbH, 1986. 67 Wolf Schulz, S. 20 ff. 68 Wolf Schulz, S. 27 ff, 160 ff. 69 Das gilt vor allem für die Folgerungen hinsichtlich des Fortbestand von Vorstandsund Geschäftsführungsämtern; vgl. dazu die Thesen von Wolf Schulz, KTS 1986, 399 ff. 66
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Standpunkts70: „Vorgeschlagen wird hier die Integration des Vollbeendigungszwecks in das Konkursverfahren als gleichberechtigtes, wenn nicht sogar vorrangiges Verfahrensziel neben dem der Gläubigerbefriedigung aus verwertbarem Vermögen. Der Preis ist naturgemäß eine Belastung der Gesellschaftsgläubiger mit den Beendigungskosten. Ihre Befriedigungsquoten werden durch die insolvenzmäßige Abwicklung geschmälert. Die Konkursbeteiligung der Gesellschaftsgläubiger, die i. d. R. vor der Insolvenz gewinnbringende Geschäfte mit der Gesellschaft abgeschlossen haben, ist aber bei Abwägung der berechtigten Interessen eher gerechtfertigt als eine Kostentragung der Allgemeinheit, und sie ist auch insolvenzrechtlich nur konsequent. Das in der konkursmäßigen Zwangsliquidation zu verwaltende Vermögen besteht nun einmal nicht nur aus Aktiven." Dem ist zu folgen. Die Lösung des Bundesverwaltungsgerichts ist im theoretischen Ansatz verfehlt und in den praktischen Rechtsfolgen verhängnisvoll. V. Fazit 1. Zur Kooperation der Rechtsdisziplinen Es hat sich gezeigt, daß die rechtspolitisch bedenklichen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts mit der ungeprüften Übernahme insolvenzrechtlicher Prämissen erklärbar sind, die von den Gerichten nur noch ordnungsrechtlich fortgedacht wurden. Zieht man, wie dies hier geschehen ist, diese Prämissen in Zweifel, so ist dem ganzen Argumentengebäude die Basis genommen. Zwar kann von den Verwaltungsgerichten realistischerweise keine fundierte Privatrechtskritik erwartet werden, und solche Kritik von dritter Seite käme wohl auch der Privatrechtsdoktrin eher ungelegen. Die Wissenschaft aber sollte bei der Folgenabwägung privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Lehren über die eigene Disziplin hinausblicken. Daran fehlt es bisher im Verhältnis zwischen dem Recht der Gefahrenabwehr und dem Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Der Umgang der Verwaltungsgerichte mit unserem Ausgangsfall zeigt, wohin eine solche Monomanie der Rechtsdisziplinen und eine unkritische Übernahme vermeintlicher Schulweisheiten von einer Disziplin in die andere führt. 2. Zur Lösung des Ausgangsfalls Folgt man der hier vertretenen Meinung, so läßt sich zusammenfassen: a) Das Konkursverfahren über das Vermögen einer Handelsgesellschaft 70
Wolf Schulz, NJW 1984, 2429.
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Karsten Schmidt
ist ein obligatorisches Liquidationsverfahren und vom Konkurs einer Privatperson zu unterscheiden. Der Konkursverwalter ist nicht Amtstreuhänder, sondern obligatorischer Drittliquidator. Ein massefreies Vermögen der Handelsgesellschaft gibt es nicht. b) Der Konkursverwalter setzt Zuständigkeiten der Geschäftsführungsorgane fort. Ordnungsrechtliche Verfügungen können an die Gesellschaft, vertreten durch den Konkursverwalter, ergehen. Es geht dann nicht um eine Ordnungspflicht des Konkursverwalters, sondern um eine ordnungsrechtliche Haftung der Gesellschaft. D a ein konkursfreies Vermögen bei Handelsgesellschaften nicht anerkannt werden kann, kann der Konkursverwalter die ordnungsrechtliche Zuständigkeit der von ihm vertretenen Gesellschaft nicht durch Freigabe gefahrbringender Güter aus der Masse beenden.
Über verbotswidrige Rechtsgeschäfte (§134 BGB) Eine Bestandsaufnahme HANS HERMANN SEILER
I.
Wolf gang Martens hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk mehrfach den Verbindungen zwischen öffentlichem und privatem Recht gewidmet. Erinnert sei etwa an seine Beiträge über den negatorischen Rechtsschutz im öffentlichen Recht 1 , in denen er, ausgehend insbesondere von den Grundsätzen des § 1004 B G B , sorgsam untersucht hat, ob und unter welchen Voraussetzungen negatorischer Rechtsschutz wie im Zivilrecht, so auch gegenüber den Folgen hoheitlicher Realakte erforderlich ist. Der weite Blick auf die beiden großen Rechtsgebiete ist gewiß vorbildlich, und solches Vorbild mag zu dem Versuch anregen, eine andere Kontaktstelle zwischen öffentlichem und privatem Recht zu betrachten, von der man sagen muß, daß sie sich in keinem befriedigenden Zustand befindet. Gemeint ist die Frage nach der Wirkung gesetzlicher Verbote auf Rechtsgeschäfte. Bekanntlich ist zu diesem alten, aber immer noch schwierigen Problem einer Kollision zwischen staatlicher Regelungsmacht und privater Gestaltungsfreiheit eine einheitliche Antwort nicht möglich. Ein erster Lösungsansatz führt zu der speziellen Verbotsnorm selbst. Es gibt Fälle, in denen die gesetzliche Vorschrift das rechtliche Schicksal gegen sie verstoßender Verträge ausdrücklich regelt. Das prominenteste Beispiel steht in Artikel9 III des Grundgesetzes: Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
1 Öffentlichrechtliche Probleme des negatorischen Rechtsschutzes gegen Immissionen, Hamburger FS für Friedr. Schuck, herausgegeb. v. H. P. Ipsen (1966) S. 85; Negatorischer Rechtsschutz im öffentlichen Recht, dargestellt anhand der gerichtlichen Praxis zum Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch gegen hoheitliche Rechtsakte (1973).
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Hans Hermann Seiler
Ebenso klare ausdrückliche Unwirksamkeitsanordnungen enthält z. B. das Kartellrecht bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen oder bei nicht gestatteten Preisgestaltungs- oder Lizenzverträgen (§§1, 15, 19 G W B i . d . F . vom 24.9.1980), ferner das Sozialrecht für privatrechtliche Vereinbarungen, die zum Nachteil des Sozialleistungsberechtigten von den Regelungen des S G B abweichen (§32 S G B - A l l g . T e i l - ) , während etwa das Außenwirtschaftsrecht die schwebende Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften, denen die nach dem Außenwirtschaftsgesetz erforderliche Genehmigung fehlt, vorsieht (§31 A W G i . d . F . vom 1.6.1981). Aber leider sind derartig klare Aussagen über die bürgerlich-rechtlichen Folgen von Verstößen gegen gesetzliche Verbote die Ausnahme. In weitaus den meisten Fällen gesetzlicher Verbotsanordnungen fehlen Äußerungen über die Rechtsfolgen einer Kollision mit abweichenden Rechtsgeschäften. Für diese Fälle nun führt ein zweiter Lösungsansatz zur Vorschrift des § 134 B G B , wonach ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig ist, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. Auf den ersten Blick scheint hier ein alter Grundsatz Gesetz geworden zu sein: Rechtsgeschäften, die Verbotsgesetze mißachten, soll die Geltung versagt sein. Dieses ebenso einfache wie einleuchtende Prinzip wird allerdings durch den abschließenden Nebensatz der Vorschrift wieder relativiert. Das Verhältnis von privatautonomer Gestaltungskompetenz und staatlicher Rechtssetzung ist also nicht in jedem Fall so eindeutig im Sinne des Vorrangs des strikten staatlichen Rechts zu bestimmen, wie es nach dem einleitenden Hauptsatz des §134 den Anschein hat. Wenn es sich, wie hier, um ein altes Problem handelt, sollten die Einsichten, die die Rechtsgeschichte vermitteln kann, nicht ungeprüft bleiben. Die Entstehungsgeschichte des § 134 gibt möglicherweise Hinweise, die das Verständnis der problematischen Fassung der Vorschrift erleichtern können.
II. Die historische Betrachtung des Themas, die hier nur in aller Kürze vorgenommen werden kann, ist aufschlußreich, weil sie zeigt, daß die Fragestellung zwar alt ist, ihre Bedeutung aber im Verlauf der Entwicklung sich stark gewandelt hat. 1. A m Anfang steht, wie oft, so auch hier die antike römische Tradition. Dort wird unter dem Namen des klassischen Juristen Ulpian eine
Ü b e r verbotswidrige Rechtsgeschäfte (§ 134 B G B )
721
bekannte und viel erörterte Dreiteilung 2 überliefert, die sich wegen ihrer unübertroffenen Prägnanz bis in die modernrechtliche Lehrbuch- und Kommentarliteratur 3 erhalten hat. Danach sind die Verbotsnormen nach ihren Sanktionen zu unterscheiden: Verstöße gegen leges perfectae bewirken die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts; bei leges minus quam perfectae bleibt das Geschäft gültig, seine Vornahme wird aber mit Strafe bedroht; bei leges imperfectae schließlich ist weder Unwirksamkeit noch Strafe die Folge. - Entstehung und Bedeutung dieser Dreiteilung im einzelnen zu schildern ist hier nicht der Ort. Für unser Thema bemerkenswert ist einmal, daß überhaupt eine abgestufte Sanktion bei Verbotsgesetzen vorgesehen ist, daß die staatliche Verbotsgesetzgebung sich also keineswegs zwingend im Vertragsrecht durchsetzt. Zum anderen darf nicht übersehen werden, daß die Anzahl der Verbotsgesetze angesichts der deutlichen Zurückhaltung römischer Gesetzgebung der klassischen Zeit in Bereichen, die das Zivilrecht tangieren, relativ gering ist. Die Frage der Verbotswidrigkeit von Rechtsgeschäften spielt in der klassischen Uberlieferung weder nach Umfang noch nach gedanklichem Gewicht eine wesentliche Rolle. Selbst als es in der absoluten Monarchie zu stärkeren Eingriffen der Legislative in die bürgerliche Privatsphäre kommt, führt dies zwar zu einer Vermehrung von Veräußerungs-, Verpfändungs- und Erwerbsverboten. Gemessen an den Verhältnissen des 20. Jahrhunderts handelt es sich aber immer noch um einen relativ kleinen Normenbestand. Die Entwicklung führt, wie neuere Forschungen ergeben haben 4 , offenbar noch in der klassischen Periode zu einer Vorherrschaft der leges perfectae - die Dreiteilung verliert damit zwar nicht ihr theoretisches, wohl aber ihr praktisches Gewicht —, und sie endet mit der für die Folgezeit wichtigen „Lex non dubium" des Kaisers Theodosius aus dem Jahre 439 n. Chr., die Justinian in den Codex seines Corpus iuris civilis übernommen hat (Codex 1,14,5) 5 . Durch diese Konstitution werden alle bisherigen und zukünftigen Verbotsgesetze mit der Nichtigkeitssanktion versehen, gleichgültig ob sie nur Verbote aussprechen oder die Nichtigkeitssanktion ausdrücklich nennen. Der absolute Monarch setzt den bedingungslosen Vorrang seiner Gesetzgebung gegenüber privater Gestaltungsfreiheit durch. Für die abgestufte Verbotssanktion der ulpianischen Dreiteilung ist in der Kodifikation Justinians kein Platz. Es wird 2 U E (tituli ex corpore Ulpiani) 1,1 f; dazu Käser, Sav.-Zeitschr., roman. Abt. 70 ( 1 9 5 3 ) 141 f; ders., Römisches Privatrecht I 2 (1971) S. 2 4 9 ; ders., U b e r Verbotsgesetze und verbotswidrige Geschäfte im röm. Recht (1977) S. 9. 3 Z . B . Staudinger/Dilcher, B G B ' 2 § 1 3 4 Rdn. 1; Flume, A l l g . T e i l d . B ü r g . R e c h t s II 3 (1979) S. 340 f; Medicus, Allg. Teil des B G B 2 (1985) Rdn. 644 ff.
4 5
Käser, U b e r Dazu Käser,
Verbotsgesetze (Fn. 2) S. 66 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Römisches Privatrecht II 2 (1975) S. 93 f.
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daher kein Zufall sein, daß sie nur außerhalb des Corpus iuris civilis in der ulpianischen Epitome überliefert ist, einem nachklassischen Schulwerk, das auf den klassischen Institutionen des Rechtslehrers Gaius aufbaut. 2. Dies sind die wesentlichen Daten aus der antiken Tradition, die dann von der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen werden. Auch für sie ist die Frage der verbotswidrigen Rechtsgeschäfte kein gründlich behandeltes, wesentliches Thema gewesen. Fr. Endemann, von dem die einzige monographische Bearbeitung aus dieser Zeit stammt, beklagt mit Recht, daß die neuere Rechtslehre dem Gebiet nur geringe Beachtung zugewandt habe 6 . Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht dann aus naheliegenden Gründen die soeben erwähnte „Lex non dubium" (Codex Just. 1,14,5). Es leuchtet ein, daß die rigorose Sanktionsanordnung dieser Konstitution für den gemeinrechtlichen Juristen, wenn er eine elastischere Regelung für angemessener hielt, ein erhebliches Hindernis bedeutete. Daher bemüht Endemann sich mit großem exegetischen und analytischen Scharfsinn darum, den Inhalt der Lex zu modifizieren. Auf seine weiteren Ergebnisse, die unbeachtet geblieben sind, wird unten zurückzukommen sein. Kennzeichnend für die fehlende Attraktivität des Themas sind ferner die kargen Stellungnahmen des maßgeblichen großen Pandektenlehrbuchs von Windscheid zu unserer Frage. In älteren Auflagen 7 formuliert der Autor in Anlehnung an die „Lex non dubium" als Antwort die Ungültigkeit des Rechtsgeschäfts; an anderer Stelle8 wird eine allgemeine Äußerung unter Hinweis auf den Inhalt der einzelnen Spezialverbotsnormen überhaupt unterlassen. Nicht viel ergiebiger sind spätere Auflagen 9 . In kaum zu überbietender Kürze wird die regelmäßige Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts festgestellt, aber ausdrücklich hinzugefügt, daß eine gegenteilige Auslegung nicht ausgeschlossen sei. In vorsichtiger Unbestimmtheit ergänzt Windscheid in einer Fußnote 10 : Namentlich sei es eine sehr naheliegende Frage, ob nicht, wenn ein Gesetz auf die Vornahme eines Rechtsgeschäfts eine Strafe setze, im Sinne des Gesetzes diese Strafe als einzige Folge der Übertretung des Gesetzes angesehen werden müsse. Allgemein dürfe diese Frage (aber) nicht bejaht werden.
6 Fr. Endemann, Über die civilrechtliche Wirkung der Verbotsgesetze nach gemeinem Recht (1887) S . l . 7 Z . B . Lehrbuch des Pandektenrechts I 4 (1875) § 7 0 aE. 8 A a O §81. ' Z . B . Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts I 9 (1906) § 7 0 , § 8 1 aE. 10 A a O (Fn. 9) § 70 Fn. 1 a.
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3. Für die zweite große deutsche Zivilrechtsordnung im 19.Jahrhundert, das preußische allgemeine Landrecht von 1794, ist der Befund nicht ergiebiger. A L R I 4 § 6 bestimmt: Zu Handlungen, welche die Gesetze verbieten, kann durch Willenserklärungen niemand verpflichtet oder berechtigt werden.
In der Literatur dazu finden sich ähnliche Hinweise wie in der pandektenrechtlichen Uberlieferung. Die alte „Lex non dubium" wird zitiert, aber gleichzeitig vermerkt: sie „gilt für uns nicht" 11 . In nicht vom Wortlaut des § 6 gedecktem Verständnis wird behauptet, es komme auf den Inhalt des einzelnen Verbotsgesetzes an. Dieses könne auch andere Folgen als die Nichtigkeit vorsehen. Wann dies der Fall sei, bleibe letztlich Interpretationsfrage 12 . Nach alledem läßt sich nicht leugnen, daß die deutsche Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts trotz ihrer großen Produktivität und ihres in aller Welt anerkannten hohen Niveaus unserem Thema wenig Interesse abgewonnen hat. Es mag sein, daß der Kontakt mit den fachfremden Disziplinen des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts, der für die Themenbefassung unerläßlich war, eher abschreckend gewirkt hat. Das Defizit kann auch damit zu erklären sein, daß die Inflation an Verbotsgesetzen, die das Problem aktuell und dringend lösungsbedürftig machen mußte, erst in späterer Zeit begonnen hat; vorher hat es keinen ausgeprägten Handlungsbedarf gegeben. 4. Die Vorarbeiten zum BGB konnten sich demnach nicht auf eine intensive und befriedigende wissenschaftliche Behandlung des Themas stützen. In den Vorentwürfen zum BGB (Verfasser des Allgemeinen Teils: Albert Gebhard) wird, offensichtlich auf der Grundlage der durch die „Lex non dubium" beherrschten gemeinrechtlichen Lehre, bestimmt: § 107 (27) Eine Willenserklärung, durch welche eine Leistung versprochen wird, die unmöglich ist, oder mit den guten Sitten oder den Vorschriften des Gesetzes in Widerspruch steht, ist nichtig".
Die Erläuterungen dazu sind von bemerkenswerter Ausführlichkeit. Ihr Verfasser Gebhardsetzt sich eingehend mit der (aus seiner Sicht) Hauptgruppe der Verbotsgesetze, den Strafgesetzen, auseinander, und 11 Koch, Allgemeines Landrecht Bd.I 8 (1884) S. 137 Fn. 10; abweichend Dernburg, Lehrbuch d.preuß. Privatrechts Bd.I 4 (1884) S. 174 Fn. 1. 12 Koch, Dernburg (beide Fn. 11). 13 Fundstelle: Schubert, Die Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, Allg.Teil, Teil 1 (1881) S. 20. 14 Fundstelle: Schubert, aaO (Fn. 13), Teil 2 (1881) S. 144 ff.
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am Schluß dieses Abschnittes 15 findet sich die Bemerkung, denkbar bleibe, daß der Gesetzgeber in der Strafe nur ein Mittel wolle, um unerwünschte Rechtsgeschäfte seltener zu machen, ohne dieselben ihrer Wirksamkeit zu berauben. Ein Beispiel hierfür biete der Verkauf von Waren auf Kredit seitens des Fabrikinhabers an die Arbeiter (§134 Reichsgewerbeordnung). Ein solcher Kreditverkauf sei strafbar (§ 146 Reichsgewerbeordnung), aber vollständig gültig, wie aus der Bestimmung des §139 hervorgehe, daß die Kaufgeldforderung zugunsten gewisser Hilfskassen verwirkt sein solle. Damit ist die lex minus quam perfecta aus der alten Dreiteilung angesprochen, die nicht die Ungültigkeit des Rechtsgeschäfts bewirkt, sondern nur Bestrafung androht. Im folgenden bespricht Gebhard}'' einen anderen Gedanken, der wahrscheinlich aus der österreichischen Zivilrechtswissenschaft stammt 17 : Die regelmäßige Nichtigkeit verbotener Willenserklärungen sei bei Verträgen auszuschließen, wenn die Eingehung nur auf der einen Seite eine verbotene Handlung bilde. Denn die Nichtigkeit würde in solchem Fall die Verkehrssicherheit gefährden. Diese Regel von der Vertragswirksamkeit bei nur einseitigem Verbotsverstoß nimmt seitdem einen festen Platz in der Diskussion um die rechtsgeschäftlichen Folgen von Verbotsverstößen ein. Damit sind die wesentlichen Punkte festgelegt, die auch die weitere Gesetzgebungsarbeit zu unserem Thema bestimmt haben. Bereits im ersten Entwurf wird in § 105, der mit dem späteren § 134 BGB inhaltlich identisch ist, bestimmt 18 : Ein Rechtsgeschäft, dessen Vornahme durch Gesetz verboten ist, ist nichtig, sofern nicht aus dem Gesetz ein anderes sich ergibt.
In den Motiven 19 wird dazu bemerkt, das dem Verbot zuwider vorgenommene Rechtsgeschäft sei „der Regel nach" nichtig. Die Ausnahmen seien durch den der Vorschrift beigefügten, der gegenteiligen Absicht des Gesetzes Rechnung tragenden Vorbehalt gedeckt. Anders liege es meist in den Fällen, in denen bei einem Vertrag das Verbot nur den einen Teil betreffe; der Regel nach werde anzunehmen sein, daß der Vertrag als solcher nicht ungültig sei. Es komme indessen hier gleichfalls auf die Absicht des Gesetzes im Einzelfall an, und der Vorbehalt genüge daher auch in dieser Richtung. - Weitere für unsere Fragestellung wesentliche Gesichtspunkte finden sich in den Gesetzesmaterialien nicht. Schubert, aaO (Fn. 14) S. 145. " AaO (Fn. 14) S. 145 ff. 17 Hasenöhrl, Österreichisches Obligationenrecht Bd. 1 (1881) §31 Fn. 15 (S.394). 18 Fundstelle: Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB Bd.I (1899) S.LXXXV. 19 Motive I S.210; Mugdan, aaO (Fn. 18) S.468.
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III. 1. Der Blick in die Werkstatt des Gesetzgebers war notwendig, um deutlich zu machen, daß das BGB, auch ausweislich der Äußerungen seiner Verfasser, zu unserem Problem eine nicht leicht zu fixierende Haltung einnimmt. Es wird zwar die Nichtigkeit des verbotswidrigen Rechtsgeschäfts als „Regel" angegeben, gleichzeitig werden aber „Ausnahmen" entsprechend der „Absicht" des Verbotsgesetzes zugelassen. Da über die Kriterien zur Ermittlung solcher „Absicht" nichts Sicheres gesagt wird und damit über Anzahl und Umfang derartiger abweichender Verbotsgesetze keine Klarheit besteht, ist fraglich, ob es sich bei der angeblich regelhaften Nichtigkeit wirklich um eine Regel handelt. Jedenfalls wird in dieser Situation dem Rechtsanwender ein recht weiter Interpretations- und Entscheidungsspielraum eingeräumt. Die unbestimmte Regelung des § 134 mochte für die Zeit der Entstehung und des Inkrafttretens des BGB erträglich sein. Denn für sie bestanden die Hauptbeispiele der Verbotsgesetze in den klassischen Straftatbeständen, und für diese Fälle war die Lösung meist klar: Verträge, die derartige Verbote verletzen, sind nichtig. Außerdem werden Streitigkeiten über solche klaren Unrechtsverträge die Zivilgerichte kaum beschäftigt haben. - Die Situation mußte sich ändern, als seit dem ersten Weltkrieg mit der Einführung zahlloser Verbotsvorschriften in den Bereichen des Wirtschaftsrechts, Arbeitsrechts, Mietrechts, Baurechts, Steuerrechts usw. die inflationsartige Vermehrung gesetzlicher Verbote begann, die bis heute das Rechtsleben bestimmt. Die Folge war, daß die Frage nach der Rechtsbeständigkeit oder Nichtigkeit verbotsverletzender Verträge sich in vielen Gebieten auch außerhalb des klassischen Strafrechts immer häufiger und dringlicher stellte. Die Zahl der gerichtlichen Auseinandersetzungen und der höchstrichterlichen Judikate stieg an. Wer nun meint, in den seitdem vergangenen Jahrzehnten sei es inzwischen zu einer klaren Linie in der Interpretation und Anwendung des § 134 gekommen, und wer deshalb hofft, in moderner Literatur und Judikatur eine eindeutige Auskunft darüber zu erhalten, der wird enttäuscht. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stellungnahmen, aber keine allgemeine Meinung, von der man sagen kann, daß sie ebenso präzise wie praktikabel ist. Einige Beispiele für die Meinungsvielfalt: Manche meinen20, die Norm des §134 habe aufgrund ihrer Fassung und deren Interpretation keine oder nur eine geringe Bedeutung; prägnant etwa Flume2U. „Die Vorschrift des §134 besagt in Wirklichkeit nichts"; entscheidend sei also 20 21
Z . B . Flume, aaO (Fn.3) §17, 1; A a O (Fn.3) S. 141.
Latenz,
Allgemeiner Teil 6 (1983) §22 II.
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allein die vorbehaltlose Auslegung der konkreten Verbotsnorm. Andere22 verstehen §134 als eine Auslegungsregel zugunsten der Nichtigkeit in Zweifelsfällen. Innerhalb dieser Auffassung wird §134 von Canaris" noch schärfer als eine „Grundentscheidung für den Vorrang staatlicher Wirtschaftsordnung und -lenkung gegenüber der Privatautonomie" bezeichnet, welcher Feststellung von anderer Seite nachdrücklich widersprochen wird 24 . Wiederum anders wird aus dem Wortlaut des §134 gefolgert 25 , daß andere Rechtsfolgen als die Nichtigkeit vorgehen sollen, so daß die Nichtigkeit keineswegs die Regel sei, sondern umgekehrt von einer Subsidiarität der Nichtigkeit gesprochen werden könne. - Man wird nicht behaupten können, daß eine dieser Auffassungen für sich zwingende Uberzeugungskraft in Anspruch nehmen kann. Auch den Versuchen, die Handhabung des §134 durch konkrete Auslegungshilfen auf eine berechenbare Grundlage zu stellen, ist bisher kein nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen. Richtlinien für die Verbotsnormqualität einer Vorschrift gibt es nur wenige, und sofern vorhanden, werden sie nicht immer konsequent angewandt 26 . Bekannt ist die Unterscheidung zwischen sogenannten Ordnungsvorschriften und Vorschriften, die sich gegen den Inhalt des Rechtsgeschäfts, aber auch gegen dessen Vornahme richten. Geht es zum Beispiel nur um O r t und Zeit oder sonstige Modalitäten des Geschäfts (z. B. Verkauf nach Ladenschluß oder unter Verstoß gegen das Rabattgesetz oder die Zugabeverordnung), dann soll der verbotswidrig geschlossene Vertrag wirksam sein. Unwirksam sein soll er, wenn die Verbotsnorm das Geschäft als solches unterbinden will (z.B. Hehlereigeschäfte). - Nach einer weiteren, bereits erwähnten Unterscheidung soll es darauf ankommen, ob das Verbot sich gegen beide am Vertrag Beteiligte richtet oder nur gegen einen Beteiligten. Haben also etwa beide Vertragspartner mit dem Vertragsschluß gegen das Diskriminierungsverbot des §26 II G W B verstoßen, soll Nichtigkeit die Folge sein, anders wenn es sich um ein durch Betrug, also durch das kriminelle Handeln nur eines Beteiligten zustande gekommenes Geschäft handelt. - Sowohl von der Regel der Nichtigkeit bei beiderseitigem Verstoß als auch von der Regel der Wirksamkeit bei nur einseitigem Verstoß werden aber wieder in größerem Umfang Ausnahmen für möglich gehalten, so daß der praktische Wert beider Regeln fragwürdig ist. — Schließlich soll es insbesondere auf 22
Z. B. Mayer-Maly in MünchKomm. 2 (1984) § 134 Rdn. 1; auch Canaris, Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft (1983) S. 15; Medicus, aaO (F n. 3) Rdn. 646. 23 A a O (Fn.22) S. 19, 54. 24 Mayer-Maly in MünchKomm. § 134 Rdn. 2. 25 Staudinger/Dilcher, aaO (Fn. 3) Rdn. 3. 26 Vgl. die Zusammenstellung bei Medicus, aaO (Fn. 3) Rdn. 647 ff mit eher negativem Ergebnis in Rdn. 657.
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die Schutzwirkung der Verbotsnorm ankommen". So einleuchtend diese Maxime erscheinen mag, sie führt bei näherer Betrachtung zu weiteren Abgrenzungsschwierigkeiten, wie ein Blick auf die Ladenschlußregelungen zeigt, nach bisherigem Verständnis klassische Beispiele „bloßer" Ordnungsvorschriften. Aber die gegenwärtigen heftigen Diskussionen um deren Liberalisierung und die offensichtliche politische Unmöglichkeit einer Änderung solcher „bloßen" Ordnungsvorschriften haben doch deutlich gemacht, daß die Vorschriften nach Ansicht vieler keineswegs nur Ordnungsfunktion haben, sondern dem Schutz der kleineren Ladengeschäfte und des in den Verkaufsstellen beschäftigten Personals dienen, dessen gesicherte Arbeitszeitregelung durch die Liberalisierung gefährdet wird. Insofern haben diese Vorschriften auch eine gewichtige Schutzfunktion. Die Resultate, zu denen die höchstrichterliche Judikatur unter der Herrschaft solcher Richtlinien gelangt, sind denn auch nicht selten nur schwer zu berechnen. Das mögen die beiden folgenden Beispiele belegen. Nach dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969 ( § 4 ) ist Arbeitsvermittlung ohne Lizenz der zuständigen Bundesanstalt verboten. Entgegen diesem Verbot hatte ein Filmmanager aufgrund eines entsprechenden Vertrages einer Schauspielerin eine Theatertournee vermittelt. D e r Bundesgerichtshof ( B G H Z 46, 24) entschied nach der oben genannten zweiten Richtlinie: D a das Vermittlungsverbot sich nur gegen den Vermittler richte, nicht gegen den Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, der den Vermittler in Anspruch nehme, handele es sich um einen einseitigen Verstoß. Nach gefestigter Tradition sei in solchem Fall das Geschäft wirksam. Die Schauspielerin mußte also das Honorar an den Vermittler zahlen. Gegenbeispiel: Nach dem Rechtsberatungsgesetz von 1935 (Art. 1 § 1) darf Rechtsberatung sowie Einziehung fremder Forderungen geschäftsmäßig nur von Personen mit staatlicher Erlaubnis betrieben werden. Entgegen diesem Verbot hatte ein als Betriebs- und Wirtschaftsberater Tätiger ohne entsprechende staatliche Lizenz nach vertraglicher Absprache eine Schuldensanierung für ein in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenes Unternehmen durchgeführt. Der Bundesgerichtshof ( B G H Z 37, 258) entschied, daß der Vertrag zwischen Sanierer und Unternehmer unwirksam sei. Es handele sich zwar (auch hier) nur um einen einseitigen Verstoß. Die Nichtigkeitsfolge sei aber trotzdem geboten, weil nur so der Gesetzeszweck erreicht werden könne. D e r Unternehmer brauchte das Honorar also nicht zu zahlen.
27
Hübner,
Allg. Teil d. Bürg. Gesetzbuches (1985) Rdn.489.
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Der Vergleich der beiden Urteile gibt Anlaß zu manchen Zweifeln und auch zur Kritik. Die tragenden Argumente der Entscheidungen erscheinen austauschbar und die Ergebnisse daher nahezu willkürlich. Bei näherer Betrachtung der Sachverhalte gewinnt man den Eindruck, daß nicht offen ausgewiesene Argumente letztlich den Ausschlag gegeben haben, nämlich die Schwere des Verbotsverstoßes (und damit die mehr oder weniger große Dringlichkeit einer Sanktion) und die wirtschaftlichen Ergebnisse der durchgeführten Geschäfte. Im Vermittlungsfall ( B G H Z 46, 24) hatte der Vermittler immerhin eine Lizenz für den Film (nur eben nicht für das Theater); seine Sachkunde und Zuverlässigkeit waren also auf einem dem Theater nahestehenden Teilgebiet bereits geprüft und bejaht worden; daher mochte der Verbotsverstoß, der hier nur in der Überschreitung einer staatlich anerkannten Kompetenz bestand, nicht so gewichtig erscheinen. Außerdem war die vermittelte Theatertournee für die Schauspielerin wirtschaftlich überaus erfolgreich verlaufen. Dies alles mochte den Ausschlag für die rechtliche Anerkennung des angegriffenen Vertrages gegeben haben. Im Sanierungsfall ( B G H Z 37, 258) dagegen hatte der Sanierer überhaupt keine staatliche Erlaubnis. Seine Tätigkeit war zwar ebenfalls durchaus positiv verlaufen; aber das Vertragshonorar erschien doch erheblich übersetzt. So lag es nahe, dem angegriffenen Vertrag die rechtliche Anerkennung zu versagen. Die beiden Urteile sind zwar nicht unbedingt typisch für die Anwendung des §134 in der Praxis und damit sicherlich nicht Anlaß für den allgemeinen Vorwurf weitgehender Orientierungslosigkeit der Rechtsprechung; sie sind aber auch nicht als vereinzelt gebliebene Ausnahmen zu bezeichnen. Vielmehr belegen sie, daß auch mit Hilfe der dargestellten Richtlinien die Anwendbarkeit des § 134 kaum sicher berechenbar ist. Angesichts dieser unklaren und nicht befriedigenden Situation ist es nicht verwunderlich, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 28 nach gewissen Schwankungen neuerdings im Grundsatz unausgesprochen etwa der Linie von Flume und Larenz, die § 134 einen spezifischen Inhalt absprechen, folgt, offensichtlich weil diese Auffassung der Rechtsanwendung den größten Entscheidungsspielraum einräumt. Das Gericht entnimmt der Vorschrift des § 134 also keine andere Anweisung als diejenige, die konkrete Verbotsnorm auszulegen und deren Sinn und Zweck als ein wesentliches Entscheidungskriterium zu übernehmen. Andererseits sind Sinn und Zweck der Verbotsnorm allein nicht entscheidungserheblich. Vielmehr ist außerdem das konkrete Rechtsgeschäft nach nicht offengelegten Kriterien zu überprüfen. Hier spielen 28
Vgl. nur B G H Z 45, 3 2 2 / 3 2 6 ; 65, 368/370; 78, 263/265; 85, 39/43.
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wahrscheinlich die Schwere des Verstoßes, die Schuld, die wirtschaftlichen Ergebnisse und andere Gesichtspunkte eine Rolle. Markant wird daher in einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs 29 formuliert: Es kommt darauf an, ob es mit dem Sinn und Zweck des Verbotsgesetzes unvereinbar wäre, die durch das Rechtsgeschäft getroffene rechtliche Regelung hinzunehmen und bestehen zu lassen. § 134 hat demnach für die Rechtsprechung etwa folgenden Inhalt: Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn Sinn und Zweck des Verbotsgesetzes mit Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls dies gebieten.
IV. Die Bestandsaufnahme endet demnach mit der Feststellung, daß die Rechtsprechung sich in § 134 eine weit gefaßte Generalklausel geschaffen hat, ein für sie zweifellos erwünschtes und auch bequemes Ergebnis, weil ihr dadurch der große Entscheidungsspielraum zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe sie im Bereich unseres Themas allen Wechselfällen des juristischen Lebens gerecht werden zu können glaubt. Schon weniger erfreulich ist dieses Ergebnis für das rechtsuchende Publikum und die es vertretende Anwaltschaft, weil es, wie die Beispiele zeigen, an der notwendigen Rechtssicherheit fehlt. Die Zivilrechtswissenschaft schließlich sieht sich in eine ihr zwar aus anderen Bereichen vertraute, aber nicht besonders überzeugende Rolle verwiesen. Sie begleitet den Gang der Rechtsprechung kritisch beobachtend, sorgsam jede Wendung registrierend. So hat sie etwa zu verzeichnen, daß bei berufsbeschränkenden Verboten die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in neuerer Zeit einen liberaleren, d. h. den Anwendungsbereich des § 134 einschränkenden Kurs verfolgt. Die folgenden, gegen Verbote verstoßenden Verträge etwa werden vom Bundesgerichtshof für wirksam gehalten: Ein Maklervertrag mit einem Immobilienmakler, dem die Gewerbeerlaubnis fehlt ( B G H Z 78, 269); Maklerverträge, die durch einen Steuerberater abgeschlossen sind, obwohl diesem nach dem Steuerberatungsgesetz jede gewerbliche Tätigkeit verboten ist (BGHZ 78, 263); ein Vertrag mit einem gewerblichen Bauhandwerker, obwohl dieser unter Verletzung der Handwerksordnung nicht in die Handwerksrolle eingetragen ist (BGHZ 88, 246). Aber es ist doch sehr fraglich, ob die Zivilrechtswissenschaft ihre Aufgabe allein in der Kommentierung der verschlungenen Wege der Rechtsprechung, also lediglich in einer Reaktion auf Gerichtsurteile sehen sollte. Das liefe auf eine Perpetuierung seit langem unbefriedigender Zustände hinaus, wie ein Blick in die Studie zeigt, die Fr. Ende29
BGHZ 85, 39/43.
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mannia vor genau 100 Jahren über unser Thema veröffentlicht hat. Liest man diese kritische Analyse, so kann man glauben, die Lage des Jahres 1987 werde geschildert. Die Diagnose der damaligen Situation trifft noch auf die heutige Zeit zu, wie das folgende Zitat belegen mag31: Neue Rechtsanschauungen drängen sich hervor, neue gesetzgeberische Pflichten wachsen mit der Erweiterung der Aufgaben des Rechtsstaates heran. Daher die große Anzahl neuerer Gesetze, die nur nach dem momentanen Bedürfnisse diesen oder jenen Punkt herausgreifen, ihn gesetzgeberisch ordnen, ohne daß Zeit und Erwägung dazu führten, allen diesen Gesetzen eine feste einheitliche Grundlage und Zusammenfügung zu sichern. Gerade die zufällige Fassung und die bloß auf den nächsten Zweck gerichteten Verbote und Strafen dieser Einzelgesetze haben jenen f ü r die zivilrechtliche Auslegung unerquicklichen Zustand herbeigeführt, an welchem Theorie wie Praxis gleichmäßig leiden.
Gleichfalls noch für die Gegenwart gilt, wenn Endemann32 das „Rätsel" beklagt, „durch Auslegung den diesbezüglichen Willen des Gesetzgebers festzustellen, der gar nicht vorhanden war, weil der Gesetzgeber sich eben um die zivilrechtliche Wirkung seines Verbotes nicht gekümmert hatte". Der aus solchem Mißstand abgeleitete Appell Endemanns33 an den Gesetzgeber, die Gesetzestechnik zu verbessern und eine feste und klare Terminologie einzuführen, ist, wie wir inzwischen wissen, erfolglos geblieben. Es sind seitdem Hunderte von Verbotsgesetzen erlassen worden, deren zivilrechtliche Bedeutung mehr oder weniger unklar geblieben ist, und es besteht auch keinerlei Aussicht, daß dieser Zustand sich bessern wird; an eine Disziplinierung des Gesetzgebers ist nicht zu denken. Im Gegenteil, die allseits beklagte Gesetzesinflation hat, wie andere Inflationen, inzwischen zu einer deutlichen Qualitäts- und damit Autoritätsminderung geführt. Man spricht von „Wegwerfgesetzen", die jederzeit wie Konsumartikel kassiert werden können, und die Handhabung des §134 wird dadurch immer schwieriger. Die Antwort der Rechtsprechung auf diese Situation besteht, wie gezeigt, in einer Auflösung des Problems in Einzelfallentscheidungen. Auf schwer durchschaubare Weise werden als Beurteilungskriterien Sinn und Zweck des jeweiligen Verbotsgesetzes sowie die Umstände des konkreten, zur Beurteilung anstehenden Falles miteinander verbunden und daraus Entscheidungen abgeleitet. Wen diese Antwort nicht befriedigt, der wird durch einige einfache Grundüberlegungen zu einem anderen Lösungsvorschlag kommen können. Er lautet, rechtshistorisch gesprochen, daß die Kategorie der leges 30 31 32 33
AaO AaO AaO AaO
(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.
6). 6) S. 125. 6) S. 128. 6) S. 127.
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minus quam perfectae (s. oben II) zu reaktivieren und zu verstärken und die Kategorie der leges perfectae zu entlasten ist. Die Regel von der Nichtigkeit verbotswidriger Rechtsgeschäfte sollte wieder auf die „klassischen" Straftatbestände insbesondere der Vermögensdelikte und einschließlich des Steuerstrafrechts beschränkt werden, also auf evidente Unrechtsverträge. Dies ist der Anwendungsbereich des § 134. Dagegen hält eine republikanische Zivilrechtswissenschaft in Rom wie heute Distanz zu den öffentlichrechtlichen Tagesereignissen mit ihren ständig wechselnden Zwecken und Zielen. Die weitaus meisten Verbotsgesetze gehören in diesen Bereich. Derartige Gesetze sind nach ihren eigenen Merkmalen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen anzuwenden. An Sanktionsanordnungen fehlt es in ihnen bekanntlich nicht. Der Gesetzgeber pflegt von ihnen ausgiebig Gebrauch zu machen; insbesondere an Strafund Bußgeldandrohungen besteht kein Mangel. Solche Anordnungen sind selbstverständlich durchzuführen, aber darauf beschränken sich die Wirkungen dieser Gesetze auch. Die Nichtigkeitsfolge des § 134 dagegen vermögen sie nicht auszulösen 34 . Es ist doch eine höchst fragwürdige Situation, daß die Zivilrechtsjudikatur, indem sie die Nichtigkeit eines Vertrages gemäß §134 je nach den Umständen bejaht oder verneint, nach Art eines Ersatzgesetzgebers über die Reichweite solcher öffentlichrechtlicher Verbote entscheidet. Die Kasuistik der modernen Rechtsprechung zeigt die Beliebigkeit der Ergebnisse. Selbst sog. Ordnungsvorschriften (s. Ladenschlußgesetzgebung) lassen sich mit dem Hinweis auf ihren „Schutzzweck" (jede solcher Vorschriften hat einen Schutzzweck) in den Rang einer vertragsvernichtenden Norm erheben, und umgekehrt läßt sich jeder Schutzzweck im Hinblick auf die zu billigenden konkreten Vertragsergebnisse in seiner Bedeutung relativieren. Unter diesen Umständen ist es sachgerechter, die Verantwortung für eine exakte Bestimmung der Rechtsfolgen solcher Verbote dem Gesetzgeber zu überlassen als der Instanz, die sie zu tragen hat und der auch die erforderliche juristische Sachkunde, anders als manchen historischen Gesetzgebern, nicht fehlt. Mag er anordnen, wenn eines seiner zahlreichen Verbote die Nichtigkeit entgegenstehender Rechtsgeschäfte bewirken soll. § 134 jedenfalls sollte nicht als Transformator wirtschaftspolitischer Tagesthemen in das Vertragsrecht benutzt werden. Wird in dieser Weise der Anwendungsbereich des § 134 stark reduziert und der Verantwortungsbereich des Gesetzgebers erweitert, dann kann sich alsbald sehr viel deutlicher als bisher die Frage nach dem grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit stellen. Es wird zwar 34 Diese Auffassung führt einen Gedanken fort, der bereits in der Pandektistik (s. Windscheid, oben bei Fn. 10) und bei den Vorarbeiten zum BGB (s. Gebhard, oben bei Fn. 15) geäußert worden ist.
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allenthalben gelehrt, daß es einen solchen gibt35. Aber über die Einzelheiten erhält man nur unvollkommen Auskunft. Gibt es einen beschränkungsfesten Kern der Vertragsfreiheit? Wird dieser Kern durch die Flut moderner Verbotsgesetze bereits tangiert oder getroffen? Droht eine Erdrosselung dieser Freiheit? Im Bereich des §134 sind diese Fragen bisher durch die unübersehbare Kasuistik der Rechtsprechung eher verschleiert worden. Sie werden dagegen klar in das juristische Blickfeld treten, wenn der Gesetzgeber bei Erlaß von Verbotsgesetzen jeweils darüber zu entscheiden hat, ob Verbotsverstöße die Nichtigkeit entgegenstehender Rechtsgeschäfte zur Folge haben sollen oder nicht. Schließlich ist noch dem denkbaren Einwand zu begegnen, daß die reduzierte Wirkung des §134 möglicherweise zu gerechtigkeitsfremden Folgen für die Vertragspartner führen kann. Derartiges ist nicht zu befürchten, weil das Zivilrecht über einen ausgeprägten und ständig modernisierten Bestand an Regelungen (vgl. nur die Vorschriften über fehlerhafte Rechtsgeschäfte, Leistungsstörungen, das AGB-Gesetz, die Novellierungen im Miet-, Pachtrecht und im Abzahlungsgesetz) verfügt, der auch ohne oder sogar gerade ohne den in der Wirkung beschränkten §134 sachgerechte Ergebnisse gewährleistet. V. Die Bestandsaufnahme, die oben (III) zur gegenwärtigen Bedeutung des § 134 entwickelt worden ist, hat ein so negatives Bild ergeben, daß Korrekturversuche zwangsläufig herausgefordert werden. Der hier skizzierte Vorschlag geht dahin, daß die Antwort des Zivilrechts auf die inflatorische Vermehrung der Verbotsgesetze in einer restriktiven Handhabung des §134 bestehen sollte. Die Nichtigkeit, die diese Vorschrift anordnet, kommt nur für solche Rechtsgeschäfte in Betracht, die gegen die Verbote des klassischen Straftrechts, einschließlich des Steuerstrafrechts verstoßen. Die zahllosen anderen Verbotsvorschriften werden ausschließlich nach ihren eigenen Regelungen angewandt und ausgeführt. Für sie ergibt sich im Sinne des § 134 „ein anderes"; sie gehören nicht zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Die Abgrenzung dieses Anwendungsbereichs kann in den Fällen einiger weniger Straftatbestände zweifelhaft sein. Für weitaus die meisten Verbotsgesetze schafft die entwickelte Richtlinie dagegen Klarheit und Berechenbarkeit. Sie zieht die Konsequenz aus der inflationsartigen Vermehrung der Verbotsgesetze. Im Ergebnis kommt dieser Vorschlag der oben (III) beschriebenen Auffassung Dückers36 nahe, wonach bei der Anwendung des § 134 von einer Subsidiarität der Nichtigkeit gesprochen werden kann. 35 Vgl. etwa Düng in Maunz/Düng, Komm.z. G G Art. 2 Abs. I Rdn. 53 ff; Papier in Maunz/Dürig aaO Art. 14 Rdn. 215; Kramer in MünchKomm. 2 (1984) vor § 145 Rdn. 5 f. 36 Oben bei Fn. 3.
Stadt und Bürger* R O L F STÖDTER
Zu den eindrucksvollsten Leistungen der abendländischen Dichtkunst gehört die Ilias von Homer. Sie schildert Glanz und Untergang Trojas, einer der großen Städte des Altertums. Die Stadt bildete in der Antike den Mittelpunkt des politischen und familiären Lebens. Die Gründung einer Stadt war ein kultischer Vorgang. Die Verbindung der Stadtansässigen miteinander glich einer religiösen Gemeinschaft. Die Vorstellung der Stadt, des städtischen Lebens ist immer mit Überlieferungen aus der Antike eng verbunden gewesen, obwohl die Entwicklung bei uns eine andere war. Die abendländische Stadt ist „ein einmaliges geschichtliches Phänomen, das im Städtewesen anderer Hochkulturen keine Parallele hat" (Hans Freyer). Die Entstehung der Stadt erscheint unter den Veränderungen der Lebensformen unseres Volkes als die bedeutsamste. Die Stadt stand im Mittelpunkt der Kultur. Herder hat die Städte als „Heerlager der Kultur" bezeichnet. Gegründet wurden die Städte im Mittelalter, als die Kauffahrer seßhaft wurden, die vorher von Ort zu Ort gefahren waren. Die Kaufleute waren die Träger des neuen, des modernen Geistes, der die Städte zu beherrschen begann, wie die Kaufleute selbst die Städte beherrschten. Ricarda Huch schildert in ihrem Buch über das Römische Reich Deutscher Nation diese Rolle der Kaufleute: „Die Kaufleute waren diejenigen, die mit ihrem Geist die Stadt durchdrangen. In mancher Lage half ihnen die dreifache Macht des Geldes, des Wortes und der Persönlichkeit. Sie dachten und fühlten in weiteren Grenzen als die meisten ihrer Zeitgenossen. Solche Eigenschaften machten den Kaufmann fähig, aus der Stadt einen freien, geordneten Staat zu machen. In gewissem Sinne war er die Stadt: Er stand am Steuer, er gab die Richtung an, er trug die Verantwortung". Die Schilderung von Ricarda Huch gilt auch für die Verhältnisse bei uns, die Carl J . Burckhardt in seinem Vortrag „Städtegeist" so kennzeichnet: „Die großartigen Auswirkungen der Herrschaft königlicher Kaufleute können wir in dem einzigartigen Phänomen der Hanse betrachten, welche weite Gebiete des Nordens und des Ostens europäisch durchdringt und lebendigste Verbindungen mit dem Westen aufrecht erhält, wobei, wie "Festansprache anläßlich des hundertjährigen Bestehens der Bremer Gesellschaft in Freiburg i.Br. am 15.6.1986.
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Rolf Stödter
kaum irgendwo, ein stolzer Begriff des Bürgertums in ruhigem Selbstbewußtsein sich ausbildet und erhält" 1 . Wesentliches Kennzeichen des frühhanseatischen Kaufmanns ist es ungeachtet seiner individuellen Unternehmenskraft gewesen, daß er niemals rein privatwirtschaftlich handelte oder handeln konnte, sondern immer nur im Rahmen der zentralen Leitung der Hanse. Es war „ein Unternehmertum, das Bindungen an die Gemeinschaft kennt und aus dieser politischen Weisheit heraus handelt" (Fritz Rörig). Macchiavelli, der einmal Süddeutschland bereist hat, konnte schreiben, den höchsten Grad der Bürgertugend finde man in den deutschen Reichsstädten. U m die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert entsteht der neue abendländische Typus der Stadt, die Bürgergemeinde und damit das Bürgertum. Die Städter wurden sich ihrer Eigenart bewußt: Es bildete sich ein bürgerliches Lebensgefühl, ein bürgerliches Standesbewußtsein aus. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte übernahm der Wirtschaftende politische Führung. Der Kaufmann wird zum Vorkämpfer für die Freiheitsrechte der Stadtbevölkerung. Der Sinngehalt des Begriffs „Bürger'Vist auf diese Weise mit der ökonomischen, rechtlichen und politischen Struktur der hochmittelalterlichen Stadt eng verbunden. Die erwähnfevEinmaligkeit, die Unvergleichlichkeit der Erscheinung der Stadt gilt auch für die weitere Entwicklung des Bürgertums und für die Wandlung seiner Gestalt in der Folgezeit. U m die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit setzte eine Krise des Städtewesens und des Bürgertums ein. Die Einwirkungen des Absolutismus machten sich bemerkbar. D e r werdende Fürstenstaat war ein Obrigkeitsstaat; er war städtefeindlich. Die Landesfürsten schränkten die Stadtherrlichkeit ein und höhlten sie aus. Insbesondere in Preußen wird die korporative Selbständigkeit der Städte beseitigt. Selbst in der Reformationszeit aber hat es hier und dort ein kulturelles Aufblühen von Städten und eine Belebung des Bürgergeistes gegeben. Über die Hansestädte sagt Carl J . Burckhardt: „Hamburg, Bremen und Lübeck (die freien Reichsstädte) vermochten es erstaunlich lange, sich abseits zu halten, und sollten die Aufgaben, die sich nach der Reichsgründung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stellten, mit ungebrochenen Kräften und in ihrer vollen Eigenart aufnehmen". Und die Frage, was vom deutschen Städtegeist zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch intakt war, beantwortet er mit der Feststellung: „Der Geist der Hansestädte sicher" 2 . Es war Freiherr vom Stein, der nach dem Zusammenbruch Preußens ein einmaliges Verständnis dafür hatte, was die Zukunft verlangte. Er 1 2
Carl J. Burckhardt, Carl J. Burckhardt,
Vier historische Betrachtungen, 1953, S.74, 87. aaO 74, 99, 102.
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wollte die Städte in die Lage versetzen, den Anforderungen gerecht zu werden, die der Wiederaufbau des besiegten Preußens an sie stellte. Durch das Edikt vom 9. Oktober 1808 und die Städteordnung vom 9. November 1808 fügte er das so lange unterdrückte korporative Gemeinwesen der Stadt als Fundament der politischen und administrativen Regeneration dem neuen Staatswesen ein. Den Städten wurde die Selbstverwaltung zurückgegeben. Die Stadtgemeinde sollte die Grundlage für den Wiederaufbau der Staatsorganisation abgeben. Die Absicht des Freiherrn vom Stein ist es, „das städtische Gemeindeleben zur Pflanzschule einer neuen Staatsverfassung zu machen, in die das Bürgertum (vertreten durch Besitz und Bildung) als selbstverantwortliche, als tragende und mitbestimmende Kraft einginge" (Gunther Ipsen). Staat und Stadt wurden in ein neues Verhältnis gesetzt; das war die Erneuerung des Städtewesens. Mit ihr erhielt der Begriff des Bürgers einen Doppelsinn: Stadtbürger und Staatsbürger gab es nun. Im 19.Jahrhundert hat sich die kommunale Selbstverwaltung den Vorstellungen des Freiherrn vom Stein entsprechend entwickelt, langsam zwar nur und nicht ohne Widerständen zu begegnen, aber doch stetig. Sie %teht in dem Zusammenhang des Machtkampfes des Bürgertums gegen den monarchischen Staat. Diese Entwicklung vollzog sich insbesondere in kleinen und mittleren Städten auf der Grundlage eines zu politischem Bewußtsein erwachenden Besitzbürgertums'. Sie beginnen die Standortvorteile zu bieten, die die wachsende Industrialisierung benötigt. Die Großstädte bilden sich aus. Städtegründer im Sinne Sombarts wird in dieser Epoche der industrielle Unternehmer. Die industrielle Großstadt tritt in den Mittelpunkt des Städtewesens. Im Zusammenhang mit der „bürgerlichen Revolution" des 19. Jahrhunderts beginnt die Auseinandersetzung mit den Begriffen „Bürger und Bürgertum". Man beschäftigt sich mit dem Staatsbürger, mit dem Stadtbürger, mit dem Untertan. Man stellt Überlegungen über den Civis und über den Citoyen an, über den Besitzbürger und über den Bourgeois. Das große Buch „Der Bourgeois" von Werner Sombart stellt mit seinem unmittelbar vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges erfolgten Erscheinen einen einstweiligen Abschluß der Diskussionen dar 3 . Für Sombart sind es der Unternehmungsgeist und der Bürgergeist, die beide erst vereint den kapitalistischen Geist bilden. Träger des kapitalistischen Geistes ist der Bourgeois. In jedem Bourgeois steckt aber auch ein Bürger. Außer dem Unternehmungsgeist und dem Erwerbstrieb stecken in diesem Geist auch „bürgerliche Tugenden". Zu ihnen rechnet Sombart Fleiß, Sparsamkeit, Solidität, weiter Ordnung, Genügsamkeit,
3
ferner
Sombart,
Der Bourgeois, 1913.
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Gerechtigkeit, Gemütsruhe, Entschlossenheit. Über dies Buch gäbe es manches zu sagen, was aber nicht in diesem Rahmen geschehen kann. Dieser Rückblick über die Vergangenheit läßt sich mit Worten von Georg Lukäcs abschließen, die er in einem Essay aus dem Jahre 1909 gebraucht hat (dieser Hinweis findet sich in einem Vortrag von Joachim Fest): „Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik im Leben; daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muß ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: Die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird". Hier wird deutlich gemacht, was wir unter bürgerlicher Lebensform zu verstehen haben. Wenig später brach der erste Weltkrieg aus, der in Deutschland und in der Welt soviel verändern sollte. Die zwanziger Jahre brachten die Inflation, brachten nach einem kurzen Aufschwung die Weltwirtschaftskrise, brachten sechs Millionen Arbeitslose, und das Dritte Reich klopfte an die Tür. Damals, unmittelbar vor dem Anfang vom Ende, nahmen sich zwei hervorragende Staatsrechtslehrer des Bürger-Themas an: Rudolf Smend, einer der großen Staatsrechtler dieses Jahrhunderts, und der viel zu früh vollendete Hermann Heller - der eine konservativ, der andere Sozialist. Hermann Heller veröffentlichte in der Mitte des Jahres 1932 einen Aufsatz „Bürger und Bourgeois" in der „Neuen Rundschau" 4 . Rudolf Smend hielt auf der Reichsgründungsfeier der Universität Berlin am 18. Januar 1933 einen Vortrag über „Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" 5 — zwölf Tage vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus. Hermann Heller begann seinen Aufsatz mit der Feststellung: „Daß es mit dem Bürgertum zu Ende geht, ist eine der wenigen Ansichten, in der die öffentliche Meinung nicht nur Deutschlands durchaus einig zu sein scheint . . . Laut läuten sie, die Sterbeglocken des Bürgers". Heller versucht, den Begriff des Bürgers von dem des Bourgeois abzuheben. Denn viele geben vor, den Bourgeois zu bekämpfen, machen aber in Wahrheit dem Bürger den Garaus. Bürger ist für Heller der Mensch, der die gesellschaftlichen und politischen Autoritäten respektiert und sich der Sitte und dem Recht seines Landes unterordnet. Bourgeois ist der durch gesellschaftliche und politische Sekurität saturierte Bürger, der 4 Hermann Heller, Bürger und Bourgeois, in Hermann Heller, Gesammelte Schriften, 1971, Bd. 2 S. 625. 5 Rudolf Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S.309.
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entpolitisierte Bürger, dem schon seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein negatives Werturteil zuteil wurde. Der Kampf gegen den Bourgeois um uns und in uns ist für Hermann Heller notwendig, aber er darf nicht im Wege einer Anarchisierung des Bürgertums erfolgen. Die Erschütterungen der Gegenwart können nach Ansicht Hellers nur dadurch überwunden werden, „daß man Staat und Gesellschaft so ordnet, daß die opferwillige Einordnung in sie aus immer tieferen und kräftigeren Willensschichten des Bürgers zu entquellen vermag". Diese Worte des Sozialisten Hermann Heller hätte auch der Konservative Rudolf Smend gebrauchen können. Für ihn ist der Vorgang des 18. Januar 1871 „das Ereignis, in dem das deutsche Bürgertum und der deutsche Staat einander endgültig gefunden haben". Er stellt zwar die Frage, ob der Bürger des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland im großen und ganzen ein echter und rechter Bourgeois gewesen ist, aber er verneint sie, um festzustellen, „daß der Gedanke des sittlich an den Staat gebundenen Bürgers der unter uns tatsächlich in Geltung stehende war und ist". Er fügt hinzu: „Unsere bürgerliche Vergangenheit hat aus den Untertanen Staatsbürger gemacht; sie hat die Idee und den Typus des deutschen Bürgers geschaffen und damit der Zukunft kein geringes politisches und sittliches Erbe hinterlassen". Zwar geht, wie Smend meint, das bürgerliche Zeitalter zu Ende. „Aber wir sollten die bürgerli-. che Welt unserer Väter und Vorväter nicht verachten, sondern uns auf unsere Aufgaben, unsere Möglichkeiten und unsere Kräfte besinnen und zum neuen Aufbau unseres Staates beitragen". Unmittelbar vor Toresschluß haben wir also ein Bekenntnis zum Bürger, von rechts und von links gleichermaßen, verbunden mit der Aufforderung, zum staatlichen Neuaufbau beizutragen. Damit wurde es nun freilich nichts, und erst recht wurde es zunächst nichts mit der alsbaldigen Renaissance von Bürger und Bürgersinn. Ein großes Epos des Bürgertums, wie es damals hinter uns lag, hat der Hamburger Historiker Percy Ernst Schramm - der Sohn eines Hamburger Bürgermeisters - geschrieben und im Kriegsjahr 1943 veröffentlicht: „Hamburg, Deutschland und die Welt" mit dem Untertitel „Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen N a p o leon I. und Bismarck, ein Kapitel deutscher Geschichte" 6 . Diese Schilderung wird von der Gewißheit getragen, daß Bürgerlichkeit und Bürgertum sich nicht allein auf eine äußerlich gesicherte Existenz beziehen; das Wesentliche an ihnen sind die ethischen Werte. Das Bürgertum, von dem in diesem Buch die Rede ist, so sagt Percy Ernst Schramm, „beruhte auf einmaligen Voraussetzungen, wurde von der Geschichte überholt und kann deshalb nie wieder erstehen. Aber es ist nötig, sich auch heute 6
Percy Ernst Schramm,
Hamburg, Deutschland und die Welt, 1943, 2. Aufl. 1952.
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noch mit ihm auseinanderzusetzen; denn dadurch können wir uns darüber klar werden, worauf wir Verzicht leisten wollen, auf das Unwiederbringliche, dem wir nachtrauern, und auf das Uberalterte, dem wir bewußt absagen. Es bleibt noch genug, das zu bewahren - oder zurückzugewinnen - sich lohnt, ja eine höchst aktuelle Forderung bedeutet" 7 . Was ist übriggeblieben, das sich zu bewahren lohnt, was ist übriggeblieben von dem Bürgertum vergangener Zeiten? Hören wir einige Äußerungen sachverständiger Kenner der Verhältnisse unserer Gegenwart. D a war etwa Ende 1959 Carlo Schmid Gast des Übersee-Clubs in Hamburg, um über „Politik und Bürger" zu sprechen 8 . Für ihn muß der Bürger, der sich in ein Verhältnis zur Politik bringen will, einen Anteil am Staat zu gewinnen suchen, der ihm erlaubt, bei der Gestaltung der Inhalte und der Formen der nationalen Existenz sich am Einsatz des Wie und Was der Macht zu beteiligen. Er erwähnt den Freiherrn vom Stein, der dem Menschen, der am Gemeinwesen mitwirken will, den Weg in der Gemeinde öffnete. Auf diese Weise hätten wir Deutsche eine der besten Kommunaldemokratien bekommen, die es auf der Welt gibt, obwohl wir damals im Obrigkeitsstaat lebten. Carlo Schmid endet mit der Feststellung, „daß es für den Gebildeten nichts Größeres gäbe, als Bürger eines seiner würdigen Staates zu sein". Freilich: „Dieser Staat der Menschenwürde wird einem nicht geschenkt". In einem Vortrag, den er Jahre später gleichfalls vor dem UberseeClub über das Thema „Staatsverfassung oder Bürgerverfassung" gehalten hat, hat der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda darauf hingewiesen, wie sehr der Staat in unserer modernen Welt übermächtig zu werden scheint 9 . Die Bürger erwarten vom Staat Vorsorge und Fürsorge für ihr tägliches Dasein: „Hieraus entsteht die Gefahr drohender Entmündigung des Menschen, dem der Staat die Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung abnimmt". Die Flucht ins Private ist die Folge; „die Demokratie aber ist auf das aktive Interesse aller und das Engagement jedenfalls vieler Bürger angewiesen. Der Staat ist die Organisation der Freiheit, die Verfassung eines Landes ist die Verfassung der Freiheit seiner Bürger". Das Grundgesetz ist „nicht nur Verfassung für den Bürger, sondern auch Verfassung durch den Bürger": „Der Staat muß deshalb Identifikationsmöglichkeiten bie-
Percy Ernst Schramm, aaO S.501. Carlo Schmid, Bürger und Politik, Mitteilungen des Übersee-Clubs, Heft 6, Dezember 1959. 9 Ernst Benda, Staatsverfassung oder Bürgerverfassung, Mitteilungen des ÜberseeClubs, Heft 4, März II 1983. 7 8
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ten, um von seinen Bürgern als ihr Staat empfunden und von ihnen getragen zu werden". In diesem Zusammenhang erinnert Benda an die Tradition der gemeindlichen Selbstverwaltung. Als klassischen Ort, echten Bürgersinn für die Allgemeinheit einzusetzen, sieht Benda die Parteien. In einer Festgabe für Carlo Schmid zu seinem 65. Geburtstag hat Wilhelm Hennis über „Motive des Bürgersinns" nachgedacht. Die zeitgenössische Theorie der Demokratie wisse hiervon nichts: „Die moderne demokratische Staatslehre ist eine Staatslehre ohne Menschenbilder und ohne Tugend". Hennis hält es für verständlich, „wenn man im planenden Wohlfahrts- und Vorsorgestaat mit seiner vorgreifenden Regelung aller Lebensverhältnisse einen Versuch der Entlastung des Bürgers von Bürgersinn und politischer Verantwortung meint sehen zu müssen". Trotzdem oder gerade deshalb erwartet er von der politischen Wissenschaft, daß sie das personale gesinnungsmäßige Element, das ein Gemeinwesen zu einer Einheit verbindet, wieder in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt. Nichts bedinge die Art und Weise der privaten Lebensführung mehr als der öffentliche, politische Zustand des Gemeinwesens: „Zum Zustand des Gemeinwesens gehört auch der Geist, die Gesinnung, die in ihm die herrschende ist. Das sittlich-moralische Wohlbefinden des einzelnen sollte Anlaß genug sein, tätige Anteilnahme am Gemeinwesen zu üben, Bürgersinn zu pflegen" 10 . Es ist in der Tat bemerkenswert, daß solche Sachkenner der Situation wie ein hervorragender Politiker und Lehrer des öffentlichen Rechts, ein früheres Mitglied der Bundesregierung und höchster Bundesverfassungsrichter, ein allgemein anerkannter Politikwissenschaftler dem Bürger auch heute eine besondere Rolle im politischen Leben unseres Staates nicht nur einräumen, sondern ausdrücklich zuweisen. Das ist um so bedeutsamer, als viele die bürgerliche Welt bereits als untergegangen ansehen. „Bürgertum, Bürgerlichkeit gelten ja den meisten jener Präzeptoren der Nation, die der Öffentlichkeit das Bewußtsein machen, als Reiz- und Hohnvokabel, auch wenn man sagen muß, daß sie reichlich viel Gereiztheit an eine Sache wenden, die sie für derart zugrunde gerichtet halten und die in der Tat seit langem keine Gegenwehr mehr leistet - der verlorenste Posten sicherlich, der weit und breit auszumachen ist" (Joachim Fest) 11 . So wundert man sich kaum noch über Formulierungen wie die, „daß die geschichtliche Aufgabe des Intellektu-
10 Wilhelm Hennis, Motive des Bürgersinns, in: Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag, herausg. von Theodor Eschenburg, Theodor Heuss, Georg-August Zinn, 1962, S. 98, 99, 103, 109. 11 Joachim Fest, Hannos Irrtum oder Bürgerlichkeit als geistige Lebensform, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.6.1982, Nr. 128.
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eilen (oder des Schriftstellers) heute darin besteht, die Zersetzung des bürgerlichen Bewußtseins in Gang zu halten und zu verstärken" (Barthes) 12 . Demgegenüber hat der Historiker Ernst Nolte vor geraumer Zeit einen „Versuch zur Klärung eines vieldeutigen Begriffs" unternommen: „Was ist bürgerlich?" Für ihn ist, anschließend an die geschichtlichen Vorbilder in der mittelalterlichen Stadt, im Begriff des Bürgers zweierlei enthalten, der Bürger im Sinne des im Staatsverband lebenden Menschen und der Wirtschaftsbürger. Hegels Auffassung von der bürgerlichen Gesellschaft umschreibt er so: „Nur wenn der Citoyen den Bourgeois toleriert und nur wenn der Bourgeois sich dem Citoyen unterordnet, geht das Eigentümliche der europäischen Geschichte nicht in einem der entgegengesetzten Utopismen verloren". Ernst Nolte ist der Meinung, daß dies die Hauptlinie des neuzeitlichen Geschichtsdenkens von T o c queville und John Stuart bis zu Arnold Toynbee und Raymond Aron geblieben ist. Der Bürger ist nach der Tradition des europäischen Denkens der Angehörige der „societas civilis", der „bürgerlichen Gesellschaft" in ihrem Gegensatz zu dem vorbürgerlichen, vorpolitischen Naturzustand, in dem die Freiheit jedes Individuums schrankenlos war. „Bürgerlich" ist für ihn nicht primär ein partikularer oder universaler, sondern ein dynamischer Begriff, der in erster Linie einen Prozeß meint, nämlich den Prozeß der „Verbürgerlichung". So bezeichnet er denn die westliche Gesellschaft als eine „bürgerliche Gesellschaft" in dem Sinne, daß sie in ihrer Entwicklung durch die unverwechselbare mittelalterliche Stadt und später durch das Aufkommen einer vom Staat relativ unabhängigen Wirtschaft gekennzeichnet war. Es sei richtig, „wenn für unabsehbare Zeit eine notwendige Verbindung zwischen der geistigen, politischen und ökonomischen Bewegungsfreiheit der Individuen auf der einen Seite und der Existenz eines Wirtschaftsbürgertums auf der anderen Seite konstatiert wird". Mit Recht stellt Ernst Nolte daher fest, daß die Bundesrepublik Deutschland unzweifelhaft ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft des Westens ist". Eine bemerkenswerte Untersuchung über „Bürgerlichkeit als geistige .Lebensform" verdanken wir schließlich einer Rede von Joachim Fest aus Anlaß der Überreichung des Thomas Mann-Preises. Er macht auf die erstaunliche Fähigkeit des Bürgertums aufmerksam, sich zwischen Vergangenheit und Zukunft lebendig zu behaupten, das eine am anderen zu messen und wechselweise in Frage zu stellen. Die zähe Dauer des 12 R. Barthes, Über mich selbst, 1978, S.60 (Zit. bei Urs Jäggi in: Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, herausg. von Jürgen Habermas, 1979, Bd. 2 S. 443, 457). 13 Ernst Nolte, Was ist bürgerlich? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.1978, Nr. 131.
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Bürgertums, sein Beharrungsvermögen sind bemerkenswert. „Es war, rückblickend, durchweg wandlungsfähiger, beweglicher als die Beschwörer seiner Untergänge". Dieses Bürgertum stirbt, stirbt immer wieder und ist doch lange nicht tot. Wenn man sieht, welchen Angriffen das Bürgertum tagtäglich ausgesetzt wird, so muß man sich in der Tat darüber wundern, zumal ja auch das Bürgertum häufig Anlaß zur Kritik gibt. Auch im Bürgertum gibt es noch heute den Johann Buddenbrook aus Thomas Manns „Buddenbrooks" einerseits und den Diederich Hessling aus Heinrich Manns „Untertan" andererseits. Heinrich Manns Romanfigur ist ein Bourgeois-Typ, der keine bürgerlichen Tugenden besitzt. Daß aber Bürgerlichkeit als geistige Lebensform im ganzen fortexistiert, hängt nach Joachim Fest vielleicht auch davon ab, „daß diejenigen, die noch als Bürger empfinden, sich ihrer Werte und Traditionen bewußt werden und aus dem Schweigen treten". Das ist ein Hinweis nicht nur, sondern zugleich eine Mahnung und Schlußpunkt einer beispielhaften Porträtierung des Bürgertums 14 . Fassen wir diese Meinungen zusammen (die sich vielfältig vermehren ließen, natürlich auch um Gegenstimmen), so läßt sich sagen: Es gibt den „Bürger" noch, und er wird dringend gebraucht. Man spricht heute von der „Renaissance des Bürgers", man spricht vom „Mut zum Bürger", man fordert nach „Bürgernähe". W o aber findet der Bürger heute seinen politischen Platz in Staat und Stadt? Der Staat ist von den freiverantwortlichen Bürgern als die Institution geschaffen, in der sich ihr Miteinander vollziehen soll. Dies Miteinander bedarf der Ordnung. Sie kann der Staat nur herbeiführen, wenn er hierfür die erforderliche Autorität besitzt, geistige und sachliche gleichermaßen. Autorität bedeutet Macht, die keine originäre, sondern abgeleitet ist, abgeleitet von den Staatsbürgern als den nach den Grundsätzen der Demokratie maßgebenden Trägern dieser Macht: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. N u r auf der Grundlage solcher Autorität kann der Staat seine öffentlichen Aufgaben erfüllen: Für äußere und innere Sicherheit sorgen, den sozial Schwachen helfen, die Gruppeninteressen ausgleichen, die Qualität des Lebens bessern. Der Staat ist es, der Freiheit und Sicherheit des einzelnen, der Recht und Ordnung gewährleistet: Ohne Staat kein Recht, ohne Recht keine Ordnung, ohne Ordnung keine Freiheit. Freiheit in der verwalteten Welt heißt also nicht Freiheit von staatlicher Autorität und staatlicher Ordnung. Diese O r d -
Joachim Fest, aaO (s. Fn. 11); s. auch Hans Frey er: „Daß trotz der gewandelten Bedingungen Leitbilder bürgerlicher Provenienz mit großer Zähigkeit fortdauern, darf immerhin als Symptom dafür gelten, daß viele Werte der westlichen Kultur im Bürgertum ihre Ausprägung erhalten haben"; Art. Bürgertum, H W B der Sozialwiss., Bd.2 (1959) S. 452. 14
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nung schafft sich der Mensch in Freiheit selbst; sie ist eine Objektivation der Freiheit. In diesem Sinne gehören Freiheit und Ordnung zusammen. Häufig ist die Rede vom staatlich verplanten, vom entmündigten Bürger, der seine Freiheit weitgehend eingebüßt habe und Opfer von Manipulationen des allmächtigen Staates und den ebenso mächtigen Interessenverbänden und anderen Gesellschaftsgruppierungen sei. Tatsächlich aber bedarf der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben des Bürgers. Der Staat: das sind Legislative und Exekutive gleichermaßen. Man sagt so oft, die Parlamentarier hätten den Kontakt zu den Wählern verloren. Ebenso allerdings kann man feststellen, daß die Wähler ihrerseits den Kontakt zu den Parlamentariern verloren haben. Auf beiden Seiten sollte man sich um engeren Kontakt bemühen. Der wirkliche Bürger muß über eine innere Beziehung zum Staat verfügen, die durch solche Kontakte zum Ausdruck gebracht wird, muß Staatsgesinnung haben. Im Rahmen unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft glauben manche alles fordern und alles erhalten zu können. Utopische Wunschvorstellungen machen sich breit, als lebten wir in Alices Wunderland. Niemals hat es mehr Freiheit und mehr Wohlstand gegeben als in der westlichen Welt von heute. Immer weniger aber vollbringt der einzelne eine eigene Leistung, immer mehr verlangt er Gegenleistung. Das ist die Einstellung des Bourgeois, aber nicht die des Citoyen, nicht die des Stadtbürgers und des Staatsbürgers. Als solcher muß er vielmehr um den Ausgleich zwischen Freiheit und Ordnung bemüht sein. Die wichtigste F o r m politischer Mitwirkung durch die Bürger erfolgt immer noch in den politischen Parteien. Heute ist jede Demokratie, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert hat, zwangsläufig ein Parteienstaät. Parteien sind verfassungsrechtlich notwendige Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Repräsentationsprinzip ist wichtigstes Konstitutionselement des modernen Staates. Wer also als Bürger politische Aktivität entfalten möchte, sollte sich einer politischen Partei anschließen. Freilich muß er sich über eins klar sein: Parteien sind nicht besser als die Bürger, die sich in ihnen engagieren. Darüber hinaus ist die Mitarbeit in anderen Institutionen und Organisationen nicht zu vergessen: In den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften, in Kulturträgern, in den Kirchen, in den karitativen Gruppen. Ein großes politisches Aktionsfeld bietet sich dem Bürger in der Selbstverwaltung seiner Stadt. Hier vollzieht sich die Aktivierung des Bürgers zur Wahrnehmung des Interesses der örtlichen Gemeinschaft. Hier wird die Forderung des Freiherrn vom Stein verwirklicht: „Die Bürger müssen in eigener Verantwortlichkeit in ihren örtlichen Lebensbereichen die Bewältigung aktueller Aufgaben soweit wie möglich selbst
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in die Hand nehmen". Die Selbstverwaltung ist ursprünglich Sachverwaltung, nicht obrigkeitliche Herrschaft gewesen. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges bemächtigte sich das politische Parteiwesen der Gemeinden. Mit der Zunahme ihres Aufgabenkreises, sowohl des originären wie der Auftragsverwaltung, gelangte ein komplizierter Verwaltungsapparat zur Entstehung. Gemeindebürokratie und kommunales Berufsbeamtentum besetzten die maßgebenden Einflußbereiche. Im Urteil der öffentlichen Meinung werden beamtete Bürgermeister und Stadträte mehr als Ausdruck des repräsentativen kommunalen Selbstbewußtseins betrachtet als die gewählten Vertretungen der Stadtbürger. Aus der reinen Sachverwaltung ist Obrigkeitsverwaltung geworden. Ungeachtet dieses Strukturwandels aber herrscht immer noch die Sachbezogenheit vor. D e m Zwang zur Versachlichung haben sich auch die Parteien nicht entziehen können. In den sechziger Jahren spricht man von einer Wiederentdeckung der kommunalen Ebene, was Hand in Hand mit einer verstärkten Politisierung geht. Schon ist die Rede von einer Kommunalisierung der Staatsaufgaben, von einer Kommunalisierung der Politik. Für den Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel ist die kommunale Ebene „zur einzigen Ebene praktischer Politik geworden": „Die Selbstverwaltung in den Städten war noch nie so wichtig wie heute". Vor einiger Zeit hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf dem Europatag des Rats der Gemeinden und Regionen Europas erklärt: „Die kommunale Politik ist das Herzstück der Politik". Auf diese Weise ist die Funktionsfähigkeit der Gemeinde zu einem elementaren Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft geworden. Die Orts- und Milieunähe der Kommunalpolitik, ihre Verbundenheit mit dem Alltag gibt dem Bürger weitgehende Chancen der Einschaltung in diese Politik. Thomas Ellwein 15 , der sich mit diesem Fragenkreis eingehend beschäftigt hat, schildert ausführlich die Ehrenämter, die man im Rahmen der Gemeindepolitik übernehmen kann. Als Stadtbürger ist man den Problemen, die einem täglich Sorge bereiten, viel näher als der Staatsbürger bundesweiten Problemen. Der Ortsbezug hat Vorrang, hat in der an seiner praktischen Erfahrung ausgerichteten Vorstellung des Stadtbürgers den Vorrang vor gesamtstaatlichen Perspektiven. Die funktionelle Mitwirkung des Stadtbürgers auf der Gemeindeebene ist daher nicht nur erwünscht, sondern unerläßlich. Die entscheidende Rolle des Stadtbürgers ist nicht allein, daß er die Selbstverwaltung trägt, sondern daß er sie durch seine Ansprüche an die kommunale Daseinsvorsorge maßgeblich bestimmt. Durch die Tätigkeit in der Selbstverwaltung auf den verschiedenen Ebenen wird ihm ermöglicht, die aktuellen Probleme, 15
Thomas Ellwein, Politische Verhaltenslehre, 1964, S. 88 f.
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Notwendigkeiten, Sachzwänge kennenzulernen, die Chancen für sinnvolle politische Arbeit auszumachen. Gemeinschaftsgefühl, Kompromißbereitschaft, Toleranz beginnt er zu empfinden und gewinnt damit Eigenschaften, die den wahren Bürgersinn ausmachen. Auch außerhalb der Kommunalverwaltung gibt es Möglichkeiten politischer Betätigung für den Bürger. Sie werden durch ein Wort, oder eher ein Schlagwort, bezeichnet, dessen sich heute Politologen, Soziologen und Staatswissenschaftler gern bedienen - es lautet „Partizipation". Der Engländer Neil W . Chamberlain hat vor einigen Jahren von unserem heutigen Europa festgestellt: „Es ist ein Europa, in dem Partizipation das Zauberwort geworden ist, da weder Kapital noch Arbeit Verantwortung übernehmen wollen". Aber er fügt sogleich hinzu: „Partizipation allein löst ohne eine klare Vorstellung der Ziele keine Probleme. Was fehlt, ist eine Ideologie und ein Programm" 1 6 . Weder eine Ideologie noch ein Programm soll hier zur Verfügung gestellt werden. Aber es soll zu schildern versucht werden, was unter Partizipation, nämlich Teilhabe der Bürger an der Politik, verstanden wird. Das ist um so wichtiger, als sich eine wahre Partizipationseuphorie breit gemacht hat, als man heute schon von einer „partizipatorischen Revolution" zu sprechen sich bemüßigt fühlt. „Gemeint ist damit die Auffassung der These, daß die entwickelten Industriegesellschaften des Westens sich zunehmend einer umfassenden Forderung der Bürger nach Ausweitung ihrer sozialen und politischen Beteiligungsrechte gegenübersehen" (Max Kaase) 17 . Deshalb wird einer „Maximierung der Partizipation" das W o r t geredet, während man übrigens andernorts zu gleicher Zeit von einer Staatsverdrossenheit des Bürgers, von seiner zunehmenden Distanzierung zur Politik spricht. Erscheinungsformen dieser Partizipation sind vor allem die Forderung nach Demokratisierung und die Fortentwicklung der Bürgerinitiativen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Anregung des Einbaus plebiszitärer Elemente in unser Verfassungssystem. Was zunächst die Demokratisierung betrifft, so zielt diese gesellschaftspolitische Forderung dahin, Demokratie von der Basis her aufzubauen. Die Gesellschaft soll von unten nach oben organisiert werden, wobei die Basisgruppen die eigentlichen politischen Einheiten sind. Auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens und auf jeder seiner Ebenen soll repräsentative Demokratie der direkten Demokratie weichen. Auf solche Weise soll sichergestellt werden, daß die Herrschaft wirklich beim Volk liegt. 16 Neil W. Chamberlain, Forces of Changes in Western Europe, London 1980, S.345 (zit. und übersetzt von Max Kaase, Partizipation und Kommunikation, in: Bürger und Parteien, herausg. von Joachim Raschke, 1982, S. 174). 17 Max Kaase, aaO (s. Fn. 16) S. 177.
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Überall, in Kirche und Schule, in Kunst und Wissenschaft, in Krankenhäusern und Kindergärten soll unmittelbare Demokratie geübt werden. Die gegenwärtigen Strukturen der gesellschaftlichen Sphären in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gelten als unfreiheitlich und autoritär, werden daher angegriffen. Dieses Verlangen nach Basisdemokratie übersieht, daß es keine Demokratie ohne Ordnung und ohne Form geben kann. Alle Ordnungs- und Entscheidungsprozesse würden unübersichtlicher, unregelmäßiger und uneinheitlicher verlaufen. Existenzwichtige Entscheidungen könnten nicht mehr getroffen werden. An die Stelle geordneter Autorität würde die Macht von Gruppen und Organisationen treten, die sich der Institutionen bemächtigen, um auf diese Weise ihr Gruppeninteresse zur Geltung zu bringen. Machtmißbrauch für persönliche oder ideologische Zwecke wäre die Folge. Die Basisdemokratie verläßt die Basis der Demokratie. Welches ist übrigens eigentlich die Basis, auf die sich diese Basisdemokraten berufen? Wer gehört ihr an? Wer gehört zu ihr? Wer stimmt ab? Wie bilden sich Mehrheiten? Wie machen die bei Abtimmungen Fehlenden ihre Meinung geltend? Antworten auf diese und ähnliche Fragen geben uns die Basisdemokraten nicht. Man hat den Basisdemokraten übrigens kürzlich die Meinungsforscher zur Seite gestellt, weil auch sie einen angeblichen Wählerwillen zu ermitteln suchen und auf seiner Grundlage die Politik der Regierung beeinflussen wollen (Lohmar) 18 . Sie lassen dabei außer acht, daß die Herrschaft, die sie in Mißkredit bringen wollen, durch Organe ausgeübt wird, die auf demokratischem Wege gewählt sind, und zwar durch das Volk, das auf solche Weise seine Herrschaft manifestiert hat und die Regierungsorgane durch gewählte Vertretungen kontrollieren läßt. Ahnliches begegnet uns bei den Bürgerinitiativen, die man schon als „spezielle Erscheinungsform der partizipatorischen Revolution" bezeichnet hat. Auch hier hat man eine prägnante Formel gefunden: „Die Bürger rüsten sich zur Auseinandersetzung mit den Bürger-Meistern". Bürgerinitiativen sind in den sechziger Jahren groß geworden, damals, als auch die „Studentenrevolte" (wie man sie nennt) und die „ A P O " , die außerparlamentarische Opposition, von zeitweiser Bedeutung wurden. Das Ausmaß der Verbreitung der Bürgerinitiativen ist bemerkenswert; ihre Mitgliederzahl übersteigt die Zahl der Mitglieder der etablierten Parteien bei weitem, selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Mitgliedschaft bei Bürgerinitiativen häufig nur eine zeitweilige ist. Der N a m e „Bürgerinitiativen" ist übrigens irreführend, denn nur in seltenen Fällen sind sie initiativ. Meistens sind sie nur reaktiv, reagieren auf staatliche, insbesondere behördliche Handlungen und Planungen, 18
Ulrich Lohmar, Die Welt Nr. 94 vom 23.4.1986.
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die sie verhindern möchten. Bei fast allen ihren Zielobjekten geht es um die Verhinderung von Veränderungen und nicht um deren Herbeiführung. Darum wenden sie sich vor allem gegen die Exekutive, während in der Demokratie sonst die Legislative das Feld für politische Aktionen ist. Darum spielen Bürgerinitiativen auch und gerade auf kommunaler oder regionaler Ebene eine Rolle. Existenz und Häufigkeit von Bürgerinitiativen zeigen, daß für sie ein Bedürfnis bestand und besteht, ob hinter ihrer Verbreitung nun das oft zitierte „Unbehagen" der Bürger an der praktischen Politik oder Verdruß über die Parteien der Anlaß ist. Aktionsbereitschaft der Bürger ist regelmäßig begrüßenswert, und so sind denn auch die Bürgerinitiativen legitim, sofern sie nicht für Sonderinteressen eingesetzt werden und sofern die parlamentarischen Spielregeln beachtet werden. Das aber ist gerade kennzeichnend für Bürgerinitiativen, daß sie die Verfolgung ganz bestimmter konkreter Einzelziele im Auge haben, die für Sonderinteressen stehen. Während die etablierten Parteien sich auch dann, wenn sie bestimmte Interessen verfolgen, im Regelfall um einen Interessenausgleich bemüht zeigen, lassen die Bürgerinitiativen einen solchen Ausgleich außer acht. Schwerer wiegt ein anderes Bedenken. Die Vorgänge um die Demonstrationen, die in der letzten Zeit in Brokdorf, in W a k kersdorf, in Hamburg und an anderen Plätzen stattgefunden haben, lassen mit aller Deutlichkeit erkennen, daß diese Aufmärsche, die doch auf Bürgerinitiativen zurückgehen, zusehends zum Gegenstand von Unterwanderungen gemacht werden - durch Unterwanderung von Gruppen nämlich, die von vornherein Gewaltanwendung planen. Man pflegt die aus der ganzen Bundesrepublik anreisenden Angehörigen dieser Gruppen - Vermummte, Bewaffnete, vor Körperverletzungen und Sachbeschädigung nicht Zurückschreckende - „Chaoten" zu nennen. Diese Militanten aber handeln in Wirklichkeit nicht chaotisch, sondern legen ihrem Vorgehen eine generalstabsmäßige Planung unter Zuhilfenahme der Logistik zugrunde. Wenn man berücksichtigt, daß offensichtlich im Vorwege faktische Abreden zwischen dieser Gruppe, den Grünen und den Vertretern der Bürgerinitiativen getroffen wurden, bei denen keine Distanzierung von möglichen Gewaltanwendungen erfolgte, dann muß man sich fragen, ob noch zwischen Gewaltfreien und Kriminellen unterschieden werden kann. N o c h ist die Grenze diffus; wie lange mag es dauern, bis sie ganz verschwunden ist. Bei Wiederholungen solcher Vorgänge werden Bürgerinitiativen dieser Art nicht überleben können. Es gibt schließlich noch eine weitere Form der Partizipation, die im Gerede ist. Im Rahmen dessen, was man heute in der geschilderten Weise als Partizipationsverlangen bezeichnet, wird auch die Einführung plebiszitärer Elemente verlangt. Mit guten Gründen haben die Väter des
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Grundgesetzes es vermieden, dem Beispiel der Weimarer Verfassung zu folgen und Volksbegehren und Volksentscheide in die Verfassungsordnung einzubeziehen. Es besteht keine Notwendigkeit, von dieser Entscheidung abzurücken. Plebiszitäre Elemente schaffen allenfalls in Ausnahmefällen politische Grundlagen, die allen Bürgern gemeinsam sind. Vielmehr tragen sie im Regelfall partikularistischen Charakter, verfolgen Einzelziele, vertreten Sonderinteressen und lassen den Gleichheitsgrundsatz außer acht. Eine für alle Bürger gleichermaßen gültige Ordnung können sie nicht hervorbringen. Das gilt auch für die kommunale Ebene. Stadt und Bürger — über ihre Beziehungen zueinander ist hier gesprochen. Im Rahmen dieses Vortrags mußte es bei wenigen Andeutungen bleiben, die der Bedeutung des Themas schwerlich gerecht werden können. Es wäre schon erfreulich, wenn der heutige Standort des Stadtbürgers und des Staatsbürgers annähernd verdeutlicht worden ist. Wenn das der Fall sein sollte, wird man Verständnis für den Ausruf Dantes in der „Göttlichen Komödie" haben: „Nichts Schlimmeres für den Menschen als Bürger nicht zu sein!" Freilich gilt es dabei, die Mahnung von Hoffmann von Fallersleben im Auge zu behalten: „Strebt Ihr, Bürger zu sein, so vergeßt nicht Menschen zu bleiben. Gehet unter der Mensch, taugt auch der Bürger nicht viel."
Internationales Recht
Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction in den U S A Eine Studie aus Anlaß des Asahi-Falls HERBERT BERNSTEIN
I. Einleitung Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gewährleistet ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gestaltetes Gerichtsverfahren in den Due-Process-Klauseln des V. und des XIV. Verfassungszusatzes. Das in der Bill of Rights, den ersten zehn Verfassungszusätzen von 1789, enthaltene V. Amendment richtete sich wie die gesamte Bill of Rights nur an die Staatsgewalt des Bundes und somit nur an dessen Gerichte. Erst das im Gefolge des Bürgerkrieges (1861-1865) erlassene XIV. Amendment von 1868 unterwarf auch die Einzelstaaten und damit deren Gerichte umfassenden grundrechtlichen Garantien, wie sie besonders in der Due-Process-Klausel dieses Verfassungszusatzes zum Ausdruck kommen. Bedeutung und Tragweite der beiden Due-Process-Klauseln, vor allem derjenigen des XIV. Amendments, sind in vielen Punkten bis heute umstritten geblieben. Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Lehre hat sich mehrfach gewandelt. Das gilt vor allem für die Frage, ob die Klauseln neben Verfahrensgrundsätzen auch materiellrechtliche Positionen („substantive due process") gewährleisten. Ferner ist umstritten, in welchem Maß die Garantie des Due Process im XIV. Amendment die Einzelstaaten den Grundrechten der Bill of Rights unterwirft. Von einer Theorie der vollinhaltlichen Inkorporation über die selektive Anwendbarkeit bis zu einer bloßen Orientierung an den Grundsätzen der Bill of Rights reichen die Interpretationen des XIV. Amendments. Sogar innerhalb des Supreme Court stehen die Meinungen einander seit langem schroff gegenüber. Alles dies soll hier nicht weiter vertieft werden. Die folgende Studie wird keine materiellrechtlichen Gegenstände des Grundrechtsschutzes behandeln, nur solche des Verfahrensrechts. Außerdem wird kein Anlaß bestehen, einzelne Grundrechte der Bill of Rights unter dem Aspekt zu behandeln, ob sie vermöge des XIV. Verfassungszusatzes auf die Einzelstaaten anwendbar sind und nicht nur auf die Staatsgewalt des Bundes.
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Vielmehr sollen allein Fragen des gerichtlichen Verfahrens in den U S A im Lichte der Due-Process-Klauseln erörtert werden. Nach Wortlaut und Sinn dieser Klauseln steht außer Zweifel, daß sowohl die Gerichte des Bundes wie die der Einzelstaaten bei ihrer Tätigkeit an die Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens durch die beiden insoweit identischen Klauseln gebunden sind. Dasselbe gilt für den Gesetzgeber im Bund und in den Einzelstaaten, soweit er das gerichtliche Verfahren legislatorisch gestaltet. Die verfassungsrechtliche Garantie eines rechtsstaatlich gestalteten Verfahrens ( „ D u e Process") hat vielfältige Auswirkungen. Hier soll nur derjenige Ausschnitt behandelt werden, der die Schranken der gerichtlichen Zuständigkeit („Jurisdiction") betrifft. Innerhalb dieses Fragenbereichs wiederum werden ausschließlich die internationalen und zwischenstaatlichen („Interstate") Problemaspekte zur Sprache kommen, also Fragen der territorialen Zuständigkeit. Die Verfassung der U S A begrenzt nach allgemeiner Ansicht die Jurisdiction der Gerichte durch Normen ganz verschiedener Art. Neben den Grundrechtsbestimmungen als Mitteln des Individualrechtsschutzes wird das Strukturprinzip des Föderalismus als Verfassungsschranke immer wieder angeführt, soweit es um die Grenzen der Ausübung richterlicher Zuständigkeit im Verhältnis der Einzelstaaten zueinander geht. Im Bundesstaatsprinzip begründete Schranken gerichtlicher Zuständigkeit werden in diesem Zusammenhang allerdings gern in den Grundrechtsschutz des XIV. Verfassungszusatzes hineingelesen 1 , ohne daß dafür eine stringente theoretische Begründung - etwa nach der Art der deutschen Lehre von den institutionellen Garantien oder von den Grundwertentscheidungen im Grundrechtsteil der Verfassung gesucht wird. Der eigentliche Sitz des Bundesstaatsprinzips findet sich naturgemäß an anderen Stellen der Verfassung, etwa in der Präambel, in der enumerativen Gestaltung von Bundeskompetenzen und im X . Verfassungszusatz über den Vorbehalt aller nicht dem Bund zugewiesenen staatlichen Gewalt zugunsten der Einzelstaaten und deren Bevölkerung. Die Anrufung des Föderalismus-Prinzips als Bestandteil der Due-Process-Klausel des X I V . Amendments könnte bezwecken, auch individuellen Prozeßbeteiligten und nicht nur staatlichen Organen zu ermöglichen, die aus dem Prinzip abgeleiteten Schranken territorialer gerichtlicher Zuständigkeit in Wahrnehmung ihrer individuellen Interessen geltend zu machen. O b es sich wirklich so verhält, ist allerdings zweifelhaft. A m Ende dieses Beitrags wird darauf zu antworten sein.
1 Siehe z . B . World-Wide Volkswagen C o r p . v. Woodson, 444 U . S . 286, 292-293 (1980).
Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction in den U S A
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Die enge Verzahnung des individuellen Grundrechtsschutzes einerseits und des bundesstaatlichen Strukturprinzips andererseits bei der Verfassungskontrolle der richterlichen Zuständigkeit ist seit mehr als hundert Jahren als ein auffälliges Merkmal der Rechtsprechung des Supreme Court zu beobachten2. Indessen hat es in der Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung außerhalb der USA nur geringe Beachtung gefunden. Die folgende Untersuchung wird diesem höchst problematischen Spannungsverhältnis erhöhte Aufmerksamkeit widmen, auch wenn es hier selbstverständlich nicht erschöpfend behandelt werden kann. II. Die Pennoyer-Regel Wer die verfassungsrechtlichen Aspekte der Jurisdiction als Grundlage ordnungsgemäßer Gerichtsverfahren in Amerika verstehen will, muß mindestens bis zum Pennoyer-Fall zurückgehen3. Angeblich ist die Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1878 in der Sache Pennoyer v. Neff überholt. Aber es läßt sich zeigen, daß auch heute noch das amerikanische Recht der Jurisdiction und deren verfassungsrechtliche Beurteilung stark von Vorstellungen beherrscht wird, die in jenem Fall einen markanten Ausdruck gefunden haben. Im Pennoyer-Fall ging es darum, daß eine persönliche Schuld des ursprünglichen Beklagten Neff im Staate Oregon eingeklagt wurde, wo Neff zwar nicht ansässig war, aber ein Grundstück besaß. Der Supreme Court sprach dem Staat Oregon bei dieser Sachlage die gerichtliche Zuständigkeit (Jurisdiction) für die persönliche Klage gegen Neff ab, weil dessen Grundstück nicht zum Zwecke der Verfahrenseinleitung beschlagnahmt oder in sonstiger Weise unter die Kontrolle des Gerichts gebracht wurde. Vom Standpunkt des deutschen Rechts ist das Ergebnis überraschend. Der Beklagte hatte, wie gesagt, ein Grundstück im Staat Oregon. Also wäre nach deutschem Recht der Gerichtsstand des Vermögens begründet gewesen. Nach amerikanischem Recht ist aber das bloße Vorhandensein von Vermögen keine ausreichende Grundlage für die Ausübung einer Personal Jurisdiction. Zu diesem Ergebnis kommt der Supreme Court im Fall Pennoyer v. Neff unter Ablehnung einer vom Untergericht vertretenen Gegenmeinung. Der Supreme Court beruft sich zur Begründung seiner Ansicht 2 Schon die grundlegende Entscheidung im Fall Pennoyer v. Neff, 95 U.S. 714 (1878) behandelt Fragen der Personal Jurisdiction als Angelegenheit der Abgrenzung der Territorialgewalt der durch die Bundesverfassung in ihrer Souveränität beschränkten Einzelstaaten; dazu Abschnitt II. dieses Beitrages. 5
Nachweis Fn. 2.
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auf "two well established principles of public law respecting the Jurisdiction of an independent State over persons and property". Zwar seien die Staaten der nordamerikanischen Union nicht völlig unabhängige Staaten. Aber die genannten Prinzipien seien auf sie anwendbar, soweit die Befugnisse der einzelnen Staaten nicht durch die Unionsverfassung eingeschränkt und begrenzt seien. Eines dieser Prinzipien besage, daß jeder Staat ausschließliche Jurisdiction und Souveränität über Personen und Sachen innerhalb seines Gebiets habe. Das andere Prinzip folge aus dem ersten und besage, daß kein Staat unmittelbare Jurisdiction und Befugnisse über Personen und Sachen außerhalb seines Territoriums ausüben könne4. Die in solchen Sätzen zum Ausdruck kommende Auffassung vom Wesen der legitimen Jurisdiction hat Ehrenzweig als „Power Myth" gekennzeichnet5. Dieser Machtmythos besteht nach seiner Ansicht in der Annahme, daß ein Gericht die Person des Beklagten (oder dessen Vermögen) in seine Gewalt bekommen muß, um Jurisdiction über den Beklagten zu erlangen. Eine sorgfältige Prüfung ergibt jedoch, daß die vom Supreme Court in der Sache Pennoyer v. Neff vertretene Auffassung nicht ausschließlich vom Machtmythos her verstanden werden kann. Mit einem reinen Machtprinzip wäre es nämlich durchaus vereinbar gewesen, die Ausübung von Jurisdiction in der Zahlungssache gegen Neff für wirksam zu erklären. Denn schließlich besaß der Schuldner Vermögen im Staate Oregon, so daß dieser Staat als ein zur Ausübung von Macht über Sachen auf seinem Territorium auf Grund des ersten Prinzips befugter Souverän hierauf zugreifen konnte. Der Supreme Court aber war der Auffassung, dies genüge nicht. Zur Ausübung einer Personal Jurisdiction sei vielmehr notwendig, daß vor oder bei Beginn des Verfahrens Eigentum des Beklagten beschlagnahmt oder in sonstiger Weise unter die Kontrolle des Gerichts gebracht werde. Dieses vom Supreme Court aufgestellte verfassungsrechtliche Erfordernis läßt sich keineswegs als Ausprägung eines auf die Spitze getriebenen Machtprinzips erklären. Vielmehr standen Erwägungen prozessualer Fairness und Effektivität dahinter, als der Supreme Court zur Begründung für das Verfassungserfordernis einer Beschlagnahme als Grundlage einwandfreier Jurisdiction ausführte: Wenn das bloße Vorhandensein von Eigentum und eine darauf gestützte öffentliche Zustellung von Klage und Ladung für die Ausübung einer Personal Jurisdiction als genügend angesehen würde, wäre nicht gewährleistet, daß der Beklagte Kenntnis von dem Verfahren erlange. Außerdem bestünde die Siehe Pennoyer v. Neff (Fn. 2) auf S. 722. A.A. Ehrenzweig, The Transient Rule of Jurisdiction: The „Power" Myth and Forum Conveniens, 65 Yale L.J. 289 (1956). 4 5
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Gefahr, daß der Beklagte vor Beginn der Vollstreckung über sein Eigentum verfüge und damit dem Verfahren die Grundlage entziehe 6 . Darin zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß sich schon in der Entscheidung des Falles Pennoyer v. Neff bei der Beurteilung verfassungsrechtlicher Schranken gerichtlicher Zuständigkeit mindestens drei ganz unterschiedliche Gesichtspunkte durchdringen. Zwar geht der Supreme Court von einem klaren Machtprinzip aus, indem er annimmt, alle Personen und alle Sachen innerhalb des Gebiets eines Staates seien dessen Jurisdiction unterworfen. Dieses Prinzip schränkt das Gericht aber dadurch ein, daß es die Ausübung von Personal Jurisdiction, welche sich auf das Vorhandensein von Vermögensgegenständen gründet, nur zuläßt, wenn eine Besitzergreifung durch Rechtspflegeorgane es wahrscheinlich macht, daß der Beklagte Kenntnis von dem Verfahren erhält (Prinzip der Fairness), und gleichzeitig gewährleistet ist, daß er nicht wirksam über den Gegenstand verfügen und damit das gerichtliche Verfahren seiner Wirkung berauben kann (Prinzip der Effektivität). III. Holmesianismus Man mag bezweifeln, ob das Gebot der Fairness und das Ziel der Effektivität sich mit dem vom Supreme Court für erforderlich, aber auch ausreichend erachteten Mittel gerichtlicher Beschlagnahme eines Vermögensgegenstandes des Beklagten oder der Klagezustellung an einen im Forumstaat anwesenden Beklagten sinnvoll verwirklichen lassen. Darauf kommt es hier nicht an. Entscheidend ist vielmehr, daß der Supreme Court in Fairness und Effektivität verfassungsrechtlich zu schützende Rechtswerte erblickte, die bei der Festlegung der Grenzen legitimer Ausübung gerichtlicher Zuständigkeit zu beachten seien. Erst in späterer Zeit ist die vergleichsweise subtile Berücksichtigung verschiedener verfassungsrechtlich relevanter Verfahrenszwecke einer rohen, einseitigen Betonung des angeblich mit Verfassungsrang ausgestatteten Machtprinzips gewichen. Dazu hat der Richter Holmes entscheidend beigetragen, der auch auf anderen Gebieten durch griffige Formeln und schreckliche Vereinfachungen dem amerikanischen Recht in Lehre und Praxis überaus zweifelhafte Dienste erwiesen hat. Im hier behandelten Zusammenhang gipfelte sein recht simplistisches Denken in der Feststellung: "The foundation of Jurisdiction is physical power." Dieser in einer Entscheidung des Supreme Court von 1917 enthaltene Ausspruch von Holmes, dem Autor dieser Entscheidung, kennzeichnet einen Tiefpunkt in der amerikanischen Rechtsentwicklung 7 . Gemäß dem zitierten Leitmotiv
6 7
Siehe Pennoyer v. Neff (Fn.2) auf S.727f. Siehe Mc Donald v. Mabee, 243 U.S. 90 (1917) auf S.91.
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des Holmesianismus vollzieht sich die Ausübung gerichtlicher Zuständigkeit nach den Regeln oder vielmehr der Regellosigkeit des Catch As Catch Can. Und dabei ist jene ominöse Sentenz nicht als Zustandsbeschreibung aufzufassen, sondern als Wiedergabe einer mit dem angegebenen Inhalt behaupteten Verfassungsnorm. Hierin und nicht in der 40 Jahre vorher erlassenen Pennoyer-Entscheidung offenbarte sich ein Tiefstand der Rechtskultur, verbunden mit dem dafür charakteristischen Merkmal einer die weitere Entwicklung hemmenden Erstarrung. Das amerikanische Recht hat diesen Zustand indessen bald überwunden. Zunächst behalf man sich, wie es in solchen Phasen der Rechtsgeschichte oft geschieht, wo immer notwendig und angängig, mit den Krücken einer Fiktion. Das zum Machtmythos erstarrte Holmesianische Verfassungsdenken ließ die Ausübung richterlicher Jurisdiction immer dann und nur dann zu, wenn der Forumstaat die Person des Beklagten oder einen ihm gehörenden Vermögensgegenstand in seine Gewalt gebracht hatte. Das vom gleichen Zeitgeist wie der Machtmythos geprägte voluntaristische Prinzip gebot freilich eine Ergänzung des Machtprinzips (welches seinerseits gern voluntaristisch mit Unterwerfungsfiktionen verbrämt wurde): Die Zustimmung eines Beklagten sollte danach in jedem Fall eine hinreichende Grundlage für die Ausübung richterlicher Jurisdiction bilden 8 . Von hier führt ein kurzer Weg zur Anerkennung neuer Zuständigkeitsgründe. Die Bestellung eines Vertreters zwecks Vornahme von Rechtsgeschäften wurde als Zustimmung zur Ausübung von Personal Jurisdiction über den Vertretenen gedeutet 9 . Noch viel weiter wurde das peinliche Spiel mit rein fiktiven Zustimmungen getrieben, als die Motorisierung Amerika grundlegend veränderte. Der Gesetzgeber in vielen Einzelstaaten der USA befand, mit der Benutzung des Straßennetzes des jeweiligen Staates habe jeder außerhalb des Staates ansässige Autofahrer einen im Gesetz näher bezeichneten Beamten zu seinem Vertreter für die Entgegennahme von Ladungen für jedes Verfahren bestellt, das einen aus der Benutzung erwachsenen Anspruch betrifft. Der Supreme Court hat solche gesetzgeberischen Verkrampfungen im Interesse der Erreichung eines durchaus vernünftigen Ergebnisses unter der Ägide des Machtmythos verfassungsrechtlich gebilligt10. Ebenso wie in diesem Fall hat das Gericht sich mit konstruierten Zustimmungen beholfen, als es darum ging, den Wohnsitz des Beklagten auch bei dessen tatsächlicher
8 Siehe dazu die kritischen Ausführungen in Shaffer v. Heitner, 433 U.S. 186 (1977) auf S. 201 ff. 9 Siehe Henry L . D o h e r t y & Co. v. Goodman, 294 U.S. 623 (1935). 10 Siehe Hess v. Pawloski, 274 U.S. 352 (1927).
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Abwesenheit als ausreichende Grundlage der Personal Jurisdiction anzuerkennen 11 . IV. Neubeginn Im Jahre 1945 wurde eine neue Seite in diesem Kapitel amerikanischer Rechtsgeschichte aufgeschlagen. Der Supreme Court hatte den Fall International Shoe v. Washington zu entscheiden 12 . Die beschwerdeführende Firma wurde vom Staat Washington auf Beiträge zu einem Fonds für Arbeitslosenentschädigung in Anspruch genommen. Die Firma mit Sitz in Missouri hatte Handelsvertreter ohne Abschlußvollmacht nach Washington entsandt, welche die von ihnen eingeworbenen Vertragsangebote an die Firma in Missouri zur weiteren Bearbeitung übermittelten und gegebenenfalls Provisionen erhielten. Diese Tätigkeit reichte nach herkömmlichen Maßstäben vermutlich nicht aus, eine juristische Person unter dem Gesichtspunkt des Döing Business im Forumstaat der Personal Jurisdiction der Gerichte zu unterwerfen. Dieses Kriterium (Döing Business) war bei juristischen Personen seit langem als das Äquivalent der tatsächlichen Anwesenheit einer natürlichen Person im Forumstaat behandelt worden. Auch dies war offenkundig eine der zahlreichen Fiktionen zur mühsamen Aufrechterhaltung der im Machtmythos befangenen Denkgewohnheiten. Der Supreme Court stand vor einem Dilemma. Er konnte daran festhalten, daß die Verfassung eine Ausübung von Personal Jurisdiction nur zulasse, wenn der Beklagte selbst bei Einleitung des Verfahrens im Forumstaat anwesend sei oder ein ihm gehörender Vermögensgegenstand unter die Gewalt des Gerichts gebracht werde. Bei Aufrechterhaltung dieser Prämisse hätte das Gericht ein den praktischen Bedürfnissen entsprechendes Ergebnis wohl nur erzielen können, wenn es die bereits zuvor aufgestellten gewaltsamen Fiktionen um eine weitere vermehrt hätte. Andererseits konnte der Supreme Court die verfassungsrechtliche Beurteilung der gerichtlichen Zuständigkeit der Einzelstaaten auf eine neue Grundlage stellen. Genau dies hat das Gericht im Jahre 1945 zu tun versucht. Es hat die historischen Hintergründe und damit die Entstehensbedingungen der Pennoyer-Regeln sorgfältig analysiert. Damit hat es den begrenzten Rechtsgehalt der Regel verdeutlicht. Ohne sich von der Regel als Verfassungsnorm völlig loszusagen, hat es den entscheidenden Schritt in eine Richtung getan, die am Ende zur Auflösung der Regel führen muß. Der Supreme Court hat die Einzelstaaten in Anwendung der Due-Process-
" Milliken v. Meyer, 311 U.S. 457 (1940). 12 International Shoe Co. v. Washington, 326 U.S. 310 (1945).
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Klausel für befugt erklärt, Personal Jurisdiction auch dann auszuüben, wenn der Tatbestand der Pennoyer-Regel nicht erfüllt ist. Seit 1945 verlangt die Due-Process-Klausel nach Ansicht des Supreme Court nicht mehr, daß die Ausübung von Personal Jurisdiction auf Anwesenheit des Beklagten im Forumstaat (bei Einleitung des Verfahrens) gestützt wird oder auf Beschlagnahme von Vermögen des Beklagten im Forumstaat oder auf einen krampfhaft konstruierten (oder realen) Akt der Zustimmung des Beklagten zur Zuständigkeit des Gerichts. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kommt es seit 1945 entscheidend vielmehr darauf an, ob der Sachverhalt, auf den Personal Jurisdiction jeweils gegründet wird, solcherart ist, daß der Beklagte gewisse Mindestkontakte mit dem Forum hat, so daß die Ausübung von Personal Jurisdiction über ihn keinen Verstoß gegen "traditional notions of fair play and substantial justice" darstellt 13 . Damit hat auf verfassungsrechtlicher Ebene ein mit wertausfüllungsbedürftigen Begriffen operierender offener Tatbestand den scheinbar geschlossenen starren Tatbestand der Pennoyer-Regel weitgehend verdrängt. U m im Einklang mit der DueProcess-Klausel zu handeln, braucht ein Staat der U S A die Ausübung von Personal Jurisdiction nicht mehr mit Hilfe durchsichtiger Fiktionen zu legitimieren versuchen, welche stets die Gefahr in sich bergen, das Recht zur Farce zu machen. Dementsprechend haben die Gesetzgeber in den Gliedstaaten der U S A den Rahmen ihrer Personal Jurisdiction zunehmend weiter ausgedehnt. Ein bestimmter Typus dieser gesetzlichen Maßnahmen trägt die Bezeichnung Long-Arm Statutes. Die so bezeichneten Gesetze lassen sich generell dahin charakterisieren, daß sie die Unterwerfung eines Beklagten unter die Jurisdiction des Forumstaates bewirken, ohne daß es physischer Anwesenheit des Beklagten oder seines Vermögens im Forum bedarf. Im allgemeinen genügen als Grundlage der Jurisdiction im Rahmen dieser Gesetze gewisse auf das Forum abzielende oder auch nur sich dort auswirkende Handlungen des Beklagten, mögen diese deliktischer oder nicht deliktischer Natur sein. Unter Umständen kann eine einzelne derartige Handlung ausreichen, weshalb auch von SingleAct Statutes die Rede ist. Immerhin kann die Long-Arm Jurisdiction nur unter der Voraussetzung geltend gemacht werden, daß der Kläger einen Anspruch verfolgt, welcher gerade aus der Forum-bezogenen Tätigkeit des Beklagten hergeleitet wird. Das ist ein bedeutsamer Unterschied dieser neuartigen Erscheinungsform der Jurisdiction gegenüber den älteren Regeln der Personal Jurisdiction. Sofern nämlich deren Kriterien erfüllt sind, kann grundsätzlich jede persönliche Klage darauf gestützt werden, selbst wenn der Klagegrund im übrigen mit dem Forum nichts 13
Siehe a a O (Fn. 12) auf S.316.
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zu tun hat. (Zur Korrektur dient dann allenfalls die Doktrin vom forum non conveniens.) Demgegenüber ist die Long-Arm Jurisdiction von vornherein so ausgestaltet, daß Ansprüche, die in tatsächlicher Beziehung mit dem Forum nichts zu tun haben, im Rahmen dieser Jurisdiction nicht verfolgt werden können. Auch hierin manifestiert sich ein bemerkenswerter Neubeginn im Entwicklungsprozeß des Rechts der Personal Jurisdiction in den U S A . Er führt zu einer begrüßenswerten Annäherung amerikanischer und kontinentaleuropäischer Rechtsvorstellungen auf dem Gebiet der territorialen Zuständigkeit der Gerichte. Die Gefahr von Fehleinschätzungen und Mißverständnissen ist freilich auch nach dem Neubeginn von 1945 immer noch groß. Mit Entschiedenheit ist vor allem auf folgendes aufmerksam zu machen. Die Entscheidung im Fall International Shoe enthielt eine Absage an den Holmesianischen Machtmythos nur in einer Richtung. Seit 1945 war es von Verfassungs wegen nicht mehr notwendig, den Beklagten in Person oder einen Gegenstand seines Vermögens unter die Gewalt des Gerichts zu bringen, damit Personal Jurisdiction ausgeübt werden konnte. Aber es schien zunächst, daß es zur Begründung verfassungsgemäßer Personal Jurisdiction in jedem Fall weiterhin ausreichend sei, eine verfahrenseinleitende Ladung an einen im Forumstaat anwesenden Beklagten zuzustellen oder einen dem Beklagten gehörenden, im Forumstaat belegenen Vermögensgegenstand zu beschlagnahmen. V o m Erfordernis der Minimalkontakte sowie der Wahrung der "traditional notions of fair play and substantial justice" war im International-Shoe-Fall ausdrücklich der im Forum anwesende Beklagte ausgenommen ( " . . . if he be not present within the forum . . ,") 14 . Daß die Zustellung einer Ladung im Forumstaat als solche geeignet sein soll, die Zuständigkeit eines Gerichts im Verfahren gegen den Zustellungsempfänger zu begründen, erscheint aus der Sicht des modernen kontinentaleuropäischen Rechts überaus befremdlich. Dem C o m mon Law ist diese Regel der Personal Jurisdiction aber seit langem geläufig. Diesen Aspekt der in Pennoyer v. Neff als verfassungsrechtlich unbedenklich bekräftigten Regel hat Ehrenzweig „transient jurisdiction" genannt 15 . Frei übersetzt könnte man von „Zuständigkeit im Vorübergehen" oder von „ambulanter Zuständigkeit" sprechen; und so merkwürdig wie diese Ausdrücke klingen, so seltsam ist aus rechtsvergleichender Sicht das Phänomen, das damit gemeint ist. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Erscheinung, die als sonderbares Schaustück einer vergangenen Epoche abgetan werden kann. Es blieb auch nach 1945 so, 14 15
Siehe aaO (Fn. 12) auf S. 316. Siehe Fn. 5.
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daß die bloße Anwesenheit des Beklagten im Forumstaat zur Zeit der Zustellung von Klage und Ladung genügt, um die Personal Jurisdiction des Forums zu begründen. Dieser Grundsatz treibt bisweilen geradezu absurde Blüten, so daß aus der Zuständigkeit im Vorübergehen bisweilen eine Zuständigkeit im Uberfliegen werden kann. Zumindest ein Gericht hat seine Jurisdiction bejaht in einem Fall, in dem die Zustellung erfolgte, während der Beklagte sich als Passagier in einem Flugzeug im Luftraum des Forumstaates aufhielt16. Deshalb ist es nicht übertrieben, wenn europäische Geschäftsleute davor gewarnt werden, daß sie bei einer Zwischenlandung in N e w York oder Chicago unversehens eine Zustellung erhalten können, die für sich allein Personal Jurisdiction am betreffenden Ort begründet, auch wenn die Streitsache im übrigen nicht das mindeste mit dem Prozeßort zu tun hat. Solche überraschenden Zustellungsakte werden noch dadurch erleichtert, daß nach dem Recht vieler Staaten der U S A jedermann, nicht nur ein Gerichtsvollzieher oder ein ähnlicher Beamter Zustellungen vornehmen kann. V. Weiterentwicklung Fast genau 100 Jahre nach der Entscheidung im Pennoyer-Fall und mehr als 30 Jahre nach dem Neubeginn in der Sache International Shoe v. Washington unternahm der Supreme Court einen weiteren bedeutsamen Schritt in der 1945 eingeschlagenen Richtung. Im Falle Shaffer v. Heitner von 1977 ging es um aktienrechtliche Streitigkeiten17. Die klagenden Aktionäre hatten Aktien der beklagten Mitaktionäre im Staate Delaware beschlagnahmt. Allein auf diesen Akt der Beschlagnahme wurde die Zuständigkeit der Gerichte in Delaware gestützt. Der Rechtsstreit selbst betraf angebliche Pflichtverletzungen der Beklagten als Organpersonen der Aktiengesellschaft, die sich in Oregon zugetragen haben sollten. Weder die Aktienurkunden noch die Beklagten persönlich befanden sich in Delaware. Bei dem Aktienbesitz der Prozeßparteien handelte es sich um Beteiligungen am Greyhound-Busunternehmen. Die Muttergesellschaft des Unternehmens ebenso wie eine Tochtergesellschaft, auf welche es beim Prozeß ankam, haben ihren Verwaltungssitz in Arizona. Die Tochtergesellschaft war überdies nach dem Recht von Kalifornien gegründet worden. Außer durch die Beschlagnahme hatte der Fall mit Delaware nur insofern etwas zu tun, als die GreyhoundMuttergesellschaft nach dem Recht dieses Staates gegründet worden war. Allein dieser Umstand ermöglichte auch den Beschlagnahme-Akt in Delaware. Denn dessen Gesetze bestimmen, daß alle Aktien einer
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Siehe Grace v. Mac Arthur, 170 F . S u p p . 442 ( E . D . A r k . 1959). Shaffer v. Heitner, 433 U . S . 186 (1977).
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gemäß Delaware-Recht gegründeten Gesellschaft im Gründungsstaat belegen sind. Ganz im Gegensatz zum International-Shoe-Fall zeichnet sich der Shaffer-Fall dadurch aus, daß nach herkömmlichen amerikanischen Vorstellungen eine hinreichende, verfassungsrechtlich unbedenkliche Grundlage für die Ausübung von Personal Jurisdiction gegeben zu sein schien. Es war Vermögen der Beklagten (Aktionärsrechte) im Forumstaat vorhanden und durch Beschlagnahme unter die Kontrolle des Gerichts gebracht worden. Nach der im Fall Harris v. Balk im Jahr 1905 ausdrücklich als verfassungsgemäß anerkannten und schon im Pennoyer-Fall implizit gebilligten Regel erlaubt die Beschlagnahme eines im Forumstaat belegenen Vermögens die Durchführung eines Verfahrens über jeden persönlichen Anspruch gegen den Beklagten, auch wenn die Anspruchsgrundlage weder mit dem Forumvermögen des Beklagten noch sonstwie mit dem Forumstaat irgend etwas zu tun hat18. Die so beschaffene, als Quasi-in-Rem Jurisdiction bezeichnete Zuständigkeit gleicht, abgesehen vom Erfordernis der die Verfahrenseinleitung begleitenden Beschlagnahme, durchaus dem Gerichtsstand des Vermögens nach deutschem Recht (§23 ZPO) und anderen kontinental-europäischen Rechten. Während der Supreme Court im International-Shoe-Fall den Staaten die verfassungsrechtliche Möglichkeit eröffnete, Personal Jurisdiction unter gewissen Umständen auch dann auszuüben, wenn die im Pennoyer-Fall aufgestellten Voraussetzungen fehlen, entschied das Gericht im Shaffer-Fall, daß diese Voraussetzungen nicht immer genügen, um im Einklang mit der Verfassung stehende Personal Jurisdiction zu begründen. Das bloße Vorhandensein von Vermögen des Beklagten im Forumstaat und dessen Beschlagnahme durch den Kläger vor oder bei Einleitung des Verfahrens ist nach Ansicht des Gerichts nicht geeignet, das Due-Process-Gebot des X I V . Verfassungszusatzes bei der Ausübung von Personal Jurisdiction gegenüber dem Beklagten gebührend zu wahren. Hinzukommen muß vielmehr, daß der dem Rechtsstreit zugrundeliegende Sachverhalt Minimalkontakte zum Forumstaat aufweist, welche die Ausübung von Personal Jurisdiction ohne Verstoß gegen "traditional notions of fair play and substantial justice" zulassen19. Die 1945 mit dem Ziel der Gewinnung größerer Flexibilität bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung neuer Zuständigkeitsgründe aufgestellte Formel des Supreme Court wurde in Shaffer v. Heitner nun mit entgegengesetzter Zielrichtung benutzt, nämlich zur verfassungsrechtlichen Kontrolle und gegebenenfalls zur Einschränkung herkömmlicher Zuständigkeits18
Harris v. Balk, 198 U . S . 2 1 5 (1905).
" Siehe Shaffer v. Heitner (Fn. 17) auf S. 207 ff.
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gründe. Damit ergibt sich: Die im europäischen Rahmen mit Hilfe internationaler Vereinbarung angestrebte Bekämpfung exorbitanter Gerichtsstände wird in den USA seit dem Shaffer-Fall unter Einsatz der Due-Process-Klausel auf der Ebene der Verfassung bewerkstelligt20. Nachdem der Supreme Court die Ausübung von Quasi-in-Rem Jurisdiction wegen Fehlens von Minimalkontakten im Shaffer-Fall verfassungsrechtlich beanstandet hat, würde es durchaus folgerichtig sein, auch die bloße Anwesenheit des Beklagten im Forumstaat bei Zustellung der Klage nicht mehr als verfassungsrechtlich ausreichende Grundlage für die Ausübung von Personal Jurisdiction anzuerkennen, wenn der dem Streitfall zugrundeliegende Sachverhalt keine Verknüpfung mit dem Forumstaat aufweist. Bisher hat der Supreme Court diese weitere Konsequenz aus der Wende in seiner Rechtsprechung vom Jahre 1945 jedoch nicht gezogen. Ein wichtiger Schritt zur Uberwindung exorbitanter Zuständigkeiten im Bereich des Common Law bleibt noch zu tun. VI. Spannungen Inzwischen gehen die Bemühungen des Supreme Court weiter, durch Feinarbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen der weiteren Ausdehnung einzelstaatlicher Gerichtszuständigkeit genauer zu verdeutlichen. Dabei zeigt sich stets von neuem, daß die schon in der Einleitung zu dieser Studie skizzierte sowohl am Individualrechtsschutz als auch am Strukturprinzip des Föderalismus orientierte Interpretation der Due-ProcessKlausel Unklarheiten und Begründungsschwächen erzeugt. Dadurch wird der Prognosewert der Entscheidungen ebenso beeinträchtigt wie ihre Funktion, den Instanzgerichten möglichst klar definierte Maßstäbe für die Beurteilung ihrer territorialen Zuständigkeit an die Hand zu geben. Dies ist im Interesse potentieller Prozeßparteien entschieden zu bedauern. Insbesondere ausländische Unternehmen wie Einzelpersonen müssen dringend daran interessiert sein, besser abschätzen zu können, unter welchen Umständen sie nicht umhin kommen, sich auf ein Verfahren in den USA einzulassen, weil keine realistische Aussicht besteht, die Ausübung von Personal Jurisdiction mit Erfolg als verfassungswidrig anzugreifen. Hierüber besteht heute mehr Klarheit als noch vor einigen Jahren. Weitere Klärung ist aber notwendig. In der Rechtsprechung des Supreme Court zu Fragen der Personal Jurisdiction in der Phase der letzten 10 Jahre zeichnen sich deutlich zwei unterschiedliche Strömungen ab, von denen zeitweise die eine, dann wieder die andere die Oberhand gewinnt. Eine von Richter Brennan 20 Zur Ausschaltung exorbitanter Gerichtsstände im europäischen Bereich siehe Art. 3 EuGVÜ.
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repräsentierte Strömung möchte den Rahmen verfassungsrechtlich zulässiger Personal Jurisdiction möglichst weit ziehen21. Andere Richter, die meistens eine Mehrheit am Supreme Court bilden und von unterschiedlichen Sprechern repräsentiert werden, hegen Bedenken gegen eine zu weitgehende Ausweitung dieses Rahmens22. Die Sachgebiete sowie der soziale, politische und wirtschaftliche Hintergrund der Fälle, in denen die Verfassungsmäßigkeit der Ausübung von Personal Jurisdiction durch den Supreme Court zu beurteilen war, sind außerordentlich verschieden. Offenkundig bemüht sich der Supreme Court, diesen Unterschieden Rechnung zu tragen. Andererseits versucht das Gericht immer noch, die verfassungsrechtliche Beurteilung aller Fallkonstellationen ungeachtet ihrer ausgeprägten Verschiedenartigkeit mit einer einheitlichen Formel zu leisten. Dieser Versuch dürfte zum Scheitern verurteilt sein. Beispielsweise ist es kaum überzeugend, die Unterhaltsklage eines Kindes im Staate A gegen seinen im Staate B wohnenden Vater einerseits und eine Klage aus Franchise-Beziehungen von Unternehmen in der Burger-King-Familie hinsichtlich der Personal Jurisdiction verfassungsrechtlich mit der gleichen Elle messen zu wollen23. Dies aber geschieht, wenn im einen wie im anderen Fall danach gefragt wird, ob der Beklagte (der Vater bzw. der Franchisenehmer) zielgerichtet ein auf den Forumstaat bezogenes Verhalten verfolgt habe und deshalb damit habe rechnen müssen, im Forumstaat verklagt zu werden. Diese in vielen Entscheidungen des Supreme Court benutzte Formulierung 24 mag einen brauchbaren Fairness-Test in gewissen Fällen hergeben, in denen eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit den wesentlichen Anlaß zur Klage gibt. Dagegen ist sie offenkundig wenig hilfreich, wenn sie zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Jurisdiction für personenrechtliche oder auch vermögensrechtliche Streitigkeiten familienrechtlicher Art herangezogen wird. Hier müßte schon im Ansatz viel sorgfältiger differenziert werden. In noch stärkerem Maße gilt das von Verfassungsfragen der Personal Jurisdiction auf internationaler Ebene. Für den ausländischen Beobachter, aber nicht nur für ihn, dürfte ohne weiteres einsehbar sein, daß zwischenstaatliche Rechtsprobleme unter Beteiligten innerhalb der USA 21 Siehe etwa den Dissent von Richter Brennan in W o r l d - W i d e Volkswagen C o r p . v. Woodson, 444 U.S. 286 (1980) auf S. 299 ff und seinen Dissent in Shaffer v. Heitner (Fn. 17) auf S . 2 1 9 , 221 ff. 22 Siehe etwa das Mehrheitsvotum im vorige Note genannten W o r l d - W i d e Volkswagen-Fall sowie in K u l k o v. Superior Court, 436 U.S. 84 (1978). 23 Vergleiche den Kulko-Fall (Fn. 22) mit Burger King C o r p . v. Rudzewicz, 471 U.S. 462 (1985). " Siehe schon Hanson v. Denckla, 357 U.S. 235 (1958).
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eine grundsätzlich andere Qualität haben als internationale Rechtsfragen, wie sie unter Beteiligten innerhalb der U S A einerseits und außerhalb der U S A andererseits auftreten. In der amerikanischen Rechtsprechung wird diesem grundsätzlichen Unterschied ungenügend Rechnung getragen, auch in der Rechtslehre wird er nur von einzelnen Autoren gebührend herausgearbeitet 25 . Das gilt für die Beurteilung von Fragen des anwendbaren Rechts ebenso wie für die der territorialen Zuständigkeit. Die kollisionsrechtliche Problematik zwischenstaatlicher Fälle innerhalb der U S A beherrscht dabei ganz entschieden das Feld; internationale Kollisionsfälle spielen eine ganz untergeordnete Rolle. Das ist schon deshalb so, weil die zwischenstaatlichen Fälle unvergleichlich viel häufiger vorkommen. Außerdem entspricht es der Mentalität der meisten Amerikaner auch heute noch, sich mit der Welt außerhalb der U S A kaum ernsthaft zu beschäftigen. So werden auch Fragen der Personal Jurisdiction fast ausschließlich mit Blick auf zwischenstaatliche Fallgestaltungen erörtert und entschieden, wie sie innerhalb der U S A auftreten. Die verfassungsrechtliche Garantie des D u e Process wird dabei, wie schon erwähnt, sowohl unter dem Gesichtspunkt des Individualrechtsschutzes wie auch unter dem der Bewahrung des bundesstaatlichen Systems ausgelegt. Das kann zu unerwarteten Schwierigkeiten führen, sobald ein internationaler Sachverhalt zu beurteilen ist. Der kürzlich entschiedene Asahi-Fall zeigt dies in aller Deutlichkeit 26 . In diesem Fall war eine Produkthaftpflichtklage im Staat Kalifornien erhoben worden. Der Kläger hatte im Forumstaat einen Unfall mit seinem Honda-Motorrad erlitten, bei dem er schwer verletzt worden war. Er behauptete, Fehler im Reifen sowie im Schlauch des Reifens seien die Ursache seines Unfalls gewesen. Die Klage richtete sich unter anderem gegen Cheng Shin, die Herstellerin des Schlauchs in Taiwan. Cheng Shin erhob im selben Verfahren eine Drittklage gegen Asahi, die japanische Herstellerin des in den Schlauch eingebauten Ventils. Mit der Drittklage wurde ein Regressanspruch gegen Asahi geltend gemacht. Nach einem Vergleich mit dem ursprünglichen Kläger verfolgte Cheng Shin den Regressanspruch weiter. Asahi rügte das Fehlen internationaler Zuständigkeit der kalifornischen Gerichte. Im Gegensatz zum Supreme Court des Staates Kalifornien gab der Supreme Court der U S A der Rüge statt. Das Gericht setzte sich erneut mit seiner bisherigen Rechtsprechung zu den Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction auseinander. 25 Vorbildlich insofern A. A. Ehrenzweig, Interstate and International Conflicts Law: A Plea for Segregation, 41 Minn.L.Rev. 717 (1957). 26 Asahi v. Superior Court, 55 U.S.L.W. 4197 (1987).
Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction in den U S A
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Besonders sorgfältig mußte es seine Ausführungen im Fall World-Wide Volkswagen Corp. v. Woodson von 1980 überprüfen 27 . In jenem Fall hatte ein im Staat New York wohnendes Ehepaar dort einen Audi gekauft, war ein Jahr später zum Umzug nach Arizona aufgebrochen und hatte bei der Fahrt durch Oklahoma einen Unfall erlitten, der angeblich auf einem Fehler des Fahrzeugs beruhte. Die in Oklahoma erhobene Klage des Ehepaares richtete sich gegen die deutsche Herstellerfirma, den amerikanischen Importeur, einen regionalen Großhändler und den Einzelhändler, der das Fahrzeug an die Kläger verkauft hatte. Der Einzelhändler ebenso wie der Großhändler machten geltend, der Personal Jurisdiction in Oklahoma aus Due-Process-Gründen nicht unterworfen zu sein. Der Supreme Court gab ihnen recht. Zwar ließ sich nicht bestreiten, daß die auf Bewegung ausgerichtete Bestimmung des verkauften Gegenstandes einen Unfall in Oklahoma (oder jedem anderen Teil der USA) ermöglichte und somit voraussehbar machte. Aber die Mehrheit des Gerichts hielt diesen Umstand nicht für ausreichend, Personal Jurisdiction im Einklang mit dem XIV. Verfassungszusatz zu begründen. Die Verbringung des Autos in den Forumstaat durch eine einseitige, wenn auch vorhersehbare Handlung des Endverbrauchers sei keine verfassungsrechtlich genügende Grundlage für die Ausübung der Personal Jurisdiction über die Händler. Vielmehr komme es entscheidend auf deren eigenes Verhalten im Zusammenhang mit dem „Handelsstrom" (Stream of Commerce) an. Das Erfordernis eines Minimalkontakts von Beklagten mit dem Forum diene nicht nur dem Schutz des Beklagten gegen eine Prozeßführung an einem ferngelegenen, für ihn unbequemen Ort. Sondern es bezwecke auch, das bundesstaatliche System zu fördern, indem es die Gliedstaaten hindere, in Gestalt ihrer Gerichte die Grenzen zu überschreiten, die ihnen durch ihren Status als gleichberechtigte Träger hoheitlicher Gewalt in diesem System gezogen seien28. Die im World-Wide-Volkswagen-Fall gegebene Begründung brachte den Supreme Court in mehrfacher Hinsicht in Schwierigkeiten, als er sieben Jahre später den Asahi-Fall zu entscheiden hatte. Zum einen war das angeblich fehlerhafte Produkt, das von Asahi hergestellte Ventil, nicht durch eine Handlung des Verbrauchers in den Forumstaat gelangt, sondern im Zuge des „Handelsstroms". Da Cheng Shin jährlich zwischen 100 000 und 500 000 Ventile von Asahi kaufte und offenbar große Mengen seiner Schläuche in die USA exportierte, davon anscheinend 20 % nach Kalifornien, bestand durchaus die Möglichkeit, den erwähnten Handelsstromeffekt vorauszusehen. Bei dieser Sachlage 27 28
Nachweis Fn. 1. Siehe oben (Fn. 1) auf S.292.
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waren fünf der neun Richter des Supreme Court der Ansicht, der übliche Minimalkontakte-Test zur Beurteilung einer verfassungsmäßigen Ausübung der Personal Jurisdiction sei insofern erfüllt, als der Beklagte zielgerichtet ein auf das Forum bezogenes Verhalten verfolgt habe. Nur vier Richter votierten dagegen; sie stehen aber hinter der „plurality opinion", deren Autorin Justice Sandra Day O'Connor ist. Im Ergebnis waren sich alle neun Richter darin einig, daß die Zulassung von Personal Jurisdiction unter den gegebenen Umständen gegen die Due-ProcessKlausel verstoßen würde. Dies zu begründen, war angesichts der im World-Wide-VolkswagenFall und anderen Entscheidungen enthaltenen Berufung auf das Bundesstaatsprinzip nicht einfach. In einem internationalen Fall ist dieses Prinzip unergiebig. Taiwan und Japan sind keine Gliedstaaten der USA. Das Verhältnis Kaliforniens zu jenen Staaten wird nicht von der Verfassung der USA beherrscht. Somit war dem Gericht die Berufung auf das Bundesstaatsprinzip an sich verschlossen. Dennoch werden im AsahiFall Erwägungen angestellt, die in einem inneramerikanischen Fall wohl z. T. jenem Prinzip zugeordnet worden wären. Das Gericht legt im einzelnen dar, warum weder Cheng Shin noch Kalifornien ein gewichtiges Interesse an der Durchführung des Prozesses in Kalifornien haben, während Asahi durch einen solchen Prozeß erheblich belastet würde. Sodann bemerkt das Gericht, daß gemäß der Begründung im World-Wide-Volkswagen-Fall nicht nur die Interessen des Forumstaates, sondern auch diejenigen anderer Staaten Beachtung verdienen, und zwar im Rahmen eines gemeinsamen Interesses an der möglichst wirkungsvollen richterlichen Erledigung von Rechtsstreitigkeiten und der Verwirklichung materieller rechtspolitischer Zwecke. Es wird hervorgehoben, daß dies Gebot der Rücksichtnahme auf fremde und übergeordnete Interessen auch und gerade im Verhältnis zu ausländischen Staaten gelten muß29. VII. Ausblick In diesem von allen Richtern des Supreme Court getragenen Teil der Urteilsbegründung im Asahi-Fall wird zweierlei deutlich. Wenn in den Entscheidungen des Supreme Court neben dem Individualrechtsschutz immer wieder auch das Strukturprinzip des Föderalismus als eine in der Due-Process-Klausel enthaltene Verfassungsschranke der Personal Jurisdiction genannt wird, so darf das nicht überbewertet werden. Im Grunde geht es um etwas anderes. Das Individualinteresse des Grundrechtsträgers, der die Personal Jurisdiction des Forums verneint, muß nicht nur gegen das Interesse und die Rechte des Klägers 29
Siehe oben (Fn.26) auf S . 4 2 0 0 .
Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction in den USA
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abgewogen werden, der diese Jurisdiction anruft. Die individuellen Rechte müssen auch im Lichte der öffentlichen Interessen gesehen werden, die den in der Due-Process-Klausel garantierten Rechten ebenso wie anderen Grundrechten Grenzen setzen. Die Besonderheit kollisionsrechtlicher Fälle, sowohl auf zwischenstaatlich-inneramerikanischer wie auf internationaler Ebene, besteht nun darin, daß die öffentlichen Interessen nicht nur eines einzigen Gemeinwesens, sondern einer Mehrzahl solcher Gemeinwesen bei der Begrenzung der Individualrechte zu berücksichtigen sind. Eine weitere Lehre aus dem Asahi-Fall ist diese: Trotz der eingewurzelten Überbetonung inneramerikanischer Fragestellungen im Kollisionsrecht ist der Supreme Court bereit und in der Lage, die in internationalen Fällen auftretenden Verfassungsfragen der Personal Jurisdiction ihrer Eigenart entsprechend zu lösen. Die Entscheidung zugunsten des japanischen Produzenten im Asahi-Fall darf freilich nicht mißdeutet werden. Bei der Abwägung der verfassungsrechtlich relevanten Interessen spielte eine entscheidende Rolle, daß in dem Verfahren nur noch die Regressklage der taiwanesischen Prozeßpartei übriggeblieben war30. Das Ergebnis hätte anders ausfallen können, wenn der Anspruch des ursprünglichen kalifornischen Klägers noch rechtshängig und nicht schon verglichen gewesen wäre. Erst recht müßte mit einem anderen Ergebnis gerechnet werden, wenn der geschädigte Konsument in einem Produkthaftpflichtstreit nach Art des Asahi-Falls einen ausländischen Zulieferer in der Lage der Firma Asahi unmittelbar in Anspruch nimmt. Gewiß, vier Richter haben Minimalkontakte verneint und müßten schon deshalb eine Inanspruchnahme von Personal Jurisdiction über den Zulieferer auch durch den Endverbraucher als Verstoß gegen die Verfassungsgarantie des Due Process ansehen. Für die Mehrheit der Richter aber sind Minimalkontakte vorhanden, und die Interessenabwägung im Rahmen des Fairness-Tests dürfte bei einer unmittelbaren Klage des Konsumenten gegen den Zulieferer zugunsten des Klägers und des Forums ausfallen. Wieder einmal wäre man schlecht beraten, wenn man concurring opinions mit verminderter Aufmerksamkeit lesen würde. Sie werden im Asahi-Fall von der Mehrheit der Richter getragen. Sie könnten den nächsten Fall entscheiden. Das Ausland muß sich auf sie einstellen. Den Kampf um das zuständige Forum gibt es nicht nur in den USA. Aber dort hat er einen besonderen Hintergrund, auf den wir abschließend unser Augenmerk richten müssen. Man kennt den Begriff des Forum Shopping, und die Inanspruchnahme der Personal Jurisdiction eines amerikanischen Gerichts in internationalen Fällen mag als Versuch 30
So ausdrücklich aaO (Fn. 29).
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des Forum Shopping durch den (amerikanischen oder ausländischen) Kläger angesehen werden. Gelegentlich wird aber bemerkt, das sogenannte Forum Shopping sei in Wahrheit oft ein Law Shopping in dem Sinn, daß es dem Kläger weniger auf ein für ihn günstig gelegenes Forum als auf ein ihm günstiges Recht ankomme. In vielen Fällen geht es aber nicht einmal darum. Man braucht sich nur vor Augen zu führen, daß zum Beispiel das materielle Recht der Produkthaftpflicht in den USA nicht grundlegend vom deutschen Recht oder dem der europäischen Richtlinie 31 abweicht. Warum ist ein amerikanisches Forum dennoch attraktiv? Die Antwort findet sich im Prozeßrecht und in der Prozeßpraxis. Die Möglichkeit, ohne großes Kostenrisiko zu prozessieren, ergibt sich aus der Zulässigkeit und Üblichkeit des Erfolgshonorars in Form der Quota litis sowie dem grundsätzlichen Fehlen einer Kostenerstattungspflicht für den unterlegenen Kläger. Das Discovery-Verfahren eröffnet dem Kläger (wie aber auch dem Beklagten) die Chance, Beweismittel durch „Fishing Expeditions" ausfindig zu machen sowie erheblichen Druck durch drohendes Eindringen in Geschäftsgeheimnisse und die Kostenlast der Beweisbeibringung zu erzeugen, um die Vergleichsbereitschaft zu steigern und überhaupt erst zu erzeugen. Das Institut der Class Action kann den finanziellen Anreiz für den auf Quota-litis-Basis für ein Erfolgshonorar arbeitenden Rechtsanwalt durch Addition vieler einzelner Anspruchsbeträge erheblich steigern. Schließlich ist die Institution der Jury zu erwähnen, die in den meisten Zivilprozessen von Verfassungs wegen beansprucht werden kann (VII. Verfassungszusatz). Viele Kläger versprechen sich von einer Jury eher eine für sie günstige Entscheidung, insbesondere wenn der Kläger eine Einzelperson und die beklagte Person ein Unternehmen ist und der Kläger überdies einen Körperschaden erlitten hat. Außerdem neigen Juries eher als Richter dazu, extrem hohe Schadensersatzsummen zuzusprechen, wenn sie zugunsten des Klägers entscheiden. All dies sind Vorteile, welche sich viele Kläger erhoffen, die ein amerikanisches Gericht anrufen statt eines auch in Betracht kommenden Gerichts in einem anderen Land. Das bildet den Hintergrund des Streits um die Verfassungsschranken der Personal Jurisdiction. Worum es vielfach geht, ist nicht so sehr Law Shopping, sondern tatsächlich Forum Shopping in der Gestalt des Procedure Shopping. Entscheidungen wie die im Asahi-Fall manifestieren das Bestreben des Supreme Court, das Procedure Shopping in solchen Fällen zu unterbinden, in denen offenkundig kein legitimes Interesse an der Durchführung eines Verfahrens in den USA besteht. 31 Richtlinie der E G v o m 25. 7 . 1 9 8 5 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung f ü r fehlerhafte Produkte (Amtsblatt der E G Nr. L 210/29 v o m 7. 8 . 1 9 8 5 ) .
Völker- und Europarecht als Alibi für Umweltschutzdefizite? B R U N - O T T O BRYDE
In einer seiner bedeutendsten Veröffentlichungen, dem großen Staatsrechtslehrerreferat über „Grundrechte im Leistungsstaat" 1 , hat Wolfgang Martens einen wichtigen Satz geprägt: „Ob der Staat die großen Aufgaben der Gegenwart und absehbaren Zukunft - von der Sorge für Stabilität und Wachstum der Wirtschaft über die Raumordnung bis zum Umweltschutz - zu erfüllen imstande sein wird, ist offen. Sollte er scheitern, würde aber jedenfalls die Berufung auf vermeintlich grundrechtliche Hemmnisse ihm kein Alibi verschaffen" 2 . Für das in dieser Aufzählung genannte besonders drängende Problem des Umweltschutzes hat insbesondere die WHG-Entscheidung des BVerfG 3 diesen Satz mit einer Radikalität bestätigt, der in der Grundrechtsdogmatik noch nicht voll rezipiert worden ist: Eigentum berechtigt nicht von Verfassungs wegen zu Nutzungen, die die Umwelt belasten4. Nicht Umweltschutzmaßnahmen zu Lasten von Unternehmen und Verbrauchern sind vor der Verfassung begründungsbedürftig, sondern die gesetzliche Verleihung von Umweltnutzungsrechten, die Eigentum und Gesundheit anderer gefährden 5 . Aber während damit das nationale Verfassungsrecht in der Tat kein Alibi für einen unzulänglichen Umweltschutz mehr ist, haben jüngste Umweltschutzdiskussionen (z.B. die Katalysator-Debatte) in der Bundesrepublik die Frage aufgeworfen, ob nicht der Zustand des Internationalen Rechts (Völker- und Europarecht) ein solches Alibi sein könnte. Das würde insbesondere gelten, soweit nicht lediglich konkrete bestehende Normen bzw. Regelungslücken die Erfolgschancen nationaler
1
Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1971), S. 7 ff. Ebendort S. 18. 3 BVerfGE 58, 300. 4 BVerfGE 58, 300 (329); vgl. auch Sendler, Wer gefährdet wen: Eigentum und Bestandsschutz den Umweltschutz oder umgekehrt?, U P R 1983, S. 33, 41; Murswiek, Die staatliche Verantwortung f ü r die Risiken der Technik, 1985, S. 233 ff; Suhr, Immissionsschäden vor Gericht, 1986, S. 6 ff und passim; Bryde, in: von Münch, G G K , Bd. 1, 3. A., Art. 14, Rdn.64 („Umweltschutz"). 5 So besonders konsequent Suhr, aaO (Fn. 4), S. 45 ff. 2
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Umweltpolitiken in Frage stellen, sondern wenn wir auf internationalrechtlicher Ebene geradezu strukturelle Hindernisse für eine wirksame Umweltpolitik auf internationaler wie nationaler Ebene ausmachen könnten. 1. Umweltschutz als internationales
Problem
Dabei ist im Jahr nach Tschernobyl und „Tschernobäle" kaum der Nachweis nötig, daß nationale Umweltpolitik einer internationalen Absicherung bedarf. „Die Luft hat keine Grenzen" 6 und „Wasser fließt bergab" 7 , d. h. vom Menschen verursachte Belastungen der Umweltmedien8 nehmen auf Staatsgrenzen keine Rücksicht. Für die weiträumige Luftverschmutzung vor allem mit Schwefel- und Stickstoffverbindungen und Ozon hat das Waldsterben seit Anfang der 80er Jahre diese Tatsache unübersehbar ins öffentliche Bewußtsein gerückt, obwohl alle Argumente bereits im Trail-Smelter-Streit zwischen Kanada und den USA 1928-1941 ausgetauscht wurden9, und spätestens die Klagen der Skandinavier über die Folgen des „sauren Regens" der 60er Jahre hätten zu einem Aufwachen führen müssen10. Die Bundesrepublik z. B. importiert ca. 50 % ihrer S0 2 -Belastung, aber sie exportiert diesen Schadstoff auch bis in die Sowjetunion und nach Spanien11. Die internationalen Flüsse transportieren auch ohne Umweltkatastrophen wie die Baseler Chemieunfälle des letzten Jahres Schmutzfrachten von organischen Abfällen, Chemikalien, Schwermetallen und Salzen bergab12. Auch hier ist die 6 Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Luft hat keine Grenzen. Internationale Umweltpolitik: Fakten und Trends, 1986. 7 Bryde, Wasser fließt bergab. Die Verschmutzung internationaler Binnengewässer und ihre Bekämpfung, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S. 43 ff. 8 Vgl. die Definition von „pollution" in Art. 2 der „Montreal Rules" der ILA (ILA, Rep. 60th Conference 1982, London 1983, S. 157ff = UPR 1982, S.21): "Pollution means any introduction by man, directly or indirectly, of substance or energy into the environment resulting in deleterious effects of such a nature, as to endanger human health, harm living resources, ecosystems and material property and impair amenities or interfere with other legitimate uses of the environment." 9 Trail Smelter Arbitration, U.N.R.I.A. A.III, S. 1911 ff = AJIL 35 (1941), S.684ff; schon damals wurde der Zusammenhang zwischen S0 2 -Ausstoß einer kanadischen Bleischmelze und Pflanzenschäden in den USA plausibel nachgewiesen (aber auch damals mit dem Verweis auf die Notwendigkeit weiterer Forschung und hypothetische alternative Schadensursachen bezweifelt). Vgl. zur Geschichte des Trail-Smelter-Falles: K.B. Hoffmann, State Responsibility in International Law and Transboundary Pollution Injuries, ICLQ 25 (1976), S. 509, S. 513 ff. 10 Prittwitz, Die Luft hat keine Grenzen, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S.61, 64. 11 Prittwitz, ebendort, S.61; Sachverständigenrat für Umweltfragen, Sondergutachten 1983, BT-Drs. 10/113 v. 8.6.1983, 6.5. 12 Bryde, aaO (Fn. 7), S. 43 ff; Eh. Klein, Umweltschutz im völkerrechtlichen Nachbarrecht, 1976, S. 124 ff.
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Bundesrepublik sowohl Opfer (z.B. der Werra-Versalzung durch die D D R , der Chemie im Baseler Dreiländereck oder des elsässischen Kalibergbaus) wie Täter (z. B. die Rheinverschmutzung im Rhein-/ Main-Gebiet und Rhein-/Ruhr-Gebiet, die den Niederländern das Trinkwasser verdirbt und die Elbeverschmutzung, die das „Gemeinsame Erbe" Nordsee ruiniert)13. Internationalisiert werden Umweltprobleme aber auch durch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Die aus der Bundesrepublik exportierten Pestizide werden in Lebens- und Arzneimitteln reimportiert14. Die Nachfrage nach exotischen Tieren und Pflanzen im Norden (von Froschschenkeln' 5 bis zu Elefanten-Stoßzähnen) führt zu Artenvernichtung im Süden16, wobei auch hier ein Re-Import der Schäden (z.B. die Veränderung unseres Klimas durch den Raubbau an den für unsere Teakholztische abgeholzten Regenwäldern)17 zu erwarten ist (von den weniger plastischen, aber sicher schwerwiegenden Folgen, die die Vernichtung von genetischen Reserven für die Erde hat, ganz abgesehen). Daß die Globalisierung der Umweltprobleme, die deutlich machen sollte, daß die Menschheit in der Tat „nur eine Zukunft" hat18, bisher nicht zu einer effektiven koordinierten internationalen Aktion geführt hat, ist so erstaunlich nicht. Die ökonomische Analyse hat theoretisch herausgearbeitet, daß eine Gruppe rational den eigenen Vorteil verfolgender Akteure Schwierigkeiten haben kann, den gemeinsamen Ruin zu vermeiden1'. Die „Tragödie der Allmende" beruht auf der Übernutzung eines gemeinsamen Gutes, weil Sparsamkeit den anderen nutzt20. Die Umweltschäden der Vergangenheit und Gegenwart beruhen zum guten Teil darauf, daß Umweltmedien als freie und öffentliche Güter behandelt werden, die Gewinne aus ihrer Nutzung internalisiert, die Schäden aber der Allgemeinheit angelastet („externalisiert") werden21.
Jungblut, Es war einmal ein Fluß. Der Ausverkauf der Elbe, 1984. Merk, Der internationale Kreislauf der Gifte, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S. 205 ff m. w. N. 15 Zu den katastrophalen Folgen der Ausrottung von Fröschen im Interesse europäischer Gourmets auf dem indischen Subkontinent vgl. SPIEGEL Nr. 37/1985, S. 183. " Schütze/Kohout, Artenschutz als internationales Problem, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S. 230 ff. 17 Von Devivere, Das letzte Paradies. Die Zerstörung der tropischen Regenwälder und deren Ureinwohner, 1984; Bach, Anthropogene globale Klimaänderungen, in: MayerTasch (Hrsg.), aaO (Fn.6), S. 96 ff. 18 Tinbergen (Hrsg.), Wir haben nur eine Zukunft (RIO-Bericht), 1977. 15 In der Spieltheorie ist dieser Zusammenhang als „Prisoner's Dilemma" bekannt, zur Anwendung auf Umweltprobleme: B. Frey, Umweltschutz und Umweltmoral, Wirtschaft und Recht 18 (1966), S. 253 ff. 20 B.Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, 1981, S. 75. 21 B.Frey, Umweltökonomie, 1972. 13 H
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Aber während nationale Umweltpolitiken versuchen, diesen Prozeß durch am Verursacherprinzip orientierte Instrumente aufzuhalten und umzukehren, bleiben nationale Grenzen eine offene Flanke der Umweltpolitik, solange die internationalen Umweltmedien als freie Güter behandelt werden, d. h. Schmutz kostenlos über die Grenze verfrachtet werden kann. Eine Politik, der es nur um die Reinhaltung des eigenen Territoriums geht, greift notwendig zu kurz, wie am deutlichsten die „Politik der hohen Schornsteine" zeigt, der die heutige katastrophale Situation der europäischen Luftbelastung zum guten Teil zu verdanken ist22. Eine Politik, die am Immissionsschutz der Anlagennachbarn ansetzt und Schadstoffe nicht vermindert, sondern nur weiträumiger verteilt, verringert zwar erfolgreich die Belastung des eigenen Territoriums, aber tut dies auf Kosten der Nachbarn, und wenn - was wahrscheinlich ist - sich alle so verhalten, dann ist die Gesamtbelastung aller größer, als wenn jeder seinen selbst produzierten Schmutz atmen müßte und entsprechend schonend mit dem Umweltmedium Luft umginge. Der gleiche Prozeß ist in der Massierung umweltbelastender Anlagen an der Grenze sichtbar (Politik der „Wegräumung") 23 . Dafür mag es auch legitime Gründe geben 24 , aber die Absicht, Belastung (und politischen Protest) bei der eigenen Bevölkerung möglichst gering zu halten, ist als wesentlicher Antrieb solcher Standortpolitik kaum zu leugnen. Auch hier steht aber die Politik, die Umwelt des Nachbarn als freies Gut zu behandeln, beiden Seiten zur Verfügung - mit der voraussehbaren Folge der Ubernutzung des gemeinsamen Raumes. An der besonderen Belastung von „Drei-Länder-Ecken" und Grenzflüssen (Rhein) ist dieser Zusammenhang deutlich abzusehen. Für die nationale Umweltpolitik bedeutet die ausländische Herkunft eines erheblichen Teils der Schadstoffe eine doppelte Hürde: Die ausländischen Verschmutzungsquellen sind für den nationalen Umweltgesetzgeber prinzipiell nicht erreichbar, aber gleichzeitig gibt gerade das den Gegnern nationaler Umweltmaßnahmen (z. B. der betroffenen Industrie) ein Argument, daß diese angesichts der von außen kommenden Belastung „ohnehin nichts bringen" bzw. „den ausländischen Nachbarn mehr nutzen als dem eigenen Land". Darüber hinaus können sie auf die Wettbewerbsnachteile verweisen, die entstehen, wenn die einheimischen Produzenten strengeren Anforderungen unterworfen werden als ihre ausländischen Konkurrenten (wobei auch dieses Argument wieder in
Prittwitz, aaO (Fn. 10), S.65. Görgmaier/Merk, Grenzüberschreitende Raumordnung, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S. 134, 136. 24 Förderung unterentwickelter Grenzgebiete; Grenzflüsse als günstiger Standort. 22
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allen Ländern erhoben wird und entsprechend das Gesamtniveau verschlechtert). Die Durchbrechung dieses Argumentationszirkels zur Besinnung auf die gemeinsamen Interessen aller an einer überlebensfähigen Umwelt ist dadurch erschwert, daß die einzelnen Länder in unterschiedlichem Maße Opfer grenzüberschreitender Umweltverschmutzung sind. Neben Ländern wie der Bundesrepublik mit ausgeglichener Emissionsbilanz stehen Länder mit negativer Emissionsbilanz (Skandinavien) und solche mit aktiver Emissionsbilanz (Großbritannien) 2 5 . D a es auf den meisten K o n tinenten vorherrschende Windrichtungen gibt (in Europa West—» Ost) und Flüsse an Grenzen oft in eine Richtung fließen, besteht häufig keine unmittelbar einsichtige Reziprozität von Interesse an gemeinsamem Umweltschutz: einige sind in erster Linie Opfer und können - wie die Skandinavier — ihre Immissionssituation kaum noch durch eigene Maßnahmen verbessern, andere blasen ihren Schmutz dank günstiger Lage im Wind in erster Linie zum Nachbarn — wie Großbritannien — und würden daher Umweltschutzinvestitionen in erster Linie für diese Nachbarn unternehmen 26 . T r o t z eines offensichtlichen gemeinsamen Interesses am Uberleben der Spezies sind Umweltprobleme in der Perzeption der staatlichen Akteure und der sie beeinflussenden Interessen daher eher durch gegensätzliche als durch gemeinsame Interessen geprägt. Bei der Internationalisierung von Umweltproblemen durch den Markt ist die Notwendigkeit gemeinsamer Regelungen den Beteiligten möglicherweise leichter deutlich zu machen. Die Wettbewerbsnachteile einer den internationalen Durchschnitt übersteigenden Belastung der heimischen Industrie mit Umweltschutzkosten lassen sich nämlich in Wettbewerbsvorteile für die eigene Industrie verwandeln, wenn man den Import von Gütern verbietet oder verteuert, die den eigenen Normen (z. B. hinsichtlich der Abgasreinigung bei Autos oder der Pestizidrückstände in Nahrungsmitteln) nicht entsprechen, mit anderen Worten: Umweltschutz als nicht-tarifäres Handelshemmnis einsetzt 27 . Umweltschutzrechtsgefälle sind also hinsichtlich ihrer Wettbewerbswirkung grundsätzlich ambivalent, was ihre Beseitigung im Interesse eines freien Welthandels nahelegt.
Mayer-Tascb, aaO ( F n . 6 ) , S. 11. N o c h 1983 fragte der Chef der britischen Elektrizitätsbehörde, ob ein paar vergiftete Seen und tote Fische in Skandinavien eine Erhöhung der britischen Strompreise von 15 % wert seien! (Zitiert nach SZ v. 2 2 . 9 . 1 9 8 3 . ) 27 Vgl. Kloepfer, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen als Rechtsproblem, DVB1. 1984, S. 245. 25 26
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2. Völker- und Europarecht als Schranke nationalen Umweltschutzes Umweltschutz als nicht-tarifäres Handelshemmnis
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Die Tatsache, daß die Reziprozität nationalstaatlicher Interessen bei der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch Umweltschutzrechtsgefälle deutlicher ist als beim grenzüberschreitenden Schmutztransfer, hat zur Folge, daß die ausdifferenziertesten (und auch relativ effektivsten) internationalen Umweltschutznormen von internationalen Organisationen stammen, die eine primär ökonomische Aufgabenstellung haben (EG 2 8 , O E C D ) 2 ' . O b das dem internationalen Umweltschutz bekommt, ist fraglich. Schutzgut solcher Normen ist ja in erster Linie die Integrität des Wettbewerbs, nicht die der Umwelt. Auch wenn man es begrüßen mag, daß die Sorge um den Freihandel überhaupt zu Fortschritten im internationalen Umweltschutz führt, bleibt eine am Wettbewerb ansetzende Umweltschutzrechtsetzung problematisch. Wettbewerbsverzerrungen lassen sich auch auf dem kleinsten gemeinsamen umweltpolitischen Nenner vermeiden, und es ist sogar wahrscheinlich, daß eine gemeinsame Regelung nicht auf dem fortgeschrittensten Stand möglichen Umweltschutzes erfolgen wird. Eine hinter diesen Stand zurückfallende internationale N o r m kann aber weitergehende nationale Maßnahmen verhindern, wenn deren Durchsetzung gegenüber Importen im Lichte des internationalen Rechts als verbotenes Handelshemmnis erscheint.
a)
Europarecht
Für das Europarecht hat die Katalysatordebatte diese Zusammenhänge einer breiteren Öffentlichkeit vertraut gemacht, während unter Spezialisten bereits seit der Cassis de Dijon-Entscheidung des E u G H 3 0 die Möglichkeit diskutiert wird, daß ohne die Entwicklung gemeinschaftlicher Politiken von Umwelt- bis zu Verbraucherschutz eine Vereinheitlichung der nationalen Rechte auf einer Ebene erfolgt, die man je nach Temperament - als kleinsten oder freiheitlichsten gemeinsamen Nenner bezeichnen kann 31 . 28 Zur Umweltpolitik der EG vgl. Kommission der EG, Zehn Jahre Umweltpolitik der EG, März 1984; Steiger, Europarechtliche Grundlagen, in: Sahwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 1982, S.67ff. " Zur Umweltpolitik der O E C D vgl.: OECD, Aspects juridiques de la pollution transfrontiere, 1977, sowie die Empfehlungen O E C D C (74) 224; C (76) 55 (final); C (77) 28 (final). 30 EuGH v. 20.2.1979 Rs. 120/78, Rspr.-Slg. 1979, S. 649 ff. 31 Vgl. zur unübersehbaren „Cassis" Literatur: Matthies, in: Grabitz, Kommentar zum EWGV, Art. 30, Rdn. 18 ff; Wägenbaur, in: v. d. Groeben /v. Boeckh/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV, Art. 30, Rdn. 32 ff; Steindorff, Probleme des Art. 30 EWGV, ZHR 148 (1984), S. 338 ff. Richtige Betonung der „mitgliedsstaatlichföderalen Regelungszuständigkeit" bei Ullrich, Ausstattungsschutz im Gemeinsamen
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Jede höhere nationale Qualitätsanforderung, die gegenüber ausländischen Konkurrenten faktisch diskriminierend wirkt, ist nämlich mit dem Risiko belastet, vom E u G H als Maßnahme gleicher Wirkung i. S. v. Art. 30 I E W G V für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt zu werden. O b damit das Europarecht ein Alibi für eine hinter den technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zurückbleibende Umweltpolitik sein kann, als das es in der innenpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik in der Tat benutzt worden ist, hängt von der Einschätzung dieses Risikos ab. Der EWG-Vertrag enthält in Artikel 36 eine relativ breite Ausnahmeregelung zugunsten nationaler Politiken, auf die sich die Bundesrepublik angesichts der unübersehbaren katastrophalen Folgen der Luftverschmutzung wohl mit relativ guten Erfolgsaussichten hätte berufen können 32 . In der Praxis sind jedoch wichtiger als die in Art. 36 ausdrücklich vorbehaltenen nationalen Regelungsbefugnisse die vom E u G H unmittelbar Art. 30 entnommenen. Der Gerichtshof prüft nämlich bei unterschiedslos (d. h. nicht formell gegen ausländische Produkte diskriminierend) angewandten Maßnahmen 33 bereits im Rahmen des Art. 30 unter den Gesichtspunkten der faktischen Diskriminierung und der Verhältnismäßigkeit, ob sich die Maßnahmen durch Erfordernisse im nationalen Regelungsbereich verbliebener Schutzzwecke rechtfertigen lassen34. Dabei ist die im Cassis-de-Dijon-Urteil vorgenommene Aufzählung solcher Schutzzwecke („steuerliche Kontrolle, Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes") 3 5 nicht abschließend, sondern lediglich beispielhaft für Gemeinwohlerwägungen 36 . Auch eine legitime nationale Umweltpolitik kann damit die Vermutung der Diskriminierung bei unterschiedslos angewandten, bloß faktisch diskriminierenden Maßnahmen widerlegen 37 . Generell erscheint eine Maßnahme um so sicherer vor
Markt, in: Schricker/Stauder, Hdb. des Ausstattungsrechts, 1986, S. 1197ff, 1219 ff; deutliche Betonung nationaler Regelungskompetenz auch bei Marenco, Pour une interprétation traditionelle de la mesure d'effet équivalent à une restriction quantitative Cah. dr. eur. 1984, S.291 ff. 32 Vgl. zur großzügigen Auslegung des Rechtfertigungstatbestands „Schutz der Gesundheit": EuGH GRUR Int. 1984, S.762f („Melkunie"); Wägenbaur, aaO (Fn.31), Art. 36, Rdn.35 m . w . N . ; Matthies, aaO (Fn.31), Art.36, Rdn. 14. 33 EuGH Rs. 113/80, Rspr.-Slg. 1981, S. 1625 (1639). 34 EuGH Rs. 120/78 (wie Anm.30), S.662; Rs. 75/80, Rspr.-Slg. 1982, S. 1211; Rs. 113/80 (wie Anm. 33); dazu Wägenbaur, aaO (Fn. 32), Art. 30, Rdn. 40, 42 ff; kritisch: Schweitzer!Hummer, Europarecht, 2.A., 1985, S.242f. 35 AaO (Fn. 30), S.662. 36 Steindorff, aaO (Fn.31), S.341 m. Fn. 17; Wägenbaur, aaO (Fn. 32), Art. 30, Rdn. 42 ff; Art. 36, Rdn. 59, 67. 37 EG-Kommission, Schriftl. Anfrage 749/81, ABl. Nr. 749/81; Wägenbaur, aaO (Fn. 32), Art. 30, Rdn. 43, Art. 36, Rdn. 67.
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dem Verdikt des E u G H , je mehr sie integrierender Bestandteil einer in sich schlüssigen nationalen Politik ist. Gefahren vom E u G H hätten bei einem deutschen Alleingang in der Katalysatorfrage daher wohl weniger wegen zu weitgehendem, sondern eher wegen zu halbherzigem deutschen Vorpreschen im Umweltschutz gedroht: Erst die Verbindung von italienische und französische Kleinwagen faktisch diskriminierenden Ausrüstungsvorschriften mit dem Verzicht auf ein Tempolimit im Interesse der deutschen Automobilindustrie 38 hätte ein Gesamtbild ergeben, das das Mißtrauen des E u G H hätte wecken können. Insofern ist also das Europarecht kein Alibi für eine inkonsequente Umweltschutzpolitik, sondern umgekehrt könnte gerade eine konsequente Umweltpolitik das Risiko mindern, daß einzelne ihrer Bestandteile europarechtlich unter Art. 30 fallen. Immerhin bleibt dieses Risiko so groß, daß die Bevorzugung einer zweitbesten Lösung durch gemeinsame Normen verständlich ist. Wie gut diese „zweitbeste" Lösung ist, hängt dann aber von einem internationalen Verhandlungsprozeß ab, an dem Staaten mit sehr unterschiedlichen umweltpolitischen Interessen beteiligt sind. Darüber hinaus standen bis zum Inkrafttreten der Vertragsreformen, durch die die E G u. a. eine eigenständige Umweltkompetenz erhält 39 , europäischen Lösungen auch rechtliche Hürden entgegen. Die Kompetenzen der E G im Umweltschutz auf der Grundlage der nicht reformierten Verträge waren prekär 40 . Von einigen Spezialnormen im Landwirtschaftsbereich und im EAG-Vertrag abgesehen, gab es jedenfalls keine ausdrückliche Zuständigkeit der E G zur Umweltpolitik. Umweltpolitische Maßnahmen der E G mußten vielmehr auf Art. 100 (Rechtsangleichung) und Art. 235 (außerordentliches Rechtsetzungsrecht) gestützt werden, was in beiden Fällen die Unterordnung des Umweltschutzziels unter das wirtschaftliche Integrationsziel rechtlich untermauert 41 , da diese Kompetenzen der Gemeinschaft lediglich zur Sicherung von „Entwicklung und Funktionieren des Gemeinsamen Marktes" (Art. 100) 38 Zur Bedeutung weniger handelsbeschränkender Handlungsalternativen für die Prüfung des Art. 30: Steindorff, aaO (Fn.31), S.341 m . w . N . 39 Art. 25 der „Europäischen Akte" (EuR 1986, S. 175 ff). Art. 103 r E W G V sieht eine Umweltzuständigkeit der Gemeinschaft vor, wenn die umweltpolitischen Ziele „besser auf Gemeinschaftsebene als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedsstaaten erreicht werden können". 40 Steiger, aaO (Fn.28), S. 67 ff; Offermann-Clas, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften im Umweltschutz, Z. f. Umweltpolitik 6 (1983), S. 47 ff; Kloepfer, Europäischer Umweltschutz ohne Kompetenz? U P R 1986, S.321 ff; F.Behrens, Rechtsgrundlagen der Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaften, 1976; Grabitz/Sasse, Competence of the European Communities for Environmental Policy, 1977. 41 Offermann-Clas, aaO (Fn.40), S. 51, 53; Kloepfer, aaO (Fn.40), S . 3 2 4 f ; Steiger, aaO (Fn.28), S. 71, 73; Grabitz/Sasse, aaO (Fn.40), S.93, 97.
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bzw. zur Verwirklichung der Ziele des Gemeinsamen Marktes (Art. 235) verliehen wurden. Die E G hat diese Kompetenzen sehr großzügig in Anspruch genommen und auch Umweltschutzmaßnahmen auf Gebieten vorangetrieben, die so wohl nicht begründbar waren 42 . Die an dieser „Zuständigkeitsexpansion" geübte Kritik 43 ließe sich theoretisch sogar noch radikalisieren: Man könnte argumentieren, daß auf der Grundlage der Cassis de Dijon-Rechtsprechung des E u G H eine (kompetenzbegründende) Notwendigkeit europäischer Rechtsvereinheitlichung gar nicht mehr besteht, da die Vereinheitlichung bereits durch Art. 30 EWG-Vertrag auf dem kleinsten (liberalsten) gemeinsamen Nenner erfolgt ist44. Die Reform kann dieses Problem entschärfen. Was allerdings auch nach dieser Reform bestehen bleibt, ist ein Gefälle in den Durchsetzungschancen zwischen Ökonomie und Ökologie: Der umweltpolitisch aktive Staat wird durch das Verbot nicht-tarifärer Handelshemmnisse effektiv am Vorpreschen gehindert, während der an einer Umweltschutzmaßnahme (z. B. als Land mit aktiver Emissionsbilanz) nicht interessierte Staat gemeinsame Regeln verhindern oder verwässern kann 45 . Ein effektives und justiziables Verbot nicht-tarifärer Handelshemmnisse ist also grundsätzlich geeignet, das gemeinsame (reziproke) Interesse an einem geordneten Wettbewerb als Antriebselement für gemeinsame Umweltschutzbemühungen aufzuheben, da es dem umweltpolitischen Nachzügler das Risiko abnimmt, daß sich sein wettbewerbspolitischer Vorteil in einen Nachteil verwandelt. Insofern ist eine Synchronisierung der Fortschritte von Handels- und Umweltschutzpolitik von größter Bedeutung. Bis aufgrund der reformierten Verträge, effektivem Ubergang zum Mehrstimmigkeitsprinzip, letztlich wohl aber erst nach einer Parlamentarisierung der Umweltpolitik eine europäische Umweltpolitik auf einem deutlich höheren Niveau als dem des kleinsten gemeinsamen Nenners möglich ist, sind daher Vorbehalte nationaler Regelung nach Art. 30, 36 E W G V unverzichtbar, und es bleibt bedenklich, daß ihre Reichweite in der Katalysatordebatte nicht entschlossener ausgelotet wurde und daß europarechtliche Hürden zu schnell als unübersteigbar dargestellt wurden.
42 Zur entsprechenden Kritik an den Richtlinien über Badegewässer (ABl. Nr. L 31 v. 5 . 2 . 1 9 7 6 ) und Singvögel (ABl. Nr. L 103 v. 2 5 . 4 . 1 9 7 9 ) vgl. Offermann-Clas, aaO (Fn. 40), S . 4 7 f ; Kaiser, Grenzen der EG-Zuständigkeit, EuR 1980, S.97, 116. 43 Dezidiert: Kaiser, aaO (Fn. 42). 44 So Meier, Für ein neues EG-Konzept zur Harmonisierung des Lebensmittelrechts, EuR 1984, S. 268, 269 ff. 45 Kloepfer, aaO (Fn.40), S.324f.
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b) GATT Die im Europarecht beobachtete Gefahr, daß N o r m e n , die den "Wettbewerb schützen, effektiver sind als solche, die die Umwelt schützen, besteht tendenziell auch im Völkerrecht, obwohl hier beide N o r m e n komplexe noch so lückenhaft sind, daß der Konflikt nicht im gleichen Maße deutlich wird. Der Schutz gegen nicht-tarifäre Handelshemmnisse ist im einschlägigen GATT-Recht keinesfalls besonders effektiv ausgeprägt, obwohl er zu seinen Grundprinzipien gehört (Art. VII-XI) 46 . Auch unter Berücksichtigung des im Rahmen der Tokio-Runde 197947 ausgehandelten Folgeabkommens über Technische Handelshemmnisse 48 bleibt das GATT-System so flexibel und steht unter so breiten Vorbehalten 49 , daß es in der augenblicklichen Form sicher kein Hindernis für nationalen Umweltschutz darstellt. Aber auch hier ist die nationale Umweltschutzgesetzgebung bereits als Gegner des freien Welthandels ins Visier genommen 50 . Die Vermutung, daß sich - wie langsam auch immer - das völkerrechtliche Regime nicht-tarifärer Handelshemmnisse rascher entwickeln und mit effektiveren Streitbeilegungsverfahren ausgestattet werden wird als der völkerrechtliche Umweltschutz, ist daher eher berechtigt. Auch hier ist also eine Synchronisierung erforderlich, die die Handlungsmöglichkeiten autonomer nationaler Umweltschutzgesetzgebung nicht schneller aus der H a n d gibt, als sie durch internationale Umweltschutznormen ersetzt werden. 3. Souveränität
als
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Es wäre unter diesen Umständen verfehlt, sich mit der H o f f n u n g auf einen lediglich incidenter im Rahmen des Wettbewerbsschutzes erfolgenden internationalen Umweltschutz zu beruhigen. Für eine Diskussion, die ausländische Verschmutzungsquellen als Alibi in der eigenen Umweltschutzdiskussion benutzt, ist es dann aber von Bedeutung, welche völkerrechtlichen Abwehrmöglichkeiten der einzelne Staat gegenüber Belastungsimporten hat. Auch wenn die Bedeutung rechtlicher Ressourcen in der internationalen Politik nicht überschätzt werden 46 Petersmann, Protektionismus als Ordnungsproblem und Rechtsproblem, RabelsZ 47 (1983), S. 478, 479, 485. 47 Zur Entstehungsgeschichte: McRae/Thomas, The G A T T and Multilateral Treaty Making: The Tokyo Round, AJIL 77 (1983), S.51, 64 f, 68 ff. 48 Zur bisherigen Praxis vgl. Nusbaumer, The G A T T Standards Code in Operation, JWorld Trade Law 18 (1984), S. 542 ff; Petersmann, aaO (Fn.46), S. 494 ff. 49 Seeler, Die Zukunft des GATT, J f. Sozialwissenschaft 36 (1985), S. 80, 82 ff. 50 Seeler, ebendort, S.93; Gröner, Umweltschutzbedingte Produktnormen als nichttarifäres Handelshemmnis, in: Gutzier (Hrsg.), Umweltpolitik und Wettbewerb, 1981, S. 143 ff.
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darf, sind die von der völkerrechtlichen lex lata eröffneten Argumentationsmöglichkeiten für eine sachgerechte Umweltaußenpolitik jedenfalls nicht ohne Bedeutung. Die Schwierigkeiten, nationalstaatliche Interessengegensätze für einen gemeinsamen Schutz der Umwelt zu überwinden, werden durch das Völkerrecht in dem Maße verstärkt, in dem die Inanspruchnahme internationaler Umweltmedien als vom Völkerrecht gewährtes souveränes Recht gesehen, m. a. W. der Souveränität auch die Verschmutzungsfreiheit subsumiert wird 51 . Das klassische Beispiel für die Auffassung, die Souveränität verleihe jedem Staat das Recht, sein eigenes Territorium ohne Rücksicht auf die Auswirkungen in anderen Staaten zu nutzen, ist die vom amerikanischen Attorney General Harmon im Streit mit Mexiko um die Nutzung des Rio Grande vertretene „Harmon-Doktrin" 52 . Diese im internationalen Flußrecht naturgemäß besonders von Oberliegern vertretene Position 53 darf heute jedoch als überwunden gelten (wenn sie denn jemals mehr als Verhandlungsrhetorik war) 54 . Daß er sein Gebiet ohne jede Rücksicht auf die Folgen beim Nachbarn nutzen kann, würde heute wohl kein Staat mehr behaupten 55 (auch wenn bayerische Antworten auf österreichische Sorgen wegen der W A A Wakkersdorf einen so rigorosen Souveränitätsanspruch einzunehmen scheinen, wie er für überwunden gehalten wurde) 56 . Trotzdem hat das Konzept einer souveränen Verschmutzungsfreiheit seinen Einfluß nicht nur auf die Staatenpraxis, sondern auch auf die wissenschaftliche Literatur behalten. Jedenfalls erweckt diese häufig den Eindruck, als wende sie die Vermutung staatlicher Handlungsfreiheit auch auf grenzüberschreitende Umweltbelastungen an und suche nunmehr angestrengt in einer eher schmutzigen Staatenpraxis, einer spärlichen Kasuistik und im anschwellenden „soft law" nach Ansätzen für
51 Verschmutzungsfreiheit als Teil völkerrechtlicher Handlungsfreiheit entsprach insbes. der h. L. für die Freiheit der Meere: dazu Rüster, Freiheit der Meere - auch zur Verschmutzung, in: Mayer-Tasch (Hrsg.), aaO (Fn. 6), S. 36 ff. 52 Das Gutachten Harmons ist wörtlich wiedergegeben und übersetzt bei Krakau, Die Harmon-Doktrin, 1966, S. 8 ff. 53 Nachweise bei Krakau, aaO (Fn. 52), S. 43 ff; Berber, Die Rechtsquellen des internationalen Wassernutzungsrechts, 1955, S. 16 ff; Dintelman, Die Verunreinigung internationaler Binnengewässer aus der Sicht des Völkerrechts, 1965, S. 10 f; Eb. Klein, aaO (Fn. 12), S. 161 f. 54 Zur Praxis der USA vgl. Krakau, aaO (Fn. 52), S. 83 ff; Meyers/Noble, The Colorado River: The Treaty with Mexico, Stanford Law Rev. 19 (1967), S. 367ff. 55 Vgl. die Nachweise zur Staatenpraxis bei Rauschning, Allgemeine Völkerrechtsregeln zum Schutz gegen grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, FS f. Schlochauer, 1981, S. 557 ff, 565 f; Randelzhof er/Simma, Das Kernkraftwerk an der Grenze, FS f. Berber, 1973, S.389, 400 f; Eb. Klein, aaO (Fn.12), S. 161 ff, 216 ff, 308 ff. 56 Vgl. dazu unten bei Fn. 94.
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gewohnheitsrechtliche Einschränkungen dieser Freiheit zugunsten ihrer Opfer57. Selbst so energische Vertreter eines Verbots grenzüberschreitender Umweltschädigungen wie Randelzhofer und Simma sehen die von ihnen angenommenen nachbarrechtlichen Grundsätze als Ergebnisse eines Prozesses, in dem grenzüberschreitende Umweltbelange zunehmend „der domaine réservé" einzelstaatlicher Handlungsfreiheit entzogen werden58. Es ist aber sehr die Frage, ob die Zuführung von Immissionen zum Nachbarn überhaupt je zur domaine réservé gehört haben kann. Der Behauptung einer absoluten Handlungsfreiheit ist - im Flußrecht natürlich vor allem vom Unterlieger - schon immer die ebenfalls in der Souveränität begründete59 territoriale Integrität des betroffenen Nachbarstaats entgegengehalten worden60. Oppenheims oft zitierte kategorische Aussage: "a State, in spite of its territorial supremacy, is not allowed to alter the natural conditions of its own territory to the disadvantage of the natural conditions of a neighbouring State"" kann sich auf eine lange Tradition fast gleichlautender Formulierungen stützen62, die bis zu den Klassikern zurückreicht63 und an gemeinrechtliche und common-law-Maximen zur Abgrenzung von Eigentumssphären anknüpfen kann („In suo quique facere non prohibeter dum alteri non nocet" 64 ; „sie utere tuo ut alienum non laedas")65. Dabei erfolgt diese Diskussion, und das ist auch für die Bewertung der Gegenstimmen66 wichtig, vor dem Hintergrund von Streitigkeiten um Wassermengen, also dem Wasserverbrauch beim Oberlieger, der sich beim Unterlieger auswirkt, ohne daß - jedenfalls bei einer formellen 57 Vgl. Wildhaber, Die Oeldestillerieanlage Sennwald und das Völkerrecht der grenzüberschreitenden Luftverschmutzungen, Schw. Jb. f. int. R. X X I (1975), S. 97, 100 ff; Kloepfer, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen als Rechtsproblem, DVB1. 1984, S. 246, 252 ff; Kloepfer/Kohler, Kernkraftwerk und Staatsgrenze, 1981, S.20ff; Wolfrum, Die grenzüberschreitende Luftverschmutzung im Schnittpunkt von nationalem Recht und Völkerrecht, DVB1. 1984, S.493, 494 f. 58 Randelzhofer/Simma, aaO (Fn. 55), S. 390. s ' Fröhler/Zehetner, Rechtsschutzprobleme bei grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen, 1981 I, S. 69 f. 60 Nachweise bei Eb. Klein, aaO (Fn. 12), S.99, 163 ff; Berber, aaO (Fn.53), S. 19 ff; Krakau, aaO (Fn. 52), S. 20 f. " Hier zitiert nach der 2. Auflage, Oppenheim, International Law I, 2.A., 1912, S. 182. " Heffter, Europäisches Völkerrecht der Gegenwart, 8.A., 1888, S. 70 f; Fr. v. Martens, Völkerrecht I, 1883, S.298. 63 Vattel, Le Droit des Gens (1758), §§271, 273. 64 Heffter, aaO (Fn.62), S. 71 m . w . N . 65 Zum römischen Recht vgl. Westermann, Die Funktion des Nachbarrechts, in: FS f. Larenz, 1973, S. 1003 ff, 1018, Fn.26 mit dem Ulpian-Zitat „in suo enim alii hactenus facere licet, quatenus nihil in alienum immittat" v. w. N. 66 Vgl. etwa Klüber, Europäisches Völkerrecht, 1821, S. 128.
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Betrachtung - das Handeln physisch über die Grenze hinübergreift. Auf den - damals noch nicht problematisierten - Gedanken, die Souveränität könne es einem Staat erlauben, seinen Dreck physisch über die Grenze zum Nachbarn zu schieben, wäre wohl — auch angesichts des Standes des Zivilrechts bis zur industriellen Revolution - keiner der Klassiker gekommen. Die souveräne Handlungsfreiheit endete, vorbehaltlich anderweitiger Gestattung durch das Völkerrecht, schon immer an der Grenze 67 . T r o t z dieser guten Fundierung wird die These von der territorialen Integrität in der völkerrechtlichen Diskussion i. d. R . sehr schnell mit einer reductio ad absurdum „widerlegt": Ein Verbot grenzüberschreitenden Schadstofftransfers würde selbst das Verfeuern fossiler Brennstoffe verbieten 68 und die Staaten zwingen, ihre Grenzregionen zu entindustrialisieren und in Grüngürtel zu verwandeln 69 . D a das offenbar nicht angehen kann 70 , ist im Ergebnis heute praktisch unbestritten, daß das Völkerrecht weder eine souveräne Verschmutzungsfreiheit gewährt noch vollständigen Schutz gegen grenzüberschreitenden Schadstofftransfer garantiert, sondern einen Interessenausgleich zwischen Emissionsstaat und Immissionsstaat verlangt. Man könnte sich mit einem entsprechenden breiten Konsens in der Wissenschaft 71 , der sich auf Staatenpraxis 72 und (Schieds-)Gerichtsentscheidungen 7:i stützen kann, zufriedengeben, würde damit aber die Grundsatzdiskussion zu früh abbrechen. Auch wenn in einer interdependenten Weltgesellschaft sicher weder Handlungsfreiheit noch Integrität absolut gesetzt werden können, bedeutet das noch nicht, daß sie gleichberechtigte Ausgangs-
Heffter, a a O (Fn. 62), S. 70. Rauschning, aaO ( F n . 5 5 ) , S. 563. 69 Kloepfer/Kohler, aaO (Fn. 57), S . 3 9 ; Wildhaber, aaO ( F n . 5 7 ) , S. 118. 70 In einer ökonomischen Analyse wären Grüngürtel an der Grenze allerdings nicht absurd, da sie zu einer Internalisierung externer Effekte führen würden: Mit dem Zwang für alle, den eigenen Dreck in erster Linie selbst zu schlucken, würde sicher die Umwelt für alle verbessert. 67 68
71 Vgl. (für die „organisierte" Wissenschaft) die Montreal-Rules der I L A (Anm. 8) sowie Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. A., 1984, §§ 1029 ff; Rauschning, aaO ( F n . 5 5 ) , S. 562 m . w . N . ; Wildhaber, aaO ( F n . 5 9 ) , S. 102 ff; Randelzhof er/Simma ( F n . 5 5 ) , S . 4 0 3 f; Fröhler/Zehetner, aaO ( F n . 5 9 ) , S. 72 ff m . w . N . ; Wolfrum, aaO (Fn. 57), S . 4 9 5 m. w. N . ; Eb.Klein, a a O (Fn. 12), S. 1 2 2 f f m. w. N . ; A. Weber, Rechtsfragen der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung, in: Osnabrücker Rechtswiss. Abhandlungen I, Recht und Wirtschaft, S. 55, 59 ff. 72 Vgl. die Nachweise in F n . 5 5 sowie „Principle 2 1 " , Declaration of the U N - C o n ference on the H u m a n Environment (Rüster/Simma, Int. Protection of the Environment I, S. 118ff). 73 Trail-Smelter-Arbitration, aaO (Anm. 9 ) ; Lac-Lanoux-Fall, A J I L 53 (1959), S. 156 ff.
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punkte eines „schonenden Souveränitätsausgleichs" 74 sein müssen. Für die Bewertung einer kontroversen und sich wandelnden Staatenpraxis ist es von Bedeutung, was Regel und was Ausnahme ist, ob im Gewohnheitsrecht nach Verboten grenzüberschreitender Umweltschädigung oder nach grenzüberschreitenden Immissionsgenehmigungen zu suchen ist. Ein Rekurs auf die grundlegenden Prinzipien der Abgrenzung von Souveränitätsbereichen kann die Antwort auf diese Frage eigentlich nicht zweifelhaft machen. Handlungsfreiheit und territoriale Integrität als notwendig korrelative Bestandteile des Souveränitätsprinzips werden vom Völkerrecht grundsätzlich nicht durch „Abwägung" zum Ausgleich gebracht, sondern hart und formal durch die Grenze: Handlungsfreiheit im eigenen Territorium korreliert mit dem Verbot, in fremdes Territorium einzugreifen". Dann kann aber auch der Souveränität kein Recht entnommen werden, die Umweltmedien des Nachbarn in Anspruch zu nehmen". Diese zunächst einmal ganz simple Feststellung, die Völkerrechtlern offenbar Mühe macht, ist im internationalen Privat- und Verwaltungsrecht jedenfalls als Ausgangspunkt herrschende Lehre: öffentlich-rechtliche Emissionsgenehmigungen sind in ihrer Wirkung territorial begrenzt, zwingen den von der Immission Betroffenen jenseits der Grenze also grundsätzlich nicht zur Duldung 77 . Mit der Feststellung, daß die souveräne Handlungsfreiheit der Staaten sie nicht zu grenzüberschreitenden Emissionen berechtigt, ist nicht das Verbot sämtlicher solcher Emissionen behauptet. Aber die Zulässigkeit solcher Emissionen folgt nicht aus dem für die Völkerrechtsordnung konstitutiven Souveränitätsprinzip, sondern aus kontingenten Entwicklungen des Völkerrechts seit der industriellen Revolution. Die Staaten haben sich - sogar recht großzügig - die wechselseitige Inanspruchnahme ihrer Umweltmedien gestattet. Erst auf dieser Ebene - nicht aber zur Widerlegung des Integritätsprinzips als Ausgangspunkt - hat die oben zitierte reductio ad absurdum 78 Uberzeugungskraft: Man kann in Kloepfer/Kohler, a a O (Fn. 57), S . 3 6 f f ; Kloepfer, aaO (Fn. 57), S. 254 ff. Zum Interventionsverbot als notwendigem Korrelat der Souveränität grundlegend: Vattel, Le Droit des Gens, 1758 B d . I , § 3 7 . 76 Für das Prinzip der territorialen Integrität als Ausgangspunkt auch: Fröhler/Zehetner, aaO (Fn. 59), S. 72. 77 Vgl. B G H DVB1. 1974, S . 2 2 6 ; Stoll, Der Schutz der Sachenrechte nach intern. Privatrecht, RabelsZ 37 (1973), S . 3 5 7 , 3 7 5 f f ; w. Nachweise bei Kreuzer, in: MünchK o m m . , Art. 12 E G B G B , R d n . 2 3 8 ; differenzierend (Berücksichtigung der ausl. Genehmigung bei ausreichender Wahrung inl. Interessen): Kreuzer, ebendort, R d n . 2 3 9 ; Siehr, Grenzüberschreitender Umweltschutz, RabelsZ 45 (1981), S . 3 7 7 , 3 8 7 ; Lummert, in: Bothe/Prieur/Ress, Rechtsfragen grenzüberschreitenden Umweltschutzes, 1984, S. 183 ff; Kloepfer/Kohler, a a O ( F n . 5 7 ) , S. 164 ff. 78 Bei Fn. 6 8 / 6 9 . 74
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der Tat im 20. Jahrhundert nicht davon ausgehen, daß die Staaten sich gegenseitig die Industrialisierung verbieten wollen. In dem Maße, in dem die Staaten sich in der Vergangenheit im rücksichtslosen Umgang mit der Umwelt einig waren, haben sie sich auch ihrer aus dem Territorialitätsprinzip folgenden Abwehrrechte begeben. Dieser Prozeß wurde durch die faktischen Strukturen des Regelungsproblems, die oben geschildert wurden, begünstigt. Wenn das Völkerrecht die Souveränitätsbefugnisse an der Grenze enden läßt, folgt es damit auch dem Prinzip der Effektivität", denn in einer herrschaftslosen Rechtsordnung ist es natürlich am leichtesten, jedem Staat die Kontrolle für sein Territorium zu übertragen. Auch bei grenzüberschreitenden Aktivitäten bewährt sich dieser Ansatz, solange Maßnahmen des „Senderstaates" vom „Empfangsstaat" an der Grenze angehalten werden können. Das ist die Lösung z . B . im internationalen K o m munikationsrecht, wo der eine Staat in das Territorium des anderen Staates Briefe, Telegramme oder auch Radiowellen senden, der Empfangsstaat aber solche Sendungen anhalten bzw. stören darf80. Bei auf dem Luft- und Wasserwege bewirkten Verletzungen fremder Souveränität versagt diese Lösung: Die Wahrung der territorialen Integrität des Immissionsstaates verlangt vom Völkerrecht schwer durchzusetzende Verbote für das Verhalten des Emissionsstaates auf dessen Territorium. Die Rechtsposition der territorialen Integrität läßt sich in der Staatenpraxis nicht durch physisches „Anhalten" wahren, sondern nur durch rechtliche und politische Gegenmaßnahmen. Die wichtigste, im Völkerrecht zuwenig gewürdigte Reaktion ist die Nichtanerkennung der exterritorialen Wirkung von Emissionsgestattungen 81 , die belegt, daß von einem „Recht" des Emissionsstaates, die Umweltmedien der Nachbarn in Anspruch zu nehmen, nicht die Rede sein kann. Aber die spezifisch völkerrechtlichen Reaktionen (Proteste, Einleitung von Streitbeilegungsverfahren, Repressalien) sind nur zögernd wahrgenommen worden. Vielmehr hat das eigene Interesse an der Inanspruchnahme fremder Umweltmedien dazu geführt, daß (mögliche) Proteste unterlassen und (erfolgversprechende) Prozesse nicht geführt wurden 82 , da deren Erfolg
79 H. Krüger, Das Prinzip der Effektivität, oder: Uber die besondere Wirklichkeitsnähe des Völkerrechts, FS f. Spiropoulos, 1957, S. 25 ff. 80 Vgl. Simma, Das Problem des grenzüberschreitenden Informationsflusses und des „domaine réservé", Berichte DGVR 19 (1979), S.39ff. 81 Vgl. oben bei Fn. 77. Auch die dort zitierten zunehmenden kritischen Stimmen an der grundsätzlichen Unbeachtlichkeit ausl. Genehmigungen halten an dem Recht des Wirkungsstaates, die Anerkennung zu versagen, fest, wenn seine Interessen verletzt sind. 82 Vgl. die implizite Kritik der Arrondissementrechtbank Rotterdam an der Untätigkeit der niederländischen Regierung im Rheinversalzungsprozeß, RabelsZ 49 (1985), S. 741, 742 (unter 14).
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das eigene Verhalten in ein rechtswidriges Licht gebracht hätte. Erst dieser Prozeß, nicht das Souveränitätsprinzip, hat einen Zustand des Völkerrechts herbeigeführt, der den Eindruck erwecken konnte, es gebe eine „traditionelle" Verschmutzungsfreiheit, die nunmehr durch „modernes" Umweltvölkerrecht zurückgedrängt werden müsse. Das Völkerrecht hat damit, wenn auch ein wenig phasenverschoben und nicht so deutlich, dieselbe Entwicklung genommen wie die Abgrenzung von Eigentumssphären im innerstaatlichen Recht, wo ebenfalls am Ausgangspunkt das Recht des Eigentümers steht, jedwede Einwirkung auf sein Eigentum abzuwehren. Dieses wird dann im Interesse von wirtschaftlicher Entwicklung und Industrialisierung durch Duldungspflichten abgebaut83, was zum Mißverständnis führt, das Recht, das Grundstück des Nachbarn zu verschmutzen, gehöre zum (möglichst noch verfassungsfesten) Eigentum84, und es gehe darum, dieses Eigentumsrecht durch Umweltschutzgesetze einzuschränken, obwohl es tatsächlich nur um die Rücknahme der Privilegierung des emittierenden Eigentümers zugunsten der immissionsbelasteten Eigentümer geht85. Auch wenn wir damit auf einem etwas komplizierten Weg doch wieder bei der herrschenden Auffassung angekommen sind, daß grenzüberschreitende Emissionen nicht generell, sondern erst ab einer bestimmten Grenze verboten sind86, war dieser Umweg nicht überflüssig, und zwar sowohl für die Bestimmung dieser Grenze de lege lata wie für die weitere Entwicklung des Umweltvölkerrechts de lege ferenda. Daß im Völkergewohnheitsrecht nicht nach Einschränkungen der Handlungsfreiheit, sondern nach Gestattungen grenzüberschreitender Emissionen zu suchen ist, ist angesichts einer durch Umweltverschmutzung gekennzeichneten Praxis von größter Bedeutung. Versuchte man in solcher Praxis von allgemeinen Rechtsüberzeugungen getragene Emissionsverbote zu finden, dürfte man sich schwer tun und nur zu einem kleinsten gemeinsamen Nenner absolut unakzeptabler grenzüberschreitender Umweltverschmutzung gelangen. Tendenziell bestimmte dann die Umweltpolitik der am wenigsten umweltbewußten Staaten das internationale Umweltrecht. Erkennt man hingegen, daß die Staaten zur Rücknahme ihres Integritätsanspruchs nur soweit verpflichtet sind, wie das Völkerrecht Immissionserlaubnisse gewährt, so sind es umgekehrt tendenziell die umweltbewußtesten Staaten, die den Stand des Umweltvölkerrechts definieren: 83 Vgl. Suhr, aaO (Fn.4), S. 45 ff; für das common law: Coase, Cost, J. of Law & Economics 3 (1960), S. 1, 8 ff. 14 Vgl. dagegen Nachweise in Fn. 4. 15 Suhr, aaO (Fn.4), S . 7 f f . " Vgl. Fn. 71-73.
The Problem of Social
Völker- und Europarecht als Alibi für Umweltschutzdefizite?
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Nur in dem Umfang, wie diese Belastungen ihrer Umwelt hinzunehmen bereit sind, kann man eine wirklich allgemeine Rechtsüberzeugung hinsichtlich der Zulässigkeit grenzüberschreitender Immissionen konstatieren. Noch wichtiger ist diese Umkehrung der üblichen Fragestellung angesichts rasch fortschreitender Erkenntnisse über Umweltschäden und den korrespondierenden Wandel des Umweltbewußtseins für die Fortentwicklung des Völkerrechts. Eine Verschärfung völkerrechtlicher Standards gegen „persistent objectors" wäre schwierig, wenn man die Verschmutzungsfreiheit der souveränen Handlungsfreiheit zuordnete; dagegen reicht bereits der Zusammenbruch einer bisher die Immissionserlaubnis tragende opinio juris, um das Prinzip der territorialen Integrität wieder aufleben zu lassen87. 4. Völkerrecht und Umweltaußenpolitik Das Völkerrecht ist demnach kein Alibi für umweltpolitische Zurückhaltung; es verleiht nicht nur recht weitgehende Abwehrrechte, sondern darüber hinaus beeinflußt die eigene Umweltpolitik die Entwicklung des Umweltvölkerrechts: Je konsequenteren Immissionsschutz die einzelnen Staaten betreiben, desto mehr tragen sie dazu bei, behaupteten Emissionsbefugnissen die Legitimation zu entziehen, da sie sich begründet gegen die Vermutung wenden können, sie gestatteten Nachbarn Belastungen ihrer Umwelt, die sie den eigenen Unternehmen nicht gestatten. Die damit aufgestellte Behauptung, daß eine möglichst konsequente nationale Umweltpolitik zugleich auch gute Umweltaußenpolitik ist, sieht sich zwei möglichen Einwänden ausgesetzt: der eine zielt auf die relative Unbestimmtheit der so festgestellten völkerrechtlichen Normen, der andere auf ihre geringe Effektivität. Beide sind ernst zu nehmen, aber nicht notwendig durchschlagend. In der Tat verbleibt jede Formulierung des Verbots grenzüberschreitender Umweltschädigungen - gleichgültig mit welcher Betonung man es vertritt - auf einer zu abstrakten Ebene für einen technischen Regelungsbereich. Auch das nationale Umweltschutzrecht kann sich ja nicht mit Grundaussagen zum Schutz- und Vorsorgeprinzip (z.B. §5 BImSchG) begnügen, sondern bedarf konkreter technischer Regelwerke (TA Luft). Dementsprechend ist auch in der völkerrechtlichen Diskussion die Auffassung weit verbreitet, daß - unabhängig vom Stand des Völkergewohnheitsrechts - wirkliche Fortschritte nur durch völkervertraglich festgelegte Emissions- und Immissionsstandards zu erwarten 87 Zum Unterschied der Voraussetzungen für die Entstehung eines Völkergewohnheitsrechts zu denen für dessen Beseitigung vgl. auch Dolzer, New Foundations of the Law of Expropriation of Alien Property, AJIL 75 (1981), S. 553, 562 ff.
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sind88. Die Fortentwicklung vom Völkereertragsrecht aber tendiert angesichts des Einstimmigkeitsprinzips wieder zum kleinsten gemeinsamen Nenner89. Auch insoweit könnte jedoch der hier vorgenommene Rekurs auf die grundlegenden Prinzipien der Abgrenzung von Souveränitätsbereichen einen Ausweg weisen: Wenn die Zulässigkeit grenzüberschreitender Umweltbelastungen durch gegenseitige Gestattung bewirkt wird und bedingt ist, ist ein umweltvölkerrechtliches „Meistbegünstigungsprinzip" die logische Konsequenz90. Weder können die Staaten die Umweltmedien ihrer Nachbarn in stärkerem Maße in Anspruch nehmen als sie es im eigenen Territorium für zulässig halten, noch kann man davon ausgehen, daß ein Staat fremden Staaten eine stärkere Inanspruchnahme dieser Medien gestattet als nach seinem Umweltrecht zulässig. Damit verweist das Umweltvölkerrecht auf die ausdifferenzierten technischen nationalen Umweltrechte, ist also viel konkreter, als es den meisten Staaten lieb sein dürfte. Die grenzüberschreitende Umweltbelastung ist sowohl völkerrechtswidrig, wenn sie dem eigenen Recht des Emissionsstaates, wie wenn sie dem des Immissionsstaates widerspricht. Gerade weil sich dem Umweltvölkerrecht damit viel konkretere und weitergehende Ge- und Verbote entnehmen lassen, als oft angenommen, stellt sich die Frage nach seiner Effektivität. Dabei reicht der generelle Verweis auf die eingeschränkte Sanktionsmöglichkeit einer dezentralen Rechtsordnung nicht, denn das Umweltvölkerrecht gehört mit seinem ökonomisch-technischen Regelungsbereich zu den Rechtsgebieten, auf denen jedenfalls im regionalen Rahmen die Effektivität von Völkerrecht nicht zu weit hinter der von nationalem Recht zurückzubleiben brauchte. Wenn das Umweltvölkerrecht ineffektiv ist, dann vor allem, weil kein Versuch gemacht wird, es durchzusetzen, weil ein gemeinsames Interesse an Verschmutzungsfreiheit besteht. Diese Haltung ist offensichtlich noch immer nicht überwunden. Wenn dem ausländischen Nachbarn so überzogene Souveränitätsbehauptungen entgegengehalten werden, wie es die bayerische Staatsregierung hinsichtlich der WAA in Wackersdorf tut", werden damit bereits erreichte Positionen des völkerrechtlichen Nachbarschutzes preisgege-
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Eb.Klein, aaO (Fn. 12), S . 3 1 7 f f , 321; Wolfrum, aaO (Fn.57), S . 4 9 6 f f ; A.Weber, aaO (Fn. 71), S . 5 9 ; Dintelmann, aaO (Fn.53), S. lOf. 89 Vgl. etwa zur Umsetzung „schwarzer Listen" in der Praxis: Salzwedel, Wasserrecht, in: ders. (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 1982, S.584. 90 Moser, Offene Fragen des Genehmigungsverfahrens bei Kernkraftwerken an der Staatsgrenze, in: Dok. 1 Int. Tagung Kernenergierecht, Nuclear Inter Jura 1973, Karlsruhe, S. 195, 207; ablehnend Kloepfer/Kohler, aaO (Fn.57), S.41. " Vgl. insbes. den scharfen Brief des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß an den österreichischen Bundespräsidenten Waldheim, auszugsweise zitiert in F A Z v. 24. 7 . 1 9 8 6 .
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ben92, womit man es sich natürlich unmöglich macht, dem französischen Nachbarn gegenüber die Einhaltung des völkerrechtlichen Nachbarrechts im Fall Cattenom einzufordern". Auch insofern ist das internationale Recht also kein Alibi für Umweltschutzdefizite, sondern nur ein Staat, der konsequente nationale Umweltschutzpolitik betreibt, kann sich eine glaubhafte Durchsetzung seiner Rechte gegenüber grenzüberschreitenden Verschmutzungen leisten.
92 D a ß den Nachbarstaat (unabhängig von der materiellen Rechtslage) umweltrelevante Großprojekte jedenfalls etwas angehen und er das Recht hat, seine Sorgen zu artikulieren, ohne daß dies eine Einmischung in innere Angelegenheiten ist, entspricht inzwischen völlig herrschender Auffassung: Vgl. nur Verdross/Simma, aaO (Fn. 71), § 1 0 3 1 ; Rauschning, aaO (Fn. 55), S. 571 ff jeweils m. w. N . 93 Zur unnötig zurückhaltenden Formulierung der deutschen Rechtsposition gegenüber Frankreich vgl. Umweltminister Wallmanns Zitat, Frankreich könne aus seiner Souveränität heraus Atommeiler bauen, „ohne uns zu fragen" (Welt v. 17. 7 . 1 9 8 6 ) .
Die Armenier in der Geschichte des internationalen Flüchtlingsrechts O T T O KIMMINICH
Die Massenmedien erwecken den Eindruck, als schenke die Weltöffentlichkeit dem Schicksal eines Volkes oder einer Volksgruppe nur dann Beachtung, wenn durch Terrorakte darauf aufmerksam gemacht wird. Für den Bereich der Politik mag das richtig sein. Für den Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft gilt es nicht. Freilich bedarf es auch hier der Anstöße durch Menschen, die zuverlässige Informationen weitergeben. Die Machthaber, die ein Volk oder eine Volksgruppe unterdrücken, setzen alles daran, um die Fakten nicht bekanntwerden zu lassen oder zumindest, um sie so zu entstellen, daß die Maßnahmen, die gegen die Mitglieder der verfolgten Gruppen ergriffen werden, nicht als ethnische, religiöse oder politische Verfolgung erscheinen. Ist eine solche Propaganda erst einmal etabliert, so hat es die Wahrheit schwer, dagegen anzukämpfen. Als noch wirkungsvoller hat es sich in der Geschichte erwiesen, eine Mauer des Schweigens zu errichten, die alles verbirgt und in Vergessenheit geraten läßt. Mit Recht erregt diese Methode heute Abscheu und Widerwillen. Mit Recht ist der Friedensnobelpreis einem Mann verliehen worden, der solche Mauern niederreißt bzw. ihre Errichtung zu verhindern trachtet. Das christliche Gebot zu vergeben, verpflichtet nicht zum Vergessen, sondern begründet im Gegenteil die Pflicht, solche Verbrechen niemals zu vergessen. Diese Pflicht ist sehr wohl vereinbar mit den Bestrebungen des humanitären Völkerrechts, das in Krieg und Frieden menschliches Leiden zu mildern trachtet, ohne nach Schuldigen zu suchen. Das internationale Flüchtlingsrecht, das innerhalb von wenigen Jahrzehnten zu einem wichtigen Teil des humanitären Völkerrechts geworden ist, befindet sich insofern in derselben Lage wie das klassische „Genfer Recht". Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität, die unter den Prinzipien des Internationalen Roten Kreuzes an erster Stelle stehen, gelten auch für das internationale Flüchtlingsrecht. Auch im Bereiche dieses Rechts wird nicht angeklagt und verurteilt, sondern nur geholfen. Aber die Herausbildung von Völkerrechtsnormen durch Gewohnheitsrecht ebenso wie die Setzung von Völkerrechtsnormen durch Ver-
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tragsrecht ist von Fakten abhängig. Vordergründig sind es von Rechtsüberzeugung getragene Willensakte, denen ihrerseits die Kenntnis von Tatsachen als Anlaß und Motivation zugrunde liegt. Das ist keine Besonderheit des internationalen Flüchtlingsrechts oder des gesamten humanitären Völkerrechts. Wer die Geschichte irgendeines Teilgebiets des Völkerrechts erforscht, stößt immer auf historische Tatsachen und Zusammenhänge, die letztlich menschliches Schicksal darstellen, auch wenn der Regelungsgegenstand technischer Natur sein sollte. Besonders deutlich und unmittelbar aber ist dieser Bezug im Bereich des humanitären Völkerrechts und vor allem in demjenigen des internationalen Flüchtlingsrechts. Wer die Anfänge des internationalen Flüchtlingsrechts erforscht, stößt sofort auf menschliches Leid von erschütternder Größe und Tragik. Es ist das Leid eines Volkes, dessen Schicksal die Weltöffentlichkeit seit Jahrzehnten vergessen hat, so daß die These von der informativen Funktion von gezielten Terrorakten eine gefährliche Aktualität erhält. Die Experten des internationalen Flüchtlingsrechts sind vielleicht die einzigen, deren Haltung diese These widerlegt. Sie haben nie aufgehört, an das Schicksal der Armenier zu erinnern. Die Gründe sind vor einem Vierteljahrhundert so dargelegt worden: „Wenn hier das armenische Flüchtlingsproblem als erstes behandelt wird, so geschieht dies nicht nur deshalb, weil es eines der ersten Probleme dieser Art war, mit denen sich der Völkerbund befaßte, sondern auch deshalb, weil das Schicksal der armenischen Flüchtlinge mit besonderer Deutlichkeit zeigt, wie notwendig eine wirklich ernsthafte internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet ist'." Demselben Buch kann auch die kurze Darstellung des Tatsachenhintergrunds entnommen werden, der den Anlaß für die ersten Ansätze zur Schaffung eines internationalen Flüchtlingsrechts bot. Die Armenier bildeten eine christliche Minderheit im Ottomanischen Reich. Ihnen wurde, wie den übrigen religiösen Minderheiten, die Freiheit der Religionsausübung garantiert, daneben aber bildeten die Armenier ein „Millet", also eine nationale Einheit mit einer gewissen Selbständigkeit innerhalb des Ottomanischen Reichs. Sogar eine Nationalversammlung wurde ihnen zugestanden. Das alles aber war durch die türkische Politik des 19. Jahrhunderts zu einer hohlen Form geworden. Die Armenier wurden unterdrückt und mißhandelt, was zu wiederholten Interventionen der europäischen Großmächte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte. Es handelte sich dabei um sogenannte interventions d'humanité, Interventionen im Namen der Menschlich1 Otto Kimminich, S. 206.
Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, Köln-Berlin 1962,
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keit. Die Türkei selbst versuchte natürlich immer, solche Interventionen als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurückzuweisen und beschuldigte die intervenierenden Mächte sogar, die Armenier zur Erhebung gegen die türkische Regierung aufgestachelt zu haben. Tatsache ist jedenfalls, daß die christlichen Mächte bei dieser Gelegenheit zwar mancherlei Vorteile für sich herausschlagen konnten, daß aber das Los der Armenier trotz aller Interventionen nicht wesentlich gebessert wurde2. Besonders groß waren ihre Leiden während der Regierungszeit Abdul Hamids, der 1876 Sultan wurde und die Minderheiten mit entsetzlicher Grausamkeit verfolgte. Auf das Konto dieses Mannes, der bei den westlichen Diplomaten als liebenswürdiger, feinsinniger und kluger Staatsmann bekannt war, gehen vor allem die Blutbäder der Jahre 1894-1896. In einem Buch, das den Untertitel „Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland" trägt, hat sie Lepsius ausführlich behandelt. Anhand von Augenzeugenberichten und Dokumenten beweist er, daß die Blutbäder und Plünderungen nicht von den Armeniern provoziert worden waren und daß sie keineswegs nur eigenmächtige Ausschreitungen von untergeordneten Offizieren und Beamten darstellten, sondern in Ausführung eines von der Regierung entworfenen Vernichtungsplans geschahen. Unter Anführung genauer Daten für die einzelnen Orte und Distrikte kommt Lepsius auf eine Gesamtzahl von 83 243 getöteten Armeniern und 2493 zerstörten und geplünderten Dörfern3. Weitere Greuel sind die Zerstörungen von Kirchen und Klöstern, die Zwangskonvertierungen zum islamischen Glauben, die mit grausamsten Mitteln durchgeführt wurden, sowie die zahllosen Mißhandlungen und Schändungen. Ein erneutes Massaker ereignete sich im Jahre 1915, diesmal verbunden mit Massendeportationen. Was damals geschah, ist unvorstellbar schrecklich. Daß darüber in der Weltöffentlichkeit während der Zeit des Geschehens und unmittelbar danach nicht gesprochen wurde, hängt mit der Situation des Ersten Weltkriegs zusammen. Die Meldungen von den Fronten beherrschten das Medienfeld. Aus dem Innern der kriegführenden Staaten drangen kaum zuverlässige Berichte nach außen. Die gegnerische Spionage konzentrierte sich auf militärische Objekte und Ereignisse. Die befreundeten Mächte hatten kein Interesse daran, ihren Verbündeten zu diskreditieren. Erst nach Kriegsende wurden Einzelheiten bekannt, aus denen das ganze Ausmaß der Verbrechen am armenischen Volk deutlich 2 Eine genauere Untersuchung der Interventionen findet sich bei André Mandelstam, Das armenische Problem im Lichte des Völker- und Menschenrechts, Göttingen 1931, S. 8 ff. 3 Johannes Lepsius, Armenien und Europa, Berlin 1896, S.243.
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wurde. Zu den ersten, denen es gelang, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, gehörte wieder Johannes Lepsius, dessen Publikationen im Kaiserreich zensiert und beschlagnahmt worden waren und der nun offen schreiben durfte 4 . Es gab aber auch andere deutsche sowie britische Dokumentationen aus jener Zeit s . Für kurze Zeit, im Frühsommer 1921, kamen die Vorgänge auch in die deutsche Tagespresse. Damals wurde vor dem Schwurgericht des Landgerichts III in Berlin der Fall eines armenischen Studenten verhandelt, der den ehemaligen türkischen Innenminister Talaat Pascha am 15. März 1921 in Charlottenburg ermordet hatte. Als Neunzehnjähriger hatte er die Vorgänge während der „Deportation" in der Türkei, die in Wirklichkeit eine VölkermordAktion gewesen war, erlebt und dabei seine gesamte Familie verloren. Talaat Pascha wurde während des Prozesses durch Urkunden und Zeugenaussagen als einer der Hauptverantwortlichen für das Geschehen von 1915/16 identifiziert. Der Freispruch des Angeklagten beruhte auf der Erkenntnis, daß die Tat im Affekt begangen worden war. Während der Beweisaufnahme aber waren mehrere Überlebende der Armenierverfolgung von 1915/16 als Zeugen vorgenommen worden. Der deutsche General Otto Liman von Sanders, der jahrelang als Militärberater in der Türkei tätig gewesen war und den das Gericht als Sachverständigen hörte, bestätigte im Rahmen seines Wissens die Angaben. Er betonte dabei auch, daß die deutsche Regierung, insbesondere Botschafter Graf Metternich, „aufs entschiedenste Protest erhoben" habe 6 . Das öffentliche Interesse war jedoch nur kurzlebig. Erst 60 Jahre später wurde der
4 Johannes Lepsius, Todesgang des armenischen Volkes, Potsdam 1919. In Paris war vorher sein Geheimbericht über die Massaker in Armenien erschienen: L e rapport secret de Johannes Lepsius sur les massacres d'Arménie, Paris (Payot) 1918. D e r „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei", den Lepsius in einem Potsdamer Verlag im Jahre 1916 herausgegeben hatte, durfte nicht über den Buchhandel abgesetzt werden. Auch von den privat versandten Exemplaren wurden viele beschlagnahmt. Das 1919 erschienene Buch war eine erweiterte Fassung dieses Berichts. Es erlebte Neuauflagen in den Jahren 1927 und 1930 sowie einen Neudruck der 2. Auflage, Heidelberg 1980. 5 Vgl. Christopher J. Walker, Britische Quellen über die Armenier-Massaker 1 9 1 5 - 1 9 1 6 , in: Das Verbrechen des Schweigens, hrsg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker, redigiert von Tessa Hofmann, Göttingen 1985, S. 86 ff; Tessa Hofmann, Deutsche Quellen und Augenzeugenberichte zum Völkermord an den Armeniern 1 9 1 5 / 1 6 , in demselben Sammelwerk, S. 92 ff. Die französische Originalausgabe dieses Sammelwerkes trägt den Titel „Le Crime de Silence. L e Génocide des Arméniens" und wurde 1984 in Paris veröffentlicht. 6 D e r Prozeß Talaat Pascha. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen gegen den des Mordes an Talaat Pascha angeklagten armenischen Studenten Salomon Teilirian vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu Berlin, Aktenzeichen: C . J . 2 2 / 2 1 , am 2. und 3. Juni 1921, mit einem V o r w o r t von Armin T. Wegner, Berlin 1921, S . 6 2 .
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umfangreiche stenographische Bericht des Prozesses zusammen mit einem erläuternden Vorwort erneut publiziert 7 . An der Mauer des Schweigens wird noch heute eifrig weitergebaut. Bezeichnend sind die Vorgänge im Zusammenhang mit der Erwähnung des Schicksals der Armenier in einem Bericht des Unterausschusses zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutze von Minderheiten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Auf Vorschlag des Unterausschusses hatte die Menschenrechtskommission 1971 einen Sonderberichterstatter damit beauftragt, eine Studie über die Frage der Verhütung und Bestrafung von Völkermord auszuarbeiten. Der im Jahre 1973 vorgelegte Zwischenbericht 8 enthielt auch einen geschichtlichen Rückblick, in dem durch einen Satz und eine dazugehörige Fußnote auf das Schicksal der Armenier hingewiesen wurde. Der Satz lautete: „Wenn wir uns der zeitgenössischen Geschichte zuwenden, so kann auf eine verhältnismäßig umfassende Dokumentation über das Massaker an den Armeniern hingewiesen werden, das als der erste Völkermord des 20.Jahrhunderts betrachtet wurde." Die Fußnote verwies auf die entsprechenden Publikationen. Obwohl es nicht üblich ist, noch nicht abgeschlossene Berichte des Unterausschusses in der Menschenrechtskommission zu erörtern, kam die vorzitierte Passage in der Sitzung der Menschenrechtskommission am 6. März 1974, etwa ein halbes Jahr nach der Erörterung des Zwischenberichts im Unterausschuß, zur Sprache. Dabei wurde vom Vertreter der Türkei, aber auch von anderen Delegierten, die Streichung dieser Textstelle im endgültigen Bericht gefordert. Die Mitglieder des Unterausschusses, der sich im September 1975 erneut mit der Angelegenheit befaßte, lehnten mehrheitlich die Streichung ab, obwohl der Vertreter der Türkei sie auch dort wieder forderte 9 . Dennoch enthält die überarbeitete Fassung des Berichts über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords den Hinweis auf die Behandlung der Armenier in der Türkei nicht10. Erst im März 1979 beschäftigte sich die Menschenrechtskommission auf ihrer 35. Sitzung mit dem Bericht. Dabei wurde für die Wiedereinsetzung des Hinweises auf die Verfolgung der Armenier plädiert, aber ohne Erfolg. Der Vertreter der Niederlande in der Menschenrechtskommission erklärte dazu später: „Es ist bedauerlich, daß falsch verstandene Regierungsinteressen, wie sie insbesondere im diplomatischen Feldzug vor und während der Sitzung der UN-
7 Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat Pascha, Neuauflage, hrsg. und eingeleitet von Tessa Hofmann im Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 1980. 8 U N Doc. E/CN. 4 / Sub. 2 / L. 583. 9 U N Doc. E / C N . 4 / S u b . 2 / S R . 7 3 7 . 10 U N Doc. E/CN.4/Sub.2/416.
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Kommission für Menschenrechte 1974 offenbar wurden, eine solch überragende Rolle bei den Bemühungen gespielt haben, das Leid des armenischen Volkes zu verschleiern 11 ." Das armenische Flüchtlingselend, das bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann, ließ sich nicht verschleiern. Es gab den ersten Anstoß für die Entwicklung des internationalen Flüchtlingsrechts. Doch bevor hierauf eingegangen werden kann, müssen die tatsächlichen Entwicklungen kurz berichtet werden. Nach dem Zusammenbruch Rußlands schlössen sich bekanntlich Armenier, Georgier und Tataren zur „Transkaukasischen Republik" zusammen, die aber bereits nach fünf Wochen zerfiel. Am 28. Mai 1918 wurde eine unabhängige Armenische Republik mit der Hauptstadt Eriwan gegründet. Der Kampf gegen die türkische Ubermacht war jedoch aussichtslos, so daß Armenien am 4. Juni 1918 den Frieden zu Batum schloß, der ihm nur ein kleines Gebiet mit etwa 320 000 Einwohnern beließ. Durch den Waffenstillstand der Türkei mit den Alliierten, der am 30. Oktober 1918 in Mudros unterzeichnet wurde, gewann Armenien zwar die durch den Batumer Frieden verlorenen Landesteile zurück, aber die Alliierten verzichteten gleichzeitig auf eine Besetzung der ehemals türkischen Landesteile von Armenien. Zu diesem Zeitpunkt war das Flüchtlingselend der Armenier bereits riesengroß geworden. Zu den Flüchtlingen, die schon vor dem Weltkrieg das Land verlassen hatten, kamen die Massen der Zivilbevölkerung, die vor den heranrückenden Türken geflohen waren, und vor allem die 600 000 Deportierten, die unter großen Strapazen nach Syrien und Mesopotamien gebracht worden waren und dort in Lagern dahinsiechten. Im Jahre 1919 schätzte man, daß seit 1890 etwa eine Million Armenier zu Flüchtlingen geworden waren. Die Zahl der Gemordeten wurde auf 1 500 000 geschätzt 12 . In dieser Zahl dürften allerdings die auf der Flucht und in den syrischen und mesopotamischen Lagern Gestorbenen mit enthalten sein. Gerade bei letzteren waren die Verluste sehr groß. Der Engländer Simpson berichtete, daß von den 600 000, die im Jahre 1915 deportiert worden waren, nur 9 0 0 0 0 mit dem Leben davonkamen 13 . Hier bot sich dem Völkerbund eine einmalige Gelegenheit zur wirklichen Lösung eines Flüchtlingsproblems. Denn es lag in seiner Macht, den geflüchteten Armeniern eine Heimstatt in ihrer angestammten Hei11 Theo C. van Bovert, Anmerkung zum gestrichenen Hinweis über das Massaker an den Armeniern in der Studie über die Frage der Verhütung und der Bestrafung des Völkermordverbrechens, in: Das Verbrechen des Schweigens, Göttingen 1985 (vgl. Anm.4), S. 154. 12 Jacques Vernant, The refugee in the post-war world, London 1953, S.57. 13 Sir John Hope Simpson, The refugee problem, London 1939, S.30.
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mat zu schaffen, und damit gleichzeitig den soeben proklamierten Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker zu verwirklichen. In der Tat bestand der Plan, ein unabhängiges Armenien unter dem Schutz des Völkerbundes zu errichten 14 . Der Völkerbundsrat mußte allerdings das ihm angebotene Mandat ablehnen, da er ja gemäß Art. 22 des Völkerbundspaktes die Kontrolle über die Mandatsverwaltung auszuüben hatte, also selbst nichts verwalten durfte. Die Vereinigten Staaten lehnten nach langwierigen Verhandlungen die Übernahme des Mandats für Armenien ab. Da keine Schutzmacht für Armenien gefunden wurde, mußte das Land im Friedensvertrag von Sèvres (unterzeichnet am 1 0 . 8 . 1 9 2 0 ) ohne internationalen Schutz für unabhängig erklärt werden. Art. 88 dieses Vertrages lautet aber: „Die Türkei erklärt, daß sie Armenien, wie es die verbündeten Mächte schon getan haben, als freien und unabhängigen Staat anerkenne." Die Grenzen des neuen Staates sollten gemäß Art. 89 des Vertrages durch einen Schiedsspruch des amerikanischen Präsidenten Wilson festgelegt werden. Der Schiedsspruch erfolgte auch tatsächlich im Dezember 1920, aber er war bereits durch die Ereignisse überholt. Die Uneinigkeit der Westmächte, die bei der Mandatsverteilung im Nahen Osten zu offener Rivalität erwachsen war, ermutigte die Türken zu erneutem Vorgehen gegen Armenien. Am 13. September 1920 rückte der inzwischen zur Macht gelangte Mustafa Kemal Pascha in Armenien ein. Bereits am 23.Juli 1919 hatte Mustafa Kemal in Erzerum einen nationalistischen Kongreß einberufen, der in einem sogenannten Nationalpakt das armenische Gebiet - das damals noch unabhängig war - zum integrierenden Bestandteil der Türkei erklärt hatte. Gleichzeitig mit dem Einrücken der türkischen Heeresmacht griffen die Sowjets von Norden an. Armenien appellierte an den Völkerbund und noch einmal hatte dieser die Gelegenheit, eine gerechte Lösung zu finden. Die Leiden des armenischen Volkes fanden beredte Verkünder in der Versammlung des Völkerbundes, aber getan wurde nichts. Rumänien unterbreitete den Vorschlag, eine internationale Armee nach Armenien zu senden; der Antrag wurde abgelehnt15. Der Rat wurde lediglich beauftragt, „über das Schicksal Armeniens zu wachen". Am 2. Dezember 1920 mußte Armenien den Frieden von Alexandropol schließen und zwei Drittel seines Gebietes an die Türkei abtreten, 14 Der Oberste Rat (Conseil Suprême) der alliierten Mächte sprach am 19. Januar 1920 die Anerkennung der „Regierung des Armenischen Staates" in Eriwan als de factoRegierung aus. 15 Die Stellungnahmen der einzelnen Staaten sind zusammengefaßt in „Documents et Correspondance relatifs à l'Armenie", Société des Nations, Journal Officiel, N o v e m b e r / Dezember 1920, S. 89 ff. Immer wieder wurde dabei betont, wie sehr man die Unabhängigkeit Armeniens wünsche.
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den Rest besetzten sowjetische Truppen am 6. Dezember 1920, ironischerweise kurz nach dem bereits erwähnten Schiedsspruch des Präsidenten Wilson. Das Schicksal des armenischen Volkes wurde schließlich in Genf besiegelt: A m 16. Dezember 1920 lehnte die Versammlung des Völkerbunds die Aufnahme Armeniens in den Völkerbund mit 21 gegen 8 Stimmen - bei 13 Enthaltungen - ab. Die westlichen Großmächte stimmten gegen die seit langem beantragte Aufnahme und begründeten ihre Haltung damit, daß der Friede von Sèvres noch nicht ratifiziert sei und daß die von Präsident Wilson gezogenen Grenzen eine solche Ausdehnung hätten, „daß es für die Mitglieder des Völkerbundes schwierig wäre, die Verantwortung für ihre Garantie zu übernehmen" 16 . Eine so kühle Haltung derselben Mächte, die noch vor wenigen Jahrzehnten einen so großen Eifer bei den „humanitären Interventionen" zur Schau getragen hatten, ist mehr als enttäuschend. Dabei waren den verantwortlichen Männern die Tatsachen des armenischen Flüchtlingsproblems durchaus bekannt. Nichts kann die Genfer Atmosphäre jener Tage besser kennzeichnen als eine Begebenheit, von der Daniele Varé in seinen Memoiren berichtet17: Während einer der fruchtlosen Diskussionen des 5. Komitees über das Armenienproblem entwarf der französische Delegierte Mantoux eine Resolution, die er als „das einzige, was der Völkerbund für die Armenier tun kann", bezeichnete. Die Resolution lautet: Artikel 1 Kein Massaker von Armeniern darf durchgeführt werden, ohne daß der Völkerbund einen Monat vorher entsprechend verständigt wird. Artikel 2 Sollte sich das Massaker auch auf Frauen und Kinder erstrecken, ist der Völkerbund zwei Monate vorher zu verständigen. Artikel 3 Sollte ein Massaker von Armeniern ohne Einhaltung dieser Formalitäten erfolgen, gilt es als nichtig und ungeschehen (nul et non avenu). Der Entwurf war zwar nur ein bitterer Scherz, aber gerade er zeigt die Leichtfertigkeit, mit der das Armenienproblem in den Gremien des Völkerbunds behandelt wurde. Varé berichtet in seinen Memoiren weiter, die armenische Delegation habe sich „revanchiert". Sie habe ein großes Bankett veranstaltet, zu dem sich eine Menge Gäste in Frack und Ordensschmuck einfanden, die aber nichts weiter zu essen bekamen als 16
André Mandelstam, Das armenische Problem im Lichte des Völker- und Menschenrechts, Göttingen 1931, S. 54. 17 Daniele Varé, Der lachende Diplomat, Neudruck Hamburg 1957, S. 156.
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Pilaf und Wasser, weil - wie der Leiter der armenischen Delegation bekümmert versicherte - das ganze Geld für die Unterstützung armer Armenier aufgewendet werden müsse. Nach diesem Bericht wendet sich Varé anderen Ereignissen zu und erwähnt das Schicksal Armeniens mit keinem weiteren Wort. Dieser Einstellung entsprach die ganze Haltung des Völkerbundes, und damit war das Schicksal Armeniens als Staat besiegelt. Es begann das armenische Flüchtlingsproblem. Dieses wurde allerdings bald als internationales Problem anerkannt. Die genauen Zahlen der Flüchtlinge waren auch vor 26 Jahren nicht mehr festzustellen. Balogh berichtet, daß etwa 300 000 bis 400 000 in das russische Armenien flüchteten und dort zwar materielle N o t litten, aber freundlich empfangen und verhältnismäßig rasch integriert wurden. Weitere 300 000 befanden sich in Europa und im Nahen Osten 18 . Diese Zahlen scheinen jedoch nur die bis Ende 1920 geflüchteten Personen zu umfassen. Denn im Jahre 1921 flüchteten nach Angaben Baloghs 100 000 Armenier nach Syrien, 60 000 nach Griechenland und weitere 2 0 0 0 0 bis 30 000 in die (sowjetische) Republik Eriwan. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß von den Armeniern, die 1921 nach Syrien und in andere Mittelmeerländer gingen, viele bereits vorher Flüchtlinge waren. Am 20. Oktober 1921 hatte nämlich Frankreich mit der Türkei den Vertrag von Angora geschlossen und der Türkei Zilizien zurückgegeben. Das hatte bei den dort lebenden armenischen Flüchtlingen eine Panik hervorgerufen, und bevor sich die französischen Truppen zurückzogen, flüchteten etwa 80 000 Armenier nach Syrien und in andere Länder". Auch diejenigen Armenier, die sich in den Schutz der griechischen Truppen in der Westtürkei begeben hatten, mußten nach der griechischen Niederlage von Afiun Kara Hissar, die den griechischen Feldzug von Kleinasien praktisch beendete, schleunigst das Land verlassen. Ihre Zahl wird auf 100 000 geschätzt und Simpson fügt hinzu, daß dies die letzte Massenflucht von Armeniern aus der Türkei gewesen sei, wenn auch einzelne Flüchtlinge noch in den Jahren 1923-1925 und selbst noch 1929/30 gekommen seien. Eine Lösung des armenischen Flüchtlingsproblems durch die Rückführung der Flüchtlinge in eine nicht unter Fremdherrschaft stehende Heimat war seit dem Versagen des Völkerbundes nicht mehr möglich. Nur die in die armenische Sowjetrepublik Geflüchteten kamen in ein Land gleicher Sprache und Kultur und konnten absorbiert werden. In anderen Ländern des Nahen Ostens nahmen die Armenier zuweilen die " Elemér Balogh, World Peace and the Refugee Problem, Recueil des Cours 1949/11, Bd. 75, S. 394. " Simpson, aaO (Fn. 13), S.33.
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Vergünstigungen in Anspruch, die ihnen als ehemaligen Untertanen des Ottomanischen Reiches zustanden. So bestimmte z.B. ein ägyptisches Gesetz vom 23.2.1929, daß alle früheren ottomanischen Untertanen die ägyptische Staatsangehörigkeit durch Option erwerben konnten. In Ägypten lebten damals 30 000 Armenier, von denen aber nur die Hälfte Flüchtlinge waren, während die übrigen schon seit vielen Generationen als Kaufleute im Lande ansässig gewesen waren. Von der Gesamtzahl dieser Armenier verzichteten etwa 10 000 bis 15 000 auf die Einbürgerung20, und es kann angenommen werden, daß die Zahl der nicht für Ägypten Optierenden unter den Flüchtlingen größer war als unter den Eingesessenen. Eine ähnliche Lage bestand in Libanon und Syrien. Aber in anderen Ländern war die Einbürgerung schwieriger. Die beiden Hauptaufnahmeländer für armenische Flüchtlinge waren zunächst Griechenland und Frankreich. In Griechenland wurden bis 1953 nur 1500 Armenier eingebürgert 21 , in Frankreich bis 1951 etwa 25 00022. Es war von Anfang an klar, daß diese beiden Länder allein nicht allen Flüchtlingen Obdach gewähren konnten und so machte sich bald ein Drang in andere Länder bemerkbar. Eines der ersten Probleme das bei diesem Streben nach Weiterwanderung sichtbar wurde, war das Paßproblem; ohne Pässe konnten selbst aufnahmewillige Länder kein Visum erteilen. So wurde in Paris ein Zentralbüro für armenische Flüchtlinge errichtet, das aus der armenischen Delegation bei der Friedenskonferenz von 1918/19 hervorging. Diese Delegation war seinerzeit immerhin der Repräsentant einer „verbündeten Macht" gewesen und konnte daher einen gewissen Schutz für die armenischen Flüchtlinge ausüben. Aber seit der Nichtaufnahme Armeniens in den Völkerbund und vor allem seit dem Lausanner Vertrag von 1923, der jede Hoffnung auf ein freies Armenien begrub - die Armenier waren zu den Friedensverhandlungen, die zum Lausanner Vertrag führten, gar nicht mehr offiziell zugelassen worden - verschlechterte sich die Lage des armenischen Zentralbüros zusehends. In dieser Situation raffte sich der Völkerbund wenigstens zu einer internationalen Flüchtlingshilfe auf. Sie galt allerdings nicht nur den armenischen Flüchtlingen allein, sondern zugleich den russischen und später assyrischen Flüchtlingen. Schon im Frühjahr 1921 hatte eine Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes die Schaffung eines Hochkommissariats für Flüchtlinge angeregt. Der Völkerbundsrat entsprach dieser Empfehlung durch eine Resolution vom 27.6.1921, und schon am 1. September 1921 konnte Fridtjof 20 21 22
Vernant, aaO (Fn. 12), S.205. Vernant, aaO (Fn. 12), S.206. Vernant, aaO (Fn. 12), S.277.
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Nansen als „Hochkommissar des Völkerbundes für die russischen und armenischen Flüchtlinge" zu amtieren beginnen. Das Hochkommissariat des Völkerbundes für die russischen und armenischen Flüchtlinge bestand bis 1930. Danach wurde der Name des Amtes und dessen Organisation geändert - von 1930 bis 1938 hieß es „Internationales Nansenamt", dann wurde ein neues Hochkommissariat für alle Flüchtlinge errichtet, das formell vom 1.1.1939 bis zum 31.12.1946 bestand - und die Armenier tauchten im Namen dieses Völkerbundsorgans nicht mehr auf. Aber sie waren immer vom Rechtsschutz des Völkerbundes erfaßt. Der Völkerbund versuchte zunächst, die einzelnen Flüchtlingsprobleme durch sogenannte Arrangements, d. h. eine besondere Art von internationalen Vereinbarungen, zu lösen. Durch das Arrangement vom 5. 7.1922 wurde zunächst das Paßproblem der russischen Flüchtlinge gelöst. Durch ein Arrangement vom 31. Mai 1924 wurden die Bestimmungen des Arrangements von 1922 ausdrücklich auf die armenischen Flüchtlinge ausgedehnt. 38 Staaten traten diesem Arrangement bei". Um die internationale Zusammenarbeit weiter zu vertiefen, tagte im Mai 1926 eine Konferenz in Genf, die das der Harmonisierung dienende Arrangement vom 12. Mai 1926 hervorbrachte24. Art. 2 dieses Arrangements enthielt die Definition des armenischen Flüchtlings: „Die Konferenz nimmt die folgenden Definitionen des Begriffs ,Flüchtling' an: Armenischer Flüchtling. Jede Person armenischer Abstammung, die früher Untertan des Ottomanischen Reichs war und den Schutz der Regierung der türkischen Republik nicht oder nicht mehr genießt und die keine andere Staatsangehörigkeit erworben hat." Trotzdem blieb das Problem der armenischen Flüchtlinge immer noch ungelöst. Um wenigstens den Rechtsstatus in den Signatarstaaten der Arrangements zu verbessern, beschäftigte sich die Flüchtlingskonferenz, die im Juni 1928 vom Völkerbunds-Hochkommissariat einberufen worden war, ausdrücklich mit der Rechtsstellung der russischen und armenischen Flüchtlinge. Das Ergebnis war das „Arrangement betreffend den Rechtsstatus der russischen und armenischen Flüchtlinge" vom
23 Société des Nations, Document CL 72 (a) 1924; Journal Officiel vom 7 . 7 . 1 9 2 4 , S. 969. Die Zahl der Beitritte wird berichtet von Louise W. Holborn, The legal status of political refugees, 1920-1938, American Journal of International Law 1938, S.684. 24 League of Nations Treaty Series, Bd. L X X X I X , No. 2004, S . 4 7 f f .
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30.6.1928 25 . Ausdrücklich erklärten die Teilnehmer der Konferenz, daß sie „in der Uberzeugung, daß es notwendig ist, den Rechtsstatus der russischen und armenischen Flüchtlinge klarer zu bestimmen" eine Reihe von Resolutionen fassen. Schon vor der offiziellen Auflösung des Völkerbundes übernahmen die Vereinten Nationen den Flüchtlingsschutz. Die armenischen Flüchtlinge gehörten von Anfang an dazu. Sie gelten als „statutäre Flüchtlinge", d. h. solche, die bereits vor Inkrafttreten der neuen Bestimmungen den Flüchtlingsstatus im Sinne der Arrangements des Völkerbunds genossen hatten. Diese Bestimmung findet sich sowohl in Art. 6 des Statuts des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge als auch in Art. 1 Abschnitt A der Konvention vom 28.7.1951 (Flüchtlingskonvention) 26 . Diesen Status besitzen auch die Abkömmlinge der seinerzeit aus dem Ottomanischen Reich geflüchteten Armenier. Allerdings erlischt der Flüchtlingsstatus mit der Einbürgerung in einem Zufluchtsland. Heute gilt es als feststehende Tatsache, daß die Bemühungen des Völkerbunds um die Milderung des Leids der armenischen Flüchtlinge am Anfang der Entwicklung des internationalen Flüchtlingsrechts stehen27. Daß das armenische Problem auch völkerrechtliche Aspekte aufweist, die über das Flüchtlingsrecht hinausreichen, ist bei der Darstellung des faktischen Hintergrunds bereits klargeworden. Auch sie hängen freilich mit dem Flüchtlingsproblem zusammen; denn die Verhinderung und Bestrafung des Völkermords, die Anerkennung der Menschenrechte und insbesondere des Selbstbestimmungsrechts der Völker und ähnliche Probleme, um die es hier geht, dienen nicht zuletzt auch der Verhinderung des Entstehens von Flüchtlingsströmen 28 . Aus solchen Zusammenhängen wird deutlich, daß das humanitäre Völkerrecht eine Einheit bildet, die ihrerseits in den Gesamtbau des im Entstehen begriffenen neuen, vom N o m o s des Menschen beherrschten Völkerrechts integriert 25 Arrangement Relating to the Legal Status of Russian and Armenian Refugees, League of Nations Treaty Series, Bd. LXXXIX, No. 2005, S. 53 ff. 26 Deutscher Text in BGBl. 1953/11, S.560. 27 Vgl. Atle Grahl-Madsen, International Refugee Law Today and Tomorrow, AVR 1982 (20. Bd.), S. 411 ff; Otto Kimminich, Die Entwicklung des internationalen Flüchtlingsrechts - Faktischer und rechtsdogmatischer Rahmen, AVR 1982 (20. Bd.), S. 369 ff. 28 U m die Verhinderung von Flüchtlingsströmen bemühen sich die Vereinten Nationen seit geraumer Zeit. Vgl. die Resolutionen 35/124 vom 11. Dezember 1980 und 36/148 vom 16. Dezember 1981 betreffend die internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme ( G A O R 35th Session, Supplement N o . 4 8 - A/35/48 - S.93; Vereinte Nationen 1982, S. 72 f). Hierzu Sadruddin Aga Khan, Study on H u m a n Rights and Massive Exoduses, U N Doc. E / C N . 4/1503; Luke T. Lee, The U N Group of Governmental Experts on International Co-operation to Avert N e w Flows of Refugees, American Journal of International Law Bd. 78 (1984), S. 480 ff.
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ist. Völkermord muß unterbleiben, nicht nur um der übrigen Welt eine Flüchtlingsbetreuungslast zu ersparen. Wenn aber von der Unterbindung des Völkermords in der Zukunft gesprochen wird, so dürfen die in der Vergangenheit liegenden Fälle nicht vertuscht oder beschönigt werden. Deshalb findet sich in dem „Entwurf eines Berichts über eine politische Lösung der armenischen Frage", der dem Europäischen Parlament am 26.6.1985 unterbreitet wurde, der Hinweis darauf, daß das, was vor dem Ersten Weltkrieg in der Türkei geschah, „der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts" gewesen sei29. Es wäre wenig sinnvoll, an der historischen Richtigkeit dieser Feststellung herummäkeln zu wollen. Freilich sind aus dem 19. Jahrhundert auch Greueltaten in den Kolonialgebieten bekanntgeworden, die es nahelegen, den Begriff des Völkermords auch in diesen Fällen anzuwenden. Aber für das 20. Jahrhundert ist ganz sicher das dem armenischen Volk angetane Unrecht die erste, einwandfrei dokumentierte Gruppenverfolgung, auf welche die Definition der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 zutrifft. Die Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 hat keine rückwirkende Kraft. Die Feststellung, daß das Verhalten des Ottomanischen Reiches nach geltendem Recht als Völkermord im Sinne der Konvention von 1948 zu gelten hat, führt daher schon aus diesem Grund nicht zu nachteiligen Folgen für die heutige Türkei. Auch das Problem der Individualverfolgung von Verbrechen, die damals begangen worden sind, ist mit dem T o d der Straftäter gegenstandslos geworden. Aber gerade weil die Anwendung geltenden Rechts aus verschiedenen Gründen unmöglich bzw. unzulässig ist, bedarf es einer ausdrücklichen Erklärung, daß die Behandlung des armenischen Volkes in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und während des Ersten Weltkriegs bereits dem damals geltenden Völkerrecht widersprach. Das Recht eines Volkes bzw. einer Volksgruppe auf die angestammte Heimat ist zwar (noch) nicht ausdrücklich in einer Konvention niedergelegt, aber es läßt sich aus zahlreichen Rechtssätzen des heute geltenden wie des zu Beginn des 20. Jahrhunderts geltenden Völkerrechts nachweisen 30 . Vom klassischen Völkerrecht, dessen Epoche mit dem Inkrafttreten der Völkerbundssatzung zu Ende ging, pflegt gesagt zu werden, daß es den souveränen Staaten erlaubte, ihre eigenen Staatsangehörigen nach Belieben zu behandeln. Schon die Institution der humanitären Interven-
29 Europäisches Parlament, Politischer Ausschuß, Entwurf eines Berichts über eine politische Lösung der armenischen Frage, Berichterstatter: J. Vandemeulebroucke, PE 97.248/B, S.24, unter Hinweis auf den Zwischenbericht des Sonderberichterstatters der Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (oben Fn. 8). 30 Vgl. Frans H. E. W. du Buy, Das Recht auf die Heimat, Köln 1975; Otto Kimminich, Das Recht auf die Heimat, Bonn 1978.
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tion im 19. Jahrhundert zeigt aber, daß die Wirkung dieses Grundsatzes ihre Grenzen dort fand, wo die Behandlung eines Volkes oder einer Volksgruppe deren Existenz bedrohte. Erst seit dem Inkrafttreten der Völkerbundssatzung, und in verstärktem Maß seit Inkrafttreten der Satzung der Vereinten Nationen, sind die verschiedenen hier zu beachtenden Rechtsentwicklungen entscheidend vorangebracht und zusammengefaßt worden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, dessen theoretische Fundierung bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vorgenommen wurde und dessen erste praktische Anwendung unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte 31 , geht einher mit der Entwicklung der Menschenrechte, zu denen neben den Individualrechten auch die Gruppenrechte gehören, wie Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte beweist. Mit Recht hat sich das Europäische Parlament insbesondere die Entfaltung der Gruppenrechte zur Aufgabe gemacht. Ziel dieser Bestrebungen ist es, Geschehnisse wie diejenigen, von denen das armenische Volk im Ottomanischen Reich betroffen war, in der Zukunft zu vermeiden. Diesem Ziel würde es absolut widersprechen, wenn versucht würde, jene Geschehnisse zu rechtfertigen oder auch nur zu leugnen. Klare und wahrheitsgemäße Aussagen über die Ereignisse der Vergangenheit sind eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, die Zukunft in Ubereinstimmung mit den seit langem im Gange befindlichen Rechtsentwicklungen zu gestalten. Die Verurteilung der Behandlung des armenischen Volkes und seines Staates - dies schließt das im vorstehenden erwähnte Verhalten des Völkerbunds gegenüber der am Ende des Ersten Weltkriegs bestehenden unabhängigen Armenischen Republik mit ein ist daher eine dringende Notwendigkeit. Wer die Fortentwicklung der Menschenrechte und den Aufbau eines wirksamen Schutzes der Völker und Volksgruppen in einem freien, geeinten Europa wünscht, darf sich dieser Notwendigkeit nicht verschließen.
31 Vgl. vor allem das Gutachten der vom Völkerbundsrat eingesetzten internationalen Juristenkommission zur Aland-Frage, in dem das Selbstbestimmungsprinzip ausdrücklich bekräftigt wurde. Hierzu Hermann Raschhofer, Selbstbestimmungsrecht und Völkerbund, Köln 1969.
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Einleitung* Seit alten Zeiten diente das Meer der Menschheit als Verkehrsweg für die Schiffahrt und als Fanggrund für die Fischerei. Mit dem Bau von Seeflotten wurde schon im klassischen Altertum die Bedeutung der Seeherrschaft entdeckt. Auch die Entwicklung des Dampfschiffs und die Erfindung des Seekabels veränderten die herkömmlichen Formen der Meeresnutzung nicht wesentlich. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzten eine ungeahnte Intensivierung und ein tiefgreifender Wandel der Meeresnutzung ein. Mit der Tankerschiffahrt und der Offshore-Industrie entstanden unbekannte Gefahren für die marine Umwelt. Der seßhafte Fischfarmer tritt an vielen Küsten an die Stelle des seefahrenden Fischers, das Meer wurde schon längst zur unverzichtbaren Quelle für Rohstoffe und Energie und - mit der aufblühenden Meeresforschung - auch zum Forschungsgegenstand. Und schließlich gewinnt der küstennahe Meeresraum selbst Bedeutung als Lebensraum und Siedlungsgebiet des Menschen1. Auf die vielfältigen Gründe für diese Hinwendung des Menschen zum Meer wird beim Wandel des Seerechts einzugehen sein, jedoch sei schon hier angemerkt, daß dieser Prozeß einer intensivierten und veränderten Nutzung jener vom Meer bedeckten Dreiviertel der Erdoberfläche in den vergangenen vier Jahrzehnten erst begonnen hat. Die Annahme liegt nicht fern, daß die Meeresnutzung im 21. Jahrhundert weiter an Bedeutung gewinnen wird, - gelegentlich kann man sogar das emphatische Wort vom „kommenden Jahrhundert des Meeres" vernehmen. Ebenfalls seit alten Zeiten unterscheidet sich die Rechtsordnung des Meeres von der territorialen Herrschaftsordnung des Landes. Kaiser Antonius' bekanntes Wort, „Ich bin der Herr der Welt, aber der Herr des Meeres ist das Recht" 2 , hat jedenfalls in seinem zweiten Teil seine * Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 5. Juli 1985 anläßlich der Eröffnung des Instituts für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg gehalten hat. 1 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Terranisierung des Meeres, E U R O P A - A R C H I V 31 (1976), S. 129 ff. 2 Ego quidem mundi dominus, lex autem maris, 1.9 Digesten X I V 2.
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Gültigkeit bis heute bewahrt. Aber auch der „Herr des Meeres" verändert sich. Die überkommene, auf Hugo Grotius und Cornelius van Bynkershoek zurückgehende Meeresordnung der Neuzeit 3 mit ihrem schmalen Küstenmeer und der von dem Grundsatz der Meeresfreiheit bestimmten Hohen See ist nicht nur vor die aus der veränderten Meeresnutzung und dem Schutz der Meeresumwelt erwachsenden neuartigen Regelungsprobleme gestellt worden. Sie befindet sich seit Beginn der siebziger Jahre auch selbst in einem andauernden Strukturwandel, dessen wichtigste Aspekte die Ausdehnung funktional beschränkter, küstenstaatlicher Hoheitsgewalt über breite Zonen des küstennahen Meeresraumes und die Schaffung eines vertraglichen Nutzungsregimes für den Tiefseeboden sind. Instrument und Ausdruck dieses Wandels ist das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982, das nach seinem Inkrafttreten die vier Genfer Seerechtsübereinkommen von 1958 ersetzen soll 4 . Die sich verändernde Meeresnutzung und der Wandel der Meeresordnung werden in der Seehandelsstadt Hamburg natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Angesichts einer „nicht ausreichenden wissenschaftlichen Betreuung des Seerechts und Seehandelsrechts in der Bundesrepublik Deutschland" war, wie der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg in seiner Gründungsmitteilung vom 2. September 1980 5 feststellte, von Verbänden, Behörden und Gerichten seit Jahren auf die Notwendigkeit der Errichtung eines Instituts für Seerecht und Seehandelsrecht aufmerksam gemacht worden. Die Aussicht Hamburgs, unter gewissen Voraussetzungen Sitz des nach dem Seerechtsübereinkommen von 1982 zu errichtenden Internationalen Seegerichtshofs 6 zu werden, 3 Vgl. dazu Ernst Reibstein, Völkerrecht I, S. 393ff, 4 0 2 , 4 1 5 ; Wilhelm G.Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 3 0 0 ff, 381 ff. 4 United Nations Convention on the L a w of the Sea, signed at Montego Bay, Jamaica, on 10 December 1982; Text in: The L a w of the Sea, United Nations, N e w Y o r k 1 9 8 3 ; International Legal Materials, Vol. 21 (1982), 1261; Renate Platzöder / Wolfgang Graf Vitzthum, Seerecht/Law of the Sea, Textausgabe 1984, S. 91 ff. 5 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 9. Wahlperiode, Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Errichtung eines Instituts für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg, Drucksache 9 / 2 5 1 5 v o m 2 . 9 . 1 9 8 0 ; Ziff. 2. 6 N a c h Anlage VI Artikel 1 Abs. 2 hat der Internationale Seegerichtshof seinen Sitz in der Freien und Hansestadt Hamburg in der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings hatte die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen während ihrer wiederaufgenommenen zehnten Sitzungsperiode im August 1981 in Anwesenheit des Vertreters der Bundesrepublik den Beschluß über den Sitz nach den amtlichen Konferenzberichten von der Voraussetzung der Ratifikation des Übereinkommens vor dessen Inkrafttreten durch den Sitzstaat abhängig gemacht, vgl. Introductory note, Third United Nations Conference on the L a w of the Sea, Official Records, Vol. X V , p. 176. Ein Protest der Bundesrepublik gegen die Darstellung in den Official Records ist nicht bekannt geworden. Die von der Bundesrepublik unterzeichnete Schlußakte der Konferenz v o m 10. Dezember 1982 nimmt
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konnte bei dem Beschluß zur Gründung eines wissenschaftlichen Seerechtsinstituts nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund der Gründungserwägungen stand vielmehr der in der erwähnten Gründungsmitteilung enthaltene besondere Auftrag des Seerechtsinstituts, das internationale Seerecht und Seehandelsrecht systematisch zu erforschen und insbesondere den aktuellen und absehbaren Entwicklungen dieses Rechtsgebiets Rechnung zu tragen7. Mit diesem Auftrag sollte außerdem dem Ziel entsprochen werden, angewandte Forschung in der Universität anzusiedeln und die Isolierung universitärer Forschung gegenüber den Bedürfnissen der Praxis abzubauen 8 . Das in der amtlichen Gründungsmitteilung formulierte Mandat des Instituts für Seerecht und Seehandelsrecht der Universität Hamburg hat bis heute nichts von seiner Aktualität und in die Zukunft weisenden Bedeutung verloren. Es soll hier als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zur Seerechtswissenschaft in unserer Zeit dienen. Die folgenden, unvermeidlich kursorischen Ausführungen sind jedoch kein erneuter Bericht über den Stand der deutschen Seerechtsforschung 9 , sondern Anmerkungen zu drei die gesamte Seerechtswissenschaft betreffenden analytischen Gesichtspunkten, nämlich dem System, dem Wandel und dem Praxisbezug des Seerechts. Den abstrakten Aspekten sollen allerdings zwei konkrete Rechtsfälle vorangeschickt werden, in denen die geschichtliche, tatsächliche und rechtliche Spannweite des Seerechts besonders anschaulich zutage tritt. 1. Die „Santa Catarina" und der Tiefseebergbau Im ersten Fall wurde das portugiesische Handelsschiff „Santa Catarina" während einer politischen Spannungslage in der Malakka-Straße von einem mit entsprechenden Hoheitsbefugnissen versehenen niederländischen Schiff als Prise aufgebracht und in die Niederlande geleitet. In einem Kommentar über die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme von auf diesen Tatbestand Bezug, vgl. Final Act, para. 38, in: The Law of the Sea (Fn. 4), 167. Zweifellos würde ein Beitritt der Bundesrepublik vor dem Inkrafttreten des Ubereinkommens die erwähnte Voraussetzung ebenso erfüllen, wie die nach der unterbliebenen Unterzeichnung nicht mehr mögliche Ratifikation. Damit muß die Frage des Sitzes des Internationalen Seegerichtshofs vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens bis zu einem Beitritt der Bundesrepublik als ungelöst angesehen werden. Anders Renate Platzöder, die die Existenz einer Vereinbarung über Voraussetzungen für die Sitzstaatserteilung auf der Konferenz bestreitet und auch der Regelung in der Schlußakte eine materiell-rechtliche Wirkung abspricht, vgl. Der Internationale Seegerichtshof, S. 108, 109. 7 Gründungsmitteilung (Fn. 5), Ziff. 2.1. 8 S.o. Fn. 7. ' Vgl. dazu Rainer Lagoni, Die seerechtliche Forschung und Lehre in der Bundesrepublik Deutschland, Archiv des Völkerrechts, Bd. 20 (1982), S. 199 ff.
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Schiff und Ladung, der von den niederländischen Schiffseignern anläßlich eines Streites zwischen ihnen bei einem jungen Rechts gelehrten in Auftrag gegeben worden war, bestätigte dieser das überkommene Seebeuterecht und setzte zugleich dem portugiesischen Herrschaftsanspruch über den Atlantik südlich von Marokko und über den Indischen Ozean den zu jener Zeit revolutionären Grundsatz der Meeresfreiheit entgegen10. Seine Name war Hugo Grotius, die „Santa Catarina" ist 1603 von Schiffen gekapert worden, die später der 1604 gegründeten Niederländisch-Ostindischen Compagnie gehörten, und die Amsterdamer Prisengerichtsverhandlung fand 1604/5 statt11. Grotius publizierte den die Meeresfreiheit betreffenden Teil seines Kommentars zum Seebeuterecht 12 1609 in der kleinen Schrift „Mare liberum"11. Als das dem Uberseehandel aller Staaten dienlichere und damit zugleich auch gerechtere Prinzip verdrängte die Meeresfreiheit zunächst die globalen, auf päpstliche Verleihung gestützten maritimen Hoheitsansprüche der alten Seemächte Portugal und Spanien14. Schließlich gewann dieses Prinzip in der das 17. Jahrhundert durchziehenden „Schlacht der Bücher" 15 auch Oberhand über die geographisch weniger weitreichenden, jedoch um so zäher verteidigten britischen Hoheitsansprüche über die Meere um die Britischen Inseln16. Im englichen Recht wurde die Meeresfreiheit erstmalig 1817 von einem Gericht anerkannt17, 1893 10 Grotius hat das Konzept der Meeresfreiheit von den spanischen Spätscholastikern Alfonso de Castro (De potestate legis poenalis, 1556) und insbesondere Fernando Vasquez (Illustres Controversiarum aliorumque usu frequentium Libri tres, Venedig 1564) übernommen. Vgl. dazu Reibstein (Fn. 3), S. 395 ff; Grewe (Fn. 3), S.301. 11 Vgl. Reibstein (Fn.3), S. 402 ff, der allerdings den Schiffsnamen mit „Catherina" angibt; Gundolf Fahl, Der Grundsatz der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis von 1493 bis 1648, S. 119 ff. 12 Hugo Grotius, De Jure Praedae commentaris (1604); der erst 1864 wiederentdeckte und erstmalig 1868 veröffentlichte Kommentar ist in englischer Ubersetzung von James Brown Scott herausgegeben worden; Nachdruck New York, London 1964. 13 Hugo Grotius, Mare Liberum (1609), mit einer englischen Ubersetzung hrsg. und einer Einleitung versehen von James Brown Scott, New York 1916; deutsch von Richard Boschan, Hugo Grotius, Von der Freiheit der Meere, 1919. 14 Portugal und die Niederlande vereinbarten die Schiffahrts- und Handelsfreiheit 1641 im Vertrag von Den Haag; mit Spanien sind diese Freiheiten im Westfälischen Frieden von 1648 vereinbart worden, vgl. Fahl (Fn. 11), S. 126 ff. 15 Das bekannte Wort von der „bataille des livres" stammt von Ernest Nys, Origines du droit international, 262. " Im Auftrag Charles I veröffentlichte der englische Jurist und Staatsmann John Seiden 1635 seine schon 1617/18 verfaßte Gegenschrift Mare clausum, sive de dominio maris libri II; vgl. dazu Reibstein (Fn.3), S.413ff; Grewe (Fn.3), S.311 f. Mit Fahl (Fn. 11), S . l , 90 ff wird man aber auch im 17. Jahrhundert der Staatenpraxis ein größeres Gewicht neben den berühmten juristischen Streitschriften bei der Entwicklung der Meeresfreiheit einräumen müssen, als dies in der älteren Völkerrechtslehre üblich war. 17 The Louis, 2 Dodson 210 (1817).
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bestätigte ein internationales Schiedsgericht dieses Prinzip in dem britisch-amerikanischen Bering See Robben-Streit 18 und 1958 wurde es schließlich in dem Genfer Ubereinkommen über die Hohe See kodifiziert". Bildete der Fall der „Santa Catarina" zu Beginn des 17. Jahrhunderts sozusagen den Geburtsschrei der neuzeitlichen, auf dem Prinzip der Meeresfreiheit beruhenden Meeresordnung, so vermeint mancher in dem zweiten, in unseren Tagen spielenden Fall jedenfalls für den Tiefseeboden bereits das Grabgeläute dieser Ordnung zu vernehmen. Der Sachverhalt ist recht einfach: Eine deutsche Tiefseebergbau-Arbeitsgemeinschaft hat nach dem deutschen Tiefseebergbaugesetz von 198020 bei dem zuständigen Bundesministerium die Erlaubnis zur Aufsuchung von sog. Mineralknollen in einem bestimmten, im Pazifischen Ozean außerhalb der Grenzen küstenstaatlicher Hoheitsgewalt gelegenen Abbaufeld beantragt. Diese Erlaubnis dürfte nicht erteilt werden, wenn das 1970 in seiner Meeresbodenprinzipien-Deklaration von der Generalversammlung der Vereinten Nationen21 proklamierte und im UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 niedergelegte und ausgestaltete Prinzip des „gemeinsamen Erbes der Menschheit" 22 bereits allgemeines Gewohnheitsrecht geworden sein sollte. Denn dieses sog. Common HeritagePrinzip" verbietet einen „einseitigen" Tiefseebergbau außerhalb des Régimes des Seerechtsübereinkommens und gewisser, ihr Inkrafttreten vorbereitender Resolutionen 24 der Schlußakte der Seerechtskonferenz.
18 G.F. de Martens, Nouveau Recueil Général de Traités, Deuxième Série, Bd. 21, S. 293. 19 Vgl. Präambel und Art. 1,2 des Ubereinkommens vom 29. April 1958 über die Hohe See, BGBl. 1972 II 1089. 20 § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Tiefseebergbaus vom 16. August 1980 (BGBl. 1980 I 1457) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 12.2.1982 (BGBl. 1982 I 136). 21 UN-Doc. 2749 (XXV) of 17 December 1970, Declaration of Principles Governing the Sea-Bed and the Ocean Floor, and the Subsoil Thereof, beyond the Limits of National Jurisdiction; Text bei Platzöder/Vitzthum (Fn. 4), S. 365 ff. 22 Art. 136 Seerechtsübereinkommen: „Das Gebiet und seine Naturschätze sind gemeinsames Erbe der Menschheit". Die Rechtsstellung des Gebiets und seiner Naturschätze wird in Art. 137 definiert. 25 Zum Begriff vgl. statt vieler Wilhelm Kewenig, Common Heritage of Mankind politischer Slogan oder völkerrechtlicher Schlüsselbegriff?, in: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, S. 385 ff; Rüdiger Wolfrum, The Principle of the Common Heritage of Mankind, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 43 (1983), S. 312 ff; ders., Die Internationalisierung staatsfreier Räume, S. 331 ff. 24 Vgl. die Resolution I über die Errichtung einer Vorbereitungskommission und die Resolution II über vorbereitende Investitionen in Pionierunternehmungen, die als Anhänge der Schlußakte angenommen worden sind, Text in: The Law of the Sea (Fn. 4), 168, 175 ff; Platzöder/Vitzthum (Fn.4), S.326, 328, 331 ff.
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Die Existenz eines derartigen gewohnheitsrechtlichen Verbotes würde auch die Bundesrepublik binden, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß sie das Seerechtsübereinkommen nicht einmal gezeichnet hat und ihm auch nicht beigetreten ist. 2. Zur Systematik des Seerechts Die Bemerkungen zu seiner Lösung noch einen Augenblick zurückstellend, soll der letztgenannte Fall zunächst als Ausgangspunkt für einige rechtssystematische Überlegungen zum Seerecht dienen. Die Frage, ob die Erlaubnis zur Aufsuchung der Mineralknollen nach dem deutschen Tiefseebergbaugesetz erteilt werden darf, hängt in einer für das Seerecht nicht ungewöhnlichen Weise von der völkerrechtlichen Vorfrage ab, ob das Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit bereits Gewohnheitsrecht geworden ist und damit über Art. 25 G G mit Vorrang vor dem Gesetzesrecht auch innerstaatliche Geltung beansprucht. Was man bei der Fallösung vom Aufbau her in Vor- und Hauptfrage zergliedern würde, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Regelungszusammenhang zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht. Insbesondere das Seerecht bietet vielfältige Beispiele für das Zusammenwirken von zwischenstaatlichen und nationalen Rechtsnormen. So bildet etwa der Grundsatz der Meeresfreiheit die völkerrechtliche Grundlage und zugleich den normativen Rahmen, in welchem die Staaten ihren Staatsangehörigen und den Schiffen ihrer Flagge nach innerstaatlichem Recht die Schiffahrt, Fischerei sowie die anderen völkerrechtlich anerkannten Freiheiten der Hohen See gewährleisten bzw. verbieten dürfen. Eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts darf also beispielsweise die Fischereifreiheit auf der Hohen See nur im Rahmen der von ihrem Flaggenstaat bzw. Heimatstaat für die Fischerei auf der Hohen See geschaffenen Rechtsvorschriften ausüben. Und in ähnlicher Weise ist etwa die Schiffahrtsfreiheit nach innerstaatlichem Recht nur in den Schranken der auf die Schiffahrt auf Hoher See anwendbaren nationalen Umweltschutzvorschriften des Flaggenstaates garantiert. Ein Organ eines anderen Staates verletzt selbstverständlich auch dann die Meeresfreiheit des Flaggenstaates, wenn es auf Hoher See gegen ein Schiff unter fremder Flagge vorgeht, das gegen die nationalen Rechtsvorschriften des Flaggenstaates verstößt. Auf unseren Fall angewendet bedeutet dies, daß die Bundesrepublik im Tiefseebergbaugesetz von 1980 also die Förderung mineralischer Rohstoffe vom Tiefseeboden für Gebietsansässige verbieten und von einer behördlichen Erlaubnis abhängig machen konnte. Zur Koordinierung der Erlaubnispraxis sind wiederum auf völkerrechtlicher Ebene in dem Ubereinkommen vom 2. Sep-
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tember 1982 über vorläufige Regelungen für polymetallische Knollen des Tiefseebodens 25 und in der vorläufigen Absprache über Fragen des Tiefseebodens vom 3. August 198426 nähere Regelungen getroffen worden. Derartige, oftmals vielschichtige Normenverbindungen, in welchen zwischenstaatliche Vereinbarungen in innerstaatliche Regelungen umgesetzt, aber auch konkretisiert und ergänzt werden, sind keineswegs auf das öffentliche Recht beschränkt, sondern finden sich vielfach auch im Zusammenhang mit privatrechtsgestaltenden Vereinbarungen des Völkerrechts, wie etwa dem 1983 für die Bundesrepublik in Kraft getretenen UNCTAD-Verhaltenskodex für Linienkonferenzen 27 . Ungeachtet seiner Bezeichnung als „Verhaltenskodex" enthält dieses Ubereinkommen verbindliche völkerrechtliche Grundsätze für die Ladungsverteilung von Linienreedereien. Wie schon der Fall der „Santa Catarina" zeigte, sind derartige Regelungszusammenhänge zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht - 1604 ging es um die Ausübung des Seebeuterechts - im Seerecht keineswegs neu. Der eigentliche Grund dafür, daß im Seerecht - ähnlich wie im internationalen Wirtschaftsrecht - komplexe Verbindungen von Normen unterschiedlicher Rechtsordnungen und Rechtsgebiete an der Tagesordnung sind, liegt darin, daß man das Seerecht von seinem Regelungsgegenstand her - also pragmatisch - und nicht systematisch von seinen Quellen oder seiner inneren Ordnung her von anderen Rechtsgebieten unterscheidet. Nach einer abstrakt-generellen Definition gehören zum Seerecht alle Rechtsregeln, Rechtsgrundsätze und Rechtsinstitute, die unmittelbar oder mittelbar das Meer, seine Nutzung und Erforschung sowie seinen Schutz vor Verschmutzung betreffen. Als ein in dieser Weise von seinem Regelungsgegenstand her definiertes Rechtsgebiet liegt das Seerecht also quer zu der üblichen kategorialen Einteilung des Rechts in das Völkerrecht, das Europarecht und die nationalen Rechtsordnungen, bzw. deren weitere Unterteilungen in die verschiedenen Rechtsgebiete. Es schneidet aus diesen die meeresbezogenen Rechtsnormen und Rechtsinstitute heraus. Zugespitzt könnte man also sagen, systematisch sei das Seerecht kein Rechts-, sondern ein Forschungsgebiet. Für die Seerechtswissenschaft ergibt sich daraus die Konsequenz,
25 B G B l . 1982 II 983. N a c h von Feldüberschneidungen auf genheit und ermutigen sie, den Verfahren zu lösen" (Art. 2) sammenhanges. 26 27
B G B l . 1984 II 747. B G B l . 1983 II 62.
dem Übereinkommen geben die Vertragsparteien im Fall dem Tiefseeboden „den Antragstellern ausreichend GeleKonflikt in angemessener Zeit durch freiwillig vereinbarte ein unmittelbarer Ausdruck des erwähnten Regelungszu-
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daß weder das internationale, europäische oder nationale noch das öffentliche oder private Seerecht voneinander isoliert werden können. Wendet man sich nach der äußeren Abgrenzung seiner inneren Gliederung zu, findet sich allerdings auch beim Seerecht die herkömmliche kategoriale Unterscheidung der Normen nach ihren Rechtsquellen. Man unterscheidet üblicherweise das Seevölkerrecht, neuerlich das Europäische Seerecht (das Seerecht der Europäischen Gemeinschaften), das öffentliche Seerecht der einzelnen Staaten sowie deren Seehandels- oder allgemeiner Seeprivatrecht, das in Deutschland im Gegensatz zur Terminologie anderer Länder 28 vielfach auch nur generell als „Seerecht" bezeichnet wird 29 . Selbstverständlich bedarf es kaum der Erwähnung, daß beispielsweise das Seevölkerrecht für die Seerechtswissenschaft Völkerrecht und das Seehandelsrecht Handelsrecht, also Privatrecht ist. Denn die Zugehörigkeit einer N o r m zu einer Rechtsordnung bestimmt bekanntlich nicht selten ihre Bedeutung, die auf sie anwendbaren Auslegungsmethoden, ihre dispositive oder zwingende Natur, ihren Rang, ihren räumlichen und sachlichen Anwendungsbereich und andere hermeneutisch relevante Gesichtspunkte. Neben der kategorialen Gliederung kennt die Seerechtswissenschaft aber auch eine pragmatische Einteilung des Seerechts. Bei dieser werden Normengruppen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum internationalen oder nationalen Recht nach ihrem Gegenstand etwa zum marinen Umweltschutzrecht, Seeschiffahrtsrecht, Festlandsockelrecht oder zum Recht des Tiefseebergbaus zusammengefaßt. Bei dieser wiederum an der faktischen Wirklichkeit und nicht an den Kategorien rechtlichen Sollens orientierten Unterteilung des Seerechts in Sachgebiete gewinnen die erwähnten komplexen Regelungszusammenhänge die ihnen in der Praxis zukommende hervorragende Bedeutung. Die Lösung der vielen in diesen Sachgebieten auftretenden Auslegungsprobleme kann methodisch oftmals nicht durch einen systematischen Rückgriff auf die Prinzipien und Begriffe nur einer einzigen nationalen, supranationalen oder zwischenstaatlichen Rechtsordnung
28
So wird im Englischen beispielsweise zwischen dem law of the sea und dem maritime law (in England: Admiralty) unterschieden, ohne daß die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht in den Common Law-Rechtsordnungen so ausgeprägt wäre. In Frankreich unterscheidet man entsprechend zwischen droit de la mer und droit maritime. " So beispielsweise das vom Gesetzgeber im Kurztitel ungenau als „Seerechtsänderungsgesetz" bezeichnete Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbuches und anderer Gesetze vom 21.6.1972 (BGBl. 1972 I 966, 1300), oder für den Bereich der Seehandelsrechtswissenschaft Karsten Schmidt, Seerechtswissenschaft-Seerechtspraxis-Seerechtspolitik, Hamburg 1985 (Schriften des Deutschen Vereins für Internationales Seerecht, Reihe A, Berichte und Vorträge, Heft 53).
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erfolgen, sondern muß im Rahmen des konkreten Regelungszusammenhanges die Normen aus allen beteiligten Rechtsordnungen berücksichtigen. Diese Vielschichtigkeit legt es nahe, die gewünschten Antworten methodisch mit Hilfe des der Rechtswissenschaft geläufigen Verfahrens des Problemdenkens zu suchen. Ein derartiges, stets auf den konkreten Einzelfall bezogenes Problemdenken berücksichtigt die systematische Zugehörigkeit der anwendbaren Normen zwar auch als einen besonders gewichtigen von mehreren auslegungsrelevanten Gesichtspunkten. Außerdem berücksichtigt es aber auch den Regelungszusammenhang der Normen und zieht auch andere, im Zusammenhang mit dem Fall stehende Gesichtspunkte in Betracht, einschließlich solcher der Effektivität, der Praktikabilität oder der Wirtschaftlichkeit der in Aussicht genommenen Lösung, sofern diese in dem Sachzusammenhang als Argument überzeugen können. Josef Esser hat zutreffend bemerkt, daß sich in allen Rechtskulturen ein „Kreislauf zwischen Problemdenken, Prinzipienbildung und Systemverfestigung" wiederhole30. Diese Feststellung trifft im übertragenen Sinne auch auf die Wissenschaft vom Seerecht zu. In den verschiedenen Stationen dieses Kreislaufs stellen sich ihr unterschiedliche Aufgaben. Auf der Stufe des Problemdenkens, auf welcher sich noch viele aktuelle Fragen des internationalen Seerechts befinden, kann eine übereilte, heuristische Prinzipien- oder Systembildung nur allzuleicht zum wirklichkeitsfernen juristischen Glasperlenspiel geraten. Ohne Zweifel gehört hingegen eine dokumentarische Sammlung und Sichtung der Staatenpraxis in Form von Gesetzen, einseitigen völkerrechtlichen Akten und Gerichtsentscheidungen nicht nur im Seevölkerrecht, sondern angesichts der erwähnten Zusammenhänge im gesamten Seerecht zu den unerläßlichen, wissenschaftlichen Hilfsgeschäften dieses Fachs31. Dennoch bleibt die begriffliche Durchdringung des Stoffes als Voraussetzung für eine Systembildung und gegebenenfalls als Vorbereitung für eine Kodifizierung, wie sie für das völkerrechtliche Seefriedensrecht mit den Seerechtsübereinkommen von 1958 und 1982 versucht worden ist und innerstaatlich für das Seehandelsrecht mit dem vierten Buch des Handelsgesetzbuches vorliegt, neben der Analyse der komplexen Regelungszusammenhänge und der in ihnen enthaltenen Systemkonflikte
Grundsatz und Norm, S. 7. Dabei ist zweifellos K. Schmidt (Fn. 29), S. 4, zuzustimmen, der für den Bereich des Seehandelsrechts anmerkt, der Wissenschaftler solle auch „Vorhandenes sammeln und in die richtige Ordnung bringen". Jedoch kann man die von ihm verneinte Frage, ob man diese Tätigkeiten als Wissenschaft ansehen wolle, dahingestellt lassen, wenn man das große praktische Bedürfnis von Lehre, Forschung und Praxis nach zuverlässiger Dokumentation im Bereich des Seerechts ernst nimmt. 50 51
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selbstverständlich eine der vornehmsten Aufgaben der Seerechtswissenschaft32. Als Marginalie sei vermerkt, daß die Frage der Systematisierung des Seerechts den Seerechtlern aller Zeiten Probleme bereitet hat. Nachdem J.J. Surland in seinen 1750 in Hannover veröffentlichten „Grundsätzen des Europäischen Seerechts" das Seeprivatrecht, das öffentliche Seerecht und das Seevölkerrecht in drei Abteilungen nebeneinanderstellte, schlössen B.S. Naus 1802 in Hamburg veröffentlichte „Grundsätze des Völkerseerechts" auch innerstaatliche Rechte wie die Fischereirechte und das Strandrecht ein. Carl von Kaltenborn, der im Vorwort zu seinem zweibändigen Werk über „Grundsätze des praktischen Europäischen Seerechts" von 1851 auch schon den Begriff „Seerechtswissenschaft" verwendet, beschreibt das Seerecht als „eigenthümlichen Zweig des allgemeinen Verkehrs- oder Handelsrechts", das zugleich einen „mehr oder weniger internationalen Charakter" habe und sich demnach auf das Völkerrecht stütze33. 3. Der Wandel des Seerechts Abgesehen von den Problemen der Systematik muß sich die Seerechtswissenschaft auch mit dem Wandel des Seerechts befassen. Rechtswandel bedeutet Veränderung des Rechts in der Zeit. Das Recht reagiert durch seinen Wandel auf die ständige Veränderung der Wirklichkeit. Der Wandel des Rechts findet bekanntlich auf unterschiedliche Weise statt. Durch Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung erfolgt ständig ein allmählicher Bedeutungswandel des Rechts, ohne daß dafür der positive Normenbestand verändert werden müßte. Diese flexible und unauffällige Anpassung des Rechts an die Entwicklung der Wirklichkeit gehört bekanntlich zum undramatischen Alltagsgeschäft des Juristen, insbesondere des Richters. Läßt die Schranke ihres Wortlauts die interpretative Anpassung einer Norm an die veränderte Wirklichkeit nicht zu, muß sie durch den Gesetzgeber oder im zwischenstaatlichen Bereich im Wege der Vertragsrevision verändert werden. Neuere völkerrechtliche Verträge, wie z . B . das Seerechtsübereinkommen von 1982, sehen dafür periodische Uberprüfungskonferenzen vor34. Dieser Rechtswandel durch Veränderung einzelner Bestimmungen berührt normalerweise nicht den Grundbestand einer Rechtsordnung oder eines Rechtsgebietes. Rechtswandel bedeutet aber auch Rechtsentwicklung im Sinne einer Entstehung neuer Rechtsgebiete. So hat das Auftauchen neuartiger 32 53 54
Für die seehandelsrechtliche Systembildung ähnlich K.Schmidt Bd. 1., S.V, 1. Art. 154, 155, 312 Seerechtsübereinkommen (Fn. 4).
(Fn.29), S. 7f.
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Sachverhalte, deren Regelung das überkommene Recht nicht leisten konnte, am Baum des Seerechts ganz neue Zweige sprießen lassen. Die „fortschreitende Entwicklung", um einen Begriff aus der UN-Charta zu verwenden35, hat seit Ende des Zweiten Weltkriegs z. B. zur Entstehung des Festlandsockelrechts geführt. Die Stationen seiner Entwicklung von der Festlandsockel-Proklamation des amerikanischen Präsidenten zum geltenden Festlandsockelrecht sind schnell aufgezählt36: Im September 1945 proklamierte der amerikanische Präsident Truman", daß der Festlandsockel als natürliche Fortsetzung des Festlandes unter dem Meer der ausschließlichen Hoheitsbefugnis des Küstenstaates unterstehe. Die Festlandsockelkonvention der ersten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen von 195838 kodifizierte dieses Konzept. Nachdem im Zuge der Entdeckung der Erdöl- und Gasvorkommen im Untergrund des Meeres immer mehr Küstenstaaten einen eigenen Festlandsockel beanspruchten39 - die Bundesrepublik gab ihre Festlandsockelerklärung bekanntlich 1964 ab40 - , erkannte der Internationale Gerichtshof in dem deutschdänisch-niederländischen Nordseefestlandsockelurteil das Festlandsokkelprinzip schon 1969 als Teil des Völkergewohnheitsrechts an41. Die internationale Rechtsprechung bestätigte dieses gewohnheitsrechtliche Prinzip seither in einer wachsenden Zahl von Entscheidungen in Festlandsockel-Abgrenzungsstreitigkeiten42. Über die bis dahin ungelöste
35 Nach Art. 13 Abs. 1 a) der Charta der Vereinten Nationen veranlaßt die Generalversammlung Untersuchungen und gibt Empfehlungen ab, u. a. um die „fortschreitende Entwicklung" des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen. 36 Allgemein dazu Bernd Rüster, Die Rechtsordnung des Festlandsockels, 1977, S. 140 ff; Ulf-Dieter Klemm, Die seewärtige Grenze des Festlandsockels, 1976, S. 18 ff. 37 Proclamation by President Truman of 28 September 1945 on Policy of the United States with Respect to the Natural Resources of the Subsoil and Sea Bed of the Continental Shelf, Department of State Bulletin 13 (1945), 485. 38 Convention on the Continental Shelf, Geneva 29 April 1958, UNTS 499, 311; Deutsch bei Günter Hoog, Die Genfer Seerechtskonferenzen von 1959 und 1960, (1961), S. 111 ff. 39 Obwohl die Rechte an seinem Festlandsockel weder gewohnheitsrechtlich noch vertraglich von einer Besitzergreifung oder einer ausdrücklichen Erklärung des Küstenstaates abhängen, vgl. Art. 2 Abs. 3 Festlandsockelübereinkommen (Fn. 38), waren die Festlandsockelerklärungen in der Staatenpraxis üblich. 40 Proklamation vom 20.4.1964 über die Erforschung und Ausbeutung des deutschen Festlandsockels, BGBl. 1964 II 104. 41 North Sea Continental Shelf, Judgment, I.C.J. Reports 1969, p. 3, p. 22 para. 19. 42 North Sea Continental Shelf, Judgment, I.C.J. Reports 1969, p. 3; Arbitration between the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the French Republic on the Delimitation of the Continental Shelf, Decisions of the Court of Arbitration dated 30 June 1977 and 14 March 1978, International Legal Materials, Vol. 18 (1979), p. 397; Continental Shelf (Tunesia/Libyan Arab Jamahiriya), I.C.J. Reports 1982, p. 18; Delimitation of the Maritime Boundary in the Golf of Maine Area, Judgment, I.C.J. Reports 1984, p. 246; Tribunal Arbitral pour la delimitation de la frontière maritime
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Frage der seewärtigen Grenze des Festlandsockels43 einigte man sich schließlich auf der dritten Seerechtskonferenz44 und verhinderte damit eine Nationalisierung des Tiefseebodens. Eine ähnliche Entwicklung von einem einseitigen Anspruch einiger Entwicklungsländer zum weltweit von nahezu allen Küstenstaaten praktizierten Rechtsinstitut hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten die 200 sm breite, ausschließliche Fischerei- bzw. Wirtschaftszone durchlaufen45. Wie eingangs angedeutet, beruht dieser Rechtswandel durch Entstehung neuer Rechtsgebiete des Seerechts auf einer tiefgreifenden Veränderung der Meeresnutzung. War das Meer bis zum Zweiten Weltkrieg hauptsächlich Verkehrsweg, Fischereigrund und strategischer Raum, so ist die Nutzung seiner Energie- und Rohstoffressourcen aufgrund politischer, wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen heute für viele Industriestaaten in der wirtschaftlichen Bedeutung neben oder sogar vor die herkömmlichen Nutzungsformen getreten, - eine Entwicklung, an der die Bundesrepublik wegen ihrer geographischen Lage bisher allerdings nur in sehr beschränktem Maße teilhaben konnte. Das Seerecht ist dem Menschen während unserer Lebensspanne über die alte Kanonenschußweite hinaus bis in die Tiefsee gefolgt und hat den gebietsrechtlichen Status der verschiedenen neuen Meereszonen und deren Abgrenzung sowie die neuen Nutzungsformen und die zwischen ihnen auftretenden Nutzungskonflikte neben vielen anderen Folgeerscheinungen der Hinwendung des Menschen zum Meer, wie zum Beispiel den marinen Umweltschutz und die Meeresforschung geregelt. Dieser Prozeß war von einem Prinzipienwandel der überkommenen Meeresordnung begleitet. Im küstennahen Meeresraum ist die Meeresfreiheit durch die Ausdehnung der küstenstaatlichen Hoheitsgewalt bis zu 200 sm, beim Festlandsockel teilweise sogar bis zu 350 sm verdrängt und durch das Prinzip funktionaler Hoheitsrechte ersetzt worden. Hinsichtlich des Tiefseebodens ist dieser Prinzipienwandel allerdings noch nicht abgeschlossen. Das heißt, der Kampf zwischen Meeresfreiheit und gemeinsamem Erbe der Menschheit dauert an.
Guinée/Guinée-Bissau, Sentence du 14 Février 1985, Revue Général de Droit International Public, Tome 89 (1985), p.454; Continental Shelf (Libyan Arab Jamahiriya/Malta), Judgment, I.C.J. Reports 1985, p. 13. 43 Dazu insbesondere Klemm (Fn.36), S. 127, 165, 200. 44 Art. 76 Abs. 4—8 Seerechtsübereinkommen (Fn. 4). 45 Vgl. Teil V (Art. 55-75) des Seerechtsübereinkommens. Zu einer Ubersicht über die küstenstaatlichen Zonenansprüche vgl. Law of the Sea Bulletin, No. 8 (Nov. 1986), 25 ff. Fischerei- und Wirtschaftszonen bilden allerdings unterschiedliche Zonen funktional beschränkter Hoheitsgewalt, vgl. dazu Lothar Gündling, Die 200 Seemeilen-Wirtschaftszone, 1983, S. 38 ff, 321 ff.
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Die objektiven Ursachen dieses Prinzipienwandels sind nicht zuletzt in der Strukturveränderung der internationalen Staatengemeinschaft zu suchen. Die Zahl unabhängiger Staaten hat sich auf über 160 vermehrt und damit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahezu verdreifacht. Zahlreiche internationale Organisationen sind gegründet worden. Von den zur Zeit über 350 existierenden zwischenstaatlichen Organisationen ist etwa jede zehnte im Seerecht tätig. Neben der Vermehrung der Akteure hat eine kaum geahnte Ausweitung des grenzüberschreitenden Verkehrs und der internationalen Angelegenheiten stattgefunden. Conrad Bornhaks schon im Ersten Weltkrieg gemachte Beobachtung, das Völkerrecht sei „aus dem Kreise der hohen Diplomatie herabgestiegen und das Recht des täglichen Lebens geworden" 46 , beschreibt die Lage des heutigen Seerechts sehr treffend. Neben den objektiven hat der Prinzipienwandel des Seerechts aber auch subjektive Ursachen. Der vorrechtliche Konsens, sozusagen das Vorverständnis der Staatenmehrheit über eine für alle Staaten, nicht nur die Industriestaaten, gerechte und billige Meeresordnung, hat sich verändert. Ausdruck dieser Veränderung sind die Meeresboden-Prinzipiendeklaration der Vereinten Nationen von 1970" und der Teil XI des neuen Seerechtsübereinkommens, die das Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit für den Tiefseeboden vorsehen. Zwar gilt auch hier George Talbots Wort aus Schillers „Maria Stuart" : „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe". Aber wir können den Wandel der communis opinio über das gerechte Régime des Tiefseebodens nicht übersehen und müssen also damit rechnen, daß er über kurz oder lang auch die opinio iuris und damit das geltende Gewohnheitsrecht des Tiefseebodens verändern wird. Anders als zu Grotius' Zeiten ist der Prinzipienwandel heute jedoch gegen die Meeresfreiheit gerichtet. Mit dieser Feststellung ist die Richtung für die Lösung des zweiten Fallbeispiels gewiesen: Nach dem noch geltenden Recht darf das Bundesministerium die Tiefseebergbauerlaubnis erteilen. Materiell wird sie auch in Zukunft unter dem veränderten Gewohnheitsrecht im wesentlichen wirksam bleiben, obwohl sie schon angesichts des Rechtswandels erteilt worden ist. Denn der Inhaber der Erlaubnis kann auch gegenüber dem neuen Recht Vertrauensschutz für seine rechtmäßig unternommenen Maßnahmen und schützenswerten Interessen beanspruchen. Ein vollständiger Ausschluß der Wirkungen des neuen Rechts ist für ihn aber nicht erreichbar. Allerdings ist der zeitliche Beginn der gewohnheitsrechtlichen Geltung des Common Heritage-Prinzips im voraus kaum genau zu bestimmen. 46 47
Der Wandel des Völkerrechts, Berlin 1916, Vorwort. S.o. Fn.21.
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4. Der Praxisbezug des Seerechts Die Anmerkungen zum dritten allgemeinen Aspekt der Seerechtswissenschaft, dem Praxisbezug des Seerechts, können nach dem, was zum System und zum Wandel ausgeführt worden ist, knapp gehalten werden. Die Wissenschaft vom Seerecht ist eine praktische Wissenschaft. Ihr Forschungsgebiet, das gesamte Seerecht, wird durch seinen Regelungsgegenstand, also pragmatisch definiert. In den die herkömmliche kategoriale Einteilung des Rechts überschreitenden seerechtlichen Problemen geht sie vom konkreten Einzelfall aus und verwendet die Methoden des Problemdenkens. Sie erforscht den vielschichtigen Wandel des Seerechts vom kleinen Auslegungsproblem bis zum großen Prinzipienwandel. Als praktische ist die Seerechtswissenschaft unvermeidlich auch praxisorientierte Wissenschaft. Die von ihr behandelten Probleme werden nicht im Elfenbeinturm erdacht - wie oft übertrifft der grenzenlose Witz der Wirklichkeit die disziplinierte Phantasie des Forschers! Seerechtliche Probleme sind realer und nicht bloß theoretischer Natur, ihre Lösungen dienen auch und vor allem der Rechtspraxis. Eine praxisorientierte Seerechtswissenschaft setzt voraus, daß der Seerechtler in persönlichem und fachlichem Kontakt mit den Praktikern der Meeresnutzung, aber auch Fachkollegen aus dem In- und Ausland steht. Er muß die vielseitigen technischen, wissenschaftlichen, ökologischen und politischen Probleme der verschiedenen Arten der Meeresnutzung und des Schutzes der Meere kraft seiner praktischen Vernunft und notfalls mittels weiterer Informationen verstehen, damit er die aus ihnen erwachsenden Rechtsprobleme erkennen, verstehen und lösen kann. Dafür muß er aber nicht die einzelnen Fachgebiete studieren, soll also nicht Ingenieur, Ökonom, Natur- oder Sozialwissenschaftler werden, denn im Unterschied zu diesen sieht er die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel des Rechts. Am Recht und nicht an der Wirklichkeit erweist sich die Seerechtswissenschaft. Auch als praktische und notwendig praxisorientierte Wissenschaft bleibt die Seerechtswissenschaft aber Normenwissenschaft. Sie muß das Recht auch in seiner geschichtlichen Entwicklung begreifen und sie muß es als Entwurf einer gerechten menschlichen Ordnung verstehen. Seerechtswissenschaft als praktische Wissenschaft kann also nicht auf Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie verzichten, anderenfalls würde sie nicht mehr über sich selbst nachdenken können. Sie würde eine sprachlose Wissenschaft werden, die sich etwa bei der Frage, ob das neue Régime für den Tiefseeboden eine „gerechte" Ordnung ist, in Schweigen hüllen müßte.
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5. Zur Meerespolitik In unserer Geschichte hat sich schon häufig erwiesen, daß wir Deutsche keine maritime Nation sind. Wo ließe sich dies für das selbsternannte Volk der Dichter und Denker besser erkennen als im Bereich der Literatur? Wir haben keinen Seeschriftsteller vom Range eines Joseph Conrad oder Herman Melville. Schillers „Wilhelm Teil", um einen Namen aus dem Pantheon unserer großen Dichter zu nennen, spielt nicht auf Helgoland, sondern am Vierwaldstätter See. Goethes in unseren Tagen so in Mode gekommenes Zitat aus dem zweiten Teil des Faust, „das freie Meer befreit den Geist", wird von Mephistopheles, - dem „Geist, der stets verneint," — gesprochen, der damit einen Seeraub rechtfertigen will, - eine Szene von funkelnder Ironie aus der Feder des gelernten Juristen und Wirklichen Geheimen Rats in Weimar. Und Faust selbst, dieses Inbild deutscher Seelenlandschaft, befährt das Meer nicht, sondern deicht es am Ende seines Lebens ein. Auch weiß der Dichter von seinem einzigen größeren maritimen Erlebnis, der Uberfahrt von Neapel nach Sizilien und retour im Jahre 1787 in seiner Italienischen Reise kaum mehr zu erzählen, als daß er an der Seekrankheit litt. Aktueller Ausdruck dieser deutschen Meeresferne ist die Tatsache, daß auch nach einer mehr als zehnjährigen, teilweise stürmischen Seerechtsentwicklung eine deutsche Meerespolitik erst neuerlich, bisher nur in Ansätzen und zunächst auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt, im Entstehen ist48. Aber gerade nachdem die Bundesrepublik das Seerechtsübereinkommen nicht gezeichnet hat 4 ', erscheint eine Bestandsaufnahme aller seerechtlichen Probleme aus deutscher Sicht vom marinen Umweltschutz über das EG-Meer bis zur Forschungskooperation mit der Dritten Welt oder der Nutzung circumantarktischer Meere, einschließlich der Formulierung alternativer Optionen als unerläßlich. Die Freie und Hansestadt Hamburg, die sich in ihrer Verfassung 50 aufgrund ihrer Geschichte und Lage als „Welthafenstadt" dem deutschen Volk gegenüber zu der besonderen Aufgabe bekennt, „im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt" zu sein, hat mit der Integration aller Teildisziplinen des Seerechts 41 Seit 1984 bestehen beim Bundesminister für Wirtschaft ein Arbeitskreis Meereswirtschaft und eine Meereswirtschaftskommission des Außenwirtschaftsbeirats, die sich um die Formulierung einer deutschen Meerespolitik bemühen. 49 Zu den rechtlichen und politischen Aspekten der Zeichnungsfrage vgl. die Beiträge auf dem v o m Institut f ü r Seerecht und Seehandelsrecht am 3. September 1984 in Hamburg veranstalteten Symposium „Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und die deutschen Wirtschaftsinteressen", Hamburg 1984 (Schriften des Deutschen Vereins f ü r Internationales Seerecht, Reihe A : Berichte und Vorträge, Heft 50). 50 Präambel der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg v o m 6. Juni 1952 (BL-I 100-a).
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unter dem gemeinsamen Dach des neuen Seerechtsinstituts eine akademische Tür zur weltweiten Seerechtsforschung geöffnet. Damit ist ein wichtiger institutioneller Beitrag für die Etablierung eines Zweiges einer zukunftsorientierten Rechtswissenschaft geleistet worden.
Subventionen im Gemeinsamen Markt und der Rechtsschutz des Konkurrenten Grundzüge und neuere Entwicklungen JÜRGEN
SCHWARZE
I. Einleitung Kontinuität und Wandel in ihrer gegenseitigen Zuordnung im Verwaltungsrecht der Gegenwart nachzuspüren, bildete eines der Hauptanliegen des wissenschaftlichen Lebens von Wolfgang Martens. Dabei hat er in nüchterner, tiefschürfender Analyse nicht nur maßgeblich zur Sicherung des Bestandes verwaltungsrechtlicher Ordnung beigetragen, sondern auch wesentliche Zukunftsperspektiven für das öffentliche Recht im Staat der modernen Industriegesellschaft eröffnet. Es liegt deshalb nahe, im Rahmen eines Beitrages, der dem ehrenden Gedenken des früh verstorbenen Fakultätskollegen gewidmet ist, ein Feld zur Bearbeitung auszuwählen, in dem zugleich wesentliche überkommene Ordnungsprinzipien und neuere Entwicklungslinien für die Zukunft sichtbar werden. Das Gebiet des Subventionsrechts bietet sich hierfür besonders an. Wie kaum ein anderer Bereich des öffentlichen Rechts spiegelt es die Problematik einer angemessenen Zuordnung von Staat und privater Wirtschaft wider. Für die Zwecke der vorliegenden Abhandlung erscheint bemerkenswert, daß trotz aller politischer Bekenntnisse zur Marktwirtschaft und zum freien Wettbewerb die Bedeutung der Subventionen als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung ständig weiter zunimmt1. 1 Über die wirtschaftliche Bedeutung von Subventionen in der Bundesrepublik Deutschland gibt zuletzt der „Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 1 9 8 3 - 1 9 8 6 gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG) vom 8. Juni 1967 (Zehnter Subventionsbericht) vom 12. 9 . 1 9 8 5 (BTDrs. 10/3821) ausführlich Auskunft. D o r t sind die umfangreichsten volkswirtschaftlichen Daten zu finden, und es wird das Gesamtvolumen der Subventionen von Bund, Ländern, Gemeinden und E G aufgeführt. Beispielsweise werden für 1985 die gesamten Zuwendungen des Bundes mit 31,9 M r d . D M und die Zuwendungen der Länder und Gemeinden mit 36 M r d . D M beziffert (Anlage 5 und 10, Subventionsbericht aaO). Von nichtamtlicher Seite, wie z . B . dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel, wird allerdings das Subventionsvolumen weit höher mit ca. 122 M r d . D M eingeschätzt. (Vgl. dazu: F A Z v. 9 . 1 0 . 1 9 8 5 , S. 13.)
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Das Subventionsrecht hat in den letzten Jahren auf diesen rechtstatsächlichen Befund mit Wandlungen reagiert, welche die Rechtsstellung des einzelnen gegenüber dem Staat und dort insbesondere den Rechtsschutz des Konkurrenten betreffen. Es ist zunehmend bewußt geworden, daß eine Subventionierung nicht allein eine Begünstigung bestimmter Wirtschaftszweige oder einzelner Unternehmen durch Zuwendungen von seiten der öffentlichen Hand bewirkt, sondern regelmäßig auch eine Beeinträchtigung derjenigen Mitbewerber auf dem Markt zur Folge hat, denen die staatliche Förderung versagt bleibt. Je mehr mittels des Instruments der Subvention in den freien Wettbewerb eingegriffen wird, um so häufiger werden Dritte dabei in Mitleidenschaft gezogen. Die Sicherung eines ausreichenden Rechtsschutzes für den benachteiligten Konkurrenten wird dadurch zu einer dringenden verwaltungsrechtlichen Aufgabe. Die wissenschaftliche Diskussion und die höchstrichterliche Rechtsprechung beschäftigen sich seit längerem mit diesem Problemkreis. Dies hat dazu beigetragen, dem Subventionsrecht mittlerweile klarere Konturen zu verschaffen. Allerdings bleibt dabei oft unberücksichtigt, daß die Aufgabe der rechtsstaatlichen Umgrenzung und Kontrolle nicht allein dem deutschen Verwaltungsrecht zugewiesen ist. Subventionen, welche die Wettbewerbssituation des nicht subventionierten Unternehmens beeinträchtigen können, beruhen nämlich nicht immer nur auf deutschem Recht, und sie werden nicht nur von deutschen Verwaltungsbehörden gewährt. Oft handelt es sich dabei um Beihilfen, welche aufgrund EG-Rechts entweder unmittelbar von den Gemeinschaftsbehörden selbst oder aber im Wege des Verwaltungsvollzuges von den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten verteilt werden 2 . Ebensogut kann die Beeinträchtigung des deutschen Konkurrenten ihre Ursachen in grenzüberschreitenden Wettbewerbsverzerrungen durch Subventionen anderer EG-Mitgliedsstaaten haben. Darüber hinaus kann es sich bei der angegriffenen staatlichen Zuwendung um eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare und deshalb nach Gemeinschaftsrecht verbotene Beihilfe handeln 5 . Bei der Gewährleistung von Rechtsschutz für den in diesen Fällen betroffenen Konkurrenten wird das besondere Zusammenwirken von 2 V o n der EG fließen in die Bundesrepublik Deutschland überwiegend Finanzmittel f ü r die Landwirtschaft. Im wesentlichen handelt es sich um Marktordnungsausgaben, die beispielsweise im 10. Subventionsbericht aaO (Fn. 1), S. 10, bei Tz. 14 sowie in Ubersicht 1, mit ca. 7,5 M r d . D M für 1984 ausgewiesen werden. 3 Siehe A r t . 92 ff des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) v o m 25. M ä r z 1957 sowie A r t . 4 Buchst, f des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vom 18. April 1 9 5 1 . Zu den Einzelheiten vgl. später.
Subventionen in der EG und der Rechtsschutz des Konkurrenten
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mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Rechtsordnung sichtbar. Neben dem Rechtsweg zu den nationalen Gerichten kommt nämlich auch die Möglichkeit in Betracht, unmittelbar den Europäischen Gerichtshof ( E u G H ) anzurufen. In dessen jüngster Rechtsprechung sind bemerkenswerte Wandlungen gegenüber seiner bisherigen grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber der Konkurrentenklage sichtbar geworden. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Grundlagen des deutschen und des europäischen Subventionsrechts sowie das System der EG-Beihilfeaufsicht dargestellt. Daran anschließend werden der Rechtsschutz des Konkurrenten nach deutschem Recht sowie nach Gemeinschaftsrecht erörtert und hierbei die neuesten Entwicklungen sowohl in der deutschen Rechtsprechung als auch in der Judikatur des E u G H berücksichtigt. Ein Résumé zu dem Rechtswandel bei der Zulassung von Konkurrentenklagen auf dem Gebiet des Subventionsrechts beschließt diesen Beitrag. II. Grundlagen des Subventionsrechts 1. Subventionsrecht
der Bundesrepublik
Deutschland
Bekanntlich werden in der deutschen Rechtslehre und Rechtsprechung unterschiedliche Ansichten zum Begriff der Subvention vertreten 4 . Diesen terminologischen Fragen wird hier nicht weiter nachgegangen5. Für die Zwecke der nachfolgenden Untersuchung wird der sich an die tatbestandliche Normierung des Strafrechts 6 anlehnende „enge" Subventionsbegriff zugrunde gelegt. Danach sind unter Wirtschaftssubventionen Geldleistungen oder andere Vermögenswerte Leistungen zu verstehen, welche die öffentliche Verwaltung wirtschaftlichen Unternehmen zur Förderung eines öffentlichen Zwecks ohne volle marktmäßige Gegenleistung gewährt7. 4 Zum Streitstand vgl. statt vieler Albert Bleckmann, Subventionsrecht, Stuttgart et al. 1978, S. 7 ff. 5 Überdies ist es angesichts der vielfältigen Formen, Arten, Ziele und Zwecke von Subventionen kaum möglich, zu einer einheitlichen juristischen Begriffsbildung zu gelangen. Zur juristischen Beherrschbarkeit kann am ehesten beitragen, daß die Subventionen typologisch erfaßt bzw. nach verschiedenen Kategorien unterschieden werden. Vgl. dazu Albert Bleckmann aaO (Fn.4)\ Jürgen Gündisch, Die Entwicklung des Subventionsrechts 1980-1983, NVwZ 1984, S. 489 (490) m. Hinw. auf Volkmar Götz, Recht der Wirtschaftssubventionen 1966, S.4. 6 Vgl. die Legaldefinition in §164 Abs. 6 StGB. 7 Somit bleiben die ansonsten im Rahmen des „weiten" Subventionsbegriffes über die reinen Finanzhilfen hinaus miterfaßten steuerlichen Vergünstigungen sowie die Förderung privater Haushalte außer Betracht. Letztere ist schon in § 12 StabG (BGBl. III 70-3), (vgl. dazu oben Fn. 1), der in Abs. 3 die Subventionsberichtspflicht der Bundesregierung auch für die Steuervergünstigungen erstreckt, nicht berücksichtigt. Eine weitere gesetzliche
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Das Recht der Subventionsvergabe wird wesentlich von der Ausgestaltung und Abwicklung des Subventionsverhältnisses zwischen gewährender Verwaltung und begünstigtem Empfänger bestimmt 8 . Dabei spielen die vom Subventionsgeber gewählten Rechts- und Handlungsformen gerade auch für den Rechtsschutz des nichtgeförderten Konkurrenten eine bedeutsame Rolle 9 . Allgemein besitzt die bewilligende Behörde die Wahlfreiheit zwischen privatrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Gestaltung, sofern eine Gesetzesnorm 10 , welche die Subventionierung vorsieht, nichts anderes festgelegt hat". Im Regelfall erfolgt die Subventionsvergabe auf verwaltungsrechtlicher Grundlage und hier wiederum überwiegend durch Verwaltungsakt (Bewilligungsbescheid). Diese Handlungsform ist für den Subventionsgeber insofern günstig, als sich der Subventionsempfänger der hoheitli-
Definition der Subventionen findet sich im übrigen in § 23 der Bundeshaushaltsordnung ( B H O ) (vom 19.8.1969, BGB1.I 1284), wo „Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen für Leistungen außerhalb der Bundesverwaltung zur Erfüllung bestimmter Zwecke (Zuwendungen)" erwähnt sind. Zu Recht wird allerdings vielfach eingewandt, daß sich die Bedeutung und Reichweite dieser Legaldefinition nur auf den begrenzten Rahmen und Zweck der jeweiligen gesetzlichen Regelung beschränkt und sie daher nicht als allgemeingültige Abgrenzung für das gesamte öffentliche Recht nutzbar ist. Siehe dazu: Hans Jarass, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1984, S. 191/ 192, Rdn. 3 a; Gündisch, aaO (Fn.5). 8 Zum Subventionsverhältnis als zentralem Ordnungsfaktor des Subventionsrechts vgl. Paul Henseler, Staatliche Verhaltenslenkung durch Subventionen im Spannungsfeld zur Unternehmerfreiheit des Begünstigten, VerwArch. 1986, S.249 (255 ff). 9 Dazu ausf. Dirk Ehlers, Die Handlungsformen bei der Vergabe von Subventionen, VerwArch. 1983, S. 112 ff. Zu Begriff und Funktion staatlicher Handlungsformen im Wirtschaftsverwaltungsrecht vgl. jüngst Jürgen Becker, Handlungsformen der Verwaltung gegenüber der Wirtschaft, J A 1986, S. 359 ff. 10 Ohne auf die umstrittene Problematik des Gesetzesvorbehalts im Subventionsrecht eingehen zu wollen, ist hier nur festzuhalten, daß jede Subvention zumindest eine Grundlage im Haushaltsrecht, die den Subventionszweck nennt, benötigt, um so jedenfalls „gesetzesfreie" Subventionen auszuschließen. Einer spezialgesetzlichen Subventionsgrundlage im Sinne eines „Eingriffsvorbehalts" bedarf es dann, wenn die Subvention offensichtlich und vorhersehbar in Grundrechte, beispielsweise in die des Subventionsempfängers durch Auflagen eingreift. Wünschenswert bleibt die Schaffung eines allgemeinen Subventionsgesetzes de lege ferenda, weil letztlich jede Subventionierung Grundrechte, und sei es nur diejenigen des Konkurrenten in Gestalt bestimmter Benachteiligungen, berührt. Vgl. dazu Jürgen Schwarze, Staatliche Beihilfen und Antidumping, Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland zum 2. Thema für den 12. FIDE-Kongreß, Paris 1986, S. 111 (121). Ebenso Albert Bleckmann, Ordnungsrahmen für das Recht der Subventionen, Gutachten erstattet für den 55. Juristentag, München 1984, S . D 74, 76. Vgl. auch ausf. Hans Jarass, Der Vorbehalt des Gesetzes bei Subventionen, NVwZ 1984, S. 473 ff. " Vgl. Jarass aaO (Fn. 7), S. 197; Bleckmann aaO (Fn.4), S.85; B G H NVwZ 1985, S. 517.
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chen Entscheidung, die auch mit Nebenbestimmungen wie Auflagen, Bedingungen oder Befristungen verbunden sein kann, einseitig zu unterwerfen hat12. Vor allem werden so der Widerruf und die Rückforderung der Subvention nach den Regeln des Verwaltungsverfahrensrechts sowie im Rahmen eines öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruchs ermöglicht 13 . Bei einmaligen Zahlungen oder verlorenen Zuschüssen, wenn also Zuteilung und Vollzug der Subvention zusammenfallen, handelt es sich um ein einstufiges Verfahren, dessen gesamte Abwicklung, auch in Hinsicht auf den gerichtlichen Rechtsschutz, ausschließlich dem öffentlichen Recht zugeordnet ist14. Erfolgt die Förderung in der Form eines Darlehens- oder Bürgschaftsvertrages, so liegt zumeist ein zweistufiger Vorgang vor15, bei dem der erste Verfahrensabschnitt die öffentlichrechtliche Bewilligung durch Verwaltungsakt enthält und der zweite Verfahrensabschnitt die privatrechtliche Art und Weise der Abwicklung des Subventionsverhältnisses regelt 16 . Dies hat dann allerdings eine unterschiedliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes auf beiden Ebenen zur Folge, und auch der Rückforderungsanspruch der Behörde kann dem öffentlichen Recht 17 oder dem Privatrecht 18 zuzuordnen sein. Ob ein zweistufiges Rechtsverhältnis besteht, muß im Einzelfall festgestellt werden. Es ist immer dann anzunehmen, wenn es gesetzlich vorgeschrieben oder von der Behörde ausdrücklich gewählt worden ist".
12 Vgl. §§35, 36 V w V f G des Bundes sowie die gleichlautenden Bestimmungen der V w V f G e der Länder. 13 Vgl. §§ 48, 49 V w V f G . Eine Sonderregelung für die Rückforderung wegen zweckund auflagenwidriger Verwendung besteht für Zuwendungen im Sinne der Bundeshaushaltsordnung (s.o. Fn. 7) in § 4 4 a BHO. Dazu ausf. Rolf Grawert, Widerruf und Erstattung im Recht der Zuwendungen. Die haushaltsrechtlichen Änderungen des Verwaltungsverfahrens, DVB1. 1981, S. 1029 f f ; Volkmar Götz, Die Rückforderung von Subventionen, N V w Z 1984, S. 480 ff. H B V e r w G N J W 1969, S. 809; B G H N J W 1972, S . 2 1 0 ; B G H N V w Z 1985, S . 5 1 7 (518). 15 Grundlegend zur „Zweistufentheorie": Hans-Peter Ipsen, Öffentliche Subventionierung Privater, Berlin-Köln 1956, S. 64 ff. Dazu auch jüngst Richard Flessa, 30 Jahre Zweistufentheorie, DVB1. 1985, S. 1365 ff. 16 Vgl. nur B G H Z 57, 130 (134) = N J W 1972, S . 2 1 0 m w N ; V G H Mannheim, N J W 1978, S. 2050. 17 So BVerwGE 35, 130 ff. 18 So BVerwGE 41, 127 ff. " Vgl. Ehlers aaO (Fn.9), S . 1 3 2 ; Jarass aaO (Fn. 7), S.200, Rdn.29, 30, der im übrigen bei der Einschaltung privater Stellen nicht „Zweistufigkeit", sondern ein Dreiecksverhältnis annimmt. Siehe ebenso die kritischen Nachweise zur Zweistufentheorie bei Bleckmann aaO (Fn. 4), S. 89 ff.
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Zweistufigkeit liegt in der Regel vor, wenn die Durchführung der Subvention einem privaten Kreditunternehmen übertragen wird und sich die Subventionsverwaltung lediglich auf die grundlegende Kreditbewilligung beschränkt. Immer häufiger wird allerdings das Bestreben bei der Rechtsprechung erkennbar, auch in diesen Fällen das Subventionsverhältnis einheitlich dem öffentlichen Recht zuzuordnen 20 , wohl um die Rückforderung von Subventionen zu erleichtern und den Erstattungsanspruch im Wege der Verwaltungsvollstreckung für durchsetzbar zu erklären. Wenngleich das Verwaltungsverfahrensrecht in den § 54 ff V w V f G mit dem öffentlichrechtlichen Vertrag ein geeignetes Instrument besonders für zweiseitig verhaltensbindende Subventionsverhältnisse 21 anbietet, wird diese Gestaltungsform von der Verwaltung zu selten genutzt 22 . Ihre wesentlichen Vorteile liegen nämlich darin, daß die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Beteiligten aufgrund vorheriger Aushandlung, anders als beim Verwaltungsakt auf Unterwerfung, zwischen Bewilligungsbehörde und Subventionsempfänger vertraglich festgelegt sind und somit mancher Anlaß für etwaige Rechtsstreitigkeiten schon im Vorwege vermieden wird 23 . Andererseits ist aber auch die Verwaltung an die einmal von ihr gewählte vertragliche Handlungsform gebunden, wenn sie beispielsweise die Subvention zurückfordern will24. Hierfür darf sie sich nicht mehr einfach des Leistungsbescheids bedienen, sondern sie ist darauf angewiesen, zunächst den Vertrag zu kündigen, sofern nicht bereits eine entsprechende Vertragsaufhebungsklausel existiert. Erst dann können gegebenenfalls mit Hilfe einer verwaltungsgerichtlichen Klage die gewährten Mittel zurückverlangt werden 25 . Kaum praktische Bedeutung besitzt schließlich die rein privatrechtliche Ausgestaltung des Subventionsverhältnisses, so daß ihr hier auch keine weitere Beachtung geschenkt wird 26 . Im Zweifel wird schon wegen Vgl. nur zuletzt B G H NVwZ 1985, S.517 mwN. Vgl. näher zu Definition und allgemeiner Funktion: Hemeler, aaO (Fn. 8), S.256. 22 Dazu allgemein: Wilhelm Henke, Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, Tübingen 1979. 25 Vgl. dazu Rolf Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. Stuttgart et al. 1980, S. 271, Rdn. 1202. 24 Vgl. BVerwGE 59, 60 (65) m. Hinw. auf BVerwGE 50, 173 (175). 25 Hieraus resultiert auch die Zurückhaltung der Verwaltung bei der Wahl der vertraglichen Subventionierungsform. Siehe dazu Jarass, aaO (Fn. 7), S. 199/200, Rdn. 28; Stober, aaO (Fn. 23), S.272, Rdn. 1203 mwN. Zu Recht verweist auch Götz aaO (Fn. 13), S.480, Anm. 1, darauf, daß die von Henke aaO (Fn. 22) vorgeschlagene Konzeption des Subventionsrechts als Vertragsrecht der Praxis weit vorausgreife. 26 Vgl. zu den damit verbundenen Fragen, insbesondere auch hinsichtlich der Bindung der Subventionsverwaltung an die Grundrechte: Stober, aaO (Fn.23), S.272, Rdn. 1204 mwN. 20 21
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des öffentlichrechtlichen Gegenstandes eine der anderen Gestaltungsformen anzunehmen sein27. Zudem wird die Verwaltung, um den soeben geschilderten Schwierigkeiten bei der Rückforderung auf vertraglicher Grundlage gewährter Leistungen zu entgehen, zumeist versuchen, im Rahmen ihrer Wahlfreiheit der Subventionsvergabe mittels eines vorgeschalteten Bewilligungsaktes eine öffentlichrechtliche Form zu verleihen. 2. Europäisches Beihilferecht Der Begriff des Beihilferechts wird auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für zwei wichtige Bereiche verwendet, die schon von ihrem Regelungsanliegen her sachlich und terminologisch streng zu trennen sind. Zum einen wird damit die Subventionsgewährung aus gemeinschaftseigenen Mitteln erfaßt, so daß nur hier vom eigentlichen Beihilferecht zu sprechen ist28. Zum anderen handelt es sich um das Recht zur Regelung der Gemeinschaftskontrolle über die mitgliedstaatliche Subventionsvergabe, welches nachfolgend als Beihilfeaufsichtsrecht" bezeichnet wird. Letzteres rückt aufgrund der vielfältigen Reibungspunkte mit dem nationalen Subventionsrecht immer wieder in den Mittelpunkt sowohl der wissenschaftlichen als auch der politischen Diskussion. Hingegen findet die gemeinschaftseigene Subventionsgewährung bislang noch relativ wenig wissenschaftliche Beachtung 30 , was um so erstaunlicher ist, als die EG-Subventionspolitik das Hauptangriffsziel in der öffentlichen Kritik an den Gemeinschaften bildet". a) Gemeinschaftseigene Subventionsgewährung Die von den Europäischen Gemeinschaften aus Haushalts- und anderen Mitteln selbst gewährten Beihilfen dienen zum einen der Verwirklichung der Gemeinschaftspolitiken, wie sie etwa in Art. 3 EWGV für die
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So Hans Jarass, Das Recht der Wirtschaftssubventionen, JuS 1980, S. 115 (118). Martin Seidel, Das Verwaltungsverfahren in Beihilfesachen, EuR 1985, S. 23, nennt es richtigerweise „Beihilferecht im engeren Sinne". 29 Zum Begriff vgl. nur Martin Seidel, Grundfragen des Beihilfeaufsichtsrechts der Europäischen Gemeinschaften, in: Bodo B ö r n e r / K o n r a d Neundörfer (Hrsg.), Recht und Praxis der Beihilfen im Gemeinsamen Markt, KSE Bd. 32, Köln et al. 1984, S. 55 ff. )0 Ausführlich wurde dieses Gebiet von der Fachgruppe für Europarecht auf der Tagung für Rechtsvergleichung am 15. u. 16.9.1977 in Münster behandelt. Vgl. dazu den Generalbericht von Volkmar Götz, Subventionen aus Gemeinschaftsmitteln, in: Bodo Börner / Martin Bullinger (Hrsg.), Subventionen im Gemeinsamen Markt, KSE Bd. 29, Köln et al. 1978, S. 371 ff. 31 Vgl. auch Martin Seidel, Subventionshoheit und Finanzierungslast in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: FS für Karl Carstens, Bd. 1, Köln et al. 1984, S. 273 ff. 28
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E W G u m f a s s e n d b e s c h r i e b e n werden 3 2 , z u m a n d e r e n der F ö r d e r u n g v o n M a ß n a h m e n im g e m e i n s a m e n Interesse. Z u m Teil ergeben sich die R e c h t s g r u n d l a g e n hierfür direkt aus d e m P r i m ä r r e c h t der E G - G r ü n d u n g s v e r t r ä g e , z u m Teil sind die F ö r d e r u n g s i n s t r u m e n t e erst d u r c h v o n den G e m e i n s c h a f t s o r g a n e n gesetztes S e k u n d ä r r e c h t geschaffen w o r d e n . So b e r u h t der E u r o p ä i s c h e A u s r i c h t u n g s u n d G a r a n t i e f o n d s für die L a n d w i r t s c h a f t ( E A G F L ) u n m i t t e l b a r auf d e r hierfür v o r g e s e h e n e n a g r a r p o l i t i s c h e n E r m ä c h t i g u n g des A r t . 4 0 A b s . 4 E W G V 3 3 . D i e Schaffung des E u r o p ä i s c h e n Sozialfonds ( E S F ) ist d u r c h A r t . 3 B u c h s t , i i . V . m . A r t . 1 2 3 - 1 2 9 E W G V 3 4 v o r g e s e h e n , die E r r i c h t u n g der E u r o p ä i s c h e n I n v e s t i t i o n s b a n k ( E I B ) ist d u r c h A r t . 3 B u c h s t , j i.V.m.
Art. 129-130 E W G V 3 5
explizit abgesichert. H i n g e g e n
sich alle bisherigen V e r o r d n u n g e n des R a t e s ü b e r den F o n d s für regionale E n t w i c k l u n g
stützen
Europäischen
( E R F E ) 3 6 mangels einer
speziellen
V e r t r a g s k o m p e t e n z auf die generelle E r m ä c h t i g u n g s n o r m des A r t . 2 3 5 EWGV37. E A G F L , E R F E u n d E S F stellen die bei w e i t e m w i c h t i g s t e n F i n a n z i e r u n g s e i n r i c h t u n g e n für die S u b v e n t i o n i e r u n g aus G e m e i n s c h a f t s m i t t e l n dar, wie sich i m m e r w i e d e r in den e n t s p r e c h e n d e n jährlichen A n s ä t z e n i m E G - H a u s h a l t s p l a n zeigt 3 8 .
32 Zu erwähnen sind hier nur die gemeinsame Handelspolitik, die gemeinsame Landwirtschaftspolitik und die gemeinsame Verkehrspolitik. 53 Zu den Einzelheiten des EAGL vgl. aktuell: Peter Gilsdorf, Rdn. 98 ff zu Art. 40 EWGV in: Eberhard Grabitz (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Loseblattslg., Baden-Baden 2.GrdLfg. Mai 1986; ders., Gemeinschaftssubventionen im Bereich der Landwirtschaft, in: Börner/Bullinger (Hrsg.) aaO (Fn.30), S.215 ff. 3* Vgl. zu Entstehungsgeschichte, Grundlagen und aktuellem Entwicklungsstand des ESF die Kommentierungen zu Art. 123 ff EWGV von: Bernhard Jansen in: Grabitz aaO (Fn.33) sowie von Wolfgang Stabenow in: Hans v. d. Groeben/Hans v. Boeckh et al. (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. Baden-Baden 1983 ff; ders., Die Subventionspraxis des Europäischen Sozialfonds, in: Börner/Bullinger (Hrsg.) aaO (Fn.30), S. 313 ff. 35 Zu Funktionen und Bedeutung der EIB vgl. im einzelnen die Kommentierungen zu Art. 129ff EWGV von HansR. Krämer in: Grabitz aaO (Fn.33), l.GrdLfg. Dezember 1983, sowie von Joachim Müller-Borle in: v. d. Groeben/v. Boeckh (Hrsg.) aaO (Fn.34), Ebenso Jörg Käser, The European Investment Bank: its Role and Place within the European Community System, in: Yearbook of European Law, 1984, S. 303 ff. 36 Derzeit gilt die Verordnung (EWG) Nr. 1787 des Rates vom 19. Juni 1984 (Abi. EG Nr. L 169/1 v. 28.6.1986). 37 Vgl. zum EFRE ausführlich nur Paul Wäldchen, Die Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaften in: v.d. Groeben/v.Boeckh (Hrsg.) aaO (Fn.34), Anhang C, S. 1583 ff, ders., Die Subventionspraxis des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, in: Börner/Bullinger (Hrsg.) aaO (Fn.30), S.345ff. 38 Eine Zusammenfassung der für diese drei wichtigen Gemeinschaftsfonds im Jahre 1984 getätigten Ausgaben sowie der für 1985 und 1986 projektierten Finanzierungsmittel findet sich in Teil B, Titel 1-3, 5 u. 6 des am 18. Dezember 1985 vom Europäischen
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Darüber hinaus bestehen aber auch in vielen anderen, von den Gemeinschaftsverträgen nicht vorgesehenen neuen Politikbereichen, wie der Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik, Forschungspolitik, Entwicklungspolitik, Industriepolitik und Energiepolitik 39 weitere Förderungsinstrumente, die ebenfalls auf Art. 235 E W G V gegründet sind40. Ferner darf hier keinesfalls die umfangreiche gemeinschaftliche Subventionstätigkeit aufgrund der besonderen Ermächtigungen in den Verträgen zur Gründung der Montanunion 41 und der Euratom 42 unerwähnt bleiben. Wenngleich die Gemeinschaften mannigfaltige Kompetenzen zum Einsatz von Finanzmitteln für eigene Subventionsmaßnahmen besitzen und diese auch intensiv nutzen, so bedeutet dies freilich noch nicht, daß damit auch direkte Rechtsbeziehungen zwischen ihnen und den einzelnen Subventionsempfängern im jeweiligen Subventionsverhältnis bestehen. aa) Unmittelbare
Subventionsverwaltung
Die unmittelbare Subventionsverwaltung, bei der die Gemeinschaften gegenüber den Begünstigten als Subventionsgeber auftreten, stellt lediglich den Ausnahmefall dar. Sie besteht im wesentlichen nur bei der Förderung individueller Projekte wie etwa auf dem Gebiet des Agrarrechts bei der Finanzierung bestimmter strukturpolitischer Maßnahmen in der Abteilung Ausrichtung des EAGFL 4 3 oder der Finanzierung von Investitionsvorhaben der gewerblichen Wirtschaft durch die E I B nach Art. 130 a EWGV 4 4 oder im Rahmen der Forschungs- und UmstellungsParlament festgestellten Gesamthaushaltsplans der E G für das Haushaltsjahr 1986, auf den hier pauschal verwiesen wird. Vgl. Abi. E G Nr. L 358 vom 2 8 . 2 . 1 9 8 6 , S. 284 ff. 39 Vgl. hinsichtlich dieser ursprünglich vertraglich nicht behandelten neuen Gemeinschaftspolitiken in: v. d. Groeben/v. Boeckh (Hrsg.) aaO (Fn. 34), Anhang C, die ausführlichen Erläuterungen von Hans Eike v. Scholz zur Energiepolitik (S. 1501 ff), von Günter Schuster zur Wissenschafts- und Technologiepolitik (S. 1527 ff), von Rainer Hellmann zur Industriepolitik (S. 1539 ff), von Ludwig Krämer zur Umweltpolitik (S. 1610 ff) und von Leon Klein zur Verbraucherpolitik (S. 1632 ff). Einige dieser Politiken sind nunmehr durch die am 1 . 7 . 1 9 8 7 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte in den EWG-Vertrag eingefügt worden (Vgl. Bulletin EG, Beilage 2, 1986). 40 Vgl. Gert Nicolaysen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Stuttgart et al. 1979, S. 163/ 164 sowie Götz aaO (Fn.30), S.373. 41 Vgl. nur Art. 54—56 EGKSV über Investitionen und finanzielle Hilfe. 42 Vgl. nur Art. 6 E A G V über die Förderung von Forschungsprogrammen sowie Art. 70 EAGV, der die Beteiligung der Kommission an Schürfungsvorhaben für Uran in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten erwähnt. 43 Vgl. dazu die weiteren Einzelheiten bei Gilsdorf in: Grabitz (Hrsg.) aaO (Fn.33), Rdn.98 u. 111 zu A r t . 4 0 E W G V ; ders. in: Börner/Bullinger (Hrsg.) aaO (Fn.30), S. 226 ff. 44 Vgl. dazu Seidel aaO (Fn.28), S.28.
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beihilfen nach Art. 55 EGKSV45 oder der Investitionsförderung im Kernkraftwerksbau mit Mitteln aus Anleihen nach Art. 172 Abs. 4 EAGV 46 . Direkte Subventionierung kommt auch bei der Gewährung von Darlehen an die private gewerbliche Wirtschaft im Rahmen des jüngst geschaffenen „Neuen Gemeinschaftsinstruments" 47 in Betracht, durch das die Kommission vom Rat ermächtigt wird, Anleihen auf dem Kapitalmarkt aufzunehmen 48 . Ein besonderes Manko der gemeinschaftsunmittelbaren Subventionsgewährung liegt darin, daß hierfür keine einheitlichen Verwaltungsverfahrensregeln auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts bestehen. Insoweit ist ein rechtspolitisches Bedürfnis nach der Schaffung eines möglichst einheitlichen Rechts nicht zu bestreiten. In diesem Zusammenhang wird zutreffend auf Art. 235 EWGV als mögliche vertragliche Rechtsgrundlage verwiesen49. Selbst wenn sich die Gemeinschaften bei der Durchführung ihrer Subventionsprogramme zumeist der Mittel des Privatrechts bedienen, indem sie beispielsweise mit den Begünstigten Darlehensverträge abschließen50, so ist doch zu fragen, inwieweit sie dabei in ihrer Funktion als Leistungsverwaltung an allgemeine Verwaltungsgrundsätze, wie sie bei der nationalen Subventionsvergabe selbstverständlich sind, gebunden sind. Immerhin gilt in gleichem Maße wie für die nationale Verwaltung auch für die gemeinschaftliche Subventionsverwaltung, daß durch sie grundrechtliche Positionen sowohl der Begünstigten als auch der nichtbegünstigten Konkurrenten berührt werden 51 . Zu denken ist hier also nicht nur an solche allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien wie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, den Grund45
Vgl. dazu Götz aaO (Fn. 30), S. 398. Vgl. auch dazu oben Fn. 42 sowie Seidel aaO (Fn.28), S.29 bei Anm. 11. 47 Beschluß des Rates vom 19. April 1983 zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des Neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen zur Investitionsförderung in der Gemeinschaft aufzunehmen (83/200/EWG) (Abi. EG N r . L 112/26 v. 28.4.83). Rechtsgrundlage ist hierfür wieder Art.235 EWG. Einzelheiten dazu bei Seidel aaO (Fn.28), S.29. 48 Weitere Beispiele gemeinschaftsunmittelbarer Subventionsverwaltung werden von Seidel aaO (Fn. 47) aufgeführt. Dabei handelt es sich um die Gewährung von Strukturbeihilfen zur Förderung bestimmter energiewirtschaftlicher Vorhaben nach den beiden Verordnungen des Rates (EWG) N r . 1971 u. 1972/83 vom 11. Juli 1983 (Abi. EG N r . L 195/1 u. 6 v. 19. 7. 83) sowie um die Gewährung von Entwicklungsbeihilfen im Bereich der Datenverarbeitung nach der Verordnung (EWG) des Rates N r . 1996/79 vom 11. September 1979 (Abi. EG N r . L 231/1 v. 13.9.79). 49 So Seidel aaO (Fn.28), S.29/30. 50 So gewährt z.B. die EIB ihre Investitionskredite ausschließlich auf privatrechtlicher Grundlage. Vgl. dazu Seidel aaO (Fn. 49). 51 S.o. I. 41
Subventionen in der E G und der Rechtsschutz des Konkurrenten
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satz der Verhältnismäßigkeit, den Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot, die Rechtssicherheit und den Vertrauensschutz, sondern auch an besondere Garantien auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts, wie die Gewährung rechtlichen Gehörs, das Recht auf Akteneinsicht und den Grundsatz der Vertraulichkeit. Als einziges grundlegendes Prinzip eines geordneten Verwaltungsverfahrens ist die Begründungspflicht für Gemeinschaftsrechtsakte in Art. 190 E W G V ausdrücklich verankert. Im übrigen haben sich aber Ansätze zur Schaffung eines europäischen Verwaltungsrechts nicht allein durch die Bemühungen des Gemeinschaftsgesetzgebers und durch die Judikatur des E u G H , sondern auch durch die europarechtswissenschaftliche Forschung entwickelt, die allerdings im Rahmen des vorliegenden Beitrages nicht weiter zu behandeln sind52. Zu erwähnen ist hier noch, daß die Gemeinschaftsorgane 53 regelmäßig allgemeine Leitlinien für die Vergabe ihrer Subventionen aufstellen und im Amtsblatt veröffentlichen 54 . Diese Leitlinien bedeuten eine Art Selbstbindung hinsichtlich der Wahrung der Subventionszwecke sowie der Einhaltung der Wettbewerbsgleichheit, und sie führen damit bereits zu einer gewissen Form der Sicherung rechtsstaatlicher Grundsätze 55 . bb) Mittelbare
Subventionsverwaltung
Im Regelfall ist das EG-Beihilfenrecht aber durch die Form der mittelbaren Subventionsverwaltung gekennzeichnet, bei der die Gemeinschaftsbeihilfen durch die Mitgliedstaaten administriert werden. Dieser Weg wird überwiegend bei der Intervention und Förderung im Rahmen der oben genannten drei wichtigen Gemeinschaftsfonds, E A G F L , E S F und ERFE 5 6 , gewählt57. 52 Vgl. dazu jüngst Jürgen Schwarze, Der Schutz des Gemeinschaftsbürgers durch allgemeine Verwaltungsrechtsgrundsätze im EG-Recht, N J W 1986, S. 1068 ff mwN. Ebenso zu den einzelnen Gewährleistungen Ingolf Pernice in: Grabitz (Hrsg.) aaO (Fn. 33), Anm. 62 ff zu Art. 164 EWGV. 53 Das ist die Kommission bei Subventionen im Bereich des EGKS-Vertrages und der Rat bei denjenigen im Bereich des EWG-Vertrages. 54 Als Beispiel für solche Leitlinien vgl. nur: „Mitteilung der Kommission über Unterstützung gemeinschaftlicher Vorhaben im Bereich der Kohlenwasserstoffe (Verordnung [EWG] Nr. 3056/73 des Rates vom 9. November 1973, Abi. E G Nr. L 312/1 v. 1 8 . 1 1 . 7 3 ) " (Abi. EG N r . C 208/2 v. 8.8.84). Siehe ebenso die Mitteilungen über die Anwendungsbedingungen bezüglich: „Zinsverbilligte Industriedarlehen, die im Rahmen von Art. 54 Abs. 2 EGKSV für Investitionen zur Förderung des Verbrauchs von Kohle aus. der Gemeinschaft gewährt werden können" (Abi. E G N r . C 343/2 v. 31.12.82), sowie bezüglich der „Gewährung von Umstellungsdarlehen nach Art. 56 EGKSV für Investitionen zur Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten für die in der Kohle- und Stahlindustrie freigesetzten Arbeitskräfte" (Abi. E G N r . C 191/3 v. 16.7.83). 55 Vgl. Seidel aaO (Fn.28), S. 31. 56 S. o. die Nachweise in Fn. 33, 34 u. 37.
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Hier existieren wiederum zwei Varianten. Zum einen finanzieren die E G ein vollständiges Beihilfesystem, in welchem die Mitgliedstaaten ausschließlich als Verwalter für Rechnung der Gemeinschaften auftreten. Das ist der Fall bei den Agrarmarktordnungen, die auf dem Prinzip der marktregulierenden Subventionierung beruhen und hierfür Ausfuhrerstattungen sowie „Interventionen" in der Form von Stützungskäufen, Lagerungsbeihilfen, Beihilfen zum Abbau von Überschüssen, produktgebundene Erzeugerbeihilfen, Einfuhrsubventionen und Verbrauchersubventionen vorsehen 58 . Hervorzuheben ist, daß es sich dabei um streng rechtsgebundene Verwaltung ohne Ermessen handelt 59 , wobei dem einzelnen Subventionsempfänger aus den entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Regelungen auch einklagbare Rechtsansprüche auf Gewährung der Beihilfen zustehen können, die sich jedoch aufgrund der zweistufigen Verwaltung nicht direkt gegen die Gemeinschaften, sondern gegen den jeweiligen Mitgliedstaat richten 60 . Die zweite Variante mittelbarer Beihilfegewährung basiert darauf, daß die Gemeinschaften eigene Förderungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten entweder in vollem Umfange finanzieren oder sich daran mit einzelnen Finanzzuweisungen beteiligen. Dies ist der Fall im Rahmen der Regionalförderung 61 sowie der Subventionierung aus dem Sozialfonds 62 . D a sich bei diesen, in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten stehenden Förderungsprogrammen der Gemeinschaftsbeitrag im wesentlichen nur auf einen finanziellen Zuschuß beschränkt, kann sich aus Gemeinschaftsrecht weder eine Ermessensbindung der Mitgliedstaaten noch ein unmittelbarer Anspruch der Begünstigten auf Förderung ergeben. Für beide hier angeführten Formen mittelbarer Beihilfeverwaltung ist demnach bedeutsam, daß, anders als bei der unmittelbaren Beihilfegewährung der Gemeinschaften, die konkreten Rechtsbeziehungen zwischen Subventionsgeber und -nehmer dem nationalen Recht unterliegen, welches dann auch für den Rechtsschutz maßgeblich ist63. Vgl. dazu Seidel aaO (Fn.31), S. 278 ff. Vgl. Seidel aaO (Fn. 28), S. 35 sowie ausf. Gilsdorf aaO (Fn. 43). 59 Vgl. Gilsdorf in: Grabitz (Hrsg.) aaO (Fn. 33), Rdn. 106 zu Art. 40 EWGV mwN. 60 Vgl. Seidel aaO (Fn.28), S.34. " Siehe dazu jüngst: EG-Rechnungshof, „Sonderbericht 2/86 über die spezifischen Gemeinschaftsmaßnahmen des E F R E zur regionalen Entwicklung (nicht quotengebundene Maßnahmen) zusammen mit den Antworten der Kommission" (Abi. EG Nr. C 262/1 v. 20.10.86). 62 Bedenken, die Interventionen und Erstattungen des Sozialfonds als mittelbare Wirtschaftssubventionen anzusehen, äußert Seidel sowohl aaO (Fn. 28), S. 34/35 als auch aaO (Fn.31), S.279. " Zuletzt vom EuGH im Urteil vom 21. September 1983, verb. RS 205-215/82, Deutsches Milchkontor, Slg. 1983, 2633 (2655), betont: „Im Einklang mit den allgemeinen 57
58
Subventionen in der EG und der Rechtsschutz des Konkurrenten
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Allerdings können bei der oben geschilderten ersten Variante, bei der es sich um nationalen Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht handelt, hinsichtlich des anzuwendenden Verwaltungsrechts auch Mischformen zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht auftreten. Diese werfen zahlreiche und teilweise schwierige Fragen auf, welche an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden können64. b) Gemeinschaftsaufsicht über staatliche Subventionen Im deutlichen Gegensatz zu den Zwecken des EG-Beihilferechts stehen die Ziele des gemeinschaftlichen Beihilfeaufsichtsrechts. Soll das eine Subventionen ermöglichen, so sucht das andere hingegen, sie zu verhindern. Für die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes mit unverfälschtem Wettbewerb sind einheitliche Regeln für die Subventionstätigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten unverzichtbar. aa) Gemeinschaftliches Beihilfeverbot Eine radikale Lösung in der Form eines unbedingten Beihilfeverbotes existiert für die Montanunion und ist bereits im Primärrecht des Art. 4 Buchst, c EGKSV ausdrücklich niedergelegt. Dort heißt es: „Als unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl werden innerhalb der Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages aufgehoben und untersagt . . . von den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen oder von ihnen auferlegte Sonderlasten, in welcher Form dies auch immer geschieht". Die mangelnde Durchsetzbarkeit dieser eigentlich klaren Vorschrift ist angesichts der bestehenden Realität des Subventionswettlaufes im Montanbereich hinreichend bekannt und steht
Grundsätzen, auf denen das institutionelle System der Gemeinschaft beruht, . . . ist es Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet für die Durchführung der Gemeinschaftsregelungen, namentlich im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik, zu sorgen. Soweit das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden . . . nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor, wobei dieser Rechtssatz . . . mit den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Einklang gebracht werden muß." (Rdn. 17 d. Entscheidungsgründe). Siehe dazu die Anm. von Rengeling, DVB1. 1984, S.29 sowie jüngst ders., Das Zusammenwirken von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVB1. 1986, S. 306 (307) m w N . Vgl. ebenso nunmehr bestätigend das letztinstanzliche Urteil des BVerwG DVB1. 1986, S. 1204, in demselben dem E u G H seinerzeit vom VG Frankfurt zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtsstreit. 64 Vgl. dazu allgemein Meinhard Hilf, Möglichkeiten und Grenzen des Rückgriffs auf nationale verwaltungsrechtliche Regeln bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, Baden-Baden 1982, S. 67 ff; Rengeling aaO (Fn. 63) m w N .
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seit langem im Zentrum der Kritik, so daß an dieser Stelle darauf nicht näher eingegangen zu werden braucht 65 . Eine differenziertere Regelung für staatliche Beihilfen enthält hingegen der EWG-Vertrag. Das Instrumentarium der Beihilfenaufsicht nach Art. 92-94 E W G V ist Teil des nach Art. 3 Buchst, f E W G V zu schaffenden Systems zum Schutze des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes. Zentrale Vorschrift ist dabei Art. 92 Abs. 1 E W G V , wo es heißt: „Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen". Aus dieser Formulierung wird schon der grundsätzliche Unterschied zum strikten Subventionsverbot des Art. 4 Buchst, c E G K S V deutlich. Der EWG-Vertrag sieht zwar ebenfalls ein grundsätzliches Beihilfeverbot vor, selbst wenn der Vertrag lediglich von Unvereinbarkeit spricht, doch handelt es sich dabei um ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt 66 . Art. 92 Abs. 2 E W G V enthält selbst Ausnahmefälle für Subventionen, welche schon per se mit dem Gemeinsamen Markt für vereinbar erklärt werden 67 . Im übrigen steht nach Art. 92 Abs. 3 E W G V die Feststellung der Vereinbarkeit im Ermessen der Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat. Das wohl umstrittenste Problem des materiellen Beihilfeaufsichtsrechts stellt die Definition des gemeinschaftlichen Beihilfebegriffs nach Art. 92 Abs. 1 E W G V dar. Bereits im Jahre 1961 hat der E u G H ent-
65 Vgl. dazu nur Schwarze, a a O (Fn. 10), S. 116 sowie Bodo Börner, Subventionen unrichtiges Europarecht?, in F S für Karl Carstens a a O (Fn.31), S. 63 (72). N a c h dessen Ansicht hat die Kommission im Stahlbereich „ . . . die Rechtspraxis des Gemeinsamen Marktes zu einer D o m ä n e unrichtiger Rechtsanwendung gemacht . . . " . Siehe ebenso die ausf. Darstellung der Subventionspraxis im Stahlbereich sowie ihrer Auswirkungen im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht und das deutsche Subventionsrecht bei Hartmut Bauer/Rudolf Mögele, Wirtschaftshilfen an die Stahlindustrie, R I W 1985, S. 6 9 6 f f . 66 Vgl. zur verwaltungsrechtlichen Einordnung: Jochen Thiesing, in: v. d. G r o e b e n / v . B o e c k h et al. (Hrsg.) a a O (Fn.34), A n m . 1 zu Art. 92 E W G V ; Gabriela v. Callenberg, in: Grabitz (Hrsg.) (Fn. 33), Rdn. 1 zu Art. 92 E W G V ; Martin Seidel, Aktuelle Rechtsprobleme der Subventionsgewährung und der Beihilfenaufsicht in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Integrationsrecht, Baden-Baden 1985, S. 60 (65). 67 Siehe dort. Hierzu zählen ebenso nach Buchstabe c: „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind." Einzelheiten bei Thiesing a a O (Fn. 66), A n m . 43 zu Art. 92 E W G V sowie bei v. Callenberg a a O (Fn. 66), Rdn. 38 zu Art. 92 E W G V .
Subventionen in der EG und der Rechtsschutz des Konkurrenten
833
schieden, daß der Beihilfebegriff den Subventionsbegriff mitumfaßt68. Diese in bezug auf Art. 4 Buchst, c EGKSV getroffene Feststellung besitzt auch für den EWG-Vertrag Geltung. Anders als der EuGH, der zu einer abstrakten Definition des Beihilfebegriffs durch eine Auslegung unter Berücksichtigung der Vertragsziele gelangt ist", hat sich die Kommission bisher im wesentlichen bemüht, den Begriff durch nicht abschließende Beispielsaufzählungen auszufüllen70. Eine extensive und zudem flexible Interpretation des Begriffs der „Beihilfe"71 ist außerordentlich wichtig, um auf die Dynamik staatlicher Unterstützungsmaßnahmen zu reagieren. Damit wird verhindert, daß die Mitgliedstaaten ihren nationalen Förderungsmaßnahmen eine Gestalt verleihen, auf die eine statische Begriffsbestimmung nicht paßt, um sie damit der Beihilfekontrolle zu entziehen72. Demgemäß sollte man besser auf eine nähere Bestimmung des Beihilfebegriffs verzichten73, zumal dies allenfalls zu einer Einengung des Begriffs führt74. bb) Verfahren
der gemeinschaftlichen
Beihilfeaufsicht
Was nun das eigentliche Verfahren der Beihilfeaufsicht anbetrifft, so ist seine Regelung in Art. 93 E W G V nur äußerst unzureichend. Es ist dringend erforderlich, daß von der in Art. 94 E W G V genannten Ermächtigung, aufgrund derer der Rat auf Vorschlag der Kommission zweckdienliche Durchführungsverordnungen erlassen kann, Gebrauch gemacht wird. Dann könnte nämlich - ähnlich wie in anderen Bereichen
" RS 30/59 (De Gezamelijke Stejnkolemijnen), Slg. 1961, S.3 (41). 69 EuGH aaO (Fn. 68). Vgl. dazu Jürgen Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1976, S. 165 f. 70 Zuletzt in der Antwort auf die Anfrage des EP-Abgeordneten Welsh (Abi. EG Nr. C 221/5 v. 25.8.82). 71 Thiesing aaO (Fn. 66), Vorbem. zu Art. 92-94 EWGV, Anm. 1; v. Callenberg aaO (Fn. 66), Rdn. 1 zu Art. 92 EWGV. 72 Ausf. dazu: Dieter Lefevre, Staatliche Ausfuhrförderung und das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen im EWG-Vertrag, Baden-Baden 1977, S. 113 ff. 73 Der EuGH verzichtet mittlerweile wohl aus guten Gründen auf die Anwendung einer exakten Beihilfedefinition. Vgl. nur RS 84/82 (Bundesrepublik ./. Kommission), Slg. 1984, S. 1451 ff. Ebenso hat er kürzlich z.B. wie selbstverständlich auch staatliche Unternehmensbeteiligungen als „Beihilfen" eingeordnet: Urteil v. 14.11.1984 (RS 323/82, Intermills), Urteil v. 13.3.1985 (verb. RS 296 u. 318/82, Leeuwardener Papierfabrieken) und Urteil vom 15.1.1986 (RS 52/85, Kommission ./. Belgien). Diese Entscheidungen sind noch nicht in der Amtl. Slg. veröffentlicht. 74 Vgl. Schwarze aaO (Fn. 10), S. 113, v. Callenberg aaO (Fn.66), Rdn. 3 ff zu Art. 92 EWGV sowie Thiesing aaO (Fn. 66), Anm. 1 zu Art. 92 EWGV jeweils mwN. Seidel aaO (Fn. 66), S. 66-75, versucht, den Beihilfebegriff in negativer Hinsicht abzugrenzen, um diejenigen Maßnahmen auszuschließen, die grundsätzlich nicht als Beihilfe in Betracht kommen können. Er verweist jedoch selbst zutreffend auf die hier unvermeidlichen schwierigen Abgrenzungsfragen.
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gemeinschaftlicher Wirtschaftsverwaltung 75 - nunmehr endlich auch für die Beihilfeaufsicht eine detaillierte Verfahrensordnung geschaffen und darin die Regeln, die bei der Durchführung der Aufsichtsaufgaben zu befolgen sind, klar festgelegt werden. Dabei geht es nicht bloß um die Rechte und Pflichten der Gemeinschaftsbehörden, sondern vor allem auch um die Verfahrensrechte der betroffenen privaten Unternehmen, deren Rolle im Primärrecht des Art. 93 E W G V kaum berücksichtigt wird. Es fehlt bislang an einer deutlichen Regelung der Bedingungen, unter denen auch private Beteiligte Zugang zu Informationen erhalten und gegebenfalls beantragen können, vor der endgültigen Entscheidung bezüglich der wichtigsten Tatsachen oder Überlegungen angehört und unterrichtet zu werden, aufgrund derer schließlich beabsichtigt ist, bestimmte mitgliedstaatliche Beihilfeprogramme zu verbieten. Zwar wird dies von der Gemeinschaftsverwaltung tatsächlich teilweise praktiziert, jedoch bisher ohne genügende rechtliche Grundlage 76 . Hier ist nicht der Raum, um die Einzelheiten und Probleme des Verfahrens oder gar die Effektivität der gemeinschaftlichen Aufsichtspraxis näher zu erörtern 77 . Die wesentlichen Grundzüge des Verfahrensablaufs werden nur knapp skizziert 78 . Umfassend zuständig zur Beihilfenkontrolle ist die Kommission 7 9 . Bei der Aufsicht über bestehende Beihilfen wird ein repressives Verfahren angewendet, bei der Überwachung beabsichtigter Beihilfen kommt ein präventives Verfahren zum Zuge 80 . Im ersten Fall überprüft die K o m mission in Kooperation mit den Mitgliedstaaten fortlaufend deren Subventionen und schlägt ihnen geeignete Maßnahmen vor, welche die 75 Vgl. für das Kartellverwaltungsverfahren die V O ( E W G ) N r . 17/62 des Rates (Abi. 1962, S. 2 0 4 vom 2 1 . 2 . 6 2 ) sowie ihre entsprechenden Folgerechtsakte. Ebenso vgl. für die EG-Außenwirtschaftsverwaltung nur die derzeit geltenden Verfahrensvorschriften der gemeinsamen Einfuhrregelung nach der grundlegenden' V O ( E W G ) N r . 2 8 8 / 8 2 v o m 5. Februar 1982 (Abi. E G N r . L 35/1 v. 9 . 2 . 8 2 ) , die Antidumping-/Antisubventionsregelungen nach der V O ( E W G ) N r . 2 1 7 6 / 8 4 des Rates v o m 23. Juli 1984 bzw. der Entscheidung N r . 2 1 7 7 / 8 4 / E G K S der Kommission v o m 27. Juli 1984 (Abi. E G N r . L 2 0 1 / 1 bzw. 17 v. 30. 7. 84) und schließlich die Verfahrensvorschriften des „Neuen Handelspolitischen Instruments" nach der V O ( E W G ) N r . 2 6 4 1 / 8 4 des Rates vom 17. September 1984 (Abi. E G N r . L 2 5 2 / 1 v. 2 0 . 9 . 8 4 ) . 76 Inwieweit Private ebenfalls zu den in Art. 93 Abs. 2 E W G V erwähnten „Beteiligten" gehören, siehe sogleich. 77 Zu den aktuellen Rechtsproblemen vgl. nur für viele: Seidel aaO ( F n . 6 6 ) , S . 6 1 f f ; ders. aaO ( F n . 2 8 ) , S. 2 2 ff; Schwarze aaO (Fn. 10), S. 1 1 1 - 1 1 8 . 78 Eine ausführliche systematische Darstellung bietet z. B. Hans-Werner Rengeling, Das Beihilferecht der Europäischen Gemeinschaften, in: Börner/Neundörfer (Hrsg.) a a O (Fn. 29), S. 23 ff m w N . 79 N a c h Art. 93 Abs. 2 S . 3 E W G V liegt allerdings in bestimmten Einzelfällen auf Antrag eines Mitgliedstaates die Entscheidungskompetenz beim Rat. 80 Vgl. Rengeling a a O (Fn. 78), S. 42.
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fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern 81 . Dazu zählen die Umgestaltung oder gegebenenfalls die Abschaffung der Beihilfe, wobei diese Vorschläge als Empfehlungen im Sinne des Art. 189 EWGV nicht verbindlich sind82. Kommt der Mitgliedstaat den Vorschlägen aber nicht nach, so muß die Kommission das in Art. 93 Abs. 2 EWGV geregelte förmliche Verfahren eröffnen, welches dann zu einer verbindlichen Entscheidung über die Unvereinbarkeit der Beihilfe führen kann. Die präventive Subventionskontrolle folgt aus der in Art. 93 Abs. 3 EWGV enthaltenen Pflicht der Mitgliedstaaten, die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Subventionen so rechtzeitig zu unterrichten, daß sie sich dazu äußern kann. Diese Notifizierungspflicht wird in der Praxis häufig verletzt83. Hat die Kommission Bedenken gegen ein notifiziertes Beihilfevorhaben, so leitet sie das förmliche Aufsichtsverfahren nach Art. 93 Abs. 2 EWGV ein. Bis zu dessen Beendigung durch abschließende Entscheidung darf der Mitgliedstaat die beabsichtigten Maßnahmen nicht durchführen 84 , doch auch gegen diese Stillhaltepflicht wird oft verstoßen. Das förmliche Verfahren wird eröffnet, indem die Kommission durch eine im Amtsblatt veröffentlichte Mitteilung den Beteiligten eine Frist zur Äußerung setzt. Zu den „Beteiligten" im Sinne des Art. 93 Abs. 2 EWGV zählen nach allgemeiner Ansicht nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch alle tatsächlich oder potentiell durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen sowie alle diejenigen, die durch die Beihilfe benachteiligt sein können, weil sie mit dem Begünstigten im Wettbewerb stehen85. Diese Verfahrensbeteiligung spielt, wie noch zu zeigen sein wird, eine sehr bedeutsame Rolle vor allem für den gerichtlichen Rechtsschutz des Konkurrenten. Nach Ablauf der Äußerungsfrist entscheidet die Kommission unter Berücksichtigung der eingegangenen Stellungnahmen über die Vereinbarkeit der betreffenden staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt. Mit einer nach Art. 189 EWGV verbindlichen Entscheidung
81
Art. 93 Abs. 1 EWGV. Zu den bestehenden Beihilfen zählen solche, die entweder bei Gründung der EG existierten oder später eingeführt wurden und bei ihrer Einführung als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar anzusehen waren. 82 Rengeling aaO (Fn. 78), S.43 m w N in Anm.110. 85 Vgl. z.B. für den Fall einer von der Bundesrepublik Deutschland verspätet notifizierten und zudem bereits vergebenen Beihilfe nur die Entscheidung der Kommission (85/ 343/EWG) vom 10. Juni 1985 über gewährte Beihilfen für einen Hersteller von Polyamidund Polypropylengarn in Bergkamen (Abi. EG N r . L 278/85 v. 18.10.85). 84 Art. 93 Abs. 3 S. 3 EWGV. 85 Zu den Einzelheiten vgl. nur Thiesing aaO (Fn. 66), Anm.9-12 zu Art. 93 EWGV sowie v. Callenberg aaO (Fn.66), Rdn. 13 zu Art. 93 EWGV.
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kann sie die Unvereinbarkeit feststellen und den Mitgliedstaat zur Umgestaltung oder Aufhebung der Maßnahmen verpflichten. Vor allem kann sie ihm grundsätzlich auch auferlegen, die gemeinschaftswidrig gewährten Förderungsleistungen vom Subventionsnehmer zurückzufordern 86 , wie das in letzter Zeit immer häufiger geschieht 87 . Kommt der betreffende Mitgliedstaat dieser Entscheidung innerhalb einer bestimmten Frist nicht nach, so können nach Art. 93 Abs. 2 S. 2 E W G V die Kommission oder aber jeder betroffene Mitgliedstaat unmittelbar den E u G H anrufen 88 . III. Der Rechtsschutz des Konkurrenten Von den vielfältigen Rechtschutzproblemen im Subventionsrecht sind hier nur ausschnittsweise die des Konkurrenten zu behandeln. Wegen der Subventionsvergabe sowohl auf nationaler als auch auf gemeinschaftlicher Grundlage kommen für den Rechtsschutz des Konkurrenten die Rechtsbehelfe beider Rechtsordnungen in Betracht. Zunächst ist der Blick hier wieder auf das deutsche Recht zu richten und zu überlegen, inwieweit sich der klagende Konkurrent im deutschen Verwaltungsprozeß zur Erreichung seines Rechtsschutzbegehrens auch auf das soeben erörterte gemeinschaftliche Beihilfeverbot berufen kann. 1. Rechtsschutz
des Konkurrenten
durch deutsche
Gerichte
Mit der Konkurrentenklage verfolgt der Kläger das Ziel, sich gegen die hoheitliche Beeinträchtigung seiner Wettbewerbsstellung aufgrund der Subventionierung eines Mitbewerbers zu wehren. Dieses Klageziel ist in zwei Konstellationen erreichbar. Geht es allein um die Beseitigung der Begünstigung des Subventionsempfängers, so handelt es sich u m eine „negative" Konkurrentenklage. Begehrt der Kläger hingegen seine 86
Mangels entsprechender gemeinschaftsrechtlicher Regelungen erfolgt die Rückforderung, selbst wenn sich hieraus Beschränkungen der Rückerstattung ergeben, nach nationalem Recht. Der E u G H aaO (Fn. 63), S. 2669 hat sich explizit zur deutschen Vorschrift des § 48 VwVfG geäußert und dabei vor allem die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit als Bestandteil auch der Gemeinschaftsrechtsordnung festgestellt. Vgl. hierzu neben den bereits in Fn.63 genannten Nachw. noch: Schwarze aaO (Fn. 10), S. 123 ff; Rengeling aaO (Fn. 78), S.48ff; v. Callenberg aaO (Fn.66), Rdn. 62-66 zu Art.93 EWGV; Thiesing aaO (Fn.66), Anm.53-63 zu Art.93 EWGV sowie Beate Winkler, Die Durchsetzung der Pflicht zur Rückforderung einer gemeinschaftswidrigen Beihilfe nach deutschem und europäischem Recht, DVB1. 1979, S. 263 ff. 87 Vgl. dazu nur die oben (Fn. 83) zitierte Kommissionsentscheidung. Hiergegen hatte das von der Rückforderung betroffene Unternehmen Nichtigkeitsklage gem. Art. 173 Abs. 2 E W G V erhoben, die vom E v G H aber kürzlich als unbegründet abgwiesen worden ist. (Vgl. Urteil vom 24.2.1987, RS 310/85, Deufil G m b H & Co KG ./. Kommission, noch nicht i. d. Amtl. Slg.). 88 Entgegen den Art. 169, 170 EWGV ist also ein Vorverfahren entbehrlich.
Subventionen in der EG und der Rechtsschutz des Konkurrenten
eigene S u b v e n t i o n i e r u n g ,
so liegt eine „ p o s i t i v e "
837
Konkurrentenklage
vor 8 9 . D a , wie o b e n e r ö r t e r t 9 0 , S u b v e n t i o n e n z u m e i s t auf v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e r G r u n d l a g e v e r g e b e n w e r d e n , ist die E n t s c h e i d u n g ü b e r die K o n k u r r e n t e n k l a g e r e g e l m ä ß i g als ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e Streitigkeit
gemäß
§ 4 0 A b s . 1 V w G O den V e r w a l t u n g s g e r i c h t e n zugewiesen 9 1 . D i e K l a g e art b e s t i m m t sich n a c h d e m R e c h t s s c h u t z z i e l u n d der v o n der B e h ö r d e bei der S u b v e n t i o n s v e r g a b e gewählten r e c h t l i c h e n H a n d l u n g s f o r m . Bei S u b v e n t i o n i e r u n g a u f g r u n d V e r w a l t u n g s a k t s ist dies die A n f e c h t u n g s klage für die K o n s t e l l a t i o n der negativen K o n k u r r e n t e n k l a g e
bezie-
h u n g s w e i s e die V e r p f l i c h t u n g s k l a g e für die K o n s t e l l a t i o n d e r positiven Konkurrentenklage92. E r f o l g t die G e w ä h r u n g d e r Subvention i m R a h m e n eines öffentlichr e c h t l i c h e n V e r t r a g e s , s o m u ß der K o n k u r r e n t die K l a g e e n t w e d e r auf Feststellung d e r U n w i r k s a m k e i t
(§ 5 8 A b s . 1 V w V f G ) des V e r t r a g e s
z w i s c h e n B e h ö r d e u n d S u b v e n t i o n s e m p f ä n g e r richten 9 3 o d e r aber mittels einer allgemeinen L e i s t u n g s k l a g e den A b s c h l u ß eines gleichartigen S u b v e n t i o n s v e r t r a g e s z w i s c h e n der V e r w a l t u n g u n d i h m selbst z u erreichen suchen. D a die K o n k u r r e n t e n k l a g e zu den D r i t t b e t r o f f e n e n k l a g e n 9 4
gehört,
stellt sich hier v o r allem das P r o b l e m d e r Klagebefugnis. Dieses für die 89 Vgl. für viele Fritz Rittner / Dieter Stephan, Die Konkurrentenklage im Subventionsrecht, GewArch. 1985, S. 177 ff mwN. Zu weiteren Begriffen und Typen der Konkurrentenklagen vgl. auch Joachim Scherer, Öffentlich-rechtliche Konkurrentenklagen im Wirtschafts- und Beamtenrecht, Jura 1985, S. 11 ff. Allgemein zur Konkurrentenklage mit Nachweisen der umfangreichen Literatur und Rechtsprechung vgl. Winfried Brohm, Die Konkurrentenklage, in: FS für Christian Friedrich Menger, Köln et al. 1985, S. 235 ff. 90 S.o. II, 1. " Das gilt auch für die Subventionierung im Rahmen der „Zweistufentheorie", weil hier Angriffsziel der Konkurrentenklage die öffentlich-rechtliche Bewilligung ist, nicht dagegen die privatrechtliche Abwicklung des Subventionsverhältnisses. Vgl. dazu auch Scherer, aaO (Fn. 89), S. 14. Zu der jüngsten Entscheidung des BGH, in solchen Fällen die Subventionsgewährung überhaupt als einheitlich öffentlichrechtlich anzusehen, vgl. die obigen Nachweise (Fn. 20). Eine diesbezügliche Stellungnahme der Verwaltungsrechtsprechung steht noch aus. 92 §42 Abs. 1 u. 2 VwGO. 93 §43 Abs. 1 VwGO. So OVG Münster NVwZ 1984, S. 522 ff. Vgl. dazu sowie zum bisherigen Meinungsstand: Andreas Knuth, Konkurrentenklage gegen einen öffentlichrechtlichen Subventionsvertrag, JuS 1986, S. 523 (524), der zu Recht darauf hinweist, daß dem Kläger mit einem im Wege der Leistungsklage zu erstreitenden Unterlassungsurteil nicht gedient ist, weil einerseits darin die Unwirksamkeit des Vertrages nicht rechtskräftig festgestellt wird und andererseits wohl regelmäßig der Subventionsbetrag bei Entscheidung über die Klage längst ausgezahlt ist. Ebenso plädiert für eine Feststellungsklage und generell gegen Unterlassungsklagen: Heinz-Josef Friehe, Die Konkurrentenklage gegen einen öffentlich-rechtlichen Subventionsvertrag, DÖV 1980, S.673 (674). 94 Zum Begriff vgl. Brohm, aaO (Fn. 89), S.235.
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Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in § 42 Abs. 2 V w G O enthaltene prozessuale Erfordernis, mit dem die Popularklage ausgeschlossen werden soll95, setzt voraus, daß der Kläger die Verletzung eigener Rechte geltend macht 97 . Dem entsprechen für die Feststellungsklage die Anforderungen an die Darlegung eines Feststellungsinteresses 99 , denn auch im Rahmen der vom Kläger behaupteten Unwirksamkeit des Subventionsvertrages können nur solche Gründe berücksichtigt werden, die ein eigenes Interesse des Klägers sichern 98 . Dieses Erfordernis der Betroffenheit in eigenen Rechten ist für die Drittfeststellungsklage" aus einer analogen Heranziehung des § 42 Abs. 2 V w G O abzuleiten 100 . Das BVerwG vertritt hinsichtlich der Klagebefugnis des Konkurrenten im Subventionsrecht die folgende Haltung. Erforderlich ist, daß der Kläger geltend macht, „daß durch die Gewährung einer Subvention oder sonstiger wettbewerbsrelevanter Vorteile an andere Unternehmen seine schutzwürdigen Interessen willkürlich vernachlässigt worden sind" 101 . Maßgeblich ist aber immer eine „enge Beziehung", also eine Konkurrenzsituation, zwischen dem Kläger und dem Subventionsempfänger 102 . Wenngleich weitgehende Einigkeit darüber besteht, daß sich diese schutzwürdigen Interessen des Klägers allgemein aus den Grundrechten ableiten 103 , so ist doch umstritten, welche konkreten Normen dies sein können 104 . Als verletztes Recht kommt wohl primär die Wettbewerbs-
95 Vgl. BVerwGE 19, 269; Carl Hermann Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 8. Aufl. München 1983, § 3 3 III, S. 193. 96 Zur Klagebefugnis des Drittbetroffenen vgl. Ferdinand Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. A u f l . München 1986, § 4 2 Rdn.80 mwN. 97 Zum Feststellungsinteresse siehe nur Kopp, aaO (Fn.96), § 4 3 R d n . 2 3 f f ; Ule aaO (Fn. 95), § 3 4 II, S.201 ff; Konrad Redeker/ Hans-Joachim von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl. Stuttgart et al. 1985, § 4 3 Anm. 1 9 f f . " Friehe aaO (Fn. 93), S. 677 unter Hinweis auf den Ausschluß der Popularklage. 99 Zum Begriff vgl. Knuth, aaO (Fn.93), S.525. 100 Vgl. O V G Münster aaO (Fn. 93), S. 523 m w N . Zustimmend mit dogmatischer Begründung der Analogie: Knuth, aaO (Fn.93), S . 5 2 5 - 5 2 7 . Ausdrücklich gegen eine analoge Heranziehung des § 42 Abs. 2 V w G O für die Feststellungsklage wendet sich Kopp aaO (Fn.96), § 4 2 Rdn.38. 101 BVerwGE 30, 191 (198) für den Fall der Anfechtungsklage einer Winzereigenossenschaft gegen eine Subventionsbewilligung. Ebenso unter Bezugnahme auf dieses Urteil das O V G Münster aaO (Fn. 100) für die dort zu entscheidende Feststellungsklage. 102 BVerwG aaO (Fn. 101). Das O V G Münster aaO (Fn. 100) begründet dieses Erfordernis damit, daß für das Feststellungsinteresse bereits ein wirtschaftliches Interesse ausreiche, welches bei einem Konkurrenzverhältnis zwischen Kläger und Subventionsempfänger jedenfalls anzunehmen sei. Vgl. ebenso BverwG D O V 1982, S. 411. 103 Vgl. Rittner/Stephan aaO (Fn. 89), S. 182. 1°4 Vgl. zum unmittelbaren Rückgriff auf die Grundrechte bei der Konkurrentenklage allgemein Brohm aaO (Fn. 89), S. 244-246.
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freiheit in Betracht, die durch Art. 2 Abs. 1 G G geschützt wird105. Gleichzeitig ist an eine gegen Art. 3 Abs. 1 G G verstoßende Beeinträchtigung der Wettbewerbsgleichheit zu denken106. Andere Meinungen wollen hingegen die Ungleichheit der Chancen des Konkurrenten an den Grundrechten aus Art. 12 und 14 messen107. O b diese Streitfrage von großer praktischer Bedeutung ist, mag man jedoch bezweifeln108. Denn letztlich kommt es darauf an, daß der Konkurrent geltend machen kann, durch die Subventionsvergabe in seiner Wettbewerbsstellung willkürlich und unzumutbar beeinträchtigt zu sein. Inwieweit man dies vollständig schon im Rahmen der Zulässigkeit oder erst bei der Begründetheit der Klage zu prüfen hat, ist bei der Konkurrentenklage nicht unumstritten 109 . Diese mehr prozessuale Frage soll hier nicht weiter verfolgt werden. Geht man allerdings davon aus, daß es dem Konkurrenten zwar oft gelingen mag, die Voraussetzungen für die Klagebefugnis darzulegen, die einzelnen Tatbestandsmerkmale dann aber nur in den seltensten Fällen tatsächlich vorliegen und demgemäß die Konkurrentenklage in aller Regel als unbegründet abzuweisen ist110, so ist es sachgerecht und entspricht auch dem Interesse des Klägers, wenn eine umfangreiche Prüfung seiner Wettbewerbsbeeinträchtigung bereits im Rahmen der Zulässigkeit vorgenommen wird. 2. Deutscher Konkurrentenrechtsschutz und das gemeinschaftliche Beihilfeverbot Erfolgreicher könnte die Klage des Konkurrenten allerdings dann sein, wenn ihm die Möglichkeit offenstünde, seine verwaltungsgerichtliche Klage nicht nur auf Grundrechtsverletzungen, sondern darüber hinaus auch auf die Rüge zu stützen, daß die angegriffene Subventionierung wegen des Verstoßes gegen das gemeinschaftliche Beihilfeverbot des Art. 92 EWGV rechtswidrig und er dadurch in seinen Rechten
105 So BVerwG aaO (Fn. 101), S. 198. Gegen die Ableitung einer „Wettbewerbsfreiheit" aus Art. 2 Abs. 1 G G Gert Nicolaysen, in GS für Christoph Sasse, Kehl a. Rh. 1981, S. 651 (656 ff). 1K So Peter Selmer, Anmerkung zu BVerwGE 30, 191, in: N J W 1969, S. 1266 (1267). 107 Rupert Scholz, Anmerkung zu BVerwGE 30, 191, in: N J W 1969, S. 1044 (1045). Für die Fälle der Pressesubventionierung wird auch noch auf eine Verletzung von Art. 5 G G abgestellt. Vgl. dazu V G Berlin D Ö V 1975, S. 135 ff m. Anm. Scholz sowie O V G Berlin DVB1. 1975, 905 ff = N J W 1975, S. 1938 ff. Der singulare Charakter dieser aus dem Sonderbereich des Pressewesens stammenden Konkurrentenklagen wird von Cündisch aaO (Fn. 5), S. 493 zu Recht herausgestellt. 108 So betont zutreffend Gündisch, aaO (Fn.5), S. 493, daß diese grundrechtlichen Subsumtionen von zweitrangiger Bedeutung seien. 109 Vgl. Rittner/Stephan, aaO (Fn. 89), S. 178. 110 Vgljarass, aaO (Fn. 7), S.204 Rdn.41.
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verletzt sei. Diese Problematik, die bisher in der Wissenschaft und in der Rechtsprechung kaum Beachtung gefunden hat, bedarf der Klärung. Zunächst ist dazu die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des Beihilfeverbots im nationalen Rechtsraum zu beantworten 111 . Der E u G H hat verschiedentlich schon festgestellt, daß das Beihilfeverbot des Art. 92 EWGV wegen seiner Struktur" 2 zwar nicht ohne weiteres, aber nach seiner Konkretisierung entweder durch Einzelfallentscheidung der Kommission im Beihilfeaufsichtsverfahren gemäß Art. 93 Abs. 2 EWGV oder durch allgemeine Vorschriften des Rates gemäß Art. 94 EWGV 113 unmittelbare Wirkung hat. N u r dann kann sich der einzelne Marktbürger also direkt vor den nationalen Gerichten auf dieses Verbot berufen' 14 . Das gleiche gilt, wenn eine Beihilfe unter Mißachtung der Verfahrensregeln nach Art. 93 Abs. 3 EWGV 115 eingeführt wird und schon aus diesem Grunde als verboten gilt116. Ausschließlich nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht richtet sich nun aber wiederum die Beurteilung, ob das gemeinschaftliche Beihilfeverbot der Art. 92 ff EWGV, soweit es denn grundsätzlich unmittelbar anwendbar ist, auch als rügefähige Schutznorm die Klagebefugnis nach §42 Abs. 2 V w G O eröffnet 117 . Dem Kläger steht nämlich nur dann die Rüge der Verletzung von Rechtssätzen zu, wenn diese Rechtssätze nach dem Willen des Gesetzgebers nicht allein dem Schutz der Interessen der Allgemeinheit, sondern zugleich auch der Wahrung der Individualinteressen des Klägers zu
111 Zu den grundsätzlichen Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht vgl. nur Bengt Beutler / Roland Bieber /Jörn Pipkorn /Jochen Streil, Die Europäische Gemeinschaft - Rechtsordnung und Politik - , 2. Aufl. Baden-Baden 1982, S. 204 ff. 112 Bleckmann, Subventionsprobleme des G A T T und der EG, RabelsZ. 1984, S.419, erwähnt hier die „Blankett-Vorschrift" des Art. 92 EWGV. 113 Daß der Rat bisher keine ausschließlich auf Art. 94 gestützte Verordnungen erlassen hat, ist bereits oben II 2 b erwähnt worden. Vgl. dazu auch v. Callenberg aaO (Fn. 66), Rdn. 9 zu Art. 94 EWGV. 1.4 Vgl. nur RS 77/72 (Campolongo), Slg. 1973, S.511 (522); Rs. 78/76 (Steimke & Weinlig), Slg. 1977, S.595 (610). 1.5 Vgl. dazu oben II 2 b, bb. Auf das Beihilfeverbot kann sich der einzelne berufen, falls der Mitgliedstaat die Beihilfe entweder nicht der Kommission notifiziert (Art. 93 Abs. 3 Satz 1 EWGV) oder aber die beabsichtigte Maßnahme trotz des in Art. 93 Abs. 3 Satz 3 vorgeschriebenen Durchführungsverbots einführt. Vgl. dazu die Urteile des E u G H in den RS 6/64 (Costa ./. ENEL), Slg. 1964, 1251 (1273); RS 120/73 (Lorenz), Slg. 1973, S. 1471 (1483); verb. RS 91 u. 127/84 (Heineken), Slg. 1984, S.3435 (3453); Vgl. ebenfalls Rengeling, in: Börner/ Neundörfer (Hrsg.) aaO (Fn.29), S.51. 117 v. Callenberg aaO (Fn.66), Rdn. 27 u. 60 zu Art. 93 EWGV, nimmt hier wohl eine Klagebefugnis - allerdings ohne nähere Begründung hinsichtlich der Problematik des § 42 Abs. 2 V w G O - als selbstverständlich an.
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dienen bestimmt sind" 8 . Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, daß sich der Konkurrent auf die Verletzung solcher Normen berufen muß, die den Schutz seiner verfassungsrechtlich abgesicherten Wettbewerbsfreiheit und -fähigkeit bezwecken. Das Verfassungsrecht sichert dabei den Wettbewerbsschutz des Konkurrenten primär im Hinblick auf den Inlandsmarkt und vor allem aber auch nur vor Eingriffen durch hoheitliche Maßnahmen deutscher Verwaltung, so daß sich der Konkurrent allein gegen solche Subventionen wehren kann, die von deutschen Behörden vergeben werden. Die Frage der Benachteiligung des Konkurrenten in seiner Wettbewerbsposition kann aber heute nicht mehr nur unter dem engen Blickwinkel des nationalen Marktes gesehen werden. Es ist die Stellung des betroffenen Unternehmens im gesamten Wettbewerbssystem des Gemeinsamen Marktes zu berücksichtigen. Dies gilt um so mehr, je weiter sich hier „binnenmarktähnliche Verhältnisse" 1 " entwickeln. Das Beihilfenaufsichtsregime der Art. 92-94 E W G V gehört wie das EWG-Kartellrecht, mit dem es systematisch in demselben Kapitel des Vertrages über die Wettbewerbsregeln verbunden ist, zu dem nach Art. 3 f E W G V zu schaffenden gemeinsamen Wettbewerbssystem 120 . Wettbewerb im Gemeinsamen Markt ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Realisierung der allgemeinen Vertragsziele, zu denen gemäß Art. 2 E W G V eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft wie vor allem aber auch die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes rechnen. Daher sind im Gemeinsamen Markt Wettbewerbsverfälschungen durch die staatliche Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige zu verhindern, soweit sie dazu führen, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen 121 . Verzerrungen des Wettbewerbs sind sowohl in Hinsicht auf die Beziehungen der nationalen Unternehmen untereinander als auch hinsichtlich des Verhältnisses der heimischen Unternehmen zu ihren Konkurrenten in anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft möglich 122 . Schutzzweck der gemeinschaftlichen Wettbewerbsbestimmungen ist im einzelnen die Sicherung der individuellen wirtschaftlichen Freiheit, 118 Zur Schutznormtheorie vgl. nur Kopp aaO (Fn.96), §48 V w G O Anm.48 m w N ; BVerwGE 2, 203; 16, 187; 30, 191; 39, 237; 41, 63; 52, 128; BVerfGE 27, 207. Zum Begriff vgl. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, aaO (Fn. 111), S. 310. 120 Vgl. E u G H RS 6/72 (Continental Can), Slg. 1973, S. 215 (246), der hierin nicht nur einen Programmsatz, sondern ein grundlegendes Vertragsziel mit zwingender Geltung gesehen hat. 121 Art. 92 Abs. 1 EWGV. Vgl. dazu auch E u G H RS 173/73 (Familienzulagen), Slg. 1974, S. 709 (718). 122 v. Wallenberg aaO (Fn.66), Rdn.21 zu Art. 92 EWGV mwN.
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zu der die Wettbewerbsfreiheit zu zählen ist, und nicht bloß die Sicherung des Wettbewerbssystems des Gemeinsamen Marktes in seiner institutionellen Gesamtheit 123 . Vielmehr ist die Gewährleistung individueller Handlungs- und Entscheidungsfreiheit überhaupt erst Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der gemeinschaftlichen Wettbewerbsordnung 124 . Insoweit ist hier zwischen den Wettbewerbsregeln in Form des Kartellrechts und derjenigen in Gestalt des Beihilfeaufsichtsrechts kein Unterschied in der Zielsetzung zu erkennen 125 , mag sich auch das Kartellrecht an die Unternehmen und das Beihilfeaufsichtsrecht an die Mitgliedstaaten wenden. Ein Konkurrent, der sich im nationalen Verwaltungsprozeß auf das gemeinschaftliche Beihilfeverbot der Art. 92 ff E W G V beruft, erhebt sich also nicht bloß zum Sachverwalter der Interessen der Allgemeinheit an der Wahrung des (Gemeinschafts-) Rechts 126 , sondern er macht damit zugleich eine Verletzung seiner eigenen (Wettbewerbs-) Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 V w G O geltend 127 . Zum gleichen Ergebnis gelangt man für den Fall der Subventionierung durch öffentlich-rechtlichen Vertrag, da hier, wie oben gezeigt 128 , hinsichtlich der Klagebefugnis des Konkurrenten ebenfalls die Maßstäbe des § 42 Abs. 2 V w G O anzulegen sind129. Es bleibt festzustellen, daß das Beihilfeverbot des Art. 92 Abs. 1 E W G V , soweit es gemäß Art. 93 E W G V eine Konkretisierung erfahren hat, nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht dem Konkurrenten eine Klagebefugnis gewährt. Der Kläger kann sich damit das eindeutige Gemeinschaftsverbot staatlicher Subventionierung direkt nutzbar
123 Vgl. zu den Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft die allgemeinen Bemerkungen von Helmut Schröter, in v. d. Boeckh/v. Groeben/Thiesing (Hrsg.), aaO (Fn. 66), Vorbem. zu Art. 85 bis 94 EWGV Anm. 5. 124 Norbert Koch, in Grabitz (Hrsg.) aaO (Fn. 66), Vorbemerkung vor Art. 85 Rdn. 5 mwN. Vgl. auch Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, §31/2, S.607. 125 Zu einer einheitlichen Betrachtung von Gegenstand, Zweck und Zielen der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln vgl. Schröter aaO (Fn. 124), Vorbem. zu Art. 85 bis 94 EWGV Anm. 1 ff. Ebenso wohl v. Callenberg, aaO (Fn. 66), Vorbem. vor Art. 92 Anm. 1. 126 Zu diesem Aspekt vgl. BVerwGE 19, 269 (271), sowie Oskar Tschira / Walter Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. Stuttgart et al. 1983, S. 83. 127 Ebenso wohl auch Hans-Josef Rüber, Die Konkurrentenklage deutscher Unternehmer gegen wettbewerbsverzerrende Subventionen im Gemeinsamen Markt, N J W 1971, S. 2097 (2099 f) mit Nachw. auch aus dem EG-Kartellrecht. Im Gegensatz zu Rüber ist zu betonen, daß das abstrakte Beihilfeverbot des Art. 92 Abs. 1 EWGV zunächst der Konkretisierung durch gemeinschaftlichen Organakt bedarf. Vgl. oben II. 2. b). 128 Vgl. oben III 1. 129 Das OVG Münster aaO (Fn.93), S. 524, hat die Vereinbarkeit der dort in Rede stehenden vertraglichen Subventionierung mit Art. 92 EWGV ausdrücklich offengelassen.
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machen. Er braucht nicht mehr den schwierigen Nachweis zu erbringen, daß seine schutzwürdigen Interessen gegenüber denen anderer Unternehmen willkürlich vernachlässigt worden sind130. Es erschiene überdies widersprüchlich, wenn einerseits die unmittelbare Anwendbarkeit des Beihilfeverbots im innerstaatlichen Bereich und damit die generelle Möglichkeit des einzelnen Marktbürgers, sich darauf vor den nationalen Gerichten zu berufen, anerkannt wird, andererseits aber die faktische Geltendmachung dieser Rechte durch eine restriktive Auslegung der verwaltungsprozessualen Vorschriften über die Klagebefugnis unterbunden würde 131 . Im Zweifel würde dies auch einen Verstoß gegen die in Art. 5 E W G V enthaltene Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue bedeuten 132 .
3. Rechtsschutz des Konkurrenten
durch den EuGH
Was nun den durch den E u G H gewährleisteten Rechtsschutz des Konkurrenten anbetrifft, so ist die Judikatur nicht sehr umfangreich. Hier ist allerdings zunächst wieder zwischen Beihilferecht und Beihilfeaufsichtsrecht zu differenzieren 133 .
a) Klagen gegen gemeinschaftseigene
Subventionsvergabe
Soweit die unmittelbare gemeinschaftseigene Subventionsvergabe in Rede steht 134 , sind nur zwei Urteile ersichtlich, in denen der Gerichtshof die Zulässigkeit der Klage jeweils verneint hat. Das erste Urteil betraf die (negative) Konkurrentenklage einer italienischen Zuckerfabrik auf Abwehr einer von der Kommission aus dem EAGFL 1 3 5 an drei andere italienische Zuckerfabriken gewährten Beihilfe136. Der E u G H hatte die Zulässigkeit der erhobenen Nichtigkeitsklage an den Voraussetzungen des Art. 173 Abs. 2 E W G V zu messen. Danach Vgl. dazu oben III. 1. u. Fn. 101. Vgl. hierzu EuGH in einer Vorabentscheidung auf Vorlage des VG Frankfurt (RS 120/73, Lorenz ./. BR Deutschland), Slg. 1973 S. 1471 (1483): „Wenn auch . . . die unmittelbare Geltung des besagten Verbots die nationalen Gerichte nötigt, das Verbot anzuwenden, ohne daß ihm wie auch immer geartete Vorschriften des nationalen Rechts entgegengehalten werden können, so bestimmen sich doch die rechtstechnischen Voraussetzungen für die Erreichung dieses Ziels nach dem internen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates". Vgl. dazu die Anm. v. Hans-Peter Ipsen, EuR 1974, S. 153 ff. 132 Zur Gemeinschaftstreue vgl. nur die Nachw. bei Grabitz, in: Grabitz (Hrsg.) aaO (Fn. 66), Rdn. 15-17 zu Art. 5 EWGV. 133 Vgl. oben II 2. 134 Vgl. oben II 2 a). 135 Zum E A G F L siehe oben II 2 a) sowie die Nachw. oben in Fn. 33. 136 Urteil v. 10.12.1969, verb. RS 10 u. 18/68 (Eridania ./. Kommission), Slg. 1969, S. 459 ff. 130 131
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kann jede natürliche oder juristische Person gegen an sie ergangene Entscheidungen oder gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen 137 . Ahnlich wie § 42 Abs. 2 V w G O für den deutschen Verwaltungsprozeß erfüllt also auch Art. 173 Abs. 2 E W G V eine wichtige Funktion zur Begrenzung der Klagebefugnis, allerdings mit dem Unterschied, daß die europarechtliche Bestimmung eine ausdrückliche Regelung für den Fall der Drittbetroffenheit durch den anzufechtenden Rechtsakt enthält. Der E u G H hielt vorliegend die Klage gegen die Beihilfeentscheidungen jedoch deshalb für unzulässig, weil die Tatsache allein, daß eine Maßnahme geeignet sei, die auf dem fraglichen Markt bestehenden Wettbewerbsverhältnisse zu beeinflussen, es noch nicht rechtfertige, jeden Marktbeteiligten, der in irgendeiner Wettbewerbsbeziehung zum Adressaten der Maßnahme stehe, als durch diese unmittelbar und individuell betroffen anzusehen. Das könne allenfalls bei Vorliegen besonderer Umstände anzunehmen sein138. Diese Rechtsprechung ist zu Recht von vielen als zu restriktiv kritisiert worden 139 . Man mag zudem bezweifeln, ob der Gerichtshof diese Entscheidung auch heute noch in Anbetracht der Entwicklung seiner Judikatur zur Gewährleistung von Grundrechten und grundrechtsähnlichen Verbürgungen aufrechterhalten könnte 140 . Ebenso ohne Erfolg blieb der bislang einzige Fall einer positiven Konkurrentenklage auf Erhalt einer Gemeinschaftsbeihilfe 141 . Nach Ansicht der Klägerin, der deutschen Betreiberin einer Ölmühle, stellte nämlich die Gewährung von Beihilfen an italienische Ölmühlen im Rahmen einer gemeinschaftlichen Agrarmarktordnung für Fette eine Diskriminierung im Sinne des Art. 7 E W G V dar. Sie begehrte demgemäß den Erlaß einer Ratsverordnung, um so selbst eine gleichwertige Zusatzbeihilfe zu erhalten. 117 Zur Sonderproblematik der Nichtigkeitsklage einzelner gegen Verordnungen vgl. Jürgen Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, FS für Hans-Jürgen Schlochauer, Berlin et al. 1981, S. 927 ff. 138 EuGH aaO (Fn. 137), S.482, Rdn. 7/8 der Entscheidungsgründe. 139 Vgl. dazu die Anm. v. Gert Nicolayen, EuR 1970, S. 165 f; Rüber, aaO (Fn. 127), S. 2097ff; Manfred Zuleeg, Subventionskontrolle durch Konkurrentenklage, Frankfurt/ M. 1974, S. 41 ff; Hans Werner Rengeling, Der Rechtsschutz bei der Subventionierung von Konkurrenten im EWG-Recht, GS für Friedrich Klein, München 1977, S.416 (422). 140 Rengeling aaO (Fn. 139), S. 424, verweist darauf, daß auch für den gemeinschaftsrechtlichen Konkurrentenschutz Diskriminierungsverbot, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie sowie Wirtschaftsfreiheit als Prüfmaßstäbe heranzuziehen seien. Zu grundrechtlichen Gewährleistungen im Gemeinschaftsrecht im allgemeinen vgl. nur die Nachw. oben in Fn. 52. 141 Urteil v. 15.1.1974, RS 134/73 (Holz & Willemsen ./. Rat), Slg. 1974, S. 1 ff.
Subventionen in der E G und der Rechtsschutz des Konkurrenten
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Für die Zulässigkeit der erhobenen Untätigkeitsklage war Art. 175 Abs. 3 E W G V maßgeblich. Danach kann jede natürliche oder juristische Person Beschwerde darüber führen, daß ein Gemeinschaftsorgan es unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahmen an sie zu richten. Der E u G H wies die Klage aber als unzulässig ab, weil das klägerische Begehren auf eine Verordnung gerichtet sei, also eine Maßnahme, welche weder in ihrer Form noch nach ihrer Rechtsnatur an die Klägerin zu richten sei142. Damit erschöpft sich die bisherige Rechtsprechung des E u G H zu Konkurrentenklagen, die gemeinschaftseigene Beihilfen betreffen. b) Klagen in bezug auf mitgliedstaatliche
Subventionen
Eine Wende scheint sich aber jetzt anzubahnen, soweit es um Direktklagen geht, die sich auf staatliche Subventionen beziehen, und in denen sich der Konkurrent auf die Verletzung des gemeinschaftlichen Beihilfeaufsichtsrechts stützt. Klagen gegen mitgliedstaatliche Subventionen unterliegen ja vorrangig der nationalen Gerichtsbarkeit, wobei bei der gerichtlichen Kontrolle als Prüfungsmaßstab, wie vorstehend gezeigt, nicht nur das nationale Recht, sondern auch das Gemeinschaftsrecht in Gestalt der unmittelbar anwendbaren Beihilfeaufsichtsregeln heranzuziehen ist. Der E u G H hat hier in einem kürzlich ergangenen Zwischenurteil 143 zumindest die Klagebefugnis des Konkurrenten bejaht 144 . Der zu entscheidende Fall betraf die Klage mehrer französischer Unternehmen gegen eine an die niederländische Regierung gerichtete Kommissionsentscheidung, durch die ein Beihilfeaufsichtsverfahren wegen Gasvorzugstarifen für niederländische Ammoniakproduzenten, mit denen die Kläger im Wettbewerb standen, eingestellt worden war. Die Kläger waren am Verfahren der Beihilfekontrolle als Beschwerdeführer beteiligt und von der Einstellung des Verfahrens durch die Kommission in Kenntnis gesetzt worden. Sie richteten ihre Nichtigkeitsklage nun gegen diese Einstellungsentscheidung und vertraten die Ansicht, sie würden hierdurch in ihren berechtigten Interessen verletzt.
142 E u G H aaO (Fn. 141), S. 10, Rdn. 5. Vgl. dazu die Anm.v. Gert Nicolaysen, EuR 1974, S. 159 ff. Siehe auch Rengeling aaO (Fn. 139), S. 419 ff. Zur Erläuterung sei darauf hingewiesen, daß nach Art. 189 EWGV eine Verordnung grundsätzlich einen generellen Normativakt darstellt. 143 Der E u G H kann gem. Art. 92 § 1 seiner Verfahrensordnung über die Zulässigkeit einer Direktklage vorab mit Zwischenurteil entscheiden. 1,4 Urteil vom 2 8 . 1 . 1 9 8 6 , RS 169/84 (Cofaz u.a. ./. Kommission), noch nicht in der Amtl. Slg.
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Die Kommission bestritt die für die Klagebefugnis nach Art. 173 Abs. 2 E W G V erforderliche individuelle und unmittelbare Betroffenheit der Kläger. Daß diese möglicherweise diskriminiert worden seien, reiche zu ihrer Individualisierung noch nicht aus. Zudem seien sie auch nicht unmittelbar betroffen, denn die Tatsache, daß die Kläger im Wettbewerb zu den Unternehmen stünden, die angeblich staatliche Beihilfen erhielten, sei kein besonderer Umstand, der sie zu der Behauptung berechtige, die Entscheidung wirke sich auf ihre Marktstellung aus. Den Klägern sei im übrigen nicht der Rechtsschutz vorenthalten, weil wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 93 Abs. 3 E W G V vorrangig die nationalen Gerichte anzurufen seien. D e r Gerichtshof hat sich im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung mit der Frage einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsposition und einer etwaigen Diskriminierung der Kläger so gut wie gar nicht befaßt, sondern deren Klagebefugnis schon mit einem rein formalen Argument bejaht, indem er allein auf die Beteiligung der Kläger im Beihilfeaufsichtsverfahren abgestellt hat. Dazu hat er unter Verweisung auf seine ständige Rechtsprechung auch für andere Gebiete gemeinschaftlicher Wirtschaftsverwaltung 145 ausgeführt, „daß beschwerdeführende Unternehmen, für die eine Verordnung verfahrensmäßige Garantien vorsieht, aufgrund deren sie bei der Kommission die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Gemeinschaftsrecht beantragen können, über eine Klagemöglichkeit zum Schutz ihrer berechtigten Interessen verfügen müssen"146.
Diese Erwägungen träfen auch für Unternehmen zu, die im Rahmen des Verfahrens nach Art. 93 E W G V eine vergleichbare Rolle gespielt haben, sofern ihre Marktstellung durch die Beihilfe, welche Gegenstand der angefochtenen Entscheidung sei, spürbar beeinträchtigt werde 147 . Zum einen ist bemerkenswert, daß der E u G H hier auf Verfahrensrechte abstellt, für die bislang eine ausdrückliche sekundärrechtliche Normierung fehlt 148 . Zum anderen ist zu fragen, welche Auswirkungen dieses Urteil im Hinblick auf die beiden oben behandelten Fallkonstellationen der Konkurrentenklage gegen gemeinschaftseigene Subventionsmaßnahmen hat, in denen der E u G H die Zulässigkeit der Klage verneint hat. 145 Vgl. nur für das Kartellrecht RS 26/76 (Metro ./. Kommission), Slg. 1977 S. 1875 ff; RS 210/81 (Demo Studio Schmidt./. Kommission), Slg. 1983 S. 3045 ff. Für das Antidumpingrecht vgl. RS 191/82 (Fediol ./. Kommission), Slg. 1983 S.2913; RS 264/82 (Timex ./. Rat u. Kommission), Urteil v. 2 0 . 3 . 1 9 8 5 , noch nicht in der Amtl. Slg. Vgl. zu diesen Entscheidungen auch jüngst: Ernst Steindorff, Ansprüche gegen die EG-Kommission auf Einschreiten gegen Kartellrechtsverstöße, Z H R 1986, S.222 (235 ff). 146 AaO (Fn. 144), Rdn.23 der Entscheidungsgründe. 147 AaO (Fn. 144), Rdn. 25 der Entscheidungsgründe. 148 Siehe dazu oben II 2 b).
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In der Tat erscheint es unbefriedigend, daß nun die Rechtsschutzposition desjenigen Konkurrenten, der sich gegen eine mitgliedstaatliche Subventionierung wendet, stärker ausgeprägt sein soll als die desjenigen, der gegen gemeinschaftseigene Beihilfen vorzugehen gewillt ist149. Im letzteren Falle ist es dem Kläger schon gar nicht möglich, durch eine Beteiligung am Verwaltungsverfahren die vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien zur individuellen und unmittelbaren Betroffenheit zu erfüllen, da ein Beihilfenaufsichtsverfahren für gemeinschaftseigene Beihilfen nicht in Betracht kommt 150 . Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof für Klagen gegen gemeinschaftseigene Beihilfen seine bisherige restriktive Haltung in bezug auf die Klagebefugnis des Konkurrenten weiterhin aufrechterhalten kann. Unmittelbare Konsequenzen wird dieses Urteil insofern haben, als nun immer mehr Unternehmen, die eine Benachteiligung durch staatliche Beihilfen, sei es im eigenen oder in anderen Mitgliedstaaten, befürchten, versuchen werden, durch Beschwerden und Stellungnahmen bei der Kommission am Beihilfeaufsichtsverfahren beteiligt zu werden, um diese Position dann als „Sprungbrett" für eine etwaige Direktklage beim E u G H nutzen zu können 151 . Zum einen wird es dadurch sicherlich zu einer höheren Belastung der Kommissionsdienststellen bei der Durchführung des Verwaltungsverfahrens kommen. Zum anderen wird auf diese Weise wegen der zu erwartenden Zunahme von Klagen auch die Entscheidungslast des Gerichtshofs größer werden 152 . Diese Erwägungen sprechen dafür, die Position der durch mitgliedstaatliche Beihilfen betroffenen Unternehmen im Beihilfeaufsichtsverfahren in gleicher Weise klar abzugrenzen, wie dies für die Stellung des durch Subventionen in Drittstaaten betroffenen gemeinschaftlichen Wirtschaftszweiges
14 ' Vgl. dazu Gert Nicolaysen, Ein neuer Weg der Konkurrentenklage - Anmerkung zum EuGH-Urteil RS 169/84 vom 28.1.1986 EuR 1986, S.261 (262), der zu Recht darauf hinweist, daß eine Differenzierung zwischen beiden Konstellationen der Konkurrentenklage rechtspolitisch nunmehr kaum noch zu rechtfertigen ist. 150 Wenngleich die Beihilfen der Gemeinschaft den Art. 92-94 EWGV nicht ausdrücklich unterliegen, so sollen sie dennoch die dort genannten Anforderungen erfüllen. Vgl. dazu Thiesing aaO (Fn. 66), Vorbem. zu Art. 92-94 Anm. 13. 151 Vgl. zu diesen Erwägungen auch Nicolaysen aaO (Fn. 149), S.261. 152 Eine weitere Klage dieser Art ist bereits beim Gerichtshof anhängig: RS 166/86 (Irish Cement Ltd. ./. Kommission), Abi. EG N r . C 204/6 v. 13.8.86. Die Klägerin aus der Republik Irland beantragt festzustellen, daß die Kommission es unterlassen habe, sie über die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 93 Abs. 2 EWGV wegen einer an eine nordirische Mitbewerberin der Klägerin gewährte staatliche Beihilfe zu unterrichten und eine Frist zur Äußerung zu setzen. Auch hier stellen sich wieder Probleme hinsichtlich der Zulässigkeit der erhobenen Untätigkeitsklage nach Art. 175 Abs. 3 EWGV.
848
Jürgen Schwarze
im Rahmen des Antidumping-/Antisubventionsverfahrens ist153.
geschehen
IV. Résumé Die vorstehenden Ausführungen, die wegen der komplexen Materie naturgemäß nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, sollten dazu beitragen, die enge Verknüpfung zwischen nationaler und gemeinschaftlicher Wirtschaftsverwaltung sowie insbesondere das Zusammenwirken der staatlichen und der europäischen Rechtsordnung beim Rechtsschutz des Konkurrenten im Subventionsrecht darzutun. Ein wichtiges Bindeglied stellt dabei das EG-Beihilfeaufsichtsrecht dar. Dieses erweist sich auch für den Konkurrenten als wirksames Instrument bei der Abwehr hoheitlicher Beeinträchtigungen seiner Wettbewerbsinteressen. Der E u G H hat diesen Weg vorgezeichnet, indem er in seiner jüngsten Entscheidung dem Konkurrenten die Möglichkeit eröffnet hat, die Verletzung der gemeinschaftlichen Beihilferegeln klageweise geltend zu machen. Wenn der Gerichtshof für die Frage der Klagebefugnis auf die besondere Rolle des Klägers im Beihilfeaufsichtsverfahren abstellt, so will er damit offenkundig auch den Konkurrenten bewußt in den Prozeß der Subventionskontrolle einschalten, die von der primär verantwortlichen Gemeinschaftsverwaltung allein nicht hinreichend wirksam wahrgenommen wird. Die Konkurrentenklage, die in erster Linie dem individuellen Rechtsschutzinteresse des Klägers dienen soll, unterliegt damit immer stärker einem Funktionswandel. Der Kläger verteidigt nämlich nicht mehr nur sein subjektives Recht, sondern er verhilft mit seiner Klage auch zu einer im öffentlichen Interesse liegenden Rechtmäßigkeitskontrolle mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Subventionsverwaltung 154 . Der K o n kurrent wird damit (auch) zum Wächter über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 155 . Die gemeinschaftsrechtliche Konkurrentenklage soll also einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die immer größer werdende Subventionslawine in den Mitgliedstaaten zu stoppen 156 .
153 Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 2176/84 bzw. der Entscheidung N r . 2 1 7 7 / 8 4 / E G K S (s.o. Fn. 75). 154 Vgl. dazu Adolf Homburger / Hein Kötz, Klagen Privater im öffentlichen Interesse, Arbeiten zur Rechtsvergleichung Bd.68, Frankfurt/M. 1975, S.69ff. 155 Im französischen Verwaltungsprozeßrecht ist seit jeher die Rolle des Klägers als „surveillant de l'administration" anerkannt, und der E u G H ist diesem Vorbild gefolgt. Vgl. dazu Jürgen Schwarze aaO (Fn. 69), S. 133 mwN. 156 Zu dieser Funktion der Konkurrentenklage vgl. Manfred Zuleeg aaO (Fn. 139), S. 14 ff.
Subventionen in der E G und der Rechtsschutz des Konkurrenten
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Diese Aufgabe darf sich allerdings nicht nur auf die prozessuale Ebene des Gemeinschaftsrechts beschränken. N u r wenn man dem Konkurrenten, wie hier vorgeschlagen, auch im nationalen Verwaltungsrechtsstreit die Möglichkeit einräumt, sich auf das gemeinschaftliche Beihilfeverbot zu berufen, kann die Konkurrentenklage tatsächlich einen maßgeblichen Beitrag zur künftig besseren Beherrschbarkeit des Subventionswesens leisten157.
157 Bei der hier vertretenen erweiterten Klagebefugnis des Konkurrenten gem. §42 Abs. 2 V w G O ist die von Zuleeg aaO (Fn. 139), S.96, de lege ferenda vorgeschlagene Befugnis der Rechnungshöfe als Anwälte des öffentlichen Interesse wohl entbehrlich.
Hugo Grotius als ,Vater des Völkerrechts' K A R L - H E I N Z ZIEGLER
1. Zu den Rechtsdenkern von universaler Bedeutung, die auch in der Geschichte des Völkerrechts einen Ehrenplatz einnehmen, gehört bekanntlich Hugo Grotius (1583-1645). Sein 400. Geburtstag wurde vor drei Jahren nicht nur in seiner niederländischen Heimat zum Anlaß feierlichen Gedenkens genommen, sondern auch in anderen Ländern gedachte man des großen Juristen, Historikers, Theologen und Dichters1. Daß ein amtierender deutscher Bundesminister in einer großen Tageszeitung durch einen gehaltvollen Artikel an Werk und Persönlichkeit des Niederländers erinnerte2, darf als erfreuliches Zeichen erneuter politischer Kultur in unserem Lande gewertet werden (auch wenn Deutschlands Schulen und Hochschulen davon bisweilen noch unberührt scheinen). Die Geschichte des Völkerrechts hat schon früh das Interesse von Wolfgang Martens gefunden3. Unvergeßlich ist mir auch ein Gespräch, in dem er im Sommer 1985 treffsichere Bemerkungen zum gegenwärtigen Forschungsstand dieser rechtshistorischen Disziplin4 machte. Die
1 Die im Rahmen des internationalen Kolloquiums, das vom Grotius Committee der Kgl. Niederländischen Akademie der Künste und Wissenschaften vom 6. bis 9. April 1983 in Rotterdam abgehalten wurde, erstatteten Referate (proceedings) enthält der Sammelband "The World of Hugo Grotius (1583-1645)", Amsterdam - Maarssen 1984. - Als an anderer Stelle gehaltene Vorträge deutscher Rechtslehrer sind insbes. zu nennen: Chr. Link, Hugo Grotius als Staatsdenker, Tübingen 1983 ( = .Recht und Staat' 512); W. G. Grewe, Grotius - Vater des Völkerrechts?, in: Der Staat 23 (1984) 161 ff; H. Schiedermair, Hugo Grotius und die Naturrechtsschule, in: Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens z. 70. Geb., Köln 1985, 477ff. - «Grotius et l'ordre juridique international» (ed. A. Dufour - P. Haggenmacher — J. Tomari), Lausanne 1985. 2 H. A. Engelhard, Uber das Recht zum Frieden zwischen den Staaten. Gedenken an Hugo Grotius, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 82 v. 9.4.1983, S. 11. 3 Vgl. den nach wie vor aktuellen Aufsatz von W. Martens, Völkerrechtsvorstellungen der französischen Revolution in den Jahren von 1789 bis 1793, in: Der Staat 3 (1964) 295 ff. 4 Zu den methodischen Problemen der Völkerrechtsgeschichtsschreibung vgl. nach wie vor W. Preiser, Die Völkerrechtsgeschichte, ihre Aufgaben und ihre Methode, Wiesbaden 1964 ( = Sitz.Ber. Wiss.Ges. J.W.Goethe-Univ. Frankfurt a.M. Bd. 2 Nr. 2), und jetzt W. Preiser, History of the Law of Nations: Basic Questions and Principles, in: Encyclopedia of Public International Law (ed. R. Bernhardt), Instalment 7, Amsterdam - New York - Oxford 1984, 126 ff. Vgl. jetzt noch K.-H. Ziegler, Zur Einführung: Völkerrechtsgeschichte, in: JuS 1987, 350ff.
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Karl-Heinz Ziegler
vorliegenden Zeilen zum Gedächtnis an Wolfgang Martens setzen gewissermaßen das Gespräch mit dem unserer Fakultät so jäh entrissenen Kollegen fort. Die Uberschrift meines kurzen Beitrages knüpft an ein Schlagwort an, das W. G. Grewe („Grotius - Vater des Völkerrechts?") 5 erneut zur Diskussion gestellt hat. Wenn ein eminenter Sachkenner wie Grewe im Jahre 1983 von einem „Klischee" spricht, „das seit über eineinhalb Jahrhunderten die völkerrechtliche Literatur beherrscht hat" 6 , und für Grotius zum Ergebnis kommt: „Der ,Vater des Völkerrechts', wenn es denn einen solchen überhaupt geben könnte, war er nicht" 7 , so ist das für den Dissentierenden schon Rechtfertigung genug, die alte (und wohl stets aktuelle) Frage erneut aufzugreifen. Es kommt hinzu, daß neuerdings auch von anderer kompetenter Seite die Rolle des Grotius als eines „père du droit des gens" bestritten wird: durch die 1983 publizierte umfangreiche Monographie des Schweizer Völkerrechtlers P. Haggenmacher über Grotius und die Lehre vom gerechten Krieg 8 . Die Kritik von P. Haggenmacher ist radikal im buchstäblichen Sinne; sie betrifft aber nicht nur Grotius, sondern auch alle seine ,Vorläufer', also auch die anderen ,Klassiker' des Völkerrechts der frühen Neuzeit. Der Umstand, daß bei Grotius im Zentrum auch seines Hauptwerkes ( D e iure belli ac paris libri très, 1625) noch das Kriegsproblem steht, dessen Behandlung wesentlich in der mittelalterlichen Tradition wurzelt, wie sie namentlich von den spanischen Spätscholastikern Francisco de Vitoria (1483-1546) und Francisco Suârez (1548-1617) vermittelt wird, veranlaßt P. Haggenmacher, auch Grotius nur der „préhistoire du droit international" zuzurechnen 9 . In dem zeitlich späten Ansatz für die Entstehung des Völkerrechts im modernen Sinne, das P. Haggenmacher auf Thomas Hobbes (1588-1679) und Richard Zouche (1590-1661) zurückführt 10 , unterscheidet er sich von W. G. Grewe, der hier die großen Autoren der spanischen Spätscholastik an den Anfang stellt: „Die systematische Völkerrechtswissenschaft beginnt nicht bei Grotius, sondern bei Vitoria und Suârez, bei Ayala und Gentiii" 1 '. Demgegenüber hat W. Preiser bis heute die originale Leistung des Grotius auch gegenüber seinen bedeutenden Vorgängern hoch genug 5
Zit. F n . l .
Ebd. 161. Ebd. 176. Ebenso W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, 2 3 1 : „Was das Völkerrecht anlangt, so muß freilich die Legende vom ,Vater des Völkerrechts' ein für alle Male als solche gekennzeichnet werden". 8 Grotius et la doctrine de la guerre juste, Paris 1983 (Publ. de l'Inst. univ. de Hautes Etudes internationales, Genève). ' Ebd. 622. 6 I
,0 II
Ebd. Epochen (zit. Fn. 7) 231.
Hugo Grotius als ,Vater des Völkerrechts'
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eingeschätzt, um zum Ergebnis zu kommen, es sei „gerechtfertigt", in Grotius „den eigentlichen Begründer einer unabhängigen Wissenschaft vom Völkerrecht und insofern den ,Vater des Völkerrechts' zu erblicken" 12 . 2. Die unterschiedlichen Äußerungen zur Bedeutung des Grotius für die Geschichte des Völkerrechts sind insofern verwunderlich, als über die historischen Details weitgehend Einigkeit besteht. Das gilt insbesondere für die starke Einbindung des Grotius in die scholastische Tradition und die häufige Übernahme von Ergebnissen seiner ,Vorläufer'. Andererseits ist die Gesamtwürdigung einer welthistorischen Persönlichkeit wie der des Hugo Grotius immer auch eine notwendig subjektiv gefärbte persönliche Stellungnahme des jeweiligen Geschichtsbetrachters. Wer die erstmalige wissenschaftliche Behandlung wichtiger Probleme der völkerrechtlichen Praxis durch die spanischen Spätscholastiker oder - wie im Gesandtschaftswesen - durch Autoren wie Alberico Gentiii (1552-1608) in den Vordergrund stellt, wird leicht zu einer Einschätzung wie W. G. Grewe" gelangen. Wer dagegen bei allen bedeutenden Einzelleistungen der Vorgänger die Synthese im Werk des Grotius und dessen einzigartige Nachwirkung in den Mittelpunkt rückt, der wird mit W. Preiser14 auch heute noch dazu neigen, von Hugo Grotius als dem ,Vater' des wissenschaftlich fundierten Völkerrechts der Neuzeit zu sprechen 15 . Im folgenden sollen nochmals die auch nach meiner Meinung entscheidenden Gründe angeführt werden, die bei W. G. Grewe16 und P. Haggenmacher" nicht oder nicht im notwendigen Umfange berücksichtigt sind. 3. Am raschesten scheint mir die These von P. Haggenmacher, daß auch Grotius' De iure belli ac pacis libri très nur zur „préhistoire du droit international" gehören18 und sich noch in das traditionelle Schema der
12 Völkerrechtsgeschichte I, in: Wörterbuch des Völkerrechts Bd. 3 (2. Aufl. Berlin 1962) 700, auch in: W.Preiser, Macht und Norm in der Völkerrechtsgeschichte, BadenBaden 1978, 67. Vgl. neuestens (1984) W. Preiser, History of the Law of Nations: Ancient Times to 1648, in: Encyclopedia (zit. F n . 4 ) 155: "provides ample justification for regarding him" (seil. Grotius) "as the real founder of an independent science of international law and therefore as the ,father of international law"'. " Zit. oben zu Fn. 11. 14 Zit. oben zu Fn. 12. 15 So auch meine im Anschluß an A. Nussbaum und W. Preiser im Jahre 1970 vorgetragene Stellungnahme ( K . - H . Ziegler, Die römischen Grundlagen des europäischen Völkerrechts, in: Jus Commune 4, 1972, 1 ff [23 ff, 25]). " Grotius (zit. Fn. 1) und Epochen (zit. Fn. 7). 17 Grotius (zit. Fn. 8). 18 Vgl. oben zu Fn. 9.
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Karl-Heinz Ziegler
kriegsrechtlichen Werke (Traktate De iure belli) einfügen19, zu widerlegen zu sein. Dagegen spricht allein schon der Titel des Werkes: De iure
belli acpacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur. Der Haupttitel gibt bekanntlich eine Wendung des Cicero wieder, wie Grotius selbst in den Prolegomena (2) erläutert: Vere enim Cicero praestabilem hanc dixit scientiam, in federibus, pactionibus, conditionibus populorum, regum exterarumque nationum, in omni denique belli iure et pacis20. Daß Grotius sein Werk nicht wie moderne Autoren in Kriegsrecht und Friedensrecht untergliedert, daß im Zentrum seiner völkerrechtlichen Lehren noch das in der Tradition der Scholastik behandelte Kriegsproblem steht, darf den Blick nicht für die Tatsache verstellen, daß auch das Friedensvölkerrecht seiner Zeit mit abgehandelt wird. Wie der Untertitel des Werkes zeigt, geht es Grotius um mehr als die Darstellung des nur zwischenstaatlichen Rechts im strengen Sinne: Das ,Natur- und Völkerrecht' des Grotius, aus dem alle späteren naturrechtlichen Systeme des internationalen Rechts abgeleitet sind, ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, eine für Staaten und Völker geltende Welt-Rechtsordnung aufzuzeichnen. Mit guten Gründen betont H.\Hofmann: „Die Frage nach der Stellung des Grotius in der Geschichte des Völkerrechts kann . . . nicht abgelöst werden von der Frage nach seiner Position in der Geschichte des Naturrechts" 21 . Und ein Blick auf die historische Entwicklung der Lehre vom Naturrecht - eines der Bindeglieder in der rund zweieinhalb Jahrtausende umfassenden Geschichte des europäischen Völkerrechts' 22 - zeigt, daß Hugo Grotius gegenüber seinen Vorgängern doch eine besondere Stellung einnimmt. In Grotius, den H. Schiedermair auch jüngst noch als „Vater des Naturrechts" bezeichnet hat23, gewinnt die Epoche des neueren Naturrechts
19 Ebd. 6 2 6 : « C e n'est pas dans notre catégorie du droit international, encore inexistante, qu'il faut situer le De iure belli ac pacis. Il s'agit de le replacer dans une veine doctrinale ayant pour objet spécifique le ius belli conçu c o m m e un domaine sui generis; veine doctrinale scolastique qui, après plusieurs siècles de croissance, avait acquis un appréciable degré de consistance et d'autonomie,» etc. 20 Vgl. Cicero, Pro Balbo 6 / 1 5 : scientia in foederibus, pactionibus, condicionibus populorum, regum, exterarum nationum, in universo denique belli iure atque pacis. 21 H.Hofmann, H u g o Grotius, in: Staatsdenker im 17. und 18.Jahrhundert (Hrsg. M. Stolleis), Frankfurt a . M . 1977, 51 ff (73). 22 Vgl. dazu W. Preiser, U b e r die Ursprünge des modernen Völkerrechts, Festschrift für W.Schätzel, Düsseldorf 1960, 373 ff (379 ff) = Macht und N o r m (zit. Fn. 12) 9 ff (17 ff). 23 H u g o Grotius (zit. Fn. 1) 4 8 6 ff. - Zum besonderen Rang des Grotius vgl. auch A.Dufour, Grotius et le Droit naturel du dix-septième siècle, in: The World of H u g o Grotius (zit. Fn. 1) 15 ff.
H u g o G r o t i u s als ,Vater des Völkerrechts'
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oder Vernunftrechts (wie wir mit F. Wieacker die zwei Jahrhunderte von 1600 bis 1800 nennen wollen)24 Gestalt. So erklärt sich auch der für viele moderne Betrachter auf den ersten Blick erstaunliche Umstand, daß Grotius' Hauptwerk De iure belli ac pacis libri tres auch in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit zu den für die europäische Rechtsentwicklung maßgeblichen Werken gehört25. Aber es sind natürlich nicht die Elemente des natürlichen Privatrechts', die das System des ,Natur- und Völkerrechts' von Grotius in erster Linie berühmt gemacht haben, sondern die Grundregeln des naturrechtlich begründeten allgemeinen Völkerrechts. Wie H. Schiedermair mit Recht hervorhebt, hat Grotius seine De iure belli ac pacis libri tres „auch als Handbuch für den praktischen Gebrauch der Staaten in ihren internationalen Beziehungen gedacht" 2 '. Das wird schon am Beginn der Prolegomena (1) deutlich: At ius illud, quod inter populos plures aut populorum rectores intercedit, sive ab ipsa natura profectum27, sive moribus et pacto tacito introductum attigerunt pauci, universim ac certo ordine tractavit hactenus nemo: cum tarnen id fieri intersit humani generis. In wie hervorragendem Maße es Grotius gelungen ist, in Form eines Rechtsbuches gewissermaßen eine Art „Kodifikation des Naturrechts" 28 vorzulegen, zeigt die außerordentliche Wirkung seines ,Natur- und Völkerrechts' im 17. und 18. Jahrhundert. In der Tat wurden seine De iure belli ac pacis libri tres, wie zuletzt H. Schiedermair treffend beobachtet hat, in Lehre und Praxis als „führendes Lehrbuch der Naturrechtsschule" benutzt29. 4. Damit sind wir auch schon in der Auseinandersetzung mit W. G. Grewe, ob wirklich nur ein „Klischee"30 oder eine „Legende"31 Grotius zum ,Vater des Völkerrechts' erhoben hat. Schon die eben gestreifte Wirkungsgeschichte des grotianischen Hauptwerkes spricht m. E. gegen eine solche Wertung. Diese Wirkungsgeschichte aber ist nur verständlich, wenn man die originale Leistung des Grotius gegenüber seinen 24 Vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. A u f l . Göttingen 1 9 6 7 , 2 4 9 ff. 25 Vgl. e b d . 2 8 9 f f ; G. Wesenberg/G. Wesener, N e u e r e deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 3. A u f l . Lahr 1 9 7 6 , 1 2 9 f f ; H.Schlosser, G r u n d z ü g e der N e u e r e n Privatrechtsgeschichte, 5. A u f l . Heidelberg 1 9 8 5 , 63 f.
H u g o G r o t i u s (zit. Fn. 1) 4 9 1 . In den v o n G r o t i u s später veranstalteten Ausgaben ( 1 6 3 1 , 1 6 3 2 , 1 6 4 2 , 1 6 4 6 ) sind hier die W o r t e aut divinis constitutum legibus eingefügt. 28 Vgl. H. Schiedermair, H u g o G r o t i u s (zit. F n . l ) 4 9 0 f f . 29 Ebd. 4 8 2 ff (Zitat 482). 50 Vgl. oben zu Fn. 6. " Vgl. Fn. 7. 26
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bedeutenden Vorgängern richtig abwägt. Die Entwicklung der neuzeitlichen Völkerrechtstheorie im 16. Jahrhundert wird durch drei Strömungen beeinflußt: zum einen durch die spanische Spätscholastik, zum anderen durch die sich als selbständige Disziplin formierende politische Theorie (für die nur die Namen Niccolö Machiavelli [1469-1527] und Jean Bodin [1530-1596] angeführt seien) und drittens durch die vom Humanismus geprägte Jurisprudenz 32 . Hugo Grotius vereinigt in seinen De iure belli ac pacis libri tres „die besten Traditionen der kirchlichen und weltlichen Völkerrechtslehre des Mittelalters, bereichert um die Ergebnisse der politisch-juristischen und humanistisch-juristischen Autoren der frühen Neuzeit" 3 3 . Von den spanischen Spätscholastikern, die in erster Linie Moraltheologen waren, unterscheidet Grotius zum einen die fachjuristische Schulung im römischen Recht, zum anderen die humanistische Auswertung der ganzen Fülle antiker Literatur, deren Zeugnisse - wie die der Bibel oder die Äußerungen der römischen Juristen im Corpus Iuris Civilis - Erkenntnisquellen für das aus der geschichtlichen Erfahrung erschlossene Menschheits-Recht sind. Von den Völkerrechts-Autoren der gleichen humanistischen Stilrichtung aber - das gilt auch für den Vorläufer der ,Völkerrechtspositivisten', Alberico Gentiii (1552-1608) 3 4 - unterscheidet Grotius das erfolgreiche Bemühen, nicht nur einen Teil des internationalen Rechts (wie das Kriegsrecht oder das Gesandtschaftsrecht) darzustellen, sondern die gesamte die Menschheit verbindende Rechtsordnung aufzuzeichnen. Das Interesse an einer solchen, bisher fehlenden Gesamtdarstellung klang schon in der oben 35 zitierten Stelle aus den Prolegomena (1) zu den De iure belli ac pacis libri
tres an: ius illud ... universim ac certo ordine tractavit hactenus
nemo.
Bezeichnend ist aber auch eine Äußerung des Grotius, aus der deutlich sein Streben nach systematischer Ordnung des Rechtsstoffes hervorgeht
{Proleg. 30): Artis formam ei (seil, iurisprudentiae) imponere multi ante-
hac destinarunt: perfecit nemo", etc. Unter ars ist hier das System zu verstehen. Die Terminologie des Grotius lehnt sich auch hier wieder an Cicero an, an die verlorene Programmschrift De iure civili in artem
redigendo36.
Im übrigen sei nochmals darauf hingewiesen, daß Grotius in den Prolegomena seiner De iure belli ac pacis libri tres die ihm wichtigsten Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Die röm. Grundlagen (zit. Fn. 15) 18 ff. Ebd. 24 f. 34 Grundlegend noch immer: G.H.J. van der Molen, Alberico Gentiii and the Development of International Law, 2. Aufl. Leiden 1968. 35 Zu Fn. 27. 36 Vgl. dazu M. Schanz / C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian, I, 4. Aufl. München 1927, §171, 6 ( = S. 526 f); vgl. ferner H.J. Mette, Ius civile in artem redactum, Göttingen 1954, 50 ff. 52
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Hugo Grotius als ,Vater des Völkerrechts'
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unter den benutzten Autoren würdigt und dabei ihre Verdienste und ihre Begrenzungen vielfach treffsicher kennzeichnet 37 . Grotius nennt zunächst die in der mittelalterlichen Tradition stehenden theologischen und juristischen Verfasser kriegsrechtlicher Abhandlungen. Proleg. 37: Vidi et speciales libros de belli iure partim a Theologis scriptos ut a Francisco Victoria, Henrico Gorichemo, Wilhelmo Matthaei, partim a doctoribus iuris ut Joanne Lupo, Francisco Ario, Joanne de Lignano, Martino Laudensi: etc. Als humanistisch gebildete Kriegsrechts-Autoren werden sodann die unmittelbaren Vorgänger, der spanische Kriegsrichter Balthazar Ayala (1548—1584) und (der schon erwähnte) Alberico Gentiii hervorgehoben. Proleg. 38: diffusius, et ut ad definitiones aliquas exemplorum congeriem referrent, Balthazar Ayala, et plus eo Albericus Gentiiis, cuius diligentia, sicut alios adiuvari posse scio et me adiutum profiteor, etc. Von den mittelalterlichen Interpreten des römischen Rechts führt Grotius vor allem den Verfasser der Glossa ordinaria, Accursius, und den wohl bedeutendsten Juristen des Mittelalters überhaupt, Bartolus de Saxoferrato, an. Proleg. 53: Secundum (seil, genus iuris Romani scientiam profitentium) eos habet qui Irnerio successerunt, Accursium, Bartolum et tot alia nomina, quos penes diu fori regnum fuit. Von den hervorragenden Vertretern der humanistischen Jurisprudenz erwähnt Grotius schließlich zwei berühmte Spanier und zwei bedeutende Franzosen. Proleg. 55: Scholasticam subtilitatem cum legum et canonum cognitione coniunxerunt . . . Hispani duo Covarruvia et Vasquius: etc. Historias magis eidem legum studio inserere aggressi sunt Galli: quos inter magnum obtinent nomen Bodinus et Hottomannus, etc.38 Für den modernen Leser besonders interessant ist der methodische Vorwurf des Grotius, Bodin habe die Wissenschaft von der Politik und die Rechtswissenschaft nicht sauber getrennt. Proleg. 57: Temperavi me ab his quae alterius sunt tractationis, ut quae docent quid ex usu sit facere: quia ista suam habent artem specialem 37 Vgl. dazu schon die knappen Hinweise in meinem Aufsatz: Die röm. Grundlagen (zit. Fn. 15) 23 f; vgl. jetzt die tiefschürfenden Beobachtungen von R. Feenstra, Quelques remarques sur les sources utilisées par Grotius dans ses travaux de droit naturel, in: The World of Hugo Grotius (zit. Fn. 1) 65 ff. 38 Zu Proleg. 55 vgl. insbes. R. Feenstra, aaO, 76 ff.
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politicam, quam recte ita solam tractat Aristoteles ut alieni nihil admisceat, contra quam fecit Bodinus apud quem haec ars cum iuris nostri arte confunditur. 5. Wenn wir zum Abschluß dieser kurzen Betrachtungen Bilanz ziehen, welche Bedeutung dem Werk des Hugo Grotius in der Geschichte des Völkerrechts zukommt, dann ist zunächst auf drei Aspekte hinzuweisen. Zum einen: Die ununterbrochene Tradition der europäischen Rechtswissenschaft seit dem Beginn des Studiums zu Bologna (um 1100) hat auch auf dem Gebiete des internationalen Rechts bestanden39. Zum anderen: Die römischrechtliche Komponente, die im übrigen auch im kanonischen Recht enthalten ist40, hat sich in der früheren Neuzeit unter dem Einfluß des Humanismus noch verstärkt41. Zum dritten: Mit dem Werk des Hugo Grotius beginnt eine neue, qualitativ höhere Stufe in der Geschichte des Naturrechts. Wenn in der neueren Privatrechtsgeschichte heute im wesentlichen Einigkeit darüber besteht, daß mit Grotius nicht nur eine Epoche ihren Abschluß findet, sondern zugleich eine neue Epoche beginnt, dann sollte das auch den Vertretern der Völkerrechtsgeschichte zu denken geben. Mit Recht hat H. Schiedermair kürzlich festgestellt42: „Bemerkenswerterweise ist die besondere Bedeutung, die Grotius und seinem Werk in der Rechtsgeschichte zukommen, schon im 17. Jahrhundert klarer und richtiger erkannt worden als heute". Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Mit A. Nussbaum45 und W. Preiser44 bin ich daher weiterhin entschieden der Ansicht, daß wir Hugo Grotius den alten Ehrentitel eines ,Vaters des Völkerrechts' - wenn wir uns der begrenzten Aussagekraft einer solchen Abbreviatur bewußt sind - auch in Zukunft nicht zu verweigern brauchen.
" Vgl. meinen Aufsatz: Die röm. Grundlagen (zit. Fn. 15) 1 ff. Ebd. 5 ff. 41 Ebd. 21 ff. 42 Hugo Grotius (zit. Fn. 1) 493. 43 Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, München-Berlin 1960, 126 f. 44 Vgl. oben mit Fn. 12. 40
Juristenausbildung
Die Bedeutung einer staatlichen Prüfungsordnung für Studium, Lehre und Prüfung mit Blick auf Einzelfragen der hamburgischen Juristenausbildungsordnung vom 12. März 1986* HANS-JOACHIM
KURLAND
Die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 25.Juli 1984 1 den Bundesländern zur Neuordnung ihrer Juristenausbildungen geschaffene Normierungsaufgabe hat im hiesigen Gesetzgebungsverfahren, das mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung der Juristenausbildungsordnung vom 12. März 1986 2 seinen bemerkenswert späten Abschluß fand, Anlaß gegeben, das Verhältnis von Studium, Lehre und Erster Juristischer Staatsprüfung zueinander eingehender zu bedenken. Die mit dem Bundesgesetz u. a. getroffene Entscheidung, die Phase der Experimente in der Juristenausbildung, insbesondere deren Einstufigkeit, abzuschließen, mußte in Hamburg als das Ende der getrennten Wege in Ausbildung und Prüfung verstanden werden. U m den bundesgesetzlichen Auftrag zu erfüllen, die Juristenausbildung auf zweistufiger, in Studium und praktische Ausbildung gegliederter Grundlage zu vereinheitlichen, war es unumgänglich, auch eine Entflechtung der im sogenannten „Hamburger Modell" 3 in den §§ 45, 46 J A O a. F. angelegten Verbindung von rechtswissenschaftlichem Hochschulstudium und praktischer Ausbildung sowie der damit notwendig einhergehenden Wechselbeziehungen der Hochschule zum Ausbildungs- und Prüfungsamt (für die einstufige Juristenausbildung) zu berücksichtigen. Dabei mußte insbesondere der Grundsatz der Freiheit der Lehre mit der
* Für die Vorarbeiten zu dieser Betrachtung habe ich dem Referenten des Justizprüfungsamts bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg, Herrn Richter am Landgericht Dieter Remus, zu danken, der zu der gesetzlichen Neuordnung der hiesigen Juristenausbildung Verdienstvolles beigetragen und Wolfgang Martens, einen der Stellvertretenden Vorsitzenden des Amtes, als seinen Universitätlehrer sehr verehrt hat. ' BGBl. S. 995. GVB1. S. 49. 3 Dazu: Gesetz zur Einführung der einstufigen Juristenausbildung vom 30.4.1973 (GVB1. S. 16); Das Hamburger Modell der einstufigen Juristenausbildung in der Bewährung, uni hh reform N r . 13, 1981. 2
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Neigung kollidieren, durch die inhaltliche Gestaltung der zukünftigen Prüfungsordnung auch die rechtswissenschaftliche Ausbildung an der Universität zu steuern. Die Grenzen der staatlichen Regelungskompetenz erwiesen sich in einigen Bereichen als ebenso unscharf wie die Konturen der grundsätzlich von der Freiheit geprägten akademischen Ausbildung. Insoweit erscheint deshalb ein Versuch als angezeigt, einzelne damit zusammenhängende, auch für den Vollzug der neuen Juristenausbildungsordnung bedeutsame Fragen zu klären. A. Die Prüfungsordnung für die Erste Juristische Staatsprüfung ihre Bedeutung für die akademische Lehre und das akademische Studium I. Die J A O als Prüfungsordnung Die hamburgische J A O 4 regelt als Parlamentsgesetz in drei Teilen die Ziele der Juristenausbildung (§1), die Erste Juristische Staatsprüfung ( § § 2 - 2 6 ) und die praktische Ausbildung (§§28 ff), nicht jedoch die Große Juristische Staatsprüfung. Diese ist durch die neue Ubereinkunft der Länder Freie Hansestadt Bremen, Freie und Hansestadt Hamburg und Schleswig-Holstein sowie entsprechende Zustimmungsgesetze dieser Länder 5 angepaßt worden. Die neue J A O ist damit im zweiten Teil Prüfungs-, im dritten Teil Ausbildungsordnung. Die Erste Juristische Staatsprüfung dient dem Zweck festzustellen, ob der Prüfling das rechtswissenschaftliche Studienziel erreicht hat und damit für die praktische Ausbildung fachlich geeignet ist (§2); insoweit geht die Erste Juristische Staatsprüfung über die Intentionen von entsprechenden Hochschulprüfungen hinaus, die lediglich ermitteln wollen, ob das Studienziel erreicht ist 6 : Die Erste Juristische Staatsprüfung stellt einen berufsqualifizierenden Abschluß im Sinne des § 1 0 Abs. 2 H R G dar; dieser wird folgerichtig für den Anspruch auf Aufnahme in die praktische Ausbildung (§ 28) und zugleich für den Zugang zum Beruf ( § 5 D R i G ) vorausgesetzt. Letztlich kann wohl nur dieser Zweck der Ersten Juristischen Staatsprüfung, der über den der Hochschulprüfung hinausgeht, in der erforderlichen Weise zum Erlaß einer derartigen staatlichen Prüfungsordnung berechtigen, die den aus Art. 5 Abs. 3 G G abzuleitenden Vorrang der Hochschulprüfungen 7 durchbricht. 4 Gesetz vom 10. 7.1972 (GVB1. S. 133) i. d. F. der Änderungsgesetze vom 16.12.1982 (GVB1. S. 386) und 12. 3.1986 (GVB1. S. 49); auf diese beziehen sich die ohne Angabe des Gesetzes zitierten Vorschriftn. 5 S. etwa das Hamburgische Gesetz vom 8.10.1986 (GVB1. S.305). 6 Vgl. etwa: §53 Abs. 1 HmbHG; §15 Abs. 2 HRG. 7 Vgl. etwa: Lennartz in Denninger, Hochschulrahmengesetz, 1984, §15 Rdn. 5; Salzwedel, Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, S. 796.
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II. Das Profil der hamburgischen P r ü f u n g 1. Als Prüfungsordnung regelt die J A O im wesentlichen die Voraussetzungen für den Anspruch des Studenten auf Zulassung zur Ersten Juristischen Staatsprüfung (§ 3), die Prüfungsgegenstände (§ 5), die Voraussetzung für die Berufung zum Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes sowie für das Tätigwerden als Prüfer (§ 8 Abs. 2 und Abs. 5 S. 2), die Prüfungsabschnitte und deren jeweiligen Inhalt (§§ 11, 12, 19) sowie die Leistungsbewertung und die Voraussetzungen für das Bestehen der Prüfung (§§ 15, 17, 20 und 21). Diese Vorschriften legen das der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Hamburg eigene Profil fest. 2. Was im einzelnen Gegenstand der Ersten Juristischen Staatsprüfung sein und inwieweit dies geprüft werden darf, wird in § 5 beschrieben. Die Bestimmung zählt die verschiedenen Rechtsgebiete nebst speziell bezeichneten Teilbereichen von Nachbardisziplinen (Soziologie, Psychologie, Kriminologie, Sozialwissenschaften, Verwaltungswissenschaft, Politologie, Finanz- und Wirtschaftswissenschaft, Medienwissenschaft) auf und gliedert sie in Pflichtfach- und Wahlschwerpunktgegenstände, teilweise auch beschränkt auf sogenannte Grundzüge. Was davon mit welchem Umfang und Gewicht tatsächlich Gegenstand der Prüfung sein darf, wird bei den Leistungsarten - häusliche Arbeit, Aufsichtsarbeiten, mündliche Prüfung - , indem die jeweils speziellen Prüfungsziele berücksichtigt werden, näher geregelt: bei der häuslichen Arbeit der Nachweis, zu wissenschaftlicher Arbeit und selbständiger Urteilsbildung befähigt zu sein (§11 Abs. 1), bei der Aufsichtsarbeit, eine Fragestellung erkennen, verständig zu erörtern und ein Ergebnis selbständig begründen zu können (§ 12 Abs. 1 S. 4) und bei der mündlichen Prüfung der Nachweis, das Recht und seine Grundlagen mit Verständnis zu erfassen und anzuwenden zu vermögen (§§18 Abs. 1 S. 1, 2 Abs. 2 S. 2). Dabei wirkt die Prüfungsordnung selektiv: Aus der Gesamtheit der Materien, die Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung und Lehre oder der juristischen Berufspraxis sein können, ist ersichtlich nach unterschiedlichen Kriterien (etwa: Bedeutung einer Materie für die Rechtsordnung, Eignung zum exemplarischen Lernen, Zuordnung zu für das Verständnis vom Recht als wichtig erachteten Kernmaterien, gesellschaftliche Relevanz, berufspraktische Bedeutung und Berufsbild, politisches, soziales und ökonomisches Selbstverständnis des Gesetzgebers) jeweils ein Teilbereich ausgewählt sowie in sich vielfältig und teilweise subtil gewichtet. Schon dadurch ergibt sich eine für jede Prüfungsordnung spezifische Gegenstands- und Wertungsbeschaffenheit der Ersten Juristischen Staatsprüfung, die sie von anderen unterscheidet.
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3. Vornehmlich mit Blick auf den Katalog der Prüfungsgegenstände machen sich Studierende und Hochschullehrer beider rechtswissenschaftlichen Fachbereiche in Hamburg, Ausbilder und Prüfer aus der juristischen Praxis sowie die für die Organisation der Prüfung Verantwortlichen nach meinen Beobachtungen zur Zeit diese Gedanken: a) In welchem Umfange sind die juristischen Fachbereiche verpflichtet, den mit der J A O vorgegebenen Anforderungen der Prüfung vor allem in den sogenannten Nachbarwissenschaften in der Lehre zu entsprechen? b) Stehen genügend Hochschullehrer und Praktiker zur Verfügung, um im Bereich der Wahlschwerpunkte insbesondere hinsichtlich der einbezogenen Nachbarwissenschaften als mit diesen Materien vertraute Prüfer einen prüfungsreifen Kenntnisstand der Prüflinge in der Ersten Juristischen Staatsprüfung verantwortlich festzutellen? c) Was muß und kann an der Hochschule und in der Praxis für eine vertiefte berufsfeldorientierte Ausbildung geschehen? d) Welche neuen Anforderungsprofile sind für die Prüfungsaufgaben mit Blick auf die erweiterten Prüfungsgegenstände und deren vielfältige Relevanz im Rahmen der unterschiedlichen Prüfungsleistungen zu erwarten? e) In welcher sachdienlichen Weise können die für die Organisation der Prüfung Verantwortlichen etwa zwischen der Ausbildung im allgemeinen und den erkennbar unterschiedlichen Vorstellungen davon in den beiden Fachbereichen der Universität eine Brücke zu schlagen versuchen, die zugleich einen annehmbaren Beitrag dazu leistet, in Hamburg die Juristenausbildung jedenfalls mit Blick auf die Prüfung wieder zu vereinheitlichen? III. Die Bedeutung der Prüfungsordnung für Rechtswissenschaft, Lehre und Studium Die unterschiedlichen Profile der Ersten Juristischen Staatsprüfungen in den Bundesländern wie auch die erkennbare Vielschichtigkeit der Motive der Landesgesetzgeber, nur einige Materien der Rechtswissenschaft und ihrer nachbarwissenschaftlichen Grundlagen mit einer bestimmten graduellen Stufung in einem festgelegten System zielverschiedener Leistungsarten als Prüfungsgegenstände auszuwählen, machen deutlich, daß die Prüfungsordnung nur ein fragmentarisches Spiegelbild der Rechtswissenschaft sein kann: Sie beschreibt sozusagen die landesspezifische Meßlatte für den Studienerfolg in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung, der zur Aufnahme der eigentlichen Praxisphase befähigen muß. Daß die rechtswissenschaftliche Ausbildung und die sie
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abschließende Staatsprüfung auf diese Wissenschaft bezogen sein müssen, liegt derart auf der Hand, daß es im Kern unbestreitbar ist. Relevant ist nur die Frage, ob und inwieweit dabei eine Wechselwirkung besteht. 1. Bedeutung für die Rechtswissenschaft Unabhängig davon, wie der Gegenstand der Rechtswissenschaft zu definieren und von dem anderer Wissenschaften abzugrenzen ist, wird davon auszugehen sein, daß eine Prüfungsordnung in keiner Weise festlegen kann, ob und inwieweit eine Materie Betrachtungsobjekt der Rechtswissenschaft ist, sein darf oder muß. Eine Prüfungsordnung kann Gegenstände, die vielleicht überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang nicht zum üblichen Betrachtungsstoff der Rechtswissenschaft gehören, in gewissen Grenzen zum Prüfungsgegenstand der Ersten Juristischen Staatsprüfung erklären. Umgekehrt kann sie eindeutig der rechtswissenschaftlichen Betätigung unterliegende Gegenstände als solche der Prüfung ausschließen, mithin deren Behandlung in der Prüfung mit dem Makel der Rechtswidrigkeit des Verfahrens versehen. Mag die Freiheit der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 2 S. 1 G G ) einer staatlichen Definition der Wissenschaft nicht entgegenstehen 8 - die Juristenausbildungsordnungen der Länder leisten insoweit bewußt keinen Beitrag dazu, den Gegenstand der Rechtswissenschaft zu definieren oder abzugrenzen. Sie setzen überhaupt erst von der Ebene der Prüfung her dadurch an, daß sie auf die Ausbildung ausstrahlen, indem sie - programmatisch - deren Aufgaben und Ziele festlegen (§1). Deshalb erscheint es als legitim, daß ihre Urheber einen politisch-gesellschaftlichen Gestaltungsspielraum in Anspruch nehmen. 2. Bedeutung für die Lehre Speziell für die rechtswissenschaftliche Lehre sind der Inhalt der Prüfungsordnung und die Beschaffenheit der Prüfung bedeutsam. Die Prüfungsordnung erklärt nur gewisse Materien aus dem möglichen Wissenschaftsstoff zu Prüfungsgegenständen; sie knüpft den Zulassungsanspruch an den Nachweis von nach Leistungsart und Gegenstand bestimmten Studienleistungen; schließlich schreibt sie die Leistungsarten in der Prüfung und das Gewicht der darin jeweils erzielten Resultate für das Gesamtergebnis der Prüfung vor. Soweit Verfahren, Leistungsarten und spezielle Inhalte der staatlichen Prüfung geregelt werden, ergibt sich die strikte Bindung aller Prüfer an diese Vorschriften als Amtspflicht aus ihrer Mitgliedschaft im Landesjustizprüfungsamt.
8 So: Scholz in Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 5 Abs. 3 Rdn. 88; a. A. etwa: Lüthje in Denninger, aaO, vor § 3 Rdn. 30.
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Fraglich ist indessen: Ob und inwieweit besteht eine Pflicht des Hochschullehrers, seine akademische Lehre - zumindest auch - auf genau diese Prüfungsgegenstände zu beziehen, dabei Lehrveranstaltungen durchzuführen, in denen die für die Zulassung zur Prüfung maßgeblichen Leistungen formgerecht nachgewiesen werden können, und Schwerpunkte zu setzen, die mit der in der Prüfungsordnung angelegten Gewichtung übereinstimmen und ihrer Examensrelevanz gerecht werden? Da die faktische Bedeutung der Prüfungsordnung für das Studium und schon deshalb auch für die Lehre offen zutage liegt, ist die Frage nach einer entsprechenden Pflicht des Hochschullehrers stets mit Blick auf die grundrechtlich garantierte Freiheit der Lehre zu erörtern und zu beantworten. a) Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG garantiert dem einzelnen Hochschullehrer die Freiheit seiner Lehre als ein Abwehrrecht gegen unmittelbare oder mittelbare staatliche Eingriffe; in Fragen der Lehre soll der Hochschullehrer gemäß Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG frei sein in der „Wahl von Gegenstand . . . , Form . . . , Methode . . . , Inhalt . . . , Zeit und eventuell Ort" 9 . In Konkordanz mit Art. 33 Abs. 5 GG ergeben sich freilich aus der dienstrechtlichen Stellung der Professoren (§46 HRG) Einschränkungen, die zu der Legaldefinition des §3 Abs. 3 HRG geführt haben: Die Freiheit der Lehre umfaßt danach „im Rahmen der zu erfüllenden Lehraufgaben" insbesondere diejenige, Lehrveranstaltungen abzuhalten und diese inhaltlich und methodisch zu gestalten, sowie das Recht, wissenschaftliche Lehrmeinungen zu äußern (Satz 1); Beschlüsse in Fragen der Lehre sind insoweit zulässig, als sie sich auf die „Einhaltung der Studien- und Prüfungsordnung" beziehen und die in Satz 1 genannte Freiheit nicht beeinträchtigen (Satz 2). b) Eine negative Lehrfreiheit - etwa verstanden als die Freiheit, überhaupt nicht zu lehren10 - ist damit dienstrechtlich und im Lichte des Art. 33 Abs. 5 GG auch verfassungsgemäß ausgeschlossen. Jenseits dieser Grundposition ist die Wechselwirkung zwischen Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 5 GG jedoch weniger eindeutig; soweit es um die Frage geht, ob der Hochschullehrer in seiner Lehre strikt an die Prüfungsgegenstände gebunden sein könnte, vermag sein in Rede stehendes Freiheitsrecht in der Abwägung durchaus vorrangig zu werden und der an sich von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten dienstrechtlichen Regelung Grenzen zu setzen.
' Geck, Die Stellung der Studenten in der Universität, W D S t R L 27, 143, 161; O V G Berlin, DVB1. 1972, 736, 738. 10 S. dazu bereits die Begründung zu § 3 HRG in Bundestagsdrucksache 7/1328, S. 33.
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aa) Dienstrechtlich ist es den Hochschullehrern zugemessen, sich vor allem so zu verhalten, daß die Hochschule ihre Aufgaben erfüllen kann (§36 H R G ) . Zu diesen Aufgaben rechnen die Pflege und Entwicklung der Wissenschaften durch Forschung, Lehre und Studium (§2 Abs. 1 H R G ) . Zu den dienstlichen Aufgaben der Professoren gehört demgemäß insbesondere, Lehrveranstaltungen ihrer Fächer abzuhalten (§43 Abs. 2 HRG). Das Studium wird durch die Hochschulprüfung oder - wie hier durch die Staatsprüfung abgeschlossen (§15 H R G ) ; diese Staatsprüfung ist für den Studierenden grundsätzlich der Schlußabschnitt seines Studiums. Die Lehre dient dazu, den Studierenden auf eine berufliche Tätigkeit qualifiziert vorzubereiten sowie die dafür erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden in gleicher Weise zu vermitteln (§7 H R G ) . Sie kann insoweit als Dienstleistung der Hochschullehrer verstanden werden, den erforderlichen Befähigungsstand des Studierenden und damit dessen geistig-fachliche Prüfungsreife herbeizuführen. Denn der Nachweis der erforderlichen Befähigung wird durch das Bestehen dieser Prüfung erbracht. Insoweit erscheint der Schluß als unabweisbar, daß die Prüfungsordnung Grundlage der Studienordnung (§11 H R G ) und es als eine Amtspflicht der Hochschullehrer zu werten ist, beide einzuhalten.
bb) Indessen unterscheiden sich die Prüfungsordnungen der Bundesländer trotz der mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes verbundenen Absicht, Juristenausbildung und Prüfung zu vereinheitlichen, insbesondere nach Gegenständen (Pflichtfächer, Wahlfächer, Wahlschwerpunkte, geistes-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Grundlagen), Leistungsarten (etwa: häusliche Arbeit und/ oder Klausuren) und Anforderungsprofilen (etwa: Beschränkung auf Grundzüge, Prüfungsteilziele, Schwerpunktbildung). Die Schwellen des Prüfungserfolges sind somit je nach Prüfungsordnung verschieden. Daß es mit der Freiheit der Lehre vereinbar ist, wenn der Hochschullehrer sein Lehrangebot darauf ausrichtet, dem Studierenden einen höheren als den nach der Prüfungsordnung erforderlichen Befähigungsstand zu vermitteln, steht nicht in Frage. Jedenfalls im Grundsatz nicht zweifelhaft dürfte es auch sein, daß im Bereich der von der Prüfungsordnung zu Prüfungsgegenständen bestimmten Materien eine Lehrpflicht besteht", wie § 3 Abs. 3 H R G dies zum Ausdruck bringt. cc) Fraglich ist aber, ob sich diese Lehrpflicht auch auf Stoffe erstreckt, die von der Prüfungsordnung mit pointierter Prüfungsrelevanz zu Prüfungsgegenständen erhoben sind, also von dem Prüfungsamt mit dem " So: Scholz
in Maunz/Dürig/Herzog, aaO, Art. 5 Abs. 3 Rdn. 174.
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Anspruch auf wissenschaftliches Niveau „abgefragt" werden dürfen, die aber aus der Sicht des rechtswissenschaftlichen Hochschullehrers für die von ihm vertretene Rechtswissenschaft nur untergeordnete oder lediglich zum Teil Bedeutung haben können. Diese Frage stellt sich mit Blick auf die überwiegend sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Gegenstände, die in § 5 Abs. 3 N r . 1 - 1 3 als solche der Prüfung bezeichnet sind. Diese Gegenstände dürfen bzw. müssen mangels einer gesetzlichen Differenzierung insoweit nach dem auch für die Rechtsmaterien geltenden Anforderungsbild geprüft werden, nämlich gemäß § 1 1 Abs. 3 S. 3 in der häuslichen Arbeit mit dem Ziel, insoweit die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit und selbständiger Urteilsbildung festzustellen ( § 1 1 Abs. 1), gemäß § 1 2 Abs. 2 S . 4 in den Aufsichtsarbeiten zu dem Zweck, die Fähigkeit aufzuspüren, eine Fragestellung zu erkennen, verständig zu erörtern sowie ein Ergebnis sachgerecht zu begründen (§ 12 Abs. 1 S. 3) und schließlich gemäß § 19 Abs. 1 in der mündlichen Prüfung, das juristische Verständnis umfassend auf die Probe zu stellen. Angesichts des hohen Grades der Prüfungsrelevanz dieser Materien sowie der nicht leicht überschaubaren Vielfalt ihrer Beziehungen zum Recht, insbesondere ihrer Erheblichkeit für verschiedene Rechtsmaterien, auf die jeweils die letzten Buchstaben des § 5 Abs. 3 Ziffern 1 bis 8 und 10 bis 13 selektiv abstellen, werden die Studierenden bei ihrem Streben nach Examensreife in der Ausbildung und damit von der Lehre erwarten, daß diese ihnen auch insoweit die wissenschaftlichen Grundlagen bis hin zu der Fähigkeit vermittelt, die prüfungsrelevanten (erheblichen) Erkenntnisse im Gefüge der betreffenden Nachbarwissenschaft sicher ableiten zu können. Der Rechtswissenschaftler wird mit Blick auf den nach der Prüfungsbedeutung dieser Materien notwendigen Ausbildungsgrad der Prüflinge zu der Erkenntnis gelangen können, einen examensreifen Stand ihrer Befähigung nur dann erreichen zu können, wenn er nicht nur die prüfungsrelevanten Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften mitteilt, sondern auch eingehend deren spezielle wissenschaftstheoretische und methodische Grundlagen in der Lehre vermittelt. Unterstellt, der Hochschullehrer sei insoweit angesichts vielfältiger und unterschiedlicher Nachbarwissenschaften nicht bereits überfordert, stellt sich die Frage, ob ihm auch insoweit eine Lehrpflicht zufällt. (1) Bereits aus der Stelle, der Ausschreibung und der Berufung des Hochschullehrers können sich die Grenzen des Faches ergeben, für das er seiner Lehrbefähigung gemäß mit seiner Zustimmung berufen wurde und auf dessen Wahrnehmung seine Amtspflicht beschränkt ist12. V o r 12
Lüthje in Denninger, aaO, §43 Rdn.47.
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allem aber könnte der in § 43 Abs. 2 H R G zum Ausdruck gebrachten dienstlichen Pflicht, Lehrveranstaltungen seines Faches abzuhalten, entgegengesetzt werden, die für die Lehre insgesamt verfügbare (zeitliche) Kapazität (Lehrdeputat) werde derart ausgeschöpft, daß kein Spielraum für ein freies Lehren verbleibe: Eine restlose „Verpflichtung" im Bereich der Freiheit der Lehre würde jedenfalls ihren Wesensgehalt antasten und deshalb als verfassungswidrig zu erachten sein13. (2) Vorstellbar ist aber auch: Ein gewisser Spielraum für die freie Lehre verbleibt, deren Wesensgehalt ist also noch nicht angetastet. Der H o c h schullehrer kann oder will bei hohen selbstkritischen Ansprüchen den Sprung in die Nachbardisziplin mit der notwendigen Folge, diese in der Lehre akademisch, also auch wissenschaftstheoretisch grundlegend und nicht (nur) dilettantisch zu vertreten, nicht wagen - was wohl jedenfalls dann naheliegen kann, wenn eine Vielzahl von unterschiedlichen Nachbardisziplinen zum Kern seines rechtswissenschaftlichen Faches Bezüge aufweist und diese mit dem oben beschriebenen Gewicht durch die Prüfungsordnung zu Prüfungsgegenständen erhoben sind. Darf sich der Hochschullehrer insoweit auf die Freiheit der Lehre berufen, um die in der Prüfungsordnung vorausgesetzte Vermittlung eines prüfungsreifen Befähigungsstandes in diesen Nachbardisziplinen bei der Lehre seines Faches zu unterlassen und damit den dafür vorhandenen speziellen Fachbereichen zu überlassen? Gewährt Art. 5 Abs. 3 S. 1 G G dem Grundrechtsträger auf alle Fälle insoweit eine seinen Dienstpflichten Grenzen setzende negative Freiheit der Lehre, diese etwa verstanden als eine Kompetenz-Kompetenz 1 4 , das für die Lehre insofern Notwendige bestimmen, zugleich jedoch seine Fachkompetenz und ihre Grenzen verantwortlich beurteilen zu dürfen und sich der Vermittlung von Kenntnissen über Prüfungsgegenstände zu versagen, die nicht oder jedenfalls nicht in dem für das Examen erforderlichen Umfang dieser Fachkompetenz unterliegen? Diese Frage dürfte für die in der hamburgischen J A O vorgeschriebene Berücksichtigung nachbarwissenschaftlicher Kenntnisse zu bejahen sein. Zwar ist der Lehrfreiheit auch durch den Ausbildungszweck der Universität eine immanente Schranke gesetzt: Neben die Pflege der reinen Wissenschaft im Sinne Humboldts ist zunehmend - aber (noch) nicht ausschließlich wie bei den Fachhochschulen 15 - die Funktion der H o c h schule als Ausbildungsstätte für bestimmte Berufe getreten, und inso-
13 So: Lüthje in Denninger, aaO, §3 Rdn.29; Scholz in Maunz/Dürig/Herzog, aaO, Art. 5 Abs. 3 Rdn. 174; Knemeyer, Lehrfreiheit, 1969, S. 38. 14 Dazu: VGH Baden-Württemberg, Beschluß v. 3 . 4 . 1 9 8 5 (9 S 2913/84), S. 12f. 15 Vgl. VGH Baden-Württemberg, DVB1. 1986, 626, 629; BVerwG DVB1. 1986, 1109.
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weit ist die Lehre zunehmend Gegenstand und Mittel der öffentlich kontrollierten Bildungs- und Forschungspolitik geworden 16 . Das in Rede stehende Problem liegt indessen jenseits dieser immanenten Schranke: Die Prüfungsordnung determiniert den Zweck der universitären Juristenausbildung nicht lediglich tendenziell, sondern legt auch die nachbarwissenschaftlichen Prüfungsgegenstände und deren Relevanz konkret fest. Damit ist die Frage, ob die genannten Gegenstände geprüft werden dürfen, entschieden. Für die mit der Lehre Befaßten bedeutet dies nicht nur einen generell beschriebenen Rahmen für die Ausübung ihrer Lehrfreiheit, sondern eine nach Gegenstand (rechtserhebliche Erkenntnisse) und Niveau (Prüfungsreife) weitgehend genau bestimmte Vorgabe. Diese in der Lehre einzulösen, würde für den Hochschullehrer des Rechts, der ein Universitätsstudium der jeweiligen Nachbarwissenschaft nicht absolviert hat, die Aufgabe bedeuten, sich als Autodidakt über die rechtsrelevanten Bezüge zu seinem Fach hinausgehend auch in die Grundlagen verschiedener Nachbarwissenschaften und deren aktuelle Erkenntnisstände einzuarbeiten, um sie in einer Weise in der Lehre vertreten zu können, die dem akademischen Anspruch bei der Äußerung wissenschaftlicher Lehrmeinungen genügen kann. Wird die Lehre zudem als „wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse" 17 verstanden, so würde der in Rede stehende Lehrzwang entweder die grundsätzliche Bezogenheit der Lehre zur - auch eigenen - Forschung unterlaufen oder eben auch zu dieser zwingen; dies wiederum dürfte mit der negativen Forschungsfreiheit, verstanden als Recht, eine bestimmte Fragestellung nicht zu behandeln und zu erforschen 18 , kollidieren. Insoweit geht es nicht mehr darum, die Lehrfreiheit zu verdrängen durch eine dienstrechtlich begründete Lehrpflicht im Sinne eines Zwanges, die vorhandene fachliche Kapazität mit Blick auf die Prüfungsgegenstände auszuschöpfen. Im Vordergrund steht vielmehr, den Lehrern mittelbar eine Lernpflicht mit dem Ziel aufzuerlegen, der entsprechenden Lehrpflicht fachlich verantwortlich genügen zu können. Eine Kompetenz-Kompetenz des Hochschullehrers besteht insoweit nicht; ihrer hätte sich der Gesetzgeber bemächtigt und damit in den Kernbereich der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit der Lehre der Hochschullehrer eingegriffen 19 . Einen derartigen Eingriff läßt dieses Freiheitsrecht des Hochschullehrers ebensowenig wie die oben erwähnte „restlose Verpflichtung" der Lehrfreiheit im Rahmen der vorhandenen Fachkompetenz zu. Vgl. BVerfGE 35, 79, 121 f; 47, 327, 370; Knemeyer, aaO, S.38. So: BVerfGE 35, 79, 113; ähnlich: Knemeyer, aaO, S.34. 18 So etwa: Lüthje in Denninger, aaO, § 3 Rdn. 10. " So tendenziell wohl auch: Knemeyer, aaO, S. 36. 16
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(3) Eine in diesem Sinne beschränkende negative Lehrfreiheit darf nicht als Freibrief für irgendeine Art von sogenannter Betriebsblindheit verstanden werden. Seit jeher ist Interdisziplinarität ein Element wissenschaftlicher Forschung und Lehre; und eben diese steht nicht in Frage. Mit dem Rückgriff auf die negative Lehrfreiheit wird hier lediglich die durch die Prüfungsordnung scheinbar indizierte Pflicht, die akademische Lehre über die rechtsrelevanten Bezüge hinausgehend auf die für die Prüfungsreife erforderlichen Grundlagen von Nachbarwissenschaften erstrecken zu müssen, in Frage gestellt - nicht die Freiheit, dies zu tun, nicht der Anspruch, dies zu können, und schon gar nicht die zumindest moralische Pflicht, dies im Interesse der bestmöglichen Ausbildung von Juristen zu müssen. 4. Ob das beschriebene und wohl nicht zu vernachlässigende Dilemma für die gesamte Hamburger Ausbildung der Studierenden zur Prüfungsreife praktisch nur auf der Grundlage der Erfahrungen gelöst werden kann, die insoweit im hiesigen Einstufenmodell gemacht worden sind, wird zu prüfen sein: Soweit nicht Professoren über die erforderlichen Doppelqualifikationen - neben der Rechtswissenschaftlichen also auch für die betreffende(n) Nachbarwissenschaft(en) - verfügen, könnten Hochschullehrer mit den entsprechenden Qualifikationen in den Nachbarwissenschaften für den rechtswissenschaftlichen Fachbereich berufen werden. Auf diese Weise könnte wohl die der rechtswissenschaftlichen Lehre unmittelbar dienliche Ausbildung in den nachbarwissenschaftlichen Grundlagen wirklich in dem vollständigen Umfang sichergestellt werden, den die Vorschriften der J A O für eine Prüfungsreife voraussetzen. Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg haben sich just zu diesem Teil, die Juristenausbildung aufgrund der im Modell gewonnenen Erfahrungen zu verbessern, bekannt: Sich der damit notwendig verbundenen Folgen, geeignete und ausreichende Ausbildungskapazitäten vorzuhalten, bewußt zu werden und entsprechend zu handeln, wird eine der dringlichsten Aufgaben der Veranlasser sein müssen. 5. Bedeutung für das Studium Die Freiheit des Studiums, in §3 Abs. 4 H R G definiert als das Recht, „unbeschadet der Studien- und Prüfungsordnung" insbesondere Lehrveranstaltungen frei wählen, innerhalb seines Studienganges Schwerpunkte nach eigener Wahl bestimmen und wissenschaftliche oder künstlerische Meinungen erarbeiten und äußern zu dürfen, steht unter dem Vorbehalt, daß ein ordnungsgemäßes Studium gewährleistet ist (§3 Abs. 4 S. 2 HRG), bzw. der Pflicht, Studien- und Prüfungsordnung zu beachten (§§ 44 Abs. 2 und 65 HmbHG). Diese Schranken der Freiheit des Studiums sind verfassungsrechtlich nicht an Art. 5 Abs. 3 S. 1 G G zu
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messen: Die Studienfreiheit des Studierenden ist nicht als Spiegelbild der Lehrfreiheit des Hochschullehrers, sondern als ein Element des Rechts auf freie Ausbildungswahl zu verstehen 20 . Insbesondere die hier aufgezeigten Grenzen der Lehrpflicht der Hochschullehrer stehen demgemäß weder der Studienfreiheit noch der Beachtlichkeit der Prüfungsordnung im Studium entgegen. Insoweit wirkt sich die Prüfungsordnung jedoch unmittelbar nicht auf das Studium aus. Wer die Prüfungsordnung - insbesondere die Vorschriften darüber, daß bestimmte Wissenschaftsmaterien als Prüfungsgegenstände maßgeblich sind - mißachtet (oder mißachten muß, weil sie etwa in seinem Fachbereich nicht gelehrt werden), wird seine Wissenslücken in aller Regel erst dann offenbaren, wenn er sich der Prüfung stellt. Daß das Studium ordnungsgemäß gewesen ist, wird für die Zulassung zur Prüfung nicht vorausgesetzt ( § 3 Abs. 2 : „soll teilgenommen haben") 2 '; ein prüfungsordnungswidriges Studium führt nicht zur Exmatrikulation (§ 35 H m b H G ) . Die Anordnung, daß die Prüfungsordnung zu beachten ist, wird somit allenfalls als Obliegenheit verstanden werden können; sie berührt die Studienfreiheit nicht.
B. Verbindungen zwischen Lehre und Prüfung Mit der beschriebenen Verpflichtungskraft der J A O für die Lehre soll grundsätzlich gewährleistet sein, daß diese gegenständlich auf die Prüfung hinführt, auf sie vorbereitet. Jenseits der Grenzen dieser verpflichtenden Wirkung können freilich die Gegenstände von Lehre und Prüfung inkongruent sein, und zwar auch durch Defizite auf Seiten der Lehre: „Der Fachbereich" kann aus gerechtfertigtem Grund nicht gelehrt haben, was nach der Prüfungsordnung rechtmäßig Gegenstand der Prüfung ist. U m die Frage beantworten zu können, ob eine derartige Inkongruenz von Lehr- und Prüfungsgegenständen beseitigt werden muß, ist davon auszugehen, daß eine Vereinbarung zwischen Prüfungsamt und Universität über den Ausschluß der nicht kongruenten Prüfungsgegenstände grundsätzlich unzulässig ist: Die vorgeschriebenen Prüfungsgegenstände stehen jedenfalls nicht dergestalt zur Disposition des Prüfungsamtes, daß es ihre gesetzlich zugelassene Prüfbarkeit verbindlich aufheben kann. 20 Vgl. etwa: BVerfGE 33, 303, 329 ff; Scholz in Maunz/Dürig/Herzog, aaO, Art. 5 Abs. 3 Rdn. 113; a.A. Lüthje in Denninger, aaO, §3 Rdn.46. 21 Anders - ausdrücklich oder ersichtlich nach dem Zusammenhang - dagegen z.B.: §11 Abs. 1 Nr. 1 BremJAPG v. 24.9.1985 (GBl. S. 161); §9 Abs. 1 Nr. 2 a HessJAG v. 7.11.1985 (GVB1. S.212); §8 Abs. 1 Nr.2 JAGNRW v. 19.3.1985 (GVB1. S.296); §2 Abs. 1 Nr. 1 JAPORhPf. v. 16.10.1985 (GVB1. S.227); §13 Saarl. JAO v. 10.9.1985 (ABl. S. 978); §2 Abs. 2 JAO SH v. 2.8.1985 (GVB1. S.237).
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Prüfungsgegenstände, die nicht gelehrt worden sind, auch nicht zu prüfen, kann nur erreicht werden, wenn die in der Ausübung ihrer Prüfertätigkeit unabhängigen Mitglieder des Landesjustizprüfungsamtes ( § 8 Abs. 5 S. 1) kraft dieser Unabhängigkeit darauf verzichten, diese Gegenstände zu prüfen. Insoweit ist bedeutsam, wer befugt ist, eine Prüfertätigkeit in der Ersten Juristischen Staatsprüfung auszuüben, und welche Grenzen ihm insoweit gezogen sind (I.). Freilich besteht eine Kompetenz der Mitglieder des Landesjustizprüfungsamtes, die konkreten Prüfungsgegenstände zu bestimmen, nur im Rahmen der mündlichen Prüfung - die Kompetenz zur Auswahl der konkreten Gegenstände in den schriftlichen Prüfungsabschnitten ist als eine pädagogisch-wertende Entscheidung dem Präsidenten des Landesjustizprüfungsamtes übertragen 22 (§§11 Abs. 5 S. 1; 12 Abs. 3 S. 1). Deshalb bleibt zu klären, ob es höherrangige (bundesrechtliche) Grundoder Rechtssätze gibt, die dazu zwingen oder ermächtigen, den landesrechtlich zulässigen Prüfungsstoff einzuschränken, wenn und soweit er nicht Gegenstand der akademischen Lehre war oder ist (II.). I. Der Prüfer und seine Prüfertätigkeit Der Status als Prüfer wird in § 8 Abs. 2 hinsichtlich der Voraussetzungen, als Mitglied berufen zu werden, und in § 8 Abs. 5 Satz 2 mit Bezug auf seine Tätigkeit geregelt. Zu Mitgliedern des Landesjustizprüfungsamtes können berufen werden: Hochschullehrer, nämlich Professoren eines mit der Juristenausbildung befaßten Fachbereichs der Universität Hamburg und promovierte Angehörige des Lehrkörpers mit der Befähigung zum Richteramt (§ 8 Abs. 2 Nr. 1), sowie Praktiker, nämlich Personen mit der Befähigung zum Richteramt oder einer durch Prüfung erworbenen Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst ( § 8 Abs. 2 Nr. 2). Als Prüfer tätig werden die Hochschullehrer, soweit sie mit der Ausbildung auf dem Gebiet eines Prüfungsgegenstandes, und die Praktiker auf den Gebieten, mit denen sie durch ihre praktische Berufsausübung vertraut sind (§ 8 Abs. 5 S. 2). Der Sinn dieser „Vertrautseinsklausel" - die auf den ersten Blick als eine erweiterte, für die Staatsprüfung zugeschnittene Fassung des für Hochschulprüfungen anerkannten Grundsatzes „Wer lehrt, prüft" 23 erscheint - , ihr Verhältnis zu § 8 Abs. 2 und insbesondere zu dem in § 20 geregelten Prüfungs- und Bewertungssystem müssen erläutert werden.
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Vgl. Hess. VGH, Urteil v. 2 4 . 9 . 1 9 8 5 (2 U E 23/84) S . 2 7 f ; Müller, JuS 1985, 497, Vgl. etwa: Lennartz in Denninger, aaO, § 1 5 Rdn.23.
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1. Die Mitgliedschaft im
Landesjustizprüfungsamt
§ 8 Abs. 2 bestimmt abstrakt die Voraussetzungen, unter denen eine Person zum Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes berufen werden darf. Insoweit sind zwei Gruppen erkennbar: die Gruppe der Personen, welche die Befähigung zum Richteramt oder die durch Prüfung erworbene Eignung zum höheren Verwaltungsdienst besitzen, und die Gruppe der Professoren eines mit der Juristenausbildung befaßten Fachbereichs der Universität Hamburg. Prägendes Merkmal der ersten Gruppe ist die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst. Zum Richteramt wird diese gemäß § 5 D R i G durch das Bestehen der Ersten und der Großen Juristischen Staatsprüfung erlangt; für den höheren Verwaltungsdienst wird sie durch diejenige zum Richteramt erworben; an die Stelle des rechts wissenschaftlichen Studiums kann für die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst jedoch auch ein Studium der Wirtschafts-, Sozial- oder Verwaltungswissenschaft treten (§ 23 Abs. 2 H m b B G ) . Mithin können nach dem Wortsinn des § 8 Abs. 2 Ziff. 2 auch Volks- und Betriebswirte, Soziologen und Verwaltungswissenschaftler mit ihrer Laufbahnprüfung befähigt sein, zu Mitgliedern des Landesjustizprüfungsamtes berufen zu werden 24 . Entsprechendes gilt gemäß § 15 H m b H G für die Einstellung als Professor; eine Beschränkung auf „Professoren des Rechts" oder auf Professoren, welche für das Richteramt befähigt sind oder zumindest ein rechtswissenschaftliches Hochschulstudium abgeschlossen haben, ist in § 8 Abs. 2 Nr. 1 nicht vorgesehen 25 .
2. Die Tätigkeit als Prüfer Dies kann indessen nicht bedeuten, daß damit grundsätzlich der Prüfung durch Nichtjuristen das T o r geöffnet ist. Insoweit ist der in § 8 Abs. 5 S. 2 geregelten Vertrautseinsklausel eine besondere Gewährleistungsfunktion beizumessen. § 8 Abs. 5 S. 2 bestimmt nämlich, inwieweit ein berufenes Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes in der Ersten Juristischen Staatsprüfung als Prüfer tatsächlich tätig werden darf und begrenzt insoweit die etwa durch Mitgliedschaft erlangten Rechte als 24 Wie in Hamburg lediglich § 9 A b s . 3 N r . 3 J A O SH v. 2 . 8 . 1 9 8 5 (GVB1. S . 2 3 7 ) ; ausdrücklich unter Ausschluß dieser Personen dagegen: § 8 Abs. 4 B a y J A P O v. 2 6 . 1 1 . 1 9 8 5 (GVBl. S . 7 3 8 ) ; § 1 4 B l n J A G v. 2 6 . 1 1 . 1 9 8 4 (GVB1. S . 1 6 8 4 ) ; § 3 A b s . 2 Hess J A G v. 7 . 1 1 . 1 9 8 5 (GVBl. S . 2 1 2 ) ; § 5 5 A b s . 2 N J A O v. 2 4 . 7 . 1 9 8 5 (GVBl. S . 2 1 5 ) ; § 4 A b s . 4 J A G N R W v. 1 5 . 1 0 . 1 9 8 2 (GVBl. S . 7 0 2 ) ; § 1 9 A b s . 3 J A G RhPf. v. 6 . 9 . 1 9 8 5 (GVBl. S. 2 0 9 ) ; § 6 Saarl. J A O v. 1 0 . 9 . 1 9 8 5 (ABl. S . 9 7 8 ) . 25 Anders ausdrücklich die in A n m . 24 genannten Landesgesetze - zusätzlich auch § 3 Abs. 3 N r . 1 J A O S H jedoch mit Ausnahme von § 8 Abs. 2 Ziff. 1 a B a y J A P O , w o neben Professoren der Rechte noch Professoren der Volks- und Betriebswirtschaftslehre vorgesehen sind.
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Prüfer. Inhalt und die Tragweite dieser Klausel erscheinen indessen als unklar. a) Zum einen spiegelt die Vertrautseinsklausel nicht den in § 2 Abs. 1 S. 1 geregelten doppelten Prüfungszweck wider. Die Vorschriften über die Leistungsbewertung ( § § 1 5 , 20) differenzieren nämlich nicht nach den beiden Elementen dieses Zwecks. Jeder berufene Prüfer hat dieselbe Kompetenz und Last, umfassend zu beurteilen: O b der Prüfling insoweit das rechtswissenschaftliche Studienziel erreicht und damit für die praktische Ausbildung fachlich geeignet ist, haben Hochschulprüfer wie Praxisprüfer jeweils aus ihrer Sicht vollständig und letztverantwortlich zu entscheiden. b) Die Klausel ist zum anderen - zunächst nach ihrem Wortsinn - dahin auszulegen, daß jeder Prüfer nur die ihm durch seine Lehre oder Berufspraxis vertrauten Gebiete prüfen darf. Prüfen, also eine Prüfungsleistung begutachten und bewerten, über sie ein höchstpersönliches, pädagogisch-fachwissenschaftliches Werturteil fällen, das im Rahmen des Beurteilungsspielraums weder behördlich noch gerichtlich überprüft werden kann, darf nur der, dem das den Gegenstand der Prüfungsleistung darstellende Gebiet durch seine hauptamtliche Tätigkeit als H o c h schullehrer oder Praktiker geläufig ist. Vertrautsein kann insoweit nur verstanden werden als ein hauptamtliches Befaßtsein mit diesem Gebiet, ist also formal unter dem Blickwinkel der Zuständigkeit in Lehre oder Praxis und nicht unter anderweitigen Qualitätsgesichtspunkten festzulegen. Bei den Hochschullehrern kann das Gebiet, für welches das Vertrautsein in diesem Sinne anzunehmen ist, nach der fachlichen Ausrichtung ihrer Ämter bestimmt werden, in die sie aufgrund ihrer erworbenen Lehrbefähigung berufen wurden. Für die Mitglieder aus der Praxis solches in dem in Rede stehenden Sinne abzugrenzen, ist schwieriger. Insoweit kann nicht auf die aktuelle Zuständigkeit - etwa festgelegt durch Geschäftsverteilungs- oder behördliche Organisationspläne abgestellt werden: Diese werden häufig geändert und sind unter Umständen auf eng gefaßte Spezialgebiete zugeschnitten. Deshalb muß die Zuständigkeit danach bestimmt werden, welchem der in der Prüfungsordnung erwähnten Kernbereiche des Rechts das vom Praxisprüfer aktuell oder früher beruflich abgedeckte Gebiet ganz oder teilweise zuzuordnen ist. In diesem Sinne wäre z. B. mit dem Bürgerlichen Recht ( § 5 Abs. 2 Ziff. 1) befaßt und damit vertraut, wer als Zivilrichter in Mietsachen, mit dem Öffentlichen Recht ( § 5 Abs. 2 Ziff. 5), wer als Verwaltungsrichter oder Beamter in Asylsachen zuständig ist oder war. Diese auf formale Kriterien reduzierte, dadurch restriktive Auslegung der Vertrautseinsklausel, die weitergehende qualitative Merkmale ausblendet, gewährleistet noch eine gewisse Gebietsnähe und (präsumtive)
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Sachkunde des Prüfers. Dies ist für die Akzeptanz just eines negativen, vom Beurteilungsspielraum gedeckten, deshalb letztverbindlichen Werturteils des Prüfers und dessen oft schicksalhafter Wirkung von großer Bedeutung; deren Mangel war eben deshalb wiederholt Gegenstand von Anfechtungsverfahren 26 . Aus der Sicht der Prüflinge und des Prüfungsamtes erweist sich die Vertrautseinsklausel jedenfalls im Interesse der Akzeptanz von Prüfungsentscheidungen als Vorteil. Den Anfechtungsverfahren ist in der Regel der Erfolg versagt geblieben: Das Bundesverwaltungsgericht hat jeweils erkannt, daß die Prüfungsbehörden im Bereich juristischer Staatsprüfungen von Bundesrechts wegen - entsprechendes Landesrecht bestand nicht - nicht gehalten sind, nur solche Prüfer damit zu betrauen, bestimmte Prüfungsaufgaben zu beurteilen, die auf dem besonderen Fachgebiet der Prüfungsaufgabe auch sonst jeweils speziell beruflich tätig sind27. Nach grammatischer Auslegung bestimmt § 8 Abs. 5 S. 2 dieses nunmehr von Landesrechts wegen. Damit geht die Vorschrift über das nach bundesgerichtlichen Erkenntnissen von Bundesrechts wegen Gebotene hinaus. c) Wird der Blick von dem in § 8 Abs. 5 S. 2 durch die vorgenommene Auslegung bereits erweiterten Recht des Mitgliedes, als „vertrauter" Prüfer tätig zu werden, auf das Bewertungssystem, insbesondere in der mündlichen Prüfung (§ 20), gelenkt, so erweist sich indessen auch diese grammatisch-restriktive Auslegung der Vertrautseinsklausel noch als zu eng. §20 Abs. 2 S.2 schreibt vor, daß das Mitglied in der mündlichen Prüfung als Prüfer für alle Gegenstände der mündlichen Prüfung gemäß §19 Abs. 1 S. 3 die drei Kernbereiche des Rechts und den vom Prüfling gewählten Wahlschwerpunkt einschließlich der diesem zugeordneten sozialwissenschaftlichen Prüfungsgegenstände - tätig wird. Er hat das Recht und die Pflicht, die auf diesen Gebieten von den Prüflingen erbrachten Leistungen höchstpersönlich zu beurteilen, im Rahmen seines Beurteilungsspielraums letztverbindlich zu bewerten und jeweils eine Note gemäß § 14 vorzuschlagen. Würde mit der in Rede stehenden Klausel in der vorgenommenen Auslegung wirklich ernst gemacht werden, so würde in der mündlichen Prüfung nur derjenige als Prüfer tätig sein dürfen, der in Ausbildung oder beruflicher Tätigkeit mit allen diesen rechtswissenschaftlichen und nachbarwissenschaftlichen Prüfungsgegenständen jeweils unmittelbar befaßt wäre. Eben im Lichte des § 20 Abs. 2 S. 2 wird die dem Bewertungssystem zuwiderlaufende Kehrseite dieser Auslegung der Klausel deutlich: Das Mitglied des Prüfungsamtes wäre berechtigt, seine Prüfertätigkeit auf 26 27
Etwa BVerwG D Ö V 1979, 753; DVB1. 1983, 591. Vgl. Anm. 26.
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„vertraute" Gebiete in dem erwähnten Sinne zu beschränken und jede darüber hinausgehende Tätigkeit als Prüfer zu verweigern - mit der Folge, daß bezweifelt werden müßte, ob in Hamburg verfahrensfehlerfreie mündliche Prüfungen, die nämlich der Vertrautseinsklausel in ihrem Wortsinn Rechnung tragen, überhaupt durchgeführt werden könnten. d) Dieser Widerspruch, der das Prüfungsamt praktisch funktionsunfähig machen würde, muß im Interesse der Durchführbarkeit der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Hamburg aufgelöst werden. Dies kann nur durch eine systematische Reduktion der Vertrautseinsklausel mit dem Ziel geschehen, das Recht des einzelnen Prüfers - zu Lasten jenes oben genannten Akzeptanzgedankens - auf der Grundlage des vom Gesetzgeber gewollten Prinzips der Kollegialbewertung mündlicher Prüfungsleistungen weiter auszudehnen.
aa) Die in §20 Abs. 2 S.2 von den Prüfern verlangte Prüfertätigkeit ist mit dem Wortsinn der Vertrautseinsklausel nicht vereinbar: §20 Abs. 2 S. 2 verpflichtet die Mehrzahl der Mitglieder auch zu solchen Prüfertätigkeiten, die sie im Sinne des § 8 Abs. 5 S. 2 nicht ausüben dürften. Sie müssen nämlich als Prüfer auch auf den Gebieten tätig sein, mit denen sie nicht durch ihre Tätigkeit in Ausbildung oder Praxis befaßt und damit vertraut sind. Von dieser Pflicht stellt sie weder die Beratung (§20 Abs. 1) noch der höhere Zählwert der Stimme des Fachprüfers (§20 Abs. 2 S. 3) frei; das Recht, die Leistung des Prüflings auf einem dem Prüfer nicht vertrauten Gebiet nach Beratung aus seiner Sicht eigenverantwortlich zu beurteilen und durch den Vorschlag einer bestimmten Note zu bewerten, ist vor der Abstimmung im Sinne des § 20 Abs. 2 S. 2 auszuüben und wird für diese, bei der dann das Gewicht der Stimme des Fachprüfers höher ist, überhaupt erst vorausgesetzt. Dieses Recht steht nicht zur Disposition des Prüfers; er darf sich nicht weigern, es auszuüben; vielmehr ist er dazu verpflichtet, nach diesem Recht zu verfahren: Soll ein Verfahrensmangel vermieden werden, so muß jedes Mitglied des Ausschusses für die mündliche Prüfung jede der in den vier Abschnitten der mündlichen Prüfung erbrachten Prüfungsleistungen beurteilen und bewerten. Dabei wird das Mitglied auch auf den Gebieten als Prüfer tätig werden müssen, mit denen es durch seine Tätigkeit in Beruf oder Lehre nicht (im weitesten Sinne) vertraut ist - und dadurch gegen die Vertrautseinsklausel verstoßen. bb) Dieser Verletzung der Klausel wird jedoch vorgebeugt, wenn sie (auch) im Lichte des § 20 Abs. 2 S. 2 restriktiv ausgelegt und angewendet wird. Dafür kann an die im § 20 Abs. 2 S. 3 erwähnte Eigenschaft und Bedeutung des Fachprüfers angeknüpft werden: Wird die Vertrautseins-
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klausel auf die Tätigkeit als Fachprüfer reduziert, so gilt sie nicht für die Mitwirkung eines Mitgliedes als Mitprüfer in der mündlichen Prüfung. Mitbeurteilender im System des § 2 0 Abs. 2 kann danach ein Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes auch dann sein, wenn es mit den Bereichen, die es nicht selbst prüft, aber mitzubeurteilen und zu bewerten hat, nicht durch seine Tätigkeit in Lehre und Praxis unmittelbar befaßt und damit vertraut ist.
cc) Diese Auslegung der in Rede stehenden Klausel ist für Mitglieder des Prüfungsamtes mit juristischer Qualifikation ohne weiteres zu rechtfertigen. Sie haben sich immerhin im Rahmen ihrer eigenen rechtswissenschaftlichen Ausbildung bis zum Nachweis der Prüfungsreife auch zumindest mit den Kernbereichen des Rechts und einigen grundlegenden nachbarwissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt, mit denen sie in ihrer gegenwärtigen Lehr- bzw. Berufspraxis nicht mehr unmittelbar befaßt sind. Auch mit dem bundesrechtlichen Grundsatz „Wer lehrt, prüft" dürfte die Auslegung insoweit zu vereinbaren sein: Dessen unterstellte - Geltungskraft für die Erste Juristische Stoiisprüfung kann nicht dazu führen, das System, Hochschullehrer und Praktiker paritätisch zu beteiligen, und insbesondere die in § 2 0 geregelte Struktur der mündlichen Prüfung in diesem Examen in Frage zu stellen. O b die Mitglieder des Landesjustizprüfungsamtes, die nicht über eine rechtswissenschaftliche, sondern allein über eine wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche Ausbildung und Qualifikation verfügen, diese Legitimation für ihre Tätigkeit als Mitprüfer ebenfalls in Anspruch nehmen können, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter zu untersuchen: Zum einen hat der hamburgische Gesetzgeber diese im Gesetzgebungsverfahren umstrittene Frage 28 erwogen und ersichtlich dahin entscheiden wollen 2 ', daß auch ihnen - wie schon für die Abschlußprüfung im Hamburger Modell der einstufigen Juristenausbil-
28 Verfassungsrechtliche Bedenken waren erhoben worden mit Blick auf den Grundsatz der Chancengleichheit der Prüflinge (Art. 3 Abs. 1 GG), die Sperrfunktion der Prüfung für den Berufszugang (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie die eingeschränkte Kontrolle der Prüfungsentscheidungen im Anfechtungsverfahren, ob die Grenzen des auch diesen Prüfern eingeräumten pädagogisch-wissenschaftlichen Beurteilungsspielraums eingehalten worden sind (Art. 19 Abs. 4 GG); dazu näher: BVerfGE 45, 79, 133; BVerwGE 45, 39, 48; BVerwG DOV 1979, 753; Mallmann/Strauch, Die Verfassungsgarantie der freien Wissenschaft, 1970, S. 71 f; Pietzcker, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Prüfungen, 1975, S. 128f; Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat, 1978, S. 188f; Reich, Hochschulrahmengesetz, 2. Aufl., S.59; Bode in Dallinger/Bode/Dellian, Hochschulrahmengesetz, 1978, § 1 5 Rdn. 10; Ludwig, Die Mitwirkung Nichthabilitierter im Habilitationsverfahren, WissR 1982, 138, 161 f; Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 1984, S.395. 29 Vgl. die Ausführungen des Vorsitzenden des Rechtsausschusses der Bürgerschaft in deren 92. Sitzung vom 5. März 1986 (Plenarprotokoll 11/92 S. 5535 f).
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dung — die in Rede stehende Legitimation zugestanden werden soll. Zum anderen ist nicht erkennbar, in welcher Weise diese Frage in der mündlichen Prüfung überhaupt praktisch werden kann: Nach der in § § 1 8 Abs. 2 und 19 Abs. 1 und 3 getroffenen Regelung muß in dem Prüfungsausschuß, der aus vier Prüfern besteht, der Fachprüfer für den vom Studenten gewählten Wahlschwerpunkt einschließlich der diesem zugeordneten sozialwissenschaftlichen Prüfungsgegenstände zumindest auch Rechtswissenschaftler sein. e) Inwieweit das System der Begutachtung und Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen insbesondere dann, wenn diese gemäß §§11 Abs. 3 S. 3 oder 12 Abs. 2 S. 4 auch auf sozialwissenschaftliche Prüfungsgegenstände bezogen sind, zu ähnlichen Reduktionen des § 8 Abs. 5 S. 2 zwingt, soll hier ebenfalls offenbleiben: Insoweit besteht keine Kompetenz dieser Mitglieder, den Gegenstand der Prüfung zu bestimmen 30 . 3. Die Bedeutung für den Prüfling Soweit ein Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes als Fachprüfer in der mündlichen Prüfung tätig werden darf, entscheidet es in Unabhängigkeit auch über die Gegenstände, die geprüft werden. Hier darf der Hochschullehrer - für den Prüfling überschaubar - den gesetzlichen Prüfungsstoff mit Blick auf die Gegenstände seiner Lehre, der Praxisprüfer — weniger vorhersehbar — mit Blick auf die Gegenstände seiner ehemaligen oder gegenwärtigen praktischen Tätigkeit beschränken. Das Prüfungsamt darf diesen Mitgliedern angesichts ihrer Unabhängigkeit, die allerdings wegen des Grundsatzes der Chancengleichheit an unzulässigen „Verabredungen" im Vorstellungstermin ihre Grenze findet, nicht aufgeben, den gesetzlichen Rahmen zulässiger Prüfungsgegenstände jeweils auszuschöpfen. Dem Prüfling freilich ist damit nicht die Möglichkeit eröffnet, sein Studium oder seine Examensvorbereitungen gegenständlich zu beschränken: Er weiß - wohl den Wahlschwerpunktabschnitt ausgenommen — vorher nicht, ob ihm im mündlichen Teil des Examens ein die Prüfungsgegenstände entsprechend seiner Lehrtätigkeit einschränkender Hochschullehrer oder ein Praxisprüfer begegnen wird, der hierzu keinen Anlaß sieht.
50 Auf den ersten Blick erscheint es jedenfalls als zweifelhaft, ob bei der Neufassung des insoweit einschlägigen § 15 Abs. 1 die in § 8 Abs. 5 S. 2 eingeführten Grenzen der Prüfertätigkeit beachtet worden sind; jeder der höchstens drei Prüfer hat nämlich nach § 15 Abs. 1 die gesamte schriftliche Prüfungsleistung zu begutachten und zu bewerten - die Arbeit und damit die Gutachterlast nach rechts- und sozialwissenschaftlichen Teilen zu zerlegen, die den als Prüfer tätigen Mitgliedern durch Lehre oder Praxis jeweils vertraut sind, ist in dem Gesetz nicht vorgesehen und wäre deshalb wohl verfahrensfehlerhaft.
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II. Deckungsgleichheit von Lehr- und Prüfungsstoff Die Forderung danach scheint dem System von Ausbildung und Prüfung innezuwohnen. Dabei werden, indem man sich auf entsprechende Erfahrungen beruft, Sätze artikuliert, deren Zielrichtung als ungewiß erscheint, etwa diese: „Gelehrt wird nur, was geprüft wird", „Was gelehrt wird, muß auch geprüft werden", „Gelernt wird nur, was geprüft wird" und „Geprüft wird nur, was gelehrt wird". Durch ihre regelhafte Fassung wird diesen Sätzen - vielleicht unbewußt - ein der Regel immanenter Geltungs- und Beachtungsanspruch verliehen und damit - meist unbemerkt - zugleich der Sprung vom Gewünschten zum Verbindlichen vollzogen. Zu klären sind Geltungsgrund und eventueller konkreter Regelungsgehalt derartiger Sätze: Können sie oder ihnen etwa zugrunde liegende Rechtsgrundsätze - speziell mit Blick auf das in Rede stehende Verhältnis von akademischer Lehre zur Staatsprüfung - vor allem die postulierte Beschränkung des Prüfungsstoffes auf den Lehrstoff rechtfertigen? Läßt sich ein Geltungsgrund für diese Sätze nicht ausmachen oder tragen sie bereits nach ihrem Inhalt die geforderte Schmälerung nicht, so liegt der Schluß nahe, daß es sich bei ihnen um nicht mehr als schlichte „Alltagstheorien" handelt, die zu nichts anderem taugen als dazu, den Blick auf die unbedingte Verbindlichkeit der Prüfungsordnung zu verstellen. 1. „Gelehrt wird, nur, was geprüft
wird"
Dieser Satz will erkennbar nicht den Prüfungsstoff auf den Lehrstoff, sondern - umgekehrt — die Lehre auf den Prüfungsstoff beschränken. Er geht davon aus, daß der Prüfungsstoff verbindlich ist und stellt fest, nur dieser sei Gegenstand der Lehre. Der Satz läßt sich auf § 3 Abs. 3 H R G insoweit zurückführen, als die Freiheit der Lehre - nur — „im Rahmen der zu erfüllenden Lehraufgaben" unter „Einhaltung von Studien- und Prüfungsordnungen" besteht. Damit soll im Kern - verkürzt und zugespitzt - wohl die dienstrechtliche Einschränkung der Freiheit der Lehre ihren Ausdruck finden, also der Bereich, in dem die Freiheit weitgehend durch die Pflicht verdrängt ist. Dies ist so verkürzt indessen unrichtig. Die Verpflichtung, die Prüfungsordnung einzuhalten, besteht nämlich nur im Rahmen der zu erfüllenden Lehraufgaben und kann - wie bereits ausgeführt worden ist - durch die negative Lehrfreiheit eingeschränkt werden. Jedenfalls kann - wie wir sahen - für die nach Umfang und Prüfungsrelevanz in Rede stehenden nachbarwissenschaftlichen Prüfungsgegenstände der Juristenausbildungsordnung eine Pflicht zur akademischen Lehre partiell nicht begründet werden. Daß der Satz durch das Wort „nur" zudem einen wenig akademischen
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Inhalt erhält und gegen § 3 Abs. 3 HRG, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG verstößt, soweit in ihm die Freiheit der Lehre auch jenseits von Lehrpflichten verneint wird, sei am Rande bemerkt. 2. „Was gelehrt wird, muß auch geprüft werden" Mit diesem Satz sollen die Lehrgegenstände für den Prüfungsstoff maßgeblich (gemacht) werden. Wird die Wendung dahin ausgelegt, daß alles, was Gegenstand der Lehre sein darf, auch Gegenstand der Prüfung sein muß, dann wird der Freiheit der Lehre der Anspruch beigefügt, daß die von der Lehrfreiheit umfaßten Lehrgegenstände auch Prüfungsgegenstände sein müssen: Die Freiheit der Lehre zöge die Pflicht, alles dieses auch zu prüfen, nach sich; dafür, den Prüfungsstoff - etwa durch die Prüfungsordnung - zu beschränken, wäre kein Raum. Aus der Sicht eines Hochschullehrers könnte die Sentenz als psychologisch verständlich und akademisch schon aus didaktischen Erwägungen folgerichtig erscheinen. Aus einem Rechtssatz kann sie indessen nicht abgeleitet werden. Indem der Satz direkt an die Freiheit der Lehre anknüpft, verstößt er vielmehr gegen den für Prüfungen in Art. 12 Abs. 1 S.2 GG vorgeschriebenen Rechtssatzvorbehalt: Er ist insoweit rechtswidrig, wie durch ihn das verfassungsrechtliche Gebot beeinträchtigt wird, die Prüfungsgegenstände jedenfalls durch Rechtssatz zu bestimmen31. Wird das Motto — enger - in dem Sinne ausgelegt, daß nur das, was tatsächlich Gegenstand der Lehre war oder ist, Prüfungsgegenstand sein darf, dann schränkt es gesetzlich geregelte Prüfungsgegenstände nach Maßgabe der tatsächlich vermittelten Lehrgegenstände ein. Auch bei dieser Auslegung kann das Schlagwort nicht aus einem Rechtssatz hergeleitet werden: Rechtlich kann auch dieser Ansatz nicht abweichend beurteilt werden. Denn der Rechtssatzvorbehalt wird dadurch gleichfalls verletzt, daß an die Stelle der Maßgeblichkeit aller denkbaren Gegenstände der akademischen Lehre die Liste derjenigen tritt, die von den Hochschullehrern eines Fachbereichs in der Lehre tatsächlich vermittelt wurden. 3. „Gelernt wird nur, was geprüft wird" Diese Fassung beschreibt die gegenständliche Beschränkung des Studiums nach Maßgabe des Prüfungsstoffes; sie knüpft an die in §3 Abs. 4 HRG vorgesehene Einschränkung der Freiheit des Studiums durch die Prüfungsordnung an. Das in § 3 Abs. 4 HRG noch betonte Akademische des Studiums wird indessen regelhaft verneint; dadurch ist der Satz in 31
Vgl. Wahl,
DVB1. 1985, 822, 827.
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rechtlicher Hinsicht falsch und gibt bestenfalls eine statistische Wahrheit wieder. In deren Licht gewinnt die eng verstandene Sentenz „Was gelehrt wird, muß auch geprüft werden" allerdings eine psychologische Berechtigung, die von allen in Ausbildung und Prüfung Tätigen nicht unterschätzt werden darf.
4. „Geprüft wird nur, was gelehrt
wird"
Diese Wendung schließlich bringt den Komplementärgedanken zu dem Satz „Was gelehrt wird, muß auch geprüft werden" zum Ausdruck; beide Sätze bezwecken die Deckungsgleichheit von Prüfungs- und Lehrgegenständen nach Maßgabe des Lehrstoffes. Das Bemerkenswerte an dem Satz „Geprüft wird nur, was gelehrt wird" besteht jedoch darin: Die Eigenschaft eines Gegenstandes als eines solchen der Prüfung soll dadurch bedingt sein, daß er zuvor Lehrgegenstand gewesen ist. Kein Rechtssatz verknüpft indessen Prüfungs- und Lehrgegenstände im Sinne einer derartigen Abhängigkeit. § 5 bestimmt die Prüfungsgegenstände eindeutig ohne diese Bedingung. § 3 Abs. 3 H R G nimmt die Freiheit der Lehre just im Rahmen der Prüfungsordnung in Pflicht. Hiermit ist das mit dem in Rede stehenden Satz geforderte Bedingtsein der Prüfungsgegenstände unvereinbar. Erwogen werden kann, ob der Satz auf den für Hochschulprüfungen allgemein anerkannten Grundsatz „Wer lehrt, prüft" 32 zurückführbar ist und deshalb eine gegenstandsbeschränkende Wirkung für die Staatsprüfung beanspruchen kann. Dies ist nicht der Fall. Zum einen kann der für Hochschulprüfungen anerkannte Grundsatz „Wer lehrt, prüft" auf die in der J A O geregelte Staatsprüfung allenfalls unvollständig, nämlich nur zur Hälfte, angewendet werden: Die an jeder Staatsprüfung paritätisch beteiligten Mitglieder der Praxis prüfen, und zwar im allgemeinen, ohne zu lehren". Zum anderen: Soweit der Grundsatz mit Blick auf die speziellen Berufungsvorschriften des § 8 überhaupt für die Beteiligung der Hochschullehrer gelten kann, trägt er den Satz „Geprüft wird nur, was gelehrt wird" nicht. Denn er selbst bezweckt nicht das in Rede stehende Bedingtsein der Prüfungsgegenstände. Der Grundsatz „Wer lehrt, prüft" regelt ein persönliches Merkmal des Hochschullehrers, nämlich tatsächlich als Hochschullehrer tätig zu sein: Nur wer lehrt, soll prüfen dürfen, damit gewährleistet ist, daß sich die Lehre in der staatlichen Prüfung überhaupt niederschlagen kann. Bindeglied dieser Bezogenheit ist lediglich die Lehrtätigkeit als solche, nicht einzelne Gegenstände der Lehre oder deren Summe. Deshalb bedeutet der Grundsatz „Wer lehrt, 32 3J
S.o. A n m . 2 3 . Vgl. zu den Bedenken insoweit ebenfalls Lennartz
in Denninger aaO.
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p r ü f t " nichts für die Frage, ob ein einzelner Gegenstand geprüft werden darf; er bewirkt nicht die Abhängigkeit der Prüfungsgegenstände von der Lehre, jedenfalls nicht im Sinne des beschriebenen Bedingtseins: Auch aus dem erörterten Schlagwort „ G e p r ü f t wird nur, was gelehrt wird" kann nach alledem die geforderte Verknüpfung der Prüfungs- mit den Lehrgegenständen nicht abgeleitet werden.
5.
Zusammenfassung
Keiner der erörterten Sätze rechtfertigt es, die Prüfungsgegenstände wie gefordert - auf Materien zu beschränken, die tatsächlich Gegenstand der Lehre waren. Die Gefahr ausbildungsbedingter Wissenslücken in der Prüfung hat der Prüfling zu tragen. Für eine weitgehende Ubereinstimmung von Lehr- und Prüfungsgegenständen sind in erster Linie die Studierenden, in zweiter Linie, jedoch in den aufgezeigten Grenzen der Lehrpflicht die für die akademische Lehre zuständigen Fachbereiche verantwortlich. D a s Landesjustizprüfungsamt ist ohne Abhängigkeit von Sätzen, Wendungen, Schlagworten oder Mottos der erörterten Art z u m Vollzug der Prüfungsordnung befugt und verpflichtet. D i e gesetzlich bestimmten Prüfungs gegenstände können auch dann z u m Inhalt der einzelnen Abschnitte der Ersten Juristischen Staatsprüfung gemacht werden, wenn sie nicht in Lehre und Studium behandelt worden sein sollten. Dies sollte für eine Prüfung, die eine akademische Ausbildung abschließt, eigentlich selbstverständlich sein. D e r mit Blick auf den U m f a n g des gesamten Prüfungsstoffs nicht selten erhobene Einwand, auf diesem Wege würde von dem Prüfling in der Prüfung Unmögliches verlangt, greift letztlich nicht durch: Z u m einen hat bereits die J A O den Prüfungsstoff durch das System von Pflichtfächern und Wahlschwerpunkten sowie die Beschränkung auf G r u n d z ü g e verschiedener Gebiete und die Klauseln in § 5 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 2 Satz 2 in beträchtlichem U m f a n g beschränkt. Z u m anderen lehrt langjährige Erfahrung in der Ersten Juristischen Staatsprüfung in H a m b u r g : Von den Studierenden, die rechtswissenschaftlich auf geeignete, d. h. vor allem das methodische und exemplarische Lernen genügend beachtende Weise dafür ausgebildet worden sind, das Recht insbesondere in seinen Kernbereichen mit Verständnis zu erfassen und anzuwenden, scheitern die wenigsten an der Fülle des möglichen Prüfungsstoffes. U n d schließlich sollte eine an den juristischen Berufsfeldern ausgerichtete Ausbildung (§ 1 Abs. 4 Satz 2) schon früh beginnen, den Studierenden damit vertraut zu machen, daß er im Berufsalltag nur bestehen wird, wenn er befähigt ist, mit Unbekanntem umzugehen: Solches wird ihm im Berufsleben viel öfter als in der Ersten Juristischen Staatsprüfung ohne Rücksicht darauf
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begegnen, ob er in seiner Ausbildung auch nur entfernt davon jemals etwas erfahren hat.
C. Gedanken zum Vollzug Für die Erste Juristische Staatsprüfung in Hamburg nach neuem Recht lassen sich einige wesentliche Gesichtspunkte nennen, die für den Vollzug der Prüfungsordnung bedeutsam sind und das Landesjustizprüfungsamt vor besondere Probleme stellen werden. Werden die allein in diesem Beitrag erörterten, besonderen und zum Teil neuen Umstände berücksichtigt, so ist verständlich, daß ein vollständiges Konzept noch nicht vorgelegt werden kann. Intensive, sachbezogene Gespräche des Landesjustizprüfungsamtes mit den beiden rechtswissenschaftlichen Fachbereichen der Universität und auch zwischen diesen sollten in Gang gebracht werden. Mit Blick auf einen tauglichen Vollzug im Detail ist dabei auch dieses zu beachten: I. Künftig wird die Erste Juristische Staatsprüfung in Hamburg nicht allein mit dem Aufgabenfonds des (alten) Justizprüfungsamtes durchgeführt werden können. Das Landesjustizprüfungsamt wird insbesondere für den Bereich der Wahlschwerpunktprüfung in beträchtlichem Umfang neue Aufgaben für häusliche und Aufsichts-Arbeiten herstellen müssen. Dabei wird zu überlegen sein, in welcher Weise und wie umfangreich im einzelnen die nach § 11 Abs. 3 Satz 3 möglichen nachbarwissenschaftlichen Fragestellungen in Aufgaben für die häusliche Arbeit einbezogen werden können. Vor allem wird zu klären und vom Landesjustizprüfungsamt zu entscheiden sein, ob eine Integration in den rechtswissenschaftlichen Aufgabentext zumindest überwiegend möglich ist oder es letztlich doch nicht vermieden werden kann, rechts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen additiv, nämlich durch getrennte Zusatzfragen zu verknüpfen. Insoweit werden einschlägige Erfahrungen, die sowohl in der einstufigen als auch der herkömmlichen Juristenausbildung - mit den Wahlfachprüfungen auch unter Massenbedingungen - gewonnen worden sind, verwertet und zusammengefügt werden können. Erwünscht - wenn nicht mit Blick auf die Einheitlichkeit der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Hamburg unabdingbar notwendig ist es deshalb auch, daß bereits die universitäre Ausbildung in beiden rechtswissenschaftlichen Fachbereichen zumindest in der Tendenz examensauf gabenorientiert gleichgerichtet ist: Insbesondere hier könnten die rechtswissenschaftlichen Fachbereiche mit Blick auf die Chancengleichheit der Studierenden aufgerufen sein, ihre Meinungen intensiv auszutauschen und - wenn möglich - ihre Ausbildungen in einem
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entsprechenden Rahmen zu koordinieren. Namentlich für den Bereich der Pflichtfachaufgaben sollte eine Ubereinstimmung insoweit nichtschwer .herzustellen sein. Dafür, nachbarwissenschaftliche Fragestellungen in die nach § 12 Abs. 2 S a t z l N r . 4 neu geschaffene Aufsichtsarbeit einzubeziehen (§12 Abs. 2 Satz 4), kann leider nicht auf praktische Erfahrungen der einstufigen Juristenausbildung in Hamburg zurückgegriffen werden: In deren Abschlußprüfung sind Aufsichtsarbeiten nicht anzufertigen. II. Ganz sicher werden die neuen Aufgaben für schriftliche Prüfungsleistungen nicht allein von den Referenten des Landesjustizprüfungsamtes hergestellt werden können. Das Amt wird vor allem im Wahlschwerpunktbereich und für die Aufgaben mit nachbarwissenschaftlichen Fragestellungen auf Vorschläge aus der Mitte seiner als Prüfer tätigen Mitglieder, namentlich der Hochschullehrer angewiesen sein. Insoweit könnte sich abzeichnen: Der Grad, in dem Prüfungs- und Lehrstoff nicht übereinstimmen, weil sie sich zum einen - wie wir gesehen haben - nicht gegenseitig bedingen oder sich diese Inkongruenz zum anderen aus der beschriebenen Beschränkung der Lehrpflicht durch die negative Lehrfreiheit ergeben kann, wird um so geringer sein, je stärker die als Prüfer tätigen Hochschullehrer das Amt dadurch unterstützen können, daß sie für die Prüfung geeignete und ihrer Lehre entsprechende Aufgabenvorschläge bereitstellen. Damit wird im Interesse der Studierenden etwas erbeten, das unvermeidbar zu einer weiteren, sicher kaum noch zumutbaren Mehrbelastung der als Prüfer tätigen Hochschullehrer führt. Diese bliebe für Aufsichtsarbeiten konstant. Für häusliche Arbeiten wäre sie abhängig vom Wahlverhalten der Studierenden, also davon, wie häufig diese gemäß §§10 Abs. 2 N r . 4, 11 Abs. 2 den Wahlschwerpunkt als Gebiet für die häusliche Arbeit bestimmen. III. Von vornherein sollte darauf Bedacht genommen werden, für den Wahlschwerpunktbereich genügend rechtswissenschaftliche Fachprüfer mit nachbarwissenschaftlichen Erfahrungen, Ausbildungen oder sogar Qualifikationen zu gewinnen. Der Prüfling, der etwa wegen seines Doppelstudiums oder eines Erststudiums über vertiefte Kenntnisse im nachbarwissenschaftlichen Bereich verfügt, muß auf qualifizierte Prüfer treffen: Daß er Gefahr liefe, unter dem Schild des Beurteilungsspielraums unangemessen beurteilt zu werden, sollte in jedem Falle ausgeschlossen werden können. Insoweit erscheint indessen, wenn die im Massenprüfungsgeschäft anzutreffende Situation berücksichtigt wird,
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ein Ausblick als ernüchternd: Die Zahl der in diesem Sinne doppelt qualifizierten Juristen aus der Praxis ist sehr gering; auch bei den Hochschullehrern erscheint es derzeit als kaum gewährleistet, daß zum einen insoweit geeignete Fachprüfer in genügender Zahl zur Verfügung stehen und zum anderen die (zu) wenigen vorhandenen Professoren in noch zumutbarer Weise neben ihrem Hauptamt in dem erforderlichen Umfang zu Prüfungstätigkeiten herangezogen werden können. Zu erwägen sein wird in diesem Zusammenhang auch noch dieses: Zwar fehlt in den § § 1 1 , 12 und 19 eine auf die Verfügbarkeit sachkundiger Prüfer bezogene Vorbehaltsklausel 34 . Könnte es aber für das Landesjustizprüfungsamt nicht gleichwohl mit Blick darauf, daß voraussichtlich nicht genügend (auch) rechtswissenschaftliche Fachprüfer zur Verfügung stehen werden, um alle nachbarwissenschaftlichen Gegenstände in den Bereichen der Wahlschwerpunkte sachkundig zu beurteilen, letztlich unausweichlich werden, die erwähnte Vorbehaltsklausel als einen allgemeinen Grundsatz des Prüfungsrechts heranzuziehen und den Prüfungsstoff im Einzelfall zu beschränken?
H
So bisher: §11 Abs. 2 u. 4 J A O v. 1 0 . 7 . 1 9 / 2 .
Hamburger Juristenausbildung zwischen Gestern und Morgen H E L M U T PLAMBECK „Etliche schrieen so, etliche ein anderes, und die Gemeinde war irre, und die meisten wußten nicht, warum sie zusammengekommen waren." (Apostelgeschichte, Kap. 19, Vers 32)
I. Wenn man sich noch einmal die lebhafte, bisweilen verbissene Diskussion vor allem des Jahres 1985 um die Neugestaltung der Juristenausbildung in Hamburg in das Gedächtnis zurückruft, dann fühlt man sich ein wenig an den vorangestellten Vers aus der Apostelgeschichte erinnert. Diese Diskussion litt teilweise darunter, daß einige Diskutanten nicht mehr aufeinander hörten, ja bisweilen sogar die Grundvoraussetzung der Toleranz aus den Augen verloren, das selbstkritische Bewußtsein nämlich, auch der andere könnte Recht haben. Nach Bismarck war es immer ein Fehler der Deutschen, „alles erreichen zu wollen oder nichts und sich eigensinnig auf eine bestimmte Methode zu steifen". Sollte dieser Fehler auch hier zutage getreten sein? U m so notwendiger ist es jedenfalls jetzt, da das Gesetz zur Neuordnung der Juristenausbildung, rückwirkend zum 16.9.1985, in Kraft getreten ist 1,2 , eine besonnene Bestandsaufnahme zu versuchen, vor allem aber herauszuarbeiten, wie die Juristenausbildung in Hamburg im Rahmen des Gesetzes im einzelnen organisiert und inhaltlich ausgestaltet werden soll. Diese Ausführungen sollen ein kleiner Beitrag zu dieser Analyse sein und auf einige Aspekte hinweisen. Daß dies in einer Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens geschieht, hat seinen guten Grund. Ist doch Wolfgang Martens nicht nur als angesehener Wissenschaftler, sondern auch als erfolgreicher und beliebter akademischer Lehrer und Prüfer in der Ersten Juristischen Staatsprüfung in unser aller bester Erinnerung.
1 2
GVB1. 1986 S.49. Dieser Beitrag geht im wesentlichen vom Stand April 1986 aus.
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Der Weg in die Zukunft hamburgischer Juristenausbildung kann nur gelingen, wenn alle daran Beteiligten sich dieser Aufgabe beherzt und mit Optimismus unterziehen. Diese Einstellung allein wird der Verantwortung gegenüber dem juristischen Nachwuchs gerecht. Jeder Versuch etwa, die Richtigkeit skeptischer Vorhersagen oder gar von Kassandrarufen aus der Diskussionsphase nachträglich zu beweisen, wäre verderblich. Dabei mag für manch einen tröstlich sein, daß niemand seine Vorstellung von der Neugestaltung unverändert und in reiner Form verwirklicht sehen kann, wie das bei einem viel diskutierten und umstrittenen, auch im Gesetzgebungsverfahren noch mehrfach geänderten Gesetz ganz natürlich ist. II. Wie wird die Zukunft der Juristenausbildung in Hamburg aussehen, was wird zu bedenken sein? Einige Aspekte dieser Frage sollen aufgezeigt werden. 1. Die Ausgangslage ist bekannt: Durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 25.7.1984 3 sind die §§ 5-5 d dieses Gesetzes neu gefaßt worden. Dahinter verbirgt sich insbesondere die Abschaffung der einstufigen Ausbildungsgänge (§ 5 Abs. I), die Festlegung von Pflicht- und Wahlfächern (§ 5 a Abs. II), die Regelung praktischer Studienzeiten (§ 5 a Abs. III) und die studienbegleitenden Leistungskontrollen (§ 5 a Abs. IV). Diese Änderungen auf bundesrechtlicher Ebene geboten, wie in den anderen Bundesländern, die Anpassung der Ausbildungsordnung in Hamburg, und auch der Staatsvertrag über die Große Juristische Staatsprüfung ist geändert worden. Es ist, so von Fastenrath\ darüber nachgedacht worden, ob einige der bundesrechtlichen Neuregelungen wegen Kompetenzüberschreitung nichtig seien. Fastenrath hat das für die Festlegung der Regelstudienzeit, für die obligatorische Einführung von studienbegleitenden Leistungskontrollen unter Prüfungsbedingungen und teilweise für die Vorschriften über die Prüfungsnoten bejaht5. Dem dürfte aber kaum zu folgen sein, da dieser Ansicht eine m. E. zu enge Abgrenzung der bundesrechtlichen Zuständigkeiten zugrunde liegt. Die frühzeitige Beendigung der Einstufigen Juristenausbildung durch das Dritte Änderungsgesetz ist für Hamburg zu bedauern. So ist die Frage, ob einer der beiden Ausbildungsgänge dem anderen überlegen ist, 3 4 5
BGBl. I S.995. BayVBl. 1985 S.423. AaO S. 429.
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wissenschaftlich nicht mehr entschieden worden, und diese Frage wird vermutlich endgültig unentschieden bleiben. Für Hamburg kann jedenfalls eines festgehalten werden: Die mit viel Energie und Idealismus betriebene Einstufige Juristenausbildung hat insbesondere durch den großen Einsatz aller daran beteiligten Professoren, Praktiker und Studenten gute und weitgehend anerkannte Erfolge erzielt. Insbesondere die nunmehr leider in dieser Form auslaufende Verzahnung von Theorie und Praxis hat sich bewährt. Dabei ist die dort mögliche Arbeit in kleineren Gruppen natürlich von Vorteil gewesen. Aber auch die sympathische Bereitschaft gerade in der Anfangsphase, erkannte Fehler und Schwächen selbstkritisch zu diskutieren und abzustellen, hat wesentlich zu den Erfolgen beigetragen. So haben denn auch die meisten der Absolventen dieser Ausbildung in juristischen Berufen Fuß gefaßt und dort bereits berufliche Erfolge zu verzeichnen, nicht zuletzt auch in der hamburgischen Justiz. Die Frage aber ist und bleibt interessant und wichtig, woran sich eigentlich Qualität von Juristenausbildung mißt. Denn nach den jeweiligen Antworten hat sich deren Gestaltung auszurichten. Eines wissen wir mit Gewißheit, nicht zuletzt aus Vergleichen zwischen herkömmlicher und einstufiger Ausbildung: Der Wert juristischer Ausbildung erweist sich weder an den besonders Begabten noch an den besonders Schwachen. Die Tüchtigen setzen sich so oder so durch, und die Ungeeigneten scheitern hier wie dort. Es geht also darum, gerade auch dem breiten Mittelfeld ein solides juristisches Handwerkszeug zu vermitteln und das erforderliche Bewußtsein für die Einbettung des Rechtslebens in die allgemeine gesellschaftliche Ordnung zu wecken. 2. Damit stellt sich die Frage nach dem Ziel juristischer Ausbildung. Der Antworten gibt es so viele wie etwa auf die Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Das ist nicht verwunderlich, gibt es doch zwischen beiden Fragen unmittelbare Zusammenhänge. Die Gesetze, hier vor allem § 5 a D R i G und der nunmehr ebenfalls geänderte - ergänzte — § 1 der hamburgischen Juristenausbildungsordnung, geben nur den Rahmen, die allgemeine Zielvorstellung ab. Wie immer, so schaffen Gesetze und Politik auch hier nur die mehr oder weniger konkreten und unterschiedlich wichtigen Rahmenbedingungen. Mehr können und dürfen sie auch nicht wollen. Mit Leben erfüllt wird die Ausbildung durch das Bewußtsein, durch die Leistung und den Einsatz der Menschen, die diese Ausbildung gestalten, der Hochschullehrer, der praktischen Ausbilder und - nicht zuletzt - der Prüfer in den juristischen Staatsprüfungen. Aber auch die Lernenden selbst tragen zu Erfolg und Mißerfolg einer Juristenausbildung wesentlich bei. Ziel all dieser gemeinsamen Anstrengungen hat der Jurist zu sein, der seinen Berufsweg in sicherer
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Beherrschung aller wichtigen Elemente des juristischen Rüstzeugs und im Bewußtsein für die menschliche und soziale Verantwortung seines Tuns antritt. Bei dieser Zielbestimmung sind zwei Anliegen, vielleicht eher zwei Überlegungen, von Bedeutung:
a) Uber Heil und Unheil des Rechtspositivismus, vor allem im „Dritten Reich", ist viel nachgedacht, viel gestritten worden. Hier ist Vorsicht am Platze. Gehorsam vor dem gesetzten Recht ist für alle, die das Gesetz anzuwenden haben, gerade im Rechtsstaat von elementarer Bedeutung. Dies Prinzip ist nur bei sicherer Kenntnis der Normen und ihrer Zusammenhänge sichergestellt. Andererseits sind die jungen Juristen vor blinder, kritikloser Normanwendung zu bewahren. Der Jurist sollte darauf vorbereitet, dafür sensibilisiert sein, gesetzte Normen kritisch zu beleuchten, die Meßlatte des Gerechtigkeitsprinzips anzulegen und die Frage nach der Ausrichtung an der wertesetzenden Grundordnung unserer Verfassung zu stellen. Das gebieten schon Art. 1 Abs. III und 20 des Grundgesetzes. Fragwürdig erscheint es mir, dem Rechtspositivismus einseitig die Schuld am weitgehenden Versagen der Juristen in der nationalsozialistischen Diktatur zuzuweisen. Aus zahlreichen, vor allem strafrechtlichen Akten aus jener Zeit ist bekannt, daß die - damals allzu seltenen wohlmeinenden Juristen, die sich Menschlichkeit und Augenmaß •bewahrt hatten, zur Rettung angeklagter und verfolgter Menschen oftmals zu Vorschriften vor allem aus der Zeit vor 1933 Zuflucht nehmen konnten. Demgegenüber wurde unkritische Rechtsverfälschung oftmals durch veränderte Normbetrachtung durch die Brille diffuser „völkischer Grundsätze" bewirkt. b) Eine menschliche, abgewogene und deshalb im besten Sinne rechtsstaatliche Gesetzesanwendung verlangt Charaktereigenschaften und Tugenden der Juristen, die nicht oder nur sehr bedingt Gegenstand juristischer Unterweisung in Theorie oder Praxis sein können. Es sind dies Gefühl für Menschlichkeit, Augenmaß und Behutsamkeit und, vielleicht als wichtigstes, Zivilcourage. Insbesondere das Fehlen von Zivilcourage dürfte die wesentliche Ursache für das Versagen von Juristen und anderer im „Dritten Reich" sein. Die genannten Tugenden können von den mit Juristenausbildung befaßten Personen nicht eigentlich „gelehrt" werden. Akademische Lehrer und Ausbilder sind aber verpflichtet, immer wieder an diese Juristentugenden zu erinnern und, wichtiger noch, sich darum zu bemühen, sie den jungen Juristen vorzuleben. Das in § 1 Abs. II J A O gezeichnete Leitbild schließt diese besonders wichtigen Elemente ein.
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3. Die Diskussion um die Neugestaltung der Juristenausbildungsordnung unter den veränderten Rahmenbedingungen des Deutschen Richtergesetzes war wesentlich beeinflußt von der Devise: „Gelernt wird nur, was geprüft wird." Diese in ihrer Einseitigkeit ein wenig armselig anmutende, wenngleich nicht ganz unrealistische Betrachtungsweise muß einmal in Frage gestellt werden. Denn welch ein Licht wirft dieser Leitsatz eigentlich auf den Rang und die geistige Breite und Tiefe der juristischen Studiengänge, ganz zu schweigen vom Bild der dort Lernenden? Natürlich ist zuzugeben, daß die Stoffmenge dessen, was in der Ersten Juristischen Staatsprüfung verlangt wird, beträchtlich ist, und sie wird nach den Vorgaben der neugeordneten Juristenausbildung in Hamburg eher noch größer werden. Dennoch sollten wir uns wünschen und dafür werben, daß (vor-)wissenschaftliche Neugier auch künftig nicht nur auf „prüfungsrelevante" Bereiche gerichtet wird. In diesem Zusammenhang ist an den vielleicht ein wenig versteckten letzten Satz von §2 J A O zu erinnern, wonach „den besonderen wissenschaftlichen Interessen" des Studenten auch in der Prüfung Rechnung getragen werden soll. Gewiß wird auch weiterhin aus guten Gründen am Einheitsjuristen festgehalten. Das ist aber nicht dahin mißzuverstehen, daß wir in den juristischen Ausbildungsgängen nur noch stromlinienförmige Typen in Serien herstellen. Wie Erziehung allgemein ist auch die Erziehung zum Juristen entgegen Nietzsche keine Vernichtung der Ausnahme zugunsten der Regel. Natürlich gibt es eindeutige und notwendige Wechselwirkungen zwischen Studium und Prüfung. Die Juristenausbildungsordnung ist in wesentlichen Teilen ein Prüfungsgesetz, und von daher bestimmt sie naturgemäß entscheidend Inhalt, Ablauf und Charakter des juristischen Studiums. Dies darf aber keineswegs zu enger Ausrichtung und vor allem zu enger Beschränkung auf die Prüfungsinhalte führen. Dem entgegenzuwirken sind akademische Lehrer und Studenten gleichermaßen aufgerufen. Noch schlimmer wäre es, wenn der oben wiedergegebene Leitsatz „gelernt wird nur, was geprüft wird", seine schlimme Umkehrung erführe, etwa des pennälerhaften Inhalts, daß nur noch geprüft werden darf, was nachgewiesenermaßen im Studium „dran gewesen" ist. Das Landesjustizprüfungsamt wird durch seine Mitglieder sicherzustellen haben, daß bei aller Freiheit im Studium und trotz aller fortbestehenden Unterschiede in den beiden juristischen Fachbereichen letzten Endes ein allgemeiner, genügend hoher und vergleichbarer Standard sichergestellt ist, im Pflichtfachbereich ebenso wie in den Wahlschwerpunkten und bei den Sozialwissenschaften. Die Vertrautheitsklausel für die Prüfer des Landesjustizprüfungsamtes gemäß § 8 Abs. V Satz 2 J A O ist allgemeiner Natur und beschränkt weder auf den jeweiligen juristischen Fachbereich
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noch gar auf spezielle Teilbereiche. Eine verengte Sicht dieser Klausel könnte sonst dazu führen, daß Examenskandidaten damit rechnen könnten, im Examen bei „ihren" Prüfern nur noch die aus den Unterrichtsveranstaltungen bekannten „kaiserlichen Werften" zu reproduzieren zu brauchen. Vonnöten und von der neugeordneten Juristenausbildungsordnung verlangt ist dagegen ein allgemeiner, vergleichbarer, qualitativ hochstehender Standard auf allen gesetzlich vorausgesetzten Fachgebieten. Dies gilt prinzipiell auch im Vergleich zwischen den beiden zunächst noch getrennt fortbestehenden juristischen Fachbereichen. Allerdings wird das Landesjustizprüfungsamt insoweit bei gleichen qualitativen Anforderungen gewisse Besonderheiten in beiden Ausbildungsgängen Rechnung tragen. 4. Nach Art und Ausmaß neu werden die durch § 5 a Abs. III Satz 2 des Deutschen Richtergesetzes vorgegebenen und in §6 J A O geregelten vierwöchigen praktischen Studienzeiten sein. Das erste Einführungspraktikum nach § 6 Abs. II J A O für etwa fünfhundert Studenten hat bereits nach dem Sommersemester 1986 stattgefunden. Für das Gelingen der Praktika hängt vieles davon ab, daß durchgängig auf die in Frage kommenden Ausbildungsstellen möglichst gleichmäßig, und das heißt nach Größe und Bedeutung relativ angemessen, verteilt werden kann. Möglicherweise wird das Hanseatische Oberlandesgericht nicht immer allen Studentenwünschen Rechnung tragen können, was die Wahl der Ausbildungsstätte anbelangt. Wünschenswert wird es sein, wenn Studenten aus beiden Fachbereichen auch gemeinsame Einführungspraktika durchlaufen. Sie steuern auf ein einheitliches Staatsexamen zu und sollten sich in persönlicher und fachlicher Begegnung kennenlernen und über ihre Hoffnungen, N ö t e und Erfahrungen austauschen. Vielleicht kann auf diese Weise bereits hier ein bescheidenes Stück Annäherung in Richtung auf die spätere Vereinigung der beiden juristischen Fachbereiche geleistet werden. Auch könnte die Gleichwertigkeit beider Studiengänge dadurch ein wenig dokumentiert werden. O b eine solche Mischung der Studentengruppen bei den Vertiefungspraktika und den dazugehörigen Begleitarbeitsgemeinschaften nach § 6 Abs. VI J A O ebenfalls wünschenswert ist, bleibt zu prüfen. Sinn können die Einführungspraktika nur dann haben, wenn sie von den Ausbildern mit Leben erfüllt werden. O b den Studenten dabei auch in nennenswertem Umfang Gelegenheit zu eigener Tätigkeit geboten werden kann (§ 6 Abs. II Satz 2), erscheint eher zweifelhaft. Nach erst zwei Semestern sind die fachlichen Vorgaben, die den Studenten hierfür zusätzlich vom Ausbilder gegeben werden müßten, im allgemeinen sehr hoch. Man muß dabei sehen, daß die Ausbilder ohnehin bereits fast
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ausnahmslos bis zur Grenze des Erträglichen belastet, ja überlastet sind. Jedenfalls aber müssen die Ausbilder mit Geschick und Einsatz dafür sorgen, daß die ihnen anvertrauten Studenten nicht nur vordergründig zu einem kurzen Besuch in einen „Zoo der Praxis" mit seinen im Grunde fremd bleibenden Tieren geführt werden, wie es mein Vorgänger im Amt, Prof. Dr. Stiebeier, einmal ausgedrückt hat. Viel wird auch weiterhin davon abhängen, wie die juristischen Fachbereiche die Einführungspraktika vorbereiten, wie es ihnen durch § 6 Abs. IV J A O ausdrücklich auferlegt worden ist. Die besondere Erwähnung dieser Vorbereitung im Gesetz macht deutlich, daß damit mehr gemeint ist als die allgemeinen Lehrveranstaltungen der ersten zwei Semester, wie sie ohnehin stattfinden. Trotz der beängstigenden Dimension, welche die Einführungspraktika quantitativ für Universität und Praxis haben, werden Kommunikation und Rückkoppelung zwischen beiden Bereichen nützlich, ja unerläßlich sein, um die Einführungspraktika für die Studenten sinnvoll und in den Gesamtausbildungsgang harmonisch eingebettet zu gestalten. Dies kann auf seiten der Praxis natürlich nicht die Gerichtsbarkeit allein leisten, und das wäre noch nicht einmal wünschenswert. Alle juristischen Berufsfelder, insbesondere aber die Rechtsanwälte, sind hier zu tätiger Mitarbeit aufgerufen. Wenn die Anwaltschaft immer wieder, ob zu Recht oder zu Unrecht, beklagt hat und nach wie vor beklagt, die Juristenausbildung sei justizlastig, dann ist sie aber auch aufgerufen, die Erwartungen des Gesetzgebers und der mit der Organisation der Juristenausbildung befaßten Stellen zu erfüllen und sich an der Ausbildung in allen Phasen ebenso wie an den Prüfungen nach Kräften zu beteiligen. Die ersten Erfahrungen sind insoweit recht ermutigend. Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich, welch große Aufgabe hier vor uns liegt: Nach dem Sommersemester 1986 waren ca. fünfhundert Studenten im Einführungspraktikum, das, wie dargestellt, von den Fachbereichen im Sommersemester 1986 gezielt vorbereitet wurde. Im Anschluß an das Wintersemester 1986/87 und an das Sommersemester 1987 werden es wiederum jeweils etwa fünfhundert Studenten sein, die Einführungspraktika absolvieren werden. Dabei ist zu beachten, daß nach dem Sommersemester 1987 zusätzlich die ersten Vertiefungspraktika gemäß §6 Abs. V und VI J A O stattfinden werden. Diese bringen zwar jedenfalls beim ersten Durchgang zahlenmäßig etwas weniger Studenten, nämlich 375. Sie verlangen aber tatsächlich mehr Aufwand, vor allem deshalb, weil a) sie mit 10 Wochen Dauer erheblich länger dauern als die Einführungspraktika,
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b) sie von den Fachbereichen nicht nur - gezielt (!) - vor-, sondern auch nachbereitet werden müssen (§6 Abs. V Satz 4 JAO), c) zusätzlich Begleitarbeitsgemeinschaften der Praxis stattfinden werden (§6 Abs. VI JAO), d) Schwerpunktausbildung und Vertiefungspraktikum speziell aufeinander bezogen sein sollen (§ 6 Abs. V Satz 5 JAO), und e) sie von den Praktikern erheblich mehr Zuwendung verlangen. Dies alles wird, soweit die Justiz betroffen ist, sinnvoll nur geleistet werden können, wenn der Justiz zusätzliche Stellen zur Verfügung gestellt werden. Der Senat rechnet damit 6 , daß „mindestens" 2 0 % Studenten jeweils ihr Einführungspraktikum in der Justiz absolvieren wollen. Bisherige Erfahrungen und Gespräche mit Studenten lassen eher vermuten, daß der Prozentsatz erheblich höher liegen wird. 5. Die von § 5 a Abs. IV des Deutschen Richtergesetzes neu vorgegebenen und in § 3 a J A O geregelten studienbegleitenden Leistungskontrollen unter Prüfungsbedingungen stellen die beiden juristischen Fachbereiche vor beträchtliche organisatorische Schwierigkeiten, da die Voraussetzungen des § 3 a Abs. III J A O für die drei Klausuren in den Kerngebieten des Rechts sichergestellt werden müssen. Das erfolgreiche Durchlaufen der studienbegleitenden Leistungskontrollen innerhalb der ersten vier Semester ist Voraussetzung nicht nur für die Teilnahme an den Übungen für Fortgeschrittene (§ 3 Abs. IV Satz 2 JAO), sondern insbesondere auch für die spätere Zulassung zur Ersten Juristischen Staatsprüfung (§ 3 Abs. III JAO). Das Landesjustizprüfungsamt wird also darauf zu achten haben, daß die gesetzlichen Mindestanforderungen an diese Leistungskontrollen eingehalten worden sind. Ein vergleichbarer Standard in beiden juristischen Fachbereichen der Universität Hamburg ist dabei unerläßlich, übrigens auch zu erwarten. Im Zusammenhang hiermit kann die Frage Bedeutung erlangen, wie viele Klausuren im Rahmen eines Kontrollverfahrens nach § 3 Abs. III Satz 2 J A O angeboten werden. Es wäre möglicherweise sogar rechtlich bedenklich, wenn es diesbezüglich formal oder inhaltlich zu Chancenunterschieden zwischen den beiden Fachbereichen käme. Jegliches Gefälle hätte im übrigen unerwünschte Wanderungsbewegungen der Studenten, mit oder ohne formalen Wechsel des Fachbereichs, zur Folge. Eine fortdauernde Abstimmung unter den juristischen Fachbereichen über Inhalt und Gestaltung der studienbegleitenden Leistungskontrollen ist also nicht nur wünschenswert, sondern geboten. 6. Hauptdiskussionsgegenstand im Vorfeld der Neuordnung der Juristenausbildung in Hamburg war die Einbeziehung von Sozialwissen' Senatsdrucksache 11/3997, S.4, linke Spalte unten.
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Schäften in die Ausbildung und - mehr noch - in die Prüfung. Dies ist bedauerlicherweise der Streitpunkt, der am längsten und intensivsten fortwirkt. Worum geht es? Der Kern des Streits ist so alt wie die Diskussion um das Juristenbild und das Recht überhaupt. Es ist von jeher als ungenügend empfunden worden, Juristen als reine Paragraphenanwender heranzubilden, denen jedes Verständnis etwa für wirtschaftliche Zusammenhänge, psychiatrische und psychologische Grundfragen, philosophische und gesellschaftliche Bezüge abgeht. Beispielhaft sei an die diesbezüglichen Mahnungen so bedeutender Männer wie Ernst Zitelmann um die Jahrhundertwende erinnert oder an das, was der angesehene Reichsgerichtsrat Düringer im Jahre 1910 in bezug auf die künftigen Richter so ausgedrückt hat7: "Wir wollen keine einseitig gebildeten routinierten Praktiker erziehen, denen alle nicht mit der Tagesarbeit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Fragen Hekuba sind. Sondern w i r wollen einen geistig hochstehenden Richterstand mit möglichst vielseitigen Interessen und Kenntnissen. Philosophie, Geschichte, Volkswirtschaft, Psychiatrie sind f ü r ihn unentbehrlich."
Diese Einbeziehung wichtiger „Nachbar"-, „Hilfs"- oder „Grund"Wissenschaften ist heute im Prinzip unstreitig. Das Deutsche Richtergesetz macht das ebenso deutlich wie § 1 Abs. III JAO. Der Bundesgesetzgeber hat mit der Herausstellung u.a. der „gesellschaftlichen Grundlagen" in § 5 a Abs. II Satz 1 DRiG die Einbeziehung von Sozialwissenschaften vorgeschrieben. Im Bericht des Rechtsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft vom 31.Januar 1986 zur Neuordnung der Juristenausbildung wird deutlich, daß man sich unter den politischen Parteien über die Bedeutung der Sozialwissenschaften einig ist8. Auch im Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg sind seit langem Sozialwissenschaften betrieben und vermittelt worden. Unterschiedliche Auffassungen gab und gibt es allerdings über die Begriffsbestimmung sowie über Art, Umfang und Methode der Einbeziehung. Hierüber ist bereits viel geschrieben worden. In diesem Zusammenhang sollen deshalb nur einige spezielle Aspekte aufgezeigt werden: Es hat den deutlichen Anschein, als habe bereits der zugegebenermaßen etwas unscharfe Begriff der „Sozialwissenschaften" einige Verwirrung gestiftet. Möglicherweise hat allein der Wortbestandteil „Sozial" ganz zu Unrecht - dafür gesorgt, daß die Sozialwissenschaften einerseits bisweilen unangemessen in den Vordergrund gerückt, andererseits oftmals unzulässig verteufelt worden sind. In der geänderten Juristenausbildungsordnung taucht der umstrittene Begriff nur noch am Rande und 7 8
D R i Z 1 9 1 0 N r . 6. Bürgerschaftsdrucksache 11/5707, S . 2 oben.
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dort auf, wo eine präzisere Zuordnung bestimmter sozialwissenschaftlicher Bereiche entweder nicht möglich war ( § 5 Abs. III N r . 14) oder wo es vermutlich nur wenig Sozialwissenschaftliches zuzuordnen gibt (§ 5 Abs. III N r . 13). Was ist gemeint? Der Wille des Gesetzgebers der Juristenausbildungsordnung ist so zu verstehen, daß dem jungen Juristen solche Wissenschaftsbereiche mit rechtlicher Relevanz nahegebracht werden sollen, die Lebenswirklichkeit, sei sie gesellschafts-, sei sie individualbezogen, zu erkennen und in wissenschaftlicher Aufbereitung wiederzugeben suchen, wo möglich in modellhafter Darstellung. Das geschieht teilweise in der Rechtswissenschaft selbst (wenn sie denn eine Wissenschaft, vielleicht sogar ihrerseits eine Sozialwissenschaft ist), teilweise in anderen Wissenschaftsbereichen. Bei dieser für eine wirklich sach-„gerechte" Berufsausübung unerläßlichen Anreicherung ist allerdings einiges zu bedenken. So muß der angehende Jurist davor bewahrt werden, juristische Antworten auf juristische Fragestellungen durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen. Die Antworten der Juristen auf solche Fragen sollen zwar durch sozialwissenschaftliche Absicherung präziser und durchschaubarer werden, bleiben aber juristischer Natur. Auch künftig wird also z. B. derjenige Rechtsanwalt die größte soziale (!) Wirksamkeit entfalten, der nicht nur in sozialem Mitgefühl das Händchen seines an tatsächlichen oder vermeintlichen Mißständen verzweifelnden Mandanten hält, sondern der - jedenfalls auch - weiß, bei welchem Gericht und innerhalb welcher Frist er welchen Antrag stellen muß und wie er ihn mit Aussicht auf Erfolg zu begründen hat. Dies war und ist im übrigen auch die Betrachtungsweise im Fachbereich Rechtswissenschaft II. Man hat sich insbesondere in der Einstufigen Juristenausbildung darum bemüht, die Sozialwissenschaften in die bzw. mit der Rechtswissenschaft zu integrieren. Das war insofern der richtige Ansatz, als bei den Studenten ein „Schlaraffenlandsyndrom" vermieden werden muß, d. h. das Bemühen, sich anfangs möglichst schnell durch den vielleicht ungeliebten Milchbrei der Sozialwissenschaften zu fressen, um dann zu den eigentlich erstrebten Leckereien der „reinen Lehre der Rechtswissenschaft" vorzudringen und den Milchbrei dann natürlich möglichst schnell wieder auszuscheiden. Nur hat sich ergeben, daß eine im eigentlichen Sinne integrative Behandlung kaum möglich ist. Das liegt schon daran, daß es derart integriert ausgebildete Lehrpersonen nicht gibt, wohl auch künftig nicht geben wird. So wird es darum gehen, und das ist ebenso unumgänglich wie möglich, Zusammenhänge in dem Sinne herzustellen, daß sozialwissenschaftliche Erkenntnisse die Rechtsfallösung, wo immer möglich, verbessern und verstehbarer machen. Die Erfahrungen mit der für die Einbeziehung von Sozialwissenschaf-
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ten besonders geeigneten und vorgesehenen 8-Wochen-Arbeit im Abschlußverfahren der Einstufigen Juristenausbildung haben denn auch gezeigt, daß eine wirkliche Integration sozialwissenschaftlicher Elemente in die Gesamtbewältigung einer juristischen Aufgabe den Kandidaten nur selten gelungen ist. Das Ziel kann nur sein und bleiben, Sensibilität für den Nutzen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zu wecken und beachtliche Kenntnisse insbesondere solcher sozialwissenschaftlicher Bereiche zu vermitteln, die für die Bewältigung juristischer Probleme in allen drei Kerngebieten des Rechts besonders relevant sind. Natürlich wird auch der sozialwissenschaftlich „angereicherte" Jurist nicht auf Sachverständige verzichten können; denn er soll und kann kein Fachmann auf all diesen Gebieten sein. Er soll aber beispielsweise besser erkennen können, bei welchen Problemstellungen ihm welche Nachbarwissenschaften mit welchen Methoden hilfreich sein können. Auf diese Weise zusätzlich gebildet, wird der künftige Jurist nicht etwa schlechtere, vielmehr bessere Berufsaussichten haben. Ein nicht zu unterschätzendes Problem wird sein, daß voraussichtlich nicht jeder der beiden juristischen Fachbereiche in der Lage sein wird, alle von der Juristenausbildungsordnung vor allem für die Wahlschwerpunkte vorgesehenen, zum Teil recht speziellen Teilbereiche der Sozialwissenschaften abzudecken. Dieses Problem kann möglicherweise nur dadurch gelöst werden, daß a) diesbezüglich Lehrveranstaltungen zwischen den beiden Fachbereichen übergreifend durchgeführt werden, was übrigens ein weiterer kleiner, aber nützlicher und erfolgversprechender Schritt in Richtung auf die künftige Vereinigung der Fachbereiche wäre, und b) Lehrkapazität außerhalb der juristischen Fachbereiche interdisziplinär für die Juristenausbildung nutzbar gemacht wird.
7. Die nunmehr gültigen §§ 7 - 9 J A O bestimmen die Rolle des Landesjustizprüfungsamtes ( L J P A ) , wie es jedenfalls seit dem 1 8 . 3 . 1 9 8 6 , dem Tag der Verkündung des Neuordnungsgesetzes im Hamburgischen Gesetz- und Verordnungsblatt, formal besteht. Daß dieses Amt etwa gemäß Art. 5 des Neuordnungsgesetzes rückwirkend zum 1 6 . 9 . 1 9 8 5 geschaffen worden sei, kann man sich dagegen weder rechtlich noch praktisch so recht vorstellen. Es galt zunächst und gilt weiter, dieses neue Amt so schnell wie möglich mit Leben zu erfüllen, es vor allem auch hinreichend personell auszustatten. Die Haupttätigkeit des Landesjustizprüfungsamtes wird in Organisation und Durchführung der Ersten Juristischen Staatsprüfung für diejenigen Studenten bestehen, die nach dem 1 4 . 9 . 1 9 8 5 ihr Studium aufgenommen haben oder aufnehmen werden (Art. 2 des Neuordnungsgesetzes). Das verlangt auch weiterhin erhebliche und zügige Vorarbeiten, insbesondere was die Erstellung der Aufgaben für die häusliche
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Arbeit nach § 11 J A O , vor allem aber solcher mit Wahlschwerpunkt, aber auch der Aufsichtsarbeiten nach § 12 J A O und hier vor allem der Wahlschwerpunktklausur anbelangt. Mit Dankbarkeit ist in diesem Zusammenhang das durch seinen damaligen Sprecher im öffentlichen Anhörverfahren des Rechtsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft gegebene Versprechen des Fachbereiches Rechtswissenschaft II zu vermerken, daß dieser Fachbereich das Landesjustizprüfungsamt bei der Erstellung derartiger Aufgaben nach Kräften unterstützen wird. Ohne diese Unterstützung, die auch vom Fachbereich Rechtswissenschaft I zu erhoffen ist, wird das Landesjustizprüfungsamt dieses Problem kaum bewältigen können. U n d hier ist der Punkt erreicht, wo ich ausnahmsweise einmal die Form wissenschaftlicher Problembehandlung durchbrechen und eine persönliche Hoffnung ausdrücken, vielleicht eine positive Vision anbringen möchte: Das Landesjustizprüfungsamt und der gemäß § 7 Abs. II J A O aufsichtführende Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts werden gelegentlich der Erfüllung ihrer originären Pflichten in bezug auf die Juristenausbildung in Hamburg die Möglichkeit, wenn nicht die Pflicht haben, von der Prüfung her die beiden juristischen Fachbereiche, die bis 1991 vereinigt werden sollen, ein wenig aufeinander zuzuführen. Es würde mich ganz besonders freuen, wenn es dem Landesjustizprüfungsamt und dem Hanseatischen Oberlandesgericht über das gemeinsame Ziel der Studiengänge in beiden juristischen Fachbereichen, nämlich die Erste Juristische Staatsprüfung, gelänge, insoweit zusammenführend und vielleicht sogar versöhnend zu wirken. So kann vielleicht von daher ein kleiner Beitrag dazu geleistet werden, daß sich in einigen Jahren die Vereinigung beider juristischer Fachbereiche bruchlos und ohne sonderliche Reibungsverluste vollziehen kann. Doch nun zurück zur gehörigen Form: 8. In bezug auf die künftige Erste Juristische Staatsprüfung ergeben sich vielfältige Sachprobleme. Auf einige von ihnen soll im folgenden eingegangen werden. Die Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die schriftliche wie in die mündliche Prüfung wird zwar einige Schwierigkeiten mit sich bringen. Einige dieser Schwierigkeiten sind aber doch überschätzt worden. So wird sich bei den Hausarbeiten aus dem Pflichtfachbereich wohl nicht allzuviel ändern. Die gesellschaftlichen Bezüge wurden auch bislang schon verlangt. Voraussichtlich wird die Mehrzahl der Studenten aus Sicherheitsgründen diese Art von Arbeit wählen, wenn auch der Prozentsatz in den beiden juristischen Fachbereichen, solange es sie noch gibt, etwas unterschiedlich sein wird. Etwas schwieriger, aber noch
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nicht problematisch wird es bei den sogenannten „Einbeziehensfällen" der Nummern 2 und 3 von § 11 Abs. II J A O sein. Wirklich neuartig aber werden die voraussichtlich wenig gewählten Wahlschwerpunktarbeiten gemäß § 11 Abs. II Nr. 4 J A O sein. Hier bedarf es in ganz besonderem Maße der Mitwirkung der juristischen Fachbereiche. Das betrifft sowohl die Erstellung der Aufgaben wie auch die spätere Beurteilung. Man muß aber sehen, daß auch alle Wahlschwerpunkte gemäß § 5 Abs. III J A O ganz vorrangig, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, rechtswissenschaftlicher Natur sind, und bei dem Wahlschwerpunkt Nr. 15 fehlt eine eigentlich sozialwissenschaftliche Komponente, soweit sie nicht den Teilrechtsfächern selbst innewohnt, ganz. Bei den Aufsichtsarbeiten nach § 12 J A O wird die Situation ähnlich sein, abgesehen davon, daß jeder Prüfling eine Klausur aus dem Wahlschwerpunkt zu schreiben hat. Grundsätzlich ist zu begrüßen, daß Klausuren für alle Prüflinge vorgeschrieben sind. Denn hierbei handelt es sich um diejenige Prüfungsleistung, die der täglichen Arbeit des Juristen in fast allen Berufsfeldern am nächsten kommt; gilt es doch, in begrenzter Zeit und mit wenigen Hilfsmitteln ein rechtliches Problem mit schnellem Blick, gutem Judiz und tragfähigen Begründungen zu bewältigen und überzeugend darzustellen. Ob sich nun gerade Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet der Wahlschwerpunktbereiche und dort speziell der sozialwissenschaftlichen Elemente dafür eignen, mittels einer Aufsichtsarbeit abgefordert zu werden, bleibt eher fraglich. Denn Zweck und Wesen der Aufsichtsarbeit, so wie sie zuvor dargestellt worden ist, könnten dazu (ver-)führen, ganz bestimmte, begrenzte, von den Rechtsfragen losgelöste und sich dann immer wiederholende Inseln sozialwissenschaftlichen Wissens „abzufragen". Eine solche Verengung wäre nicht im Sinne der neugeordneten Juristenausbildung. Das Landesjustizprüfungsamt wird darauf Bedacht zu nehmen haben, daß insoweit Aufgaben erstellt werden, die dieser Verengung und Isolierung entgegenwirken. In der von § 12 Abs. III J A O vorausgesetzten Lage, daß der Präsident des Landesjustizprüfungsamts eine solche Arbeit aus der „Masse" des Bestandes (welches eigentlich?) „auswählt", wird das Landesjustizprüfungsamt auf absehbare Zeit wohl kaum sein. Abzusehen ist dagegen, daß Studenten mit bestimmten, seltener gewählten Wahlschwerpunkten nur noch kampagneartig, etwa drei- bis viermal jährlich, zu Klausurengruppen und zu mündlichen Prüfungsgruppen gemäß § 1 9 Abs. I J A O zusammengefaßt werden können, was zu zusätzlichen Wartezeiten und damit zu Härten für die betreffenden Studenten führen kann. In den mündlichen Prüfungen werden wir ähnliche Erscheinungen haben wie im Lehrbetrieb. Nicht jeder juristische Fachbereich wird
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jeden Wahlschwerpunkt abdecken können. Also bietet sich für das Landesjustizprüfungsamt eine organisatorische Maßnahme an, die auch sonst, nicht nur für die Wahlschwerpunkte und die Sozialwissenschaften, unabweisbar, ja nützlich sein wird: Auch bereits vor der Zusammenführung der beiden juristischen Fachbereiche wird es nach einiger Zeit übergreifende Prüfungen in dem Sinne geben, daß gemischte Prüfungskommissionen zusammengestellt werden, und zwar sowohl auf der Prüfer- wie auch auf der Prüflingsseite. Es muß nämlich verhindert werden, daß dieser Verbindungseffekt erst eintritt, und dann mit plötzlicher Wucht, wenn die ersten Studenten aus dem wiedervereinigten juristischen Fachbereich in die Prüfung gehen. Es gilt also, mit Behutsamkeit und Augenmaß, vielleicht in ein bis zwei Jahren nach Beginn der eigentlichen Prüfungstätigkeit des Landesjustizprüfungsamtes, gelegentlich einen Prüfer gemäß § 8 Abs. II N r . 1 J A O aus dem jeweils anderen juristischen Fachbereich an einer Prüfung teilnehmen zu lassen. Etwas später sollten dann auch gemischte Prüfungsgruppen ins Auge gefaßt werden. Bei alledem ist eines elementar wichtig: Aus welchem juristischen Fachbereich ein Kandidat auch kommt, welchen Wahlschwerpunkt er gewählt hat und welche Art von Hausarbeit er sich ausgesucht hat: Die Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit!) aller Prüfungen und Prüfungsleistungen im Rahmen der Ersten Juristischen Staatsprüfung ist nach Qualität und Bewertungsmaßstäben sicherzustellen. Den über die bestandene Prüfung ausgestellten Urkunden wird nicht zu entnehmen sein, in welchem juristischen Fachbereich der Kandidat studiert und welche Leistungsalternativen er gewählt hat. U m so mehr wäre es eine grobe Ungerechtigkeit und eine Gefahr mit unübersehbaren Folgen für das Wahlverhalten der Studenten, wenn es im Prüfungsverfahren in bezug auf Fachbereich oder Wahlschwerpunkte zu qualitativen Ungleichgewichten irgendwelcher Art käme. III. Die Überlegungen in diesem Beitrag mögen verdeutlichen: Verheißung und Gefahren der neugeordneten Juristenausbildung in Hamburg liegen dicht beieinander. Der neue Weg, ein schwieriger Kompromiß unter den Rahmenbedingungen des Deutschen Richtergesetzes, hat seine Fallstricke. Alles wird davon abhängen, daß die mit der Juristenausbildung befaßten Menschen mit gutem Willen zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit ist in steigendem Maße auch zwischen den beiden juristischen Fachbereichen unserer Universität zu erhoffen. Probleme in den Anfangsjahren dürfen in keinem Fall zu Lasten von Studenten gehen.
Hamburger Juristenausbildung zwischen Gestern und Morgen
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Mit einigem Selbstbewußtsein darf man feststellen: Es ist auch bisher gelungen, übrigens in beiden juristischen Fachbereichen, gut ausgebildete und lebenstüchtige Juristen heranzubilden, auch wenn man dies bei kritischer Betrachtung vielleicht erst am Ende beruflicher Werdegänge sagen kann. Aber die Änderungen des Deutschen Richtergesetzes waren eine Gelegenheit, Verbesserungen der hamburgischen Juristenausbildung anzustreben. Die neugefaßte Juristenausbildungsordnung bietet hierzu Möglichkeiten. Mögen diese genutzt werden.
Bibliographie Wolfgang Martens"' I. Selbständige Veröffentlichungen 1. Grundgesetz und Wehrverfassung. Hamburg: Appel 1961, 229 S. = Buchdruck der 1959 in Hamburg unter dem Titel „Der Verfassungsgehalt der Wehrordnung im Grundgesetz" vorgelegten Dissertation, unter Einarbeitung zwischenzeitlich erschienenen Schrifttums und gesetzlicher Neuerungen. 2. Öffentlich als Rechtsbegriff. Bad Homburg v . d . H . , Berlin, Zürich: Gehlen 1969, 235 S. 3. Negatorischer Rechtsschutz im öffentlichen Recht - dargestellt anhand der gerichtlichen Praxis zum Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch gegen hoheitliche Realakte. Stuttgart, München, Hannover 1973, 44 S. (Materialien zum öffentlichen Recht. Bd. 7.) 4. Suspensiveffekt, Sofortvollzug und vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz bei atomrechtlichen Genehmigungen. Köln, Berlin, Bonn, München: Heymann 1983. VI, 49 S. (Recht - Technik - Wirtschaft. Bd. 30.) 5. Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder. Begründet unter dem Titel „Preußisches Polizeirecht" von Bill Drews, fortgeführt mit dem Titel „Allgemeines Polizeirecht" von Gerhard Wacke, seit der 8. Aufl. neubearb. von Klaus Vogel u. Wolfgang Martens. 9. Aufl. Köln, Berlin, Bonn, München: Heymann 1986 6. Allgemeines Verwaltungsrecht. Herausgegeben zusammen mit Hans-Uwe Erichsen. 7. Aufl. Berlin, N e w York: de Gruyter 1985. Bearbeiteter Teil: Das Verwaltungshandeln (zusammen mit HansUwe Erichsen).
* Die nachfolgende Bibliographie berücksichtigt weder Buchbesprechungen noch veröffentlichte mündliche Diskussionsbeiträge.
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Bibliographie
II. Aufsätze und sonstige Beiträge 7. Zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln. In: Juristische Schulung. 1962, S. 245-252. 8. Arztliche und juristische Probleme zur Frage des legalen Schwangerschaftsabbruchs (zusammen mit Gerhard Schubert und HansJörg Mauss). In: Deutsches Medizinisches Journal. 1964, S. 582. 9. Völkerrechtsvorstellungen der Französischen Revolution in den Jahren von 1789 bis 1793. In: Der Staat, Bd. 3. 1964, S. 295-314. 10. Fehlerhafte Nebenbestimmungen im Verwaltungsprozeß. In: Deutsches Verwaltungsblatt. 1965, S. 428^32. 11. Offentlichrechtliche Probleme des negatorischen Rechtsschutzes gegen Immissionen. In: Hamburger Festschrift für Friedrich Schack zum 80. Geburtstag am 1.10.1966. Berlin, Frankfurt a.M.: Metoner 1966, S. 85-95. 12. Anmerkung zum Urteil des B G H vom 17.11.1967, - V ZR 143/66. In: Deutsches Verwaltungsblatt. 1968, S. 150. 13. Zur Frage der Bindung von Nichtmitgliedern an die Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen. In: Der Staat. Bd. 7. 1968, S.431-445. 14. Des Senatspräsidenten i. R. Dr. Karl Münzel Gedanken zur Reform des Rechtsstudiums (zusammen mit Hans Peter Ipsen, Bernt Bühnemann, Eberhard Grabitz). In: Monatsschrift für Deutsches Recht. 1969, S. 106-109. 15. Übertragung von Hoheitsgewalt auf Schüler. In: Neue Juristische Wochenschrift. 1970, S. 197-200. 16. Das besondere Gewaltverhältnis im demokratischen Rechtsstaat. In: Zeitschrift für Beamtenrecht. 1970, S. 197-200. 17. Öffentliches Recht: Das Ermächtigungsgesetz (zusammen mit Harald Guthardt-Schulz). In: Juristische Schulung. 1971, S. 197-200. 18. Anmerkung zum Urteil des B G H vom 3.12.1971, - V ZR 138/69. In: Juristische Rundschau. 1972, S. 257-259. 19. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristische Rundschau. 1972, S. 457—461.
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20. Grundrechte im Leistungsstaat. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. 1972, Heft 30. S. 7-42. 21. Kirchenglocken und Polizei. In: Verfassung, Verwaltung, Finanzen. Festschrift für Gerhard Wacke zum 70. Geburtstag. Köln-Marienburg: O.Schmidt 1972, S.343-354. 22. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristische Rundschau. 1973, S. 189-193. Juristische Rundschau. 1973, S. 454—461. 23. Prinzipien der Leistungsverwaltung. In: Fortschritte des Verwaltungsrechts. Festschrift für Hans-Julius Wolff zum 75. Geburtstag. München: Beck 1973, S. 429-444. 24. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristische Rundschau. 1974, S. 189-195. Juristische Rundschau. 1974, S. 458-464. 25. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristische Rundschau. 1975, S. 186-190. Juristische Rundschau. 1975, S. 452-459. 26. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristische Rundschau. 1976, S. 191-194. 27. Der Schutz des einzelnen im Polizei- und Ordnungsrecht. In: Die öffentliche Verwaltung. 1976, S. 457-463. 28. Rechtsfragen der Anlagen-Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. In: Hamburg - Deutschland - Europa. Beiträge zum deutschen und europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht. Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag. Tübingen: Mohr 1977, S.449-464. 29. Die Grundrechte im Recht der Gefahrenabwehr des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes. In: Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie. Düsseldorf 1978, S. 111. 30. Friedrich Schack f (1.10.1886-15.7.1978). In: Archiv des öffentl. Rechts. Bd. 103. 1978, S. 603-604. 31. Die Aufhebung belastender Verwaltungsakte durch die Verwaltung. In: Juristische Ausbildung. 1979, S. 83-90.
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32. Rechtsschutz gegen die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts - ein fehlgeschlagener Versuch gesetzlicher Streitentscheidung (zusammen mit Peter Horn). In: Deutsches Verwaltungsblatt. 1979, S. 146-149. 33. Der Verfassungsstreit um die Hamburger Bürgerschaftswahl 1978. In: Aus dem Hamburger Rechtsleben. Walter Reimers zum 65. Geburtstag. Berlin: Duncker & Humblot 1979, S. 303-319. 34. Immissionsschutzrecht und Polizeirecht. In: Deutsches Verwaltungsblatt. 1981, S. 597-609. 35. Polizeiliche Amts- und Vollzugshilfe. In: Juristische Rundschau. 1981, S. 353-357. 36. Das neue Staatshaftungsrecht. In: Juristische Rundschau. 1982, S. 316-321. 37. Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr. In: Staatliche Gefahrenabwehr in der Industriegesellschaft. Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften. Bd. 6. Bonn: Dt. Sektion d. Internat. Instituts f. Verwaltungswissenschaften 1982, S. 27-45. Auch in: Die Öffentliche Verwaltung. 1982, S. 89-98. 38. Tendenzen der Rechtsprechung zum Sofortvollzug der Zulassung von großtechnischen Anlagen. In: Deutsches Verwaltungsblatt. 1985, S. 541-548.
Verzeichnis der Autoren ALBERS, Jan, Dr. jur., Präsident des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts. BADURA, Peter, Dr. jur., o.Professor in der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München. BAUR, Jürgen F., Dr. jur., o.Professor an der Universität Hamburg, Direktor des Seminars für Handels-, Schiffahrts- und Wirtschaftsrecht. BERNSTEIN, Herbert, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg, stellvertretender Direktor des Seminars für ausländisches und internationales Privat- und Prozeßrecht. Karl August, Dr. jur., Dr. jur. h. c., o. Professor (em.) an der Universität Hamburg.
BETTERMANN,
BOGS, Harald, Dr. jur., o. Professor für öffentliches Recht an der Universität Göttingen. BREUER, Rüdiger, Dr. jur., Professor an der Universität Trier. BRODERSEN, Carsten, Dr. jur., Universitätsprofessor, Universität der Bundeswehr Hamburg. BRYDE, Brun-Otto, Dr. jur., Professor an der Universität der Bundeswehr München. BUSHART, Christoph, Regierungsrat im höheren allgemeinen Verwaltungsdienst der Freien und Hansestadt Hamburg. EBERLE, Carl-Eugen, Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Hamburg. ERICHSEN, Hans-Uwe, Dr. jur., o. Professor, Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. FEZER, Gerhard, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg, Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht. GOERLICH, Helmut, Dr. jur., Privatdozent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hannover, Richter am Verwaltungsgericht Hamburg. HAAS, Diether, Dr. jur., Staatsrat a. D., Hamburg. HÄBERLE, Peter, Dr. jur., o. Professor für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht, Bayreuth; ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Hochschule St. Gallen (Schweiz). HOFFMANN, Gerhard, Dr. jur., Dr. jur. et rer.pol. h. c., em. o.Professor an der Universität Marburg.
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Verzeichnis der A u t o r e n
HOOG, Günter, Dr. jur., Wissenschaftlicher Referent am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg. IPSEN, Hans Peter, Dr. jur., o. em. Professor an der Universität Hamburg. IPSEN, Peter, Vizepräsident des Sozialgerichts, Hamburg. KARPEN, Ulrich, Dr. jur., Professor des Öffentlichen Rechts, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg. KIMMINICH, Otto, Dr. jur., M. A. (Econ.), o. Professor an der Universität Regensburg. KUNIG, Philip, Dr. jur., Universitätsprofessor, Juristisches Seminar der Universität Heidelberg. KURLAND, Hans-Joachim, Vizepräsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg, Präsident des Landesjustizprüfungsamts. LAGONI, Rainer, Dr. jur., L L M (Columbia), Professor an der Universität Hamburg, Direktor des Instituts für Seerecht und Seehandelsrecht. LANDWEHR, G ö t z , Dr. jur., o. Professor für Deutsche und Nordische Rechtsgeschichte an der Universität Hamburg. LÜCKE, J ö r g , Dr. jur., L L M (Berkeley), Universitätsprofessor, Hamburg. MARTENS, Klaus-Peter, Dr. jur., o. Professor an der Universität H a m b u r g , Direktor des Seminars für Bürgerliches Recht und zivilrechtliche Grundlagenforschung, Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht. NICOLAYSEN, Gert, Dr. jur., Universitätsprofessor, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Universität Hamburg. OSSENBÜHL, Fritz, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bonn, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht. PLAMBECK, Helmut, Dr. jur., Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts, des Hanseatischen Oberlandesgerichts, des Gemeinsamen Prüfungsamtes der Länder Freie Hansestadt Bremen, Freie und Hansestadt H a m b u r g sowie Schleswig-Holstein für die Zweite juristische Staatsprüfung und des Ausbildungs- und Prüfungsamtes für die Einstufige Juristenausbildung. QUARITSCH, Helmut, Dr. jur., o. Univ.-Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Ministerialdirektor a. D . RUDOLF, Walter, Dr. jur., o. Professor an der Universität Mainz, Staatssekretär a.D. RÜFNER, Wolfgang, Dr. jur., o. Professor an der Universität zu Köln. RULAND, Franz, Dr. jur., Professor, Stellvertretender Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt. SCHMIDHÄUSER, Eberhard, Dr. jur., em. o. Professor an der Universität H a m burg.
Verzeichnis der Autoren
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SCHMIDT, Karsten, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg. SCHMIDT-ASSMANN,
Eberhard, Dr. jur., o. Professor an der Universität Heidel-
berg. SCHWABE, Jürgen, Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Hamburg. SCHWARZE, Jürgen, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg und am Europäischen Hochschulinstitut Florenz. Gunther, Dr. jur., o.Professor für Staats- und Verwaltungsrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin.
SCHWERDTFEGER,
SEEWALD, Otfried, Dr. jur., o. Professor an der Universität Passau. SEILER, Hans Hermann, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg, Fachbereich Rechtswissenschaft I, Direktor des Seminars für Römisches Recht und Vergleichende Rechtsgeschichte. SELMER, Peter, Dr. jur., o. Professor für Öffentliches Recht sowie Finanz- und Steuerrecht an der Universität Hamburg. STIEBELER, Walter, Dr. jur., Honorarprofessor an der Universität Hamburg, Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts, des Hanseatischen Oberlandesgerichts und des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts a. D. STÖDTER, Rolf, Dr. jur., Professor an der Universität Hamburg, Rechtsanwalt. THIEME, Werner, Dr. jur., o. Universitätsprofessor an der Universität Hamburg, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Verwaltungslehre. VOGEL, Klaus, Dr. jur., o. Universitätsprofessor an der Universität München, Direktor des Instituts für Politik und öffentliches Recht. ZEUNER, Albrecht, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg, Direktor der Seminare für Arbeitsrecht und für Zivilprozeß- und Allgemeines Prozeßrecht. ZIEGLER, Karl-Heinz, Dr. jur., Universitätsprofessor, Universität Hamburg.