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German Pages 170 [188] Year 2017
Bernhard Pöll Französisch außerhalb Frankreichs
Romanistische Arbeitshefte
Herausgegeben von Volker Noll und Georgia Veldre-Gerner
Band 42
Bernhard Pöll
Französisch außerhalb Frankreichs Geschichte, Status und Profil regionaler und nationaler Varietäten 2., neu bearbeitete und ergänzte Auflage
ISBN 978-3-11-053346-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053466-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053475-7 ISSN 0344-676X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
| Je tiens à remercier très sincèrement tous ceux qui ont contribué, d’une manière ou d’une autre, à la publication de ce livre: tout d’abord les deux responsables de la collection Romanistische Arbeitshefte, en particulier Volker Noll, qui m’a suggéré de m’attaquer à cette nouvelle édition, puis Ulrike Krauß de la maison d’édition de Gruyter, pour avoir favorablement accueilli cette idée, et finalement, mais non en dernier lieu, Karoline Wurzer, car sans son expérience en matière de mise en page, sans sa précision et sa bonne humeur, on n’aurait peut-être pas dépassé le stade de projet de publication … Ce livre est dédié à la mémoire de Thierry Bulot (1959–2016), sociolinguiste engagé, collègue et ami: même si cela ne se voit pas de prime abord, il est aussi pour beaucoup dans la genèse de cet ouvrage.
Inhalt 1
Einleitung: Gegenstandsbereich und Abgrenzungen | 1
2
Zu den Begriffen francophonie und francophone | 7
3 3.1 3.2 3.3
Regionales Französisch/français régional: Problematik und neuere Entwicklungen | 13 Definition | 13 Die Aufwertung der Regionalität | 16 Die Beschreibung der diatopischen Variation | 18
4 4.1 4.2 4.3
Typologie der frankophonen Gebiete | 23 Tradition vs. Expansion | 23 Alltagssprache vs. Verkehrssprache | 25 Status und Corpus | 26
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1
5.3.3 5.3.4 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3
Die europäische Frankophonie | 29 Schweiz | 29 Rechtlicher Status, Sprecherzahlen | 29 Die Entstehung des Sprachraumes | 32 Genese und Physiognomie des Regionalfranzösischen | 33 Sprachbewertung | 40 Aosta-Tal | 46 Soziolinguistische Situation und rechtlicher Status | 46 Die politisch-historischen Gründe der heutigen Sprachsituation | 48 Erscheinungsformen des Französischen | 49 Belgien | 51 Rechtlicher Status, Sprecherzahlen, Entstehung des Bundesstaates und der modernen Sprachgrenze | 51 Geschichte des Sprachraums: Von der Romanisierung zur Eigenstaatlichkeit | 53 Genese und Profil des belgischen Französisch | 54 Sprachbewertung | 62 Luxemburg | 66 Demographisches, Sprachenrecht, Domänen des Französischen | 66 Zur Geschichte der heutigen Sprachenlage | 68 Erscheinungsformen des Französischen | 70
6 6.1
Die amerikanische Frankophonie | 73 Von der Entdeckung zur Kolonisierung | 73
5.3.2
VIII | Inhalt
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.3.1 6.2.3.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5
Québec | 75 Geschichte, Demographisches, Sprachenrecht | 75 Sprachbewertung und Normenproblematik | 81 Das français québécois: Genese und Merkmale | 85 Allgemeine Merkmale des français québécois | 89 Umrisse der Standardnorm | 95 Acadie und andere frankophone Gebiete in Kanada | 97 Acadie: Geschichte, Sprachenrechtliches, Merkmale des français acadien | 97 Ontario und andere kanadische Provinzen/Territorien | 100 Louisiana | 102 Geschichte des Sprachraumes, Typologie der Frankophonen, Sprachenrechtliches | 102 Profil des Französischen in Louisiana | 106 Die Neu-England-Staaten | 109
7.1.4.4 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Das Französische in Afrika | 113 Schwarzafrika | 113 Stellenwert und rechtlicher Status des Französischen, historischer Rückblick | 113 Sprecherzahlen | 116 Ökologie des Französischen: Typologie der Kontaktsituationen | 120 Erscheinungsformen des Französischen | 128 Phänomene beim Erwerb | 129 Interferenz und Substrat | 132 Die „manière africaine de saisir et concevoir les choses“: andere Diskurstraditionen und kognitive Strukturen | 134 Perspektiven | 136 Maghreb | 139 Marokko | 140 Tunesien | 142 Algerien | 143 Besonderheiten des Französischen im Maghreb | 145
8
Schlussüberlegungen | 153
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.4.1 7.1.4.2 7.1.4.3
Bibliographie und Verzeichnis der Internetadressen | 157 E1
Erratum | 175
Abkürzungsverzeichnis alg.
Algonkin (indigene Sprachfamilie in Nordamerika)
ar.
Arabisch
chok.
Choktaw (indigene Sprache im südlichen Nordamerika)
dt.
Deutsch
engl.
Englisch
f.
Femininum
fr.
Französisch
frpr.
Frankoprovenzalisch
inf.
Infinitiv
irok.
Irokesisch (indigene Sprache in Nordosten Amerikas)
it.
Italienisch
L1
Muttersprache (Sprache der Primärsozialisation)
L2
Zweitsprache
m.
Maskulinum
mfr.
Mittelfranzösisch
mont.
Montagnais (zur Algonkin-Familie gehörende indigene Sprache in Nordamerika)
NP
Nominalphrase
okzit.
Okzitanisch
P.
Person
pl.
Plural
qc.
quelque chose
qn.
quelqu’un
rät.
Rätoromanisch
sg.
Singular
sp.
Spanisch
s. v.
sub voce
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abb. 1: Représentation graphique des situations de francophonie | 27 Abb. 2: Die Schweiz mit Sprachgebieten | 31 Abb. 3: Kombiniertes Auftreten von Merkmalen des Frankoprovenzalischen | 34 Abb. 4: Aosta-Tal mit angrenzenden Staaten | 46 Abb. 5: Belgien mit Sprachgebieten | 53 Abb. 6: Die dialektale Gliederung Walloniens | 54 Abb. 7: Französierung der wallonischen Skripta | 56 Abb. 8: Luxemburg | 66 Abb. 9: Kanada | 74 Abb. 10: Louisiana | 102 Abb. 11: Neu-England-Staaten | 109 Abb. 12: Die frankophonen Staaten Afrikas | 112
Tab. 1: Evaluation par des locuteurs neuchâtelois de l'acceptabilité d'expressions diverses | 42 Tab. 2: Panwallonische Regionalismen | 59 Tab. 3: Herkunft der kanadischen Einwanderer | 86 Tab. 4: Die frankophonen Staaten Schwarzafrikas | 114 Tab. 5: Sprecherzahlen des Französischen in Schwarzafrika (1989/1993) | 118 Tab. 6: Sprecherzahlen des Französischen in Schwarzafrika laut OLF im Jahre 2015 | 119
1 Einleitung: Gegenstandsbereich und Abgrenzungen Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs hat eine relativ kurze Geschichte. Lange Zeit hindurch galt die diatopische Variation der Gemeinsprache, durchaus im engeren Wortsinn, als peripheres Thema, das entweder unter sprachpflegerischen Gesichtspunkten (Purismus) oder – dem Gegenstand ebenso wenig angemessen – im Rahmen der Dialektologie und Sprachgeographie abgehandelt wurde. In Bezug auf die Varietäten des Französischen außerhalb des Hexagons bedeutete der von Albert Valdman herausgegebene umfangreiche Sammelband Le français hors de France (Valdman 1979a) einen großen Einschnitt; man kann ohne Übertreibung davon sprechen, dass seither die Zahl der einschlägigen Publikationen (Aufsätze und Monographien) explodiert ist. Mit den in den letzten Jahrzehnten erreichten theoretischen und empirischen Fortschritten in der Linguistik (Soziolinguistik, pragmatische Wende, Gesprochene-Sprache-Forschung, Spracherwerbsforschung, Kreolistik etc.) haben sich aber auch die Zugänge zur Thematik verzweigt. Dass hier eine Synthese der Forschung Not tut, haben Anfang der 1990er Jahre Didier de Robillard und Michel Beniamino erkannt und in den Jahren 1993 und 1996 ein zwei Bände umfassendes Sammelwerk mit dem Titel Le français dans l’espace francophone (Robillard/Beniamino 1993; 1996) herausgebracht. Dennoch schien es gerechtfertigt, die Bibliographie der einschlägigen Arbeiten noch um einen Titel zu vergrößern, und zwar aus mehreren Gründen: Die beiden genannten Werke zeichnen sich, jedes für seine Zeit, durch ein hohes wissenschaftliches Niveau aus, was allerdings die Rezeption für Leser1 ohne profunde Vorkenntnisse (Studierende und interessierte Laien) nicht gerade leicht macht. Andererseits lagen für diesen Leserkreis bislang keine geeigneten Alternativen vor, und die auf dem Markt befindlichen französischen Sprachgeschichten bieten in der Regel nur sehr rudimentäre Informationen zum Französischen außerhalb Frankreichs – von der löblichen Ausnahme der Histoire de la langue française von Jacqueline Picoche und Christiane Marchello-Nizia (51998) einmal abgesehen, die die verschiedenen frankophonen Gebiete im Rahmen der externen Sprachgeschichte behandelt. Auch der das Französische behandelnde Band des Lexikons der Romanistischen Linguistik (Holtus/Metzeltin/Schmitt 1990) lässt diesbezüglich einiges zu wünschen übrig; die
|| 1 Da das Deutsche über eine generische Nominalklasse verfügt, die aus historischen Gründen – und per conventionem adhuc acceptam – das Maskulinum ist, werden keine gegenderten Personenbezeichnungen verwendet. Selbstverständlich verweisen alle personenbezogenen formal maskulinen Formen auf beide Geschlechter sowie auf Menschen, die sich in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zugeordnet wissen wollen.
DOI 10.1515/97878311053346-001
2 | Einleitung: Gegenstandsbereich und Abgrenzungen
den verschiedenen frankophonen Gebieten gewidmeten Artikel sind von höchst unterschiedlicher Qualität und können nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Hinzu kommt, dass dieser Band den Daten- und Forschungsstand der späten 1980er Jahre repräsentiert. Seit dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Bandes im Jahre 1998 hat sich die Situation deutlich gebessert, nicht zuletzt dank mehrerer Syntheseartikel zu Fragen der internen und externen Sprachgeschichte des Französischen außerhalb Frankreichs in den von Ernst et al. verantworteten Bänden Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen (2003/2006/ 2008). Auch die einschlägigen Beiträge im Manuel des langues romanes (Klump/ Kramer/Willems 2014), im Manuel de linguistique française (Polzin-Haumann/ Schweickard 2015) und insbesondere im Manuel des francophonies (Reutner 2017) sind informativ und lesenswert. Nicht zuletzt finden sich im Internet seit einigen Jahren für unsere Thematik einschlägige und verlässliche Informationen. Besonders hervorzuheben ist hier die Website L’aménagement linguistique dans le monde (http://www.axl.cefan.ulaval.ca/), die von Jacques Leclerc (Université Laval, Québec) betreut wird. Dennoch hat auch heute eine kompakte Gesamtdarstellung nichts von ihrer Berechtigung verloren, und so versteht sich auch die 2. Auflage des vorliegenden Bandes als Synthese für ein primär studentisches Publikum, das eben nicht hochspezialisiert ist und sich erstmals mit der Geschichte und den Erscheinungsformen, dem soziolinguistischen Status und den Problemen des Französischen außerhalb Frankreichs vertraut machen will. Diesem Konzept entsprechend setzen wir uns auch nicht dem Systemzwang aus, alle in irgendeiner Form als frankophon anzusehenden Länder oder Regionen zu behandeln, sondern legen das Hauptaugenmerk auf jene Gebiete, um deren frankophone Zukunft man sich wahrscheinlich keine allzu großen Sorgen machen muss und die sich durch eine spezifische Sprachenlage deutlich von Frankreich abheben: die frankophonen europäischen Länder Schweiz, Belgien und Luxemburg sowie Québec und Afrika (Schwarzafrika und Maghreb). Dabei lag es allerdings aus der Thematik immanenten (sprach-)historischen Gründen nahe, auch manche jener Gebiete miteinzubeziehen, in denen das Französische auf nicht mehr so sicheren Beinen steht (im nordamerikanischen Kontext: die mehrheitlich anglophonen Provinzen Kanadas, die Neu-England-Staaten sowie Louisiana; in Europa: das Aosta-Tal).2 Mit dieser Beschränkung geht man auch dem auf seriöse Weise kaum lösbaren Problem aus dem Weg, den „niveau seuil de la francophonie“ (Rapport 1990, 27) zu definieren, d. h. die Frage zu beantworten, welche Umstände (Art des Erwerbs, ge-
|| 2 Ausgespart bleiben hingegen Monaco, die als Kronbesitz zu Großbritannien gehörenden Kanalinseln (fr. Îles Anglo-Normandes) (cf. zur Sprachsituation Langenbacher-Liebgott 2014) und Andorra.
Einleitung: Gegenstandsbereich und Abgrenzungen | 3
sellschaftliche Funktion, Sprecherzahlen, rechtlicher Status, Stellenwert im Arbeitsleben etc.) gegeben sein müssen, um ein Land, eine Region, eine Provinz etc. als frankophon zu etikettieren. Ein m. E. vertretbares Minimalkriterium, das auch in dieser Arbeit mit zum Tragen kam, ist sicherlich die Frage, ob das Französische Mutterund Zweitsprache oder nur (mehr) Fremdsprache ist. Im Hinblick darauf bleiben die ehemals zum französischen Kolonialreich gehörigen Territorien bzw. Staaten Asiens ausgeschlossen: Pondichéry (ehemaliger Handelsstützpunkt Frankreichs an der Indischen Ostküste; mit offiziellem Status des Französischen seit 1962), Kambodscha, Laos und Vietnam (ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1954 bei Frankreich). In den drei letztgenannten Ländern hat das Französische heute praktisch keine gesellschaftliche Bedeutung mehr, was sich auch in den Sprecherzahlen widerspiegelt: Die Organisation internationale de la Francophonie (OIF, cf. auch Kapitel 2) geht von 0,7 % Französischsprachigen in Vietnam und von je 3 % in Kambodscha und Laos aus (OIF 2014, 18). Trotz eines großen finanziellen Engagements von Seiten Frankreichs zur Erhaltung des Französischen wird es als Verkehrssprache zunehmend vom Englischen konkurrenziert. Besonders komplexe Fälle, auf die wir nicht im Detail eingehen werden, stellen auch die französischen Überseegebiete sowie jene heute unabhängigen Länder dar, die einst zu Frankreich gehörten: - Die erste Gruppe bilden insbesondere die sog. Départements et régions d’outremer / DROM (Mayotte: Komoreninsel, ca. 300 km nordwestlich von Madagaskar; Guyane: in Südamerika, östlich von Surinam; Guadeloupe, Martinique: Karibikinseln; La Réunion: Insel im Indischen Ozean, ca. 600 km östlich von Madagaskar), die Collectivités d’outre-mer (Saint-Pierre-et-Miquelon: zwei Inseln vor Neufundland; Saint-Martin: Nordteil einer Insel der Kleinen Antillen; SaintBarthélemy: Insel der Kleinen Antillen; Wallis-et-Futuna: Inselgruppe im Westpazifik; Polynésie française: Inselgruppe im Südpazifik) und eine Collectivité sui generis (Nouvelle-Calédonie: Inselgruppe im Südpazifik; mit weitreichender politischer Autonomie). Auf den Karibikinseln Martinique und Guadeloupe sowie in Guyane und auf La Réunion sind auf der lexikalischen Basis des Französischen Kreolsprachen entstanden. Im Spannungsfeld zwischen dem (Standard-)Französischen und dem Kreol haben sich in diesen Gebieten aber auch regionale Varietäten entwickelt, die früher primär als „schlechtes“, d. h. vom Kreolischen verderbtes Französisch angesehen wurden (cf. Pöll 2014 mit weiterführender Literatur sowie Bellonie/Pustka 2017 zu Martinique und Guadeloupe, Alby 2017 zu Guyane und Kriegel 2017 zu La Réunion). Im pazifischen Raum steht das Französische in vielfältigem Kontakt mit lokalen Sprachen, die hauptsächlich der polynesischen Sprachfamilie angehören; in Neukaledonien wird von etwa 2.000 Menschen auch eine französisch-basierte Kreolsprache (tayo; cf. Ehrhart 2012) verwendet (cf. weiterführend zum Französischen im pazifischen Raum Ehrhart 2017 und spezifisch zu Neukaledonien die Beiträge in Pauleau 2016). Auf der Komoren-
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-
insel Mayotte wird neben der offiziellen Sprache Französisch mehrheitlich das nahe mit dem Suaheli verwandte Komorisch gesprochen (cf. Waldburger 2015). Das Französisch von Saint-Pierre-et-Miquelon ähnelt in manchen Aspekten jenem der Acadie (cf. Kapitel 6.3), ist aber auch stark von der Varietät des Mutterlandes geprägt (cf. Chaveau/Brasseur 1990). In die zweite Gruppe sind u. a. Haiti (ab Ende des 17. Jahrhunderts unter französischer Herrschaft, seit 1804 unabhängig), der Inselstaat Mauritius (ca. 200 km nordöstlich von La Réunion; unter französischer Herrschaft von 1715 bis 1810, dann bis 1968 bei England) sowie die Seychellen einzuordnen: Auf Haiti spricht der überwiegende Teil der Bevölkerung ein französisch-basiertes Kreol, während das Französische, das immer mehr vom Englischen konkurrenziert wird, meist nur Zweitsprache ist (cf. weiterführend Fattier 2017). Mauritius ist ebenfalls kreolophon, nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung sprechen aber Chinesisch oder Sprachen des indischen Subkontinents, während das neben der offiziellen Sprache Englisch einen Sonderstatuts genießende Französisch vor allem in der Schriftlichkeit seinen Platz hat und den Nimbus einer „langue de culture“ genießt (cf. weiterführend Kriegel 2017).
Wie sich insbesondere an ihrem Wortschatz gut erkennen lässt, sind die von etwa 15 Millionen Menschen gesprochenen französisch-basierten Kreolsprachen zwar aus dem Französischen entstanden, sie weisen jedoch u. a. aufgrund ihrer Genese in einer nicht bis ins letzte Detail geklärten Kontaktsituation mit afrikanischen Sprachen besondere grammatische Strukturen auf, die wenig mit jenen des Französischen gemein haben. Als Beispiele seien das weitgehende Fehlen von Verbalmorphologie, die Existenz von Tempus, Modus und Aspekt ausdrückenden Markern (sog. TMA-Marker) oder der aus der Partikel -là entstandene nachgestellte Determinierer genannt. Die französischen Kreolsprachen können folglich nicht als regionale Varietäten des Französischen aufgefasst werden, sondern sind eigene Sprachen und werden daher im strengen Sinn auch nicht zur Frankophonie gerechnet.3 Einen in seiner zukünftigen Dynamik nicht leicht einzuschätzenden Sonderfall stellen auch die Maghreb-Staaten (Marokko, Tunesien, Algerien) dar, wo der Status des Französischen zwischen Zweitsprache und (privilegierter) Fremdsprache anzusiedeln ist. Aufgrund der Präsenz einer traditionsreichen und kommunikativ prinzipiell vollwertigen, aber von großen Teilen der Bevölkerung nicht aktiv beherrschten Verkehrs-/Dachsprache (klassisches bzw. Standard-Arabisch) unterscheidet sich ihr soziolinguistisches Profil deutlich von jenem der meisten frankophonen Staaten des subsaharischen Afrika.
|| 3 Einen guten Überblick über Entstehung, Verbreitung und Charakteristik der französischen Kreolsprachen sowie über die soziolinguistische Situation in den franko-kreolophonen Gebieten vermittelt Stein (2017); als einführende Lektüre auf Französisch empfiehlt sich Hazaël-Massieux (2012).
Einleitung: Gegenstandsbereich und Abgrenzungen | 5
Die in diesem Band gesetzten Schwerpunkte sind also nicht mit jener Konzeption von Frankophonie zur Deckung zu bringen, die für die französische Literaturwissenschaft maßgeblich ist: Die Zugehörigkeit zur (literarischen, kulturellen, identitätsmäßigen etc.) Frankophonie lässt sich nur schwer mit linguistischen Kriterien und soziolinguistischen Parametern messen. Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft gehören deshalb nicht nur der Maghreb und die Antillen, sondern z. B. auch Vietnam ganz selbstverständlich zur Frankophonie, weil durch die Existenz einer ästhetisch anspruchsvollen und zum Teil auch international rezipierten Literatur in französischer Sprache das grundsätzliche Bekenntnis zu einer Gemeinschaft der Sprecher des Französischen zum Ausdruck kommt (cf. zur Problematik Combe 1995 sowie das folgende Kapitel). *** Zum Aufbau: Den einzelnen Portraits der Varietäten (Kapitel 5–7) sind drei einführende Kapitel vorangestellt. In Kapitel 2 wird eine Klärung des Begriffs Frankophonie unternommen, Kapitel 3 fasst die wichtigsten theoretischen Ansätze zur Erforschung der français régionaux zusammen (Definition von français régional, Entstehung und Beschreibung diatopischer Varietäten der Gemeinsprache, Plurizentrik) und skizziert den Wandel der Einstellungen zur regionalen Variation im Französischen. Es sollte im Unterschied zu Kapitel 2 (Frankophonie) und Kapitel 4 (den Typologisierungsversuchen für die vielfältigen soziolinguistischen Konstellationen des espace francophone gewidmet) zum besseren Verständnis auf jeden Fall vor der Lektüre der Varietätenportraits gelesen werden. Soweit dies möglich war, wurde bei den einzelnen Sprachgebieten versucht, durchgehend ein Beschreibungsraster zu verwenden, das die aktuelle Sprachenlage (Sprecherzahlen/Demographisches, Verbreitung, rechtlicher Status), die Geschichte des Sprachraumes, den Stand der linguistischen Beschreibung sowie die Sprachbewertung berücksichtigt. Jedes Kapitel schließt mit Arbeitsaufgaben; sie dienen zur Vertiefung einzelner Aspekte des Informationsteils, der bei der gebotenen Kürze natürlich so manchen Sachverhalt über Gebühr vereinfacht. In der Regel können sie selbständig erledigt werden, wobei es sicherlich von den individuellen Vorkenntnissen abhängt, in welchem Ausmaß Hilfestellung von Seiten eines Lehrveranstaltungsleiters vonnöten ist. Ein Band über die Variation des Französischen kann keine Möglichkeit bieten, sich unmittelbar mit der Vielfalt des Französischen und insbesondere seiner Aussprachen vertraut zu machen. Dem Leser steht heute jedoch ein großes Angebot von akustischen Ressourcen zur Verfügung. Besonders empfehlenswert ist eine Auswahl von Aufnahmen des Projekts Phonologie du français contemporain, die z. B. in Form einer Begleit-DVD zu Detey et al. (2010) verfügbar sind. Ebenfalls aus dem genannten Projekt stammen die Tondokumente, die auf http://www.sociolinguis
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tique.fr/bibliosonore.html angehört werden können. Speziell dem français québécois ist http://phono.uqac.ca/ gewidmet. Auf Wunsch stellt auch der Verfasser zum Selbstkostenpreis ausgewählte Sprachproben auf CD zur Verfügung.4 Abschließend noch kurze Bemerkungen zur Bibliographie: Die schier unüberblickbare Fülle an wissenschaftlicher Literatur zur Thematik dieses Bandes erlaubt nur eine sehr unvollständige Auswahl. Kriterien bei der Erstellung der Bibliographie waren – abgesehen von der Zugänglichkeit – vor allem die Repräsentativität und die Frage, inwieweit ein gesicherter Daten- bzw. Forschungsstand dargestellt ist. Titel, die zur ergänzenden und vertiefenden Lektüre besonders empfohlen werden, sind mit ° gekennzeichnet.
|| 4 Kontakt: [email protected]
2 Zu den Begriffen francophonie und francophone So vage und wenig greifbar, so unterschiedlich konnotiert, wie uns der Begriff francophonie im heutigen Sprachgebrauch gegenübertritt, so eindeutig lokalisierbar ist sein Ursprung. Im Jahre 1880 veröffentlichte der französische Geograph Onésime Reclus (1837–1916) eine Studie mit dem Titel France, Algérie et colonies und verwendete darin ein neues Kriterium zur Klassifizierung der von ihm untersuchten Völker. Hatte man sich bislang vor allem auf das Merkmal „Rasse“ gestützt, war es bei Reclus die Sprache, die in der Familie und im sozialen Umfeld verwendet wird. Jene Völker oder Ethnien, die das Französische verwenden, nannte er – mit einer hybriden, griechisch-lateinischen Bildung – francophones, die Gesamtheit der französisch-sprechenden Menschen und die Gebiete, in denen sie leben, francophonie. Diese im engeren Sinn sprachliche bzw. geographische Bedeutung blieb im Wesentlichen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konstant, was wohl sicherlich mit dem weitestgehenden Verschwinden des Begriffs aus dem aktuellen Wortschatz zusammenhängt. Erst in den 1960er Jahren häuften sich die Belege: Im Jahre 1962 brachte die Zeitschrift Esprit eine Sondernummer zum Thema Le français dans le monde heraus. Unter der Feder des senegalesischen Staatspräsidenten Léopold SédarSenghor erfuhr das Konzept eine semantische Anreicherung – francophonie nicht mehr nur als linguistischer Terminus, sondern darüber hinaus als Bezeichnung für eine Werte- und Kulturgemeinschaft: la Francophonie, c’est cet humanisme intégral, qui se tisse autour de la terre: cette symbiose des ‚énergies dormantes‘ de tous les continents, de toutes les races, qui se réveillent à leur chaleur contemporaine. (Senghor 1962, zit. n. Luthi/Viatte/Zananiri 1986, 177)
Anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Laval (Québec) im Jahre 1966 präzisierte er in einem Vortrag mit dem Titel La Francophonie comme culture: La Francophonie, c’est, par delà la langue, la civilisation française; plus précisément, l’esprit de cette civilisation, c’est-à-dire la Civilisation française. Que j’appellerai la francité. (Senghor 1966, zit n. Luthi/Viatte/Zananiri 1986, 177)
Senghor bringt hier ein (Quasi-)Synonym – francité – ins Spiel, das spätestens seit Roland Barthes’ Mythologies (1957) bekannt ist. Barthes meinte mit Bildungen des Typs Italie – italianité, Chine – sinité, France – francité das kollektive Inventar von Vorstellungen über das betreffende Basiskonzept. (Im Deutschen müsste man diese Wortschöpfungen mit Hilfe des deadjektivischen Suffixes -heit wiedergeben, was
DOI 10.1515/978311053346-002
8 | Zu den Begriffen francophonie und francophone
allerdings wortbildungsmäßig zu kaum akzeptablen Ergebnissen führt: ?Italienischheit, ?Chinesischheit, ?Französischheit.) Mit der symbolischen Aufladung des Begriffs francophonie beginnt die bis heute andauernde Phase der ambivalenten Einstellung gegenüber dem Konzept. Ihre Extrempole manifestieren sich einerseits im Glauben an die Überwindung des Kolonialismus und das durch die französische Sprache (und Kultur) als gemeinsamer Nenner geschaffene Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft jenseits nationalstaatlicher Interessen, andererseits in der Ablehnung einer als neokolonialistisch entlarvten Ideologie, im Rahmen derer Frankreich bequem und unter Beibehaltung seiner Rolle als Wahrer der Menschenrechte seinen Status als eine der internationalen Führungsmächte beibehalten kann. Auf die Problematik des Begriffs weist auch – in sehr dezenter Form – der entsprechende Wörterbucheintrag im Grand Robert hin: „Le mot, lorsqu’il prétend conférer une cohésion à l’ensemble humain mal défini qu’il désigne, est parfois très critiqué“ (GR 1986, 694, s. v. francophonie). Zudem ließ die angesprochene Vagheit des Begriffs das Aufkommen einer Vielzahl von Konkurrenzkonzepten zu: Neben dem schon erwähnten francité etwa auch francitude, communauté francophone, communauté de langue française oder gar Commonwealth francophone (cf. Deniau 1995, 13). Im heutigen Sprachgebrauch lassen sich für francophonie im Wesentlichen vier Bedeutungen unterscheiden (cf. Deniau 1995, 15ss.): 1. Francophonie im sprachwissenschaftlichen Sinn: Die Summe der Sprecher des Französischen, wobei hier entweder nur muttersprachliche Sprecher, sowohl Muttersprachler als auch Verwender des Französischen als Zweitsprache5 oder auch – allerdings seltener – die Gesamtheit der Sprecher, egal ob Muttersprache, Zweitsprache oder Fremdsprache gemeint sein können. Mit diesen unterschiedlichen Sichtweisen hängen die oft recht divergierenden Angaben zu den Sprecherzahlen des Französischen zusammen. Je nach Zählweise kommt man dabei auf 75 bis mehrere hundert Millionen Sprecher. 2. Francophonie im geographischen Sinn: Jene Staaten oder Gebiete, in denen das Französische als Muttersprache oder „Sprache des Dauergebrauches“ (≈ häufiger verwendete Zweitsprache; cf. Müller 1975, 7), Verwendung findet. Die Ausdehnung auf Territorien, in denen das Französische ausschließlich als Fremdsprache auftritt, ist unüblich, wenngleich auch Staaten, die der genannten Definition nicht entsprechen, in Institutionen der Frankophonie (cf. || 5 Im Unterschied zu Fremdsprache meint man damit jede Sprache außer der Muttersprache, die 1. nicht in einem gesteuerten Prozess (formaler Unterricht) erworben wird und 2. im jeweiligen Territorium nicht „fremd“ ist, z. B.: Französisch in Frankreich für Immigranten → Zweitsprache; Französisch in Deutschland im Sekundarbereich → Fremdsprache. In der Praxis der Spracherwerbsforschung wird diese Unterscheidung allerdings nicht immer durchgehalten. – Aus gesellschaftlicher Sicht handelt es sich meist um das Französische als Verkehrssprache.
Zu den Begriffen francophonie und francophone | 9
unten Bedeutung 4) Mitglieder sind, so z. B. Bulgarien und Mazedonien in der Organisation internationale de la Francophonie. 3. Francophonie als die aufgrund von gleicher Sprache, ähnlicher geistiger Werte und durch ein historisch begründetes Zusammengehörigkeitsgefühl entstandene Gemeinschaft der französischsprachigen Nationen. Diese Bedeutung basiert auf 2. Das Adjektiv francophone wird häufig bewusst zur Abgrenzung von français eingesetzt und steht semantisch in einer ähnlichen Beziehung wie anglosaxon zu anglais. Obwohl Frankreich per definitionem Teil der Frankophonie ist, legen manche Verwendungen, vor allem des Adjektivs, nahe, dass im kollektiven Bewusstsein der Franzosen Frankreich zwar nicht außerhalb dieser Gemeinschaft steht, aber zweifelsohne eine Sonderstellung innehat. In diesen Kontext gehört der vielleicht symptomatische Lapsus von Bernard Pivot anlässlich einer Verleihung des Preises bei den Championnats d’Orthographe an einen nicht-französischen Frankophonen: Pivot sprach davon, dass es das erste Mal sei, dass ein Frankophoner den Preis gewonnen hätte ... (cf. Goosse 1995, 272). Francophone scheint hier français auszuschließen. Eine ebensolche Verwendung findet sich z. B. auch in der Kollokation littératures francophones: Damit ist französischsprachige Literatur gemeint, die nicht in Frankreich entstanden ist bzw. nicht von französischen Autoren verfasst wurde. 4. Francophonie6 – die Gemeinschaft der privaten, staatlichen oder supranationalen Organisationen und Verbände, deren Ziel die Förderung der Frankophonie (Bedeutungen 2 und 3) ist. Dazu ist für das Adjektiv francophone eine zusätzliche Bedeutung entstanden: ‚zur (institutionellen) Frankophonie gehörig‘, z. B. in sommets francophones, institution francophone, Affaires francophones etc. Von den zahlreichen Institutionen und Strukturen, die das Netz der institutionellen Frankophonie bilden, kann hier nur eine kleine Auswahl aufgelistet werden (für einen genaueren Überblick über Aufgaben und Funktionen der frankophonen Institutionen und ihre historische Entwicklung cf. Deniau 1995, Bruchet 1996 und Dereumaux 2008): - Private Organisationen: Alliance française (gegründet 1883), Association „Défense de la langue française“ (gegründet 1958) - Supranationale Organisationen/Strukturen: Conférence des chefs d’Etat et de Gouvernement ayant en commun l’usage du français (sog. Sommets francophones), Agence de Coopération culturelle et technique (ACCT, gegründet 1970), Agence francophone pour l’enseignement supérieur et la recherche (AUPELFUREF, gegründet 1961), Conseil international de la langue française (CILF,
|| 6 In dieser Bedeutung wird francophonie im Französischen meist mit initialem Großbuchstaben geschrieben: Francophonie.
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gegründet 1968). Im Anschluss an den Sommet francophone von Hanoi (1997) hat sich die institutionelle Frankophonie eine neue Dachstruktur gegeben, die Organisation internationale de la Francophonie (OIF), mit einem Conseil permanent de la Francophonie (CPF) und einem Secrétaire général. Sie ist aus der ACCT hervorgegangen und hat ihren Sitz in Paris; die AUPELF-UREF ist – als Agence universitaire de la Francophonie – in ihr aufgegangen. Staatliche (nationale) Organisationen: Haut Conseil de la Francophonie (HCF, gegründet 1984, zunächst beratendes Organ des französischen Staatspräsidenten, seit 2004 jedoch dem Secrétaire général de la Francophonie zugeordnet), Secrétaire d’État chargé du Développement et de la Francophonie (Frankreich, seit 19867), Council for the Development of French in Louisiana (CODOFIL, gegründet 1968), Office québécois de la langue française (OQLF, gegründet 1961 als Office de la langue française, der Provinzregierung von Québec unterstellt), Académie royale de la langue et de la littérature française de Belgique (gegründet 1772).
Die Frankophonie im Sinne der Lesarten 3 und 4 oben und die Beziehungen, die die Länder/Partner untereinander pflegen, befinden sich heute im Wandel. Nach der traditionellen Sicht, die die französische Frankophonie-Politik lange vertreten hat, handelte es sich um ein Geflecht bilateraler Beziehungen, in dem Frankreich sich selbst eine privilegierte Rolle zuschrieb. Eine solche Sicht wurde insbesondere von Kanada, das gemäß seiner Verfassung zweisprachig ist, sich einer Politik des kulturellen Pluralismus verschrieben hat und multilaterale Beziehungen zwischen den frankophonen Ländern favorisiert, in Frage gestellt (cf. Tétu 1997, 100). Dennoch sind wir auch heute noch von einer Frankophonie, die – so Michel Tétu (ein prominenter ehemaliger „Architekt“ der institutionellen Frankophonie) – „multinucléaire“ sei und sich durch „plusieurs noyaux durs, qui constituent, selon les régions du monde, les principaux pôles d’attraction, qui orientent les normes linguistiques et les manifestations culturelles“ (Tétu 1997, 20) auszeichne, weit entfernt.
|| 7 Die Repräsentanz der Angelegenheiten der Frankophonie in der französischen Regierung hat hinsichtlich ihres institutionellen Status’ seit 1986 häufig gewechselt (Secrétariat d’État vs. Ministère délégué). Meist wurden die Aufgaben mit anderen kombiniert (z. B. Entwicklungszusammenarbeit oder internationale Kulturbeziehungen).
Zu den Begriffen francophonie und francophone | 11
Arbeitsaufgaben: 1. Suchen Sie im Internet auf Seiten mit dem Länderkürzel .fr Belege für das Adjektiv francophone in seiner français ausschließenden Bedeutung! 2. Konsultieren Sie verschiedene Sprachgeschichten sowie einführende Werke in die französische Sprachwissenschaft und vergleichen Sie die Sprecherzahlen, die dort angegeben werden. Welche Kriterien liegen den Zahlenangaben zugrunde? 3. Informieren Sie sich über Genese und Semantik der Begriffe Hispanophonie und Lusophonie!
3 Regionales Französisch/français régional: Problematik und neuere Entwicklungen 3.1 Definition Zur Beschreibung der synchronen diatopischen, d. h. geographischen Variation hat sich in der französischen Sprachwissenschaft der Begriff français régional eingebürgert. Die im Englischen oder im Deutschen (im nicht-wissenschaftlichen Diskurs) übliche Etikettierung dialect / Dialekt ist aus mehreren Gründen für die Situation im Französischen inadäquat. In der Tat sind die diatopischen Varietäten des Französischen, wie sie uns in ausgeprägterer Form etwa in Südfrankreich oder in Belgien begegnen, Produkte des Aufeinandertreffens des Gemeinfranzösischen und der historischen Dialekte bzw. der sog. langues ethniques.8 Im Zuge der Ausbreitung des Französischen (nach dem Standard der Île-de-France) spätestens ab dem 13. Jahrhundert wurden die in den verschiedenen Teilen der Galloromania aus dem Vulgärlatein entstandenen Varietäten, die z. T. eigene Schreibtraditionen entwickelt hatten (deshalb auch die Bezeichnung scriptae, sg.: scripta/Skripta), überlagert. In diesem Prozess der Ablösung überflügelte einer der historischen Dialekte, die von den Philologen des 19. Jahrhunderts als Franzische (fr. francien) bezeichnete Varietät des Großraums von Paris, die anderen Dialekte. Bemerkenswert ist dabei: Politische Gründe, vor allem der Umstand, dass Paris ab der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts dauerhaft den Königshof beherbergte, führten dazu, dass ein aus kultureller Perspektive zunächst relativ unbedeutender Dialekt sich gegenüber Konkurrenten durchsetzte, die aufgrund herausragender literarischer Produktion gute Kandidaten für die Basis der späteren Nationalsprache gewesen wären (z. B. Normandisch, Pikardisch, Champagnisch). Der Prozess der Herausbildung der français régionaux hat evidente Parallelen zur Romanisierung: Die meisten français régionaux sind durch die Ausbreitung der Gemeinsprache über die Dialektzonen und die Gebiete nichtfranzösischer langues ethniques entstanden. Beim langsamen Erwerb ‚des Französischen‘ haben die Bewohner die lautlichen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Muster der Regionalsprachen auf dieses übertragen und so nach den jeweiligen regionalen Vorgegebenheiten eine zusätzliche mittlere Ebene zwischen Ausgangs- und Zielsprache geschaffen. Dialekte wirkten hier wie typologisch andersartige Sprachen, nämlich als Substrate. Im Unterschied zu den sonstigen Substrateinflüssen in der Geschichte des Französischen [...] ist dabei jedoch die überlagernde Schicht [...] kaum affiziert worden; das Eigentümliche stellt hier die Herausbildung einer regionalen Zwischenebene dar. (Müller 1975, 117)
|| 8 Darunter versteht man die nicht-französischen Sprachen auf französischem Gebiet: Niederländisch bzw. Flämisch, Deutsch/Elsässisch, Katalanisch, Korsisch, Bretonisch, Baskisch, Okzitanisch.
DOI 10.1515/97878311053346-003
14 | Regionales Französisch/français régional: Problematik und neuere Entwicklungen
Langfristig bewirkt die Entstehung der regionalen Zwischenebene eine Schwächung der Dialekte; von einigen Ausnahmen abgesehen – z. B. erweist sich das Wallonische als deutlich resistenter als andere Dialekte – ist dieser Prozess bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Aus dem Beginn des Zitats ist ersichtlich, dass diese Form der Genese nicht für alle français régionaux gleichermaßen zutrifft; eine Sonderstellung kommt dem regionalen Französisch in Schwarzafrika und in Kanada zu: - Das Besondere an der Situation in Afrika ist, dass sich die Überlagerung immer wieder neu vollzieht (Erwerb des Französischen in erster Linie als Zweitsprache) und – im Unterschied zu Frankreich – die Ebene der autochthonen Sprachen keineswegs vom Verschwinden bedroht ist. - Wiederum ganz anders war die Entstehung des kanadischen Französisch: Ausgangspunkt war hier wahrscheinlich der „Export“ verschiedener französischer Dialekte vor allem jener des Zentrums, des Westens und des Nordwestens sowie populärer Formen des Französischen, die dann unter bislang noch nicht ganz geklärten Umständen, jedoch sehr schnell, in einer Koiné (Ausgleichsvarietät) aufgingen (cf. Kapitel 6.2.3). Mit einem anderen Einflussfaktor bei der Entstehung eines regionalen Französisch ist hingegen fast immer zu rechnen, nämlich dem Einfluss benachbarter Sprachen im Zuge von kulturellen oder wirtschaftlichen Kontakten (Adstrat). Die Besonderheiten einer „variété géographique d'une koïné ou langue commune“ – so die heute unumstrittenste Definition9 aus der Feder von Lothar Wolf (1972, 171) – manifestieren sich besonders deutlich, jedoch keineswegs ausschließlich, im mündlichen Bereich. Unabhängig vom Verbreitungsgebiet hat Léon Warnant (1973, 116) für alle français régionaux neben dem Charakteristikum der Oralität festgestellt, dass sie - „marginal“ sind, d. h. vor allem in der Peripherie des französischen Sprachgebietes angetroffen werden; - als „provincial“ eingestuft werden können, weil sie nicht innovativ seien; - natürlich spezifisch „régional“ sind, d. h. von Region zu Region eine unterschiedliche Physiognomie aufweisen.
|| 9 Ein anderer Definitionsvorschlag stammt von Tuaillon (1977, 8): „le français régional est l’ensemble des variantes géolinguistiques du français“, wobei mit „variantes géolinguistiques“ die sprachlichen Einzelerscheinungen im Kontrast zum français commun gemeint sind. Aus Tuaillons weiteren Ausführungen geht hervor, dass es sich sehr wohl um die Partikularismen des Französischen in einem bestimmten Gebiet handelt (cf. die etwas andere Interpretation von Poirier 1987, 141). Diese Konzeption liegt auch Tuaillons (1983) Arbeit zum Französischen in Vourey (Dauphiné) zugrunde. – Das Wesentliche an diesen Definitionen ist, dass français régional nicht als eigenes System oder eigene Varietät gesehen wird. Cf. zur Entwicklung des Konzepts français régional Pöll (2007).
Definition | 15
Einer Präzision bedarf auf jeden Fall das Etikett „provincial“; mit dem attestierten Mangel an Innovation meint Warnant den Umstand, dass die français régionaux – in der Regel10 – mit ihren Innovationen (vor allem in den Bereichen Phonetik und Lexikon) zur Gemeinsprache, zu der sie in funktionaler Konkurrenz stehen, nur selten beitragen (können). Für die Sprecher anderer regionaler Varietäten bzw. der Standardsprache werden sie nicht spürbar. In formeller mündlicher Kommunikation und vor allem in der Schriftlichkeit machen sich regionale Merkmale in der Regel weniger stark bemerkbar, da die Mehrheit der Sprecher – zumindest der europäischen Frankophonie – je nach Bildungsgrad auf die mehr oder weniger vollständige Beherrschung der hexagonalfranzösisch geprägten Standardnorm, des bon usage, verpflichtet werden. Davon ausgenommen sind die regionalistische Literatur, da hier die bewusste Verwendung regionalen Wortschatzes ästhetischen Prinzipien geschuldet sein kann, sowie schriftliche Texte mit geringerer kommunikativer Reichweite. Die von der französischen Grammatiktradition gepflegte und für viele Sprecher und auch manche Linguisten selbstverständliche Verquickung von Regionalität und Oralität, und in weiterer Folge die Gleichsetzung mit familiärer Ausdrucksweise oder Umgangssprache, kann unangenehme Folgen haben, dann nämlich, wenn Sprecher regionaler Varietäten des Französischen nicht in der Lage sind, dem präskriptiven Normdruck zu entsprechen und ihren Sprachgebrauch nach Kommunikationsanlass und Kommunikationspartner in Richtung auf den Standard hin zu verändern (sog. Akkommodation). Das Los dieser in eine Diglossie gezwungenen Sprecher ist oft ein gehöriges Maß an sprachlichen Komplexen (fr. insécurité linguistique) (cf. u. a. Kapitel 5.3 Belgien, 6.2 Québec). Das Konzept der insécurité linguistique stammt aus der amerikanischen Soziolinguistik (William Labov); Swiggers (1993, 23) definiert es treffend folgendermaßen: L’insécurité linguistique peut être définie comme un sentiment socialisé d’aliénation – de double aliénation: d’une part, par rapport à un modèle qu’on ne maîtrise pas/plus, et d’autre part, par rapport à sa propre production qu’on veut refouler ou forclore. Ce sentiment peut se traduire à la fois dans des attitudes explicites, dans un comportement linguistique (par ex. mélange inapproprié de registres, hésitation dans l’emploi de formes, manque d’aisance au
|| 10 Gegenbeispiele, also Regionalismen, die in unterschiedlich starkem Ausmaß sprachliches Gemeingut geworden sind: houille ‚Steinkohle‘ (Belgien), rescapé ‚Geretteter‘ (Nordfrankreich), navetteur ‚Pendler‘ (aus dem belgischen Französisch), bulot ‚Wellhornschnecke‘ (Regionalfranzösisch der Normandie), emportiérage ‚Fahrradunfall, der durch das unachtsame Öffnen einer Fahrzeugtür ausgelöst wird‘ (Quebecker Französisch), cagole ‚Schlampe‘ (Regionalfranzösisch des Südens, insbesondere von Marseille). Auch die verstärkte Tendenz zur Feminisierung von Berufsbezeichnungen in Frankreich (angestoßen u. a. durch den Quebecker Sprachgebrauch) ließe sich ins Treffen führen. Wörter wie bouillabaisse oder tomme (Regionalfranzösisch des Midi) zeigen übrigens, dass die Generalisierung des Wortes häufig der zunehmenden Verbreitung der Sache folgt.
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niveau discursif) et dans l'écart entre le comportement linguistique et le discours épilinguistique.
Solche Komplexe, die sich auch in der völligen Ablehnung oder Verleugnung der eigenen Varietät niederschlagen können, entstehen aus der Erkenntnis, dass man als Sprecher vom Ideal abweicht. Auch wenn mit Ausnahme der Aussprache den Sprechern häufig gar nicht bewusst ist, dass sie Regionalismen (fr. régionalismes, diatopismes) verwenden,11 kann allein schon das Wissen darum, anders zu sprechen als jene, die das idealisierte français standard, français de Paris oder den bon usage verkörpern, für das Aufkommen von insécurité linguistique ausschlaggebend sein.
3.2 Die Aufwertung der Regionalität Während Jahrhunderte hindurch sprachliche Regionalität bzw. diatopische Variation in Frankreich (und darüber hinaus) stigmatisiert war, bemerkt man seit den 1970er Jahren eine langsame Veränderung dieser Situation: Was einst écart oder déviation (‚Abweichung‘) war, kann zu einer identitätsstiftenden spécificité (‚Besonderheit‘) werden, die es wert ist, als Komponente des kulturellen patrimoine (‚Erbe‘) bewahrt zu werden. Der erste Anstoß zu einer differenzierteren Sicht datiert aus dem Jahre 1972. In diesem Jahr erschien das Dictionnaire du français vivant (DFV 1972) von Maurice Davau, Marcel Cohen und Maurice Lallemand, in das erstmals und in Form eines Appendix Regionalismen aus Kanada, Belgien und der Suisse romande Aufnahme gefunden haben (S. 1303–1310: Mots, locutions et tournures propres à la Belgique, au Canada, à la Suisse romande). Auch wenn die von den Lexikographen getroffene Auswahl von Linguisten aus den verschiedenen Sprachgebieten heftig kritisiert wurde, beginnt mit diesem symbolisch bedeutenden Akt die Phase der Berücksichtigung des regionalen Sprachgebrauchs auch in den großen einsprachigen Wörterbüchern. Seit den 1970er Jahren wird in den umfangreichen Definitionswörterbüchern (Robert, Larousse, Trésor de la langue française etc.) regionaler Wortschatz berücksichtigt, wobei die Selektion zum Teil in Kooperation mit Experten für die jeweiligen Sprachgebiete erfolgt. Ein Ergebnis dieser Kooperation zwischen Linguisten und Lexikographen verschiedener frankophoner Länder und Regionen ist das Projekt der Base de données lexicographiques panfrancophone (BDLP; http://www. bdlp.org/). Es handelt sich dabei um ein großangelegtes, frei konsultierbares elek-
|| 11 Pierre Imbs resümiert im Vorwort des Trésor de la langue française (TLF 1971, XXVI) diese weit verbreitete, aber auf jeden Fall zu nuancierende Meinung: Lexikalische Regionalismen seien „en usage dans telle région chez les habitants ignorant le dialecte et les employant spontanément sans avoir l’idée de se singulariser par rapport à la langue commune“.
Die Aufwertung der Regionalität | 17
tronisches „Wörterbuch“, an dem 20 Länder bzw. Regionen beteiligt sind und das laufend erweitert wird.12 In jüngerer Zeit wird die Aufwertung der Regionalität mit Schlagwörtern wie polynomie,13 plurizentrische Sprachkultur oder Plurizentrik/Plurizentrismus diskutiert. Unter polynomie wird eine Sprachsituation verstanden, in der in einem Sprachraum mehrere Varietäten koexistieren, ohne dass zwischen ihnen ein Hierarchiegefälle besteht; Plurizentrik verweist auf die grundsätzliche Akzeptanz und Legitimität mehrerer Standardnormen innerhalb ein und derselben Sprachgemeinschaft, wobei jedoch diese Normen oft ein unterschiedliches „Gewicht“ aufweisen, d. h. in unterschiedlich großem Ausmaß als Richtschnur für das sprachliche Handeln fungieren und in Konkurrenz zueinander stehen können. Ein wesentlicher Faktor bei der Legitimierung regionaler Varietäten war die Erkenntnis, dass die regionalen Charakteristika in Wortschatz, Phonetik und Lexikon etc. nicht nur in einem kleineren Gebiet anzutreffen sind, sondern u. U. typisch sind für ein größeres Territorium oder staatsähnliches Gebilde (z. B. Wallonien, Québec). Davon sind nicht nur – um im am besten greifbaren Bereich, dem Lexikon, zu bleiben – erwartungsgemäß die für die Bezeichnung der Realia (Fauna, Flora, Institutionen, Alltagskultur, Gastronomie etc.) benötigten Lexeme, sondern auch „normale“ Wörter betroffen, die Subsprachen (diaphasischen oder diastratischen Varietäten, z. B. Schülerargot) angehören können (cf. Poirier 1987, 154s.). Im Hinblick darauf ist es sicherlich treffender, von nationalen Varietäten oder einem français de Belgique oder du Québec etc. zu sprechen;14 wir haben an einem anderen Ort den Begriff français territorial vorgeschlagen (Pöll 1998). Grundsätzlich in Frage stellen kann man den Begriff français régional für solche Varietäten auch unter Bezugnahme auf die Semantik von région (cf. Poirier 1987, 152); so können etwa der Midi oder die Bretagne zu Recht als Regionen von Frankreich aufgefasst und die dort anzutreffenden regionalen Varietäten als français régional bezeichnet werden – für Gebiete wie die Suisse romande, Kamerun oder die Provinz Québec kann dies wohl nicht gelten.
|| 12 Es wird der Wortschatz der folgenden Länder bzw. Gebiete erfasst: Acadie, Algerien, Antillen, Belgien, Burundi, Elfenbeinküste, Frankreich, Kamerun, La Réunion, Louisiana, Madagaskar, Marokko, Mauritius, Neukaledonien, Québec, Republik Kongo, Ruanda, Schweiz, Tschad und Zentralafrikanische Republik. 13 Während das Konzept der polynomie von Jean-Baptiste Marcellesi im Kontext der Normalisierung des Korsischen entwickelt wurde (cf. Bulot 1991, mit dem Versuch einer Anwendung auf das Französische), geht der Begriff Plurizentrik auf den deutschen Soziologen Heinz Kloss (1978) zurück und wurde vor allem durch den australischen Germanisten Michael Clyne (1992) bekannt gemacht. Für eine eingehende Diskussion dieser Konzepte im Kontext des Französischen, cf. Pöll (2005, 34–37). 14 Zur Frage, inwieweit die Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs als variétés nationales verstanden werden können bzw. ob das Französische als Konglomerat nationaler Varietäten aufgefasst werden soll, cf. Verreault/Mercier (1998).
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Die Aufwertung der nationalen oder territorialen Varietäten ermöglicht prinzipiell die Entwicklung eigener Normen für die Standardsprache und die Herausbildung eines eigenen qualitativen oder sozial markierten Varietätenkontinuums, ohne dass die Verhältnisse im hexagonalen Französisch den Maßstab bilden. Die Anzeichen mehren sich, dass manche „periphere“ frankophone Gemeinschaften diese Spielräume ausnützen. Beim Sommet francophone in Dakar (1989) war zwar programmatisch vom Anerkennen der francopolyphonie, d. h. der Vielstimmigkeit bzw. Vielsprachigkeit des frankophonen Raumes (cf. Chaudenson 1993, 357s.) die Rede, in Bezug auf die Herausbildung anderer Normen des Französischen ist die Toleranz von französischer Seite jedoch (noch) nicht so ausgeprägt (cf. Pöll 1998; 2005). Von den Verhältnissen, die im Bereich des Englischen, des Spanischen oder des Portugiesischen herrschen, ist die Frankophonie noch ziemlich weit entfernt.
3.3 Die Beschreibung der diatopischen Variation Wie die qualitativen Register oder die diastratischen Varietäten (Soziolekte, Gruppensprachen) des Französischen, werden auch die geographischen Varietäten traditionellerweise im Kontrast zur Gemeinsprache, d. h. zu dem aus normativer Perspektive unmarkierten Sprachgebrauch Frankreichs, beschrieben. Aus der Entstehungssituation (cf. Kapitel 3.1) lässt sich eine genauere Beschreibungsmatrix mit vier relativen Kategorien ableiten (cf. Straka 1981, 41–43): Archaismus: Im Vergleich mit der Gemeinsprache fällt die Bewahrung älterer Sprachstände (in der Peripherie) auf bzw. werden Entwicklungen in der Gemeinsprache nicht mitvollzogen. Beispiele: - Erhalt des h aspiré als tatsächlich gesprochener Konsonant (zu beobachten z. B. in Belgien oder in Louisiana) - apikales [r] (statt uvularem [ʁ]) bei Sprechern in Teilen von Québec - fin in der Funktion eines intensivierenden Adverbs (fin propre, fin saoûl; Belgien, Suisse romande, Dauphiné) - déjeuner/dîner in der Bedeutung von ‚petit déjeuner‘ bzw. ‚déjeuner‘ (Belgien, Suisse romande, Québec) Dialektalismus: Dieser Begriff bezieht sich auf das Vorkommen von dialektalen Elementen bzw. Einflüssen lautlicher, morphosyntaktischer oder lexikalischer Natur, die im Standard unbekannt sind.
Die Beschreibung der diatopischen Variation � ��
Beispiele: - höhere Frequenz des passé simple im Regionalfranzösischen des Midi oder der Acadie - Bildung des futur composé nicht mit aller, sondern mit vouloir (Suisse romande, cf. Kapitel 5.1.3) - y in der Funktion des Objektpronomens le (Zentral-/Ostfrankreich) - bouscatier ‚bûcheron‘ (Südfrankreich, aus dem Okzitanischen), draille ‚sentier de transhumance‘ (Südfrankreich; wahrscheinlich aus dem Frankoprovenzalischen oder Okzitanischen), fayard ‚hêtre‘ (Südfrankreich; aus dem Frankoprovenzalischen) Innovation: Darunter werden eigenständige Entwicklungen verstanden, die durch die Standardnorm nicht gebremst wurden. Beispiele: - Neubildungen, die in anderen Regionen unbekannt sind, z. B. débourdonneuse (‚im Weinbau verwendetes, pflugähnliches Gerät‘; Dauphiné), landages (‚broussailles‘; Normandie), ardoisier (‚couvreur‘; Belgien) - Femininbildung im kanadischen Französisch (auteure, écrivaine etc.) - Ausnützen der vom französischen System her möglichen Wortbildungsverfahren: ramasser → ramassoire (‚pelle à poussière‘; Suisse romande), essence → essencerie (‚station de service‘; Elfenbeinküste, Senegal), pollution x courriel → polluriel (‚Spam‘; Québec) Adstrateinfluss: Dabei handelt es sich um semantische oder lexikalische Entlehnungen aus einer Nachbarsprache. Beispiele: drache
‚pluie abondante et subite‘ (Belgien; aus dem Niederländischen)
tomber en amour
‚tomber amoureux‘ (Québec, Calque von engl. to fall in love)
quiche
Entlehnung aus dem elsässischen Deutsch; mit der Generalisierung des Referenten hat auch das Wort seinen regionalen Charakter verloren
Die Zuordnung zu diesen Kategorien muss natürlich von Gebiet zu Gebiet u. U. unterschiedlich getroffen werden: So ist das Vorkommen eines apikalen [r] im Französischen von Québec zweifelsfrei ein Archaismus; dasselbe Phänomen in Varietäten des Französischen in Afrika ist hingegen den Muttersprachen geschuldet und daher ein Adstratphänomen. Diese Beschreibungsmatrix hat hinsichtlich der Trennschärfe zwischen einzelnen Kategorien Schwächen. So sind z. B. die Kategorien Archaismus und Dialektalis-
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mus nicht unproblematisch, denn es gilt zweifellos, dass „[…] un grand nombre d’archaïsmes se révèlent être en même temps des traits vernaculaires“ (Martin 1997, 63). Beispielsweise kann die höhere Frequenz des passé simple im Midi auch als Archaismus in Bezug auf die Gemeinsprache gewertet werden. Als Ausschlusskriterium für Dialektalismus gilt der Umstand, dass ein zur Diskussion stehendes Merkmal irgendwann einmal zur Norm des Französischen gehört hat. Dies trifft etwa für die in Québec noch gelegentlich vorkommende Form je vas zu, die im 17. und 18. Jahrhundert noch zum bon usage gehörte, dann aber – in Frankreich – an Prestige verloren hat und außer Gebrauch gekommen ist. Eine klare Zuordnung zu diesen Kategorien erfordert also mehr als die Konsultation von Sprachatlanten oder Dialektmonographien, vielmehr müssen Dokumente und Sprachbeschreibungen unterschiedlicher Epochen ausgewertet werden. Auch Dialektalismus und Innovation – Kategorien, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen – können sich überlappen, wenn z. B. ein im dialektalen Substrat angelegtes Bildungsprinzip in moderner Zeit produktiv wird – also eine Innovation gegenüber der Gemeinsprache begründet. Im Hinblick auf diese Probleme scheint es sinnvoller, die einfachere Klassifizierung nach den betroffenen Sprachebenen zu bevorzugen (phonologische bzw. phonetische, lexikalische, morphosyntaktische, syntaktische etc. Merkmale) und die Zuordnung zu den obigen Kategorien nur im gesicherten Einzelfall vorzunehmen. Dass bei dieser Form der Beschreibung das Hauptaugenmerk auf der Differenzqualität der regionalen oder nationalen Varietäten liegt, darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl zwischen den einzelnen Varietäten selbst als auch zwischen ihnen und dem hexagonalen Französisch bedeutend mehr Übereinstimmungen als Unterschiede existieren. Dem Untersuchungsgegenstand zweifellos angemessener wäre es, die einzelnen Varietäten als autonome Größen zu behandeln und exhaustiv zu beschreiben (cf. Corbeil 1982; 1984), zumal dabei auch die Frage nach dem Stellenwert der Partikularitäten für die Sprecher selbst gestellt werden könnte. Arbeitsaufgaben: 1. Konfrontieren Sie französische Muttersprachler Ihres Umfeldes mit den in Kapitel 3.3 zitierten Beispielen: Sind sie in der Lage, die Merkmale geographisch zu situieren? Wie werden sie von ihnen beurteilt? Glauben Sie, dass Muttersprachler des Deutschen Regionalismen des Deutschen besser zuordnen können? 2. Informieren Sie sich in Michael Clyne (ed.) (1992): Pluricentric Languages. Differing Norms in Different Nations. Berlin, de Gruyter über den Status der außereuropäischen Varietäten anderer europäischer Kultursprachen (z. B. Englisch, Spanisch und Portugiesisch).
Die Beschreibung der diatopischen Variation | 21
3.
Lesen Sie in Baldinger (1961) den Diskussionsbeitrag von Charles Bruneau und im Vergleich dazu Müller (1975, 116s.). Wie definiert Bruneau mot régional? Gibt es einen Widerspruch zu Bodo Müllers Auffassung vom Verhältnis Gemeinsprache – français régional? Achten Sie bei der Lektüre der folgenden Kapitel darauf, ob die Definition von Bruneau in so genereller Form aufrechterhalten werden kann.
4 Typologie der frankophonen Gebiete 4.1 Tradition vs. Expansion Aus historischer Perspektive betrachtet, können in der Frankophonie zwei Räume unterschieden werden: 1. Jene Gebiete, in denen das Französische bzw. typologisch dem Französischen nahestehende Dialekte in ungebrochener Kontinuität existieren; 2. Gebiete ohne französische Kontinuität, d. h. Expansionsgebiete der französischen Sprache. Zur ersten Gruppe zählen die Suisse romande, der französischsprachige Teil von Belgien (Wallonien) aber ohne Brüssel, das Aosta-Tal und selbstverständlich Frankreich selbst, allerdings streng genommen nur der nördliche Teil; der Midi ist historisch gesehen ebenfalls Expansionsgebiet.15 Dieselbe Einschränkung gilt für Gebiete Nordfrankreichs, in denen eine langue ethnique heimisch ist (Bretagne, Elsass, Westhoek im Département Nord). Expansionsgebiet im engeren Sinn ist die gesamte außereuropäische Frankophonie: Québec, Schwarzafrika, der Maghreb, die bei Frankreich verbliebenen Reste des ehemaligen Kolonialreiches16 sowie Luxemburg, das historisch gesehen eigentlich zum deutschen Sprachgebiet gehört. Die Modalitäten der Expansion lassen sich gut mit Hilfe der vier Begriffe superposition, importation, rayonnement culturel und implantation (cf. Bal 1977, 8s.) beschreiben: - superposition: Das Französische übernimmt in einem eigentlich anderssprachigen Gebiet aus politisch-historischen Gründen die höheren Domänen (Wirtschaft, Verwaltung, Handel, internationale Beziehungen, Medien etc.). Dies war der Fall im ehemaligen französischen bzw. belgischen Kolonialreich in Schwarzafrika, wo – wenn auch in geringerem Umfang – die importation eine Rolle gespielt hat. - implantation: In jenen Gebieten Frankreichs, wo eine langue ethnique verdrängt wurde, führte die Expansion (als superposition) zur implantation, d.h. das Französische wird Muttersprache eines größeren Teils der Bevölkerung. - importation: Die sprachliche Expansion fußt – wie z. B. im Fall von Québec, den Antillen oder Louisiana – auf Migrationsbewegungen.
|| 15 Die Expansion des Französischen im Midi beginnt bereits im 13. Jahrhundert, im Zuge der Albigenserkriege (1208–1229). Für Details cf. z. B. Brun (1923; 1935). 16 Diese Gebiete sind heute sog. Départements et régions d’outre-mer / DROM oder Collectivités d’outre-mer. Cf. dazu auch Kapitel 1.
DOI 10.1515/97878311053346-004
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rayonnement culturel: Aufgrund des Prestiges wird das Französische von NichtMuttersprachlern, meist Angehörigen höherer Gesellschaftsschichten, verwendet. Im Fremdsprachenunterricht der betreffenden Länder genießt es heute meist einen besonderen Stellenwert.
Offensichtlich ist, dass die Formen der Expansion zu einer unterschiedlich starken Verwurzelung des Französischen geführt haben: Außerhalb Frankreichs führte etwa die importation, insbesondere wenn sie wie in Québec von einem großen Bevölkerungswachstum begleitet wurde, zu stabileren Verhältnissen als das rayonnement culturel, das im Folgenden kurz historisch umrissen werden soll. Exkurs: Die internationale Vorherrschaft des Französischen Mit Ausnahme der militärischen Ausbreitung in England (ab 1066; Französisch als Amtssprache bis ins 14. Jahrhundert), Palästina (Kreuzzüge: von Bedeutung vor allem der vierte mit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1204 und der Etablierung verschiedener lateinischer Königreiche) und Italien (Herrschaft des Hauses Anjou im Königreich Neapel, 13. Jahrhundert), basiert die Expansion des Französischen im Hochmittelalter auf dem früh erreichten Prestige seiner Literatur. In Italien hatte sie besondere Strahlkraft: Bevor ab dem 14. Jahrhundert mit Dante, Petrarca und Boccaccio massiv die volkssprachliche Literaturproduktion einsetzte, wurden Texte entweder auf Okzitanisch („Troubadours“: Lanfranco Cigala, Sordello da Goito u.a.), Altfranzösisch (Martino Canale: Chronique des Véniciens; Brunetto Latini: Li livres dou tresor; Marco Polo: Devisement du Monde; 1298/99 von Rustichello da Pisa schriftlich festgehalten) oder in einer (ober-)italienisch-französischen Mischsprache, dem sog. Franko-Italienischen, verfasst (mit produktiver Rezeption von Themen und Motiven der französischen Heldenepik im Norditalien des 13. Jahrhunderts). Die Rezeption der mittelalterlichen französischen Literatur im deutschen Sprachraum (Pfaffe Konrad, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg) hat noch heute spürbare sprachliche Folgen (Lehnwörter, Übernahme der Infinitivendung -ieren etc.). Ab dem 17. Jahrhundert wurde das Französische die lingua franca des europäischen Adels, zunächst in Mitteleuropa, im 18. und 19. Jahrhundert auch in Osteuropa (Polen, Rumänien, Russland). Das ist das Zeitalter der Universalität des Französischen: In Flandern beispielsweise wurde Französisch die Bildungssprache der gesellschaftlichen Eliten – ein Prozess, der übrigens schon im Mittelalter beginnt – und bleibt es z. T. bis ins 20. Jahrhundert. Die Frankophilie Rumäniens – Bukarest wurde gern als „Klein-Paris“ bezeichnet – führte dazu, dass das Französische im 19. und 20. Jahrhundert die wichtigste Quelle für die Modernisierung der Sprache wurde. Als Sprache des Adels übernahm das Französische ab dem 18. Jahrhundert die Domäne der internationalen Beziehungen und der Diplomatie (zuvor: Latein) – z. T.
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auch dann, wenn die beteiligten Partner dieselbe Sprache verwenden konnten oder nicht frankophon waren.17 Erst als im Laufe des 20. Jahrhunderts die USA zu der beherrschenden Macht aufstiegen, änderte sich diese Situation zu Gunsten des Englischen. Wahrscheinlich ist es dem Entstehen neuer frankophoner Staaten in Schwarzafrika zu verdanken, dass das Englische nicht gänzlich die Oberhand gewonnen hat. Ein besonderes Prestige genießt das Französische heute in den ehemaligen Besitzungen Frankreichs im Nahen Osten (Libanon, Syrien: Protektorate bis 1920) und in Asien: Pondichéry (Indien; mit offiziellem Status) und Indochina, wo das ehemalige Mutterland besonderes Augenmerk auf die Französierung und ein konfliktfreies Zusammenleben mit den heimischen Eliten gelegt hatte. Dies hat jedoch nicht zu einer dauerhaften Verankerung des Französischen geführt. Die Frankophonie Luxemburgs beruht ebenfalls u. a. auf dem Prestige des Französischen (cf. Kapitel 5.4).
4.2 Alltagssprache vs. Verkehrssprache Neben dieser Kategorisierung nach den Kriterien Tradition vs. Expansion scheint es auch sinnvoll, die Frage nach der Funktion des Französischen in den jeweiligen Ländern bzw. Gesellschaften zu stellen (cf. Valdman 1979b; 1983). Dabei ist von drei Grundsituationen auszugehen: - Das Französische ausschließlich als Verkehrssprache (fr. langue véhiculaire), während in den nicht offiziellen Domänen andere Sprachen verwendet werden: Dieses Szenario ist die Regel in den 18 frankophonen Staaten Schwarzafrikas, wobei das Französische z. T. in Konkurrenz zu autochthonen Verkehrssprachen steht. Die Situation ist zudem nicht statisch; in einigen Staaten gibt es klare Tendenzen zur Vernakularisierung (fr. vernacularisation; cf. Manessy 1993) des Französischen, da es für Teile der Bevölkerung fixer Bestandteil ihres Sprachenrepertoires geworden ist und auch im Alltag verwendet wird. Den Status der Verkehrssprache hat das Französische auch in Luxemburg; auch dort ist davon auszugehen, dass das Französische in weitere Domänen vordringt (cf. Kapitel 5.4). Bis zur Unabhängigkeit der Maghreb-Staaten18 (cf. Kapitel 7.2) war auch dort das Französische alleinige Verkehrssprache; seither wird es in dieser Rolle zunehmend vom Arabischen konkurrenziert und mittelfristig möglicherweise auf den Status einer (privilegierten) Fremdsprache reduziert werden.
|| 17 So wurden z. B. sowohl das an Serbien gerichtete Ultimatum Österreich-Ungarns (23. Juli 1914), das als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt, als auch die Antwort des Königreichs Serbien auf Französisch verfasst. 18 Tunesien und Marokko: 1956; Algerien: 1962.
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Das Französische (bzw. eine diatopische Varietät) als Alltagssprache (fr. langue vernaculaire) und eine andere Sprache als Verkehrssprache: Dies gilt für das Französische in Kanada außerhalb von Québec (Acadie, Ontario; cf. Kapitel 6.3), für die französischen Sprachinseln in den USA (Neu-England-Staaten; cf. Kapitel 6.5), aber auch für Louisiana sowie das Aosta-Tal, wo das Französische de jure offiziellen Status hat. Die das Französische in diesen Gebieten überdachenden Sprachen sind das Englische (in Kanada und den USA) und das Italienische im Aosta-Tal. Das Französische als Alltags- und Verkehrssprache: Frankreich, Wallonien, Suisse romande, Québec. Diese Gebiete – Frankreich ausgenommen – werden manchmal als die francophonie du Nord bezeichnet.
4.3 Status und Corpus Eine Weiterentwicklung der Klassifikation von Valdman stellt jene von Robert Chaudenson dar; er beschreibt die Situation der frankophonen Gebiete als Zusammenspiel der Faktoren Status und Corpus, wobei er diese von Heinz Kloss im Zusammenhang mit Sprachplanung geprägten Begriffe neu definiert. Status umfasst bei Chaudenson nicht nur die rechtliche Situation (Verwendung als offizielle Sprache, im Unterricht usw.), sondern auch den Gebrauch des Französischen in den Medien und den Stellenwert im Arbeitsleben (ermöglicht z. B. der Gebrauch des Französischen Zugang zu höherqualifizierten Arbeitsplätzen oder spielt das keine Rolle?), d. h. den Aspekt der Funktion in der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Unter Corpus werden ebenfalls verschiedene Variablen zusammengefasst: Formen des Erwerbs des Französischen, Grad der Vernakularisierung, sprachliche Kompetenz, Grad des aktiven Gebrauchs des Französischen (in Kontrast zum Gebrauch eventueller anderer Sprachen) und Ausmaß des passiven Gebrauchs (sog. consommation langagière). Mit Hilfe einer quantitativen Bewertung der die Faktoren Status und Corpus bildenden Variablen (und Sub-Variablen) gelangt man zu einem Koordinatensystem:
Status und Corpus | 27
Abb. 1: Représentation graphique des situations de francophonie (cf. Chaudenson 1993, 362; vertikale Achse: Status; horizontale Achse: Corpus)
Dass sich z. B. die meisten frankophonen afrikanischen Staaten im linken oberen Eck befinden, erklärt sich aus der zwar starken Präsenz und Funktionalität des Französischen in diesen Ländern, allerdings ist das Französische im Bereich Corpus schwach: wenige muttersprachliche Sprecher, geringe Kompetenz, Verkehrssprache, quantitativ schwacher aktiver und passiver Gebrauch etc.
28 | Typologie der frankophonen Gebiete
Es sei nicht verschwiegen, dass diese Klassifizierung auch einen entscheidenden Schwachpunkt hat. Sie ist in hohem Maß eurozentristisch, da die europäische Frankophonie auf beiden Achsen die höchsten Werte erreicht, und Frankreich, das gar nicht miteinbezogen wurde, repräsentiert implizit den Maßstab für jegliche frankophone Sprachsituation: les deux dimensions du status et du corpus […] se réduisent en effet à la seule mesure de l’écart des pays de la Francophonie aux pays de tradition francophone dont la grille construit l’exemplarité, celle de la France par excellence.“ (Arnold/Renaud 1998, 9)
5 Die europäische Frankophonie 5.1 Schweiz 5.1.1 Rechtlicher Status, Sprecherzahlen Der rechtliche Status des Französischen in der Schweiz wird im Wesentlichen durch die Bestimmungen des Artikels 70 der im Jahre 1999 novellierten Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft festgelegt; dort heißt es: 1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes. 2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. 3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften. 4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben. 5 Der Bund unterstützt Massnahmen19 der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache. (https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation/19995395/201601010000/101.pdf)
Der Absatz 1 legt fest, dass die Schweiz als föderaler Staat viersprachig ist, d. h. vier Amtssprachen auf Bundesebene anerkennt. Jeder Schweizer kann im Verkehr mit Bundesbehörden eine der Amtssprachen v erwenden und hat das Recht, eine Antwort in dieser Sprache zu erhalten. Das Rätoromanische war bis zur Verfassungsnov elle 1996 de jure ausgeschlossen;20 de facto kam ihm aber auch schon dav or ein ähnlicher Status zu. So waren und sind z. B. Schweizer Banknoten schon länger viersprachig, obwohl Währungsangelegenheiten ausschließlich Bundessache sind.
|| 19 Wir übernehmen den Text selbstv erständlich mit der in der Schweiz üblichen Orthographie, die auch nach Langvokal und Diphthong kein vorsieht. 20 Es galt im bis 1996 gültigen Text der Verfassung nur als Nationalsprache, nicht aber als Amtssprache. Die Originalversion dieses Kapitels wurde revidiert. Seite 37 wurde korrigiert. Ein Erratum ist verfügbar unter: DOI 10.1515/97878311053346-012 DOI 10.1515/978311053346-005
30 | Die europäische Frankophonie
Aus dem Absatz 2 dieses Textes geht – anders als in den Vorgängerversionen (Schweizer Bundesverfassung aus 1938, novelliert 1996) – explizit die Aufteilung in abgegrenzte Sprachgebiete hervor: Es gilt das sog. Territorialitätsprinzip, denn die Kantone legen die auf ihrem Territorium allein gültige(n) Amtssprache(n) fest. Das bedeutet, dass es keinerlei Sonderrechte für anderssprachige Bürger der Schweiz gibt. Zieht beispielsweise eine deutschsprachige Familie aus Zürich nach Genf und möchte, dass die Kinder in deutscher Sprache eingeschult werden, so bleibt nur der Weg, eine Privatschule zu suchen und für die Kosten selbst aufzukommen: Da der Kanton Genf als Amtssprache Französisch hat, ist natürlich auch die Unterrichtssprache in öffentlichen Schulen ausschließlich Französisch. Die Schweiz besteht aus 26 Kantonen, davon sind im Sinne des Artikels 70, Abs. 2 der Schweizer Bundesverfassung - Aargau, Appenzell Ausserrohden, Appenzell Innerrohden, Basel-Stadt, BaselLandschaft, Glarus, Luzern, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Thurgau, Obwalden, Nidwalden, Uri, Zug und Zürich deutschsprachig, - Genf (fr. Genève), Jura (fr. Jura), Neuenburg (fr. Neuchâtel) und Waadt (fr. Vaud) französischsprachig, - Bern (fr. Berne), Freiburg (fr. Fribourg) und Wallis (fr. Valais) deutsch- und französischsprachig,21 mit einer Mehrheit von Deutschsprechern in Bern, von Französischsprechern in Freiburg und im Wallis, - Tessin (it. Ticino) italienischsprachig, - Graubünden (it. Grigioni, rät. Grischun) deutsch-, italienisch- und rätoromanischsprachig. Unter der Bezeichnung Suisse romande (auch: Romandie) werden die französischsprachigen Gebiete (und nur diese, auch wenn das Adjektiv romand vielleicht etwas anderes vermuten lässt) zusammengefasst; die deutschsprachige Schweiz22 wird von frankophoner Seite als Suisse alémanique oder allemande, die gesamte romanischsprachige Schweiz gelegentlich als Suisse latine bezeichnet.
|| 21 In den zweisprachigen Kantonen herrscht wiederum eine klare territoriale Zuschreibung; im Kanton Graubünden fallen Sprachenregelungen auch in die Kompetenz der Gemeinden. 22 In der Schweiz selbst ist auch die Bezeichnung Deutschschweiz üblich. Die Suisse romande wird von Deutschschweizern auch als Westschweiz oder Welschschweiz bezeichnet.
Schweiz | 31
Abb. 2: Die Schweiz mit Sprachgebieten
Gemäß der Volkszählung des Jahres 2000, die u. a. die „Hauptsprache“ erhebt, sprechen23 –gemessen an der Wohnbevölkerung
an Schweizer Staatsangehörigen
20,4 % (1990: 19,2 %)
21 % (1990: 20,5 %)
Französisch
63,7 % (1990: 63,6 %
72,5 % (1990: 73,4 %)
Deutsch
6,5 % (1990: 7,6 %)
4,3 % (1990: 4,1 %)
Italienisch
0,5 % (1990: 0,6 %)
0,6 % (1990: 0,7 %)
Rätoromanisch
9,0 % (1990: 8,9 %)
1,6 % (1990: 1,3 %)
andere Sprachen
Bei einer Bevölkerung von 8,04 Millionen (einschließlich in der Schweiz ansässige Ausländer) im Jahre 2014 ist von rund 1,8 Mio. Frankophonen auszugehen. Neuere Zahlen bestätigen den Trend eines nicht massiven, aber kontinuierlichen prozen-
|| 23 Quelle: Lüdi/Werlen (2005); https://www.bfs.admin.ch
32 | Die europäische Frankophonie
tuellen Anwachsens des Französischen und eines Rückgangs des Deutschen, Italienischen und Rätoromanischen. Zuzug aus dem benachbarten Frankreich und die schnellere Assimilation von Deutschsprachigen und Italophonen in den französischsprachigen Kantonen dürften dafür verantwortlich zu machen sein. In den deutschsprachigen Kantonen wirkt der überwiegende Gebrauch des Schweizerdeutschen hemmend auf die Assimilierung Anderssprachiger.
5.1.2 Die Entstehung des Sprachraumes Das Gebiet nördlich und südlich der Ostalpen wurde ab der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. romanisiert. Ausgangspunkt dabei war Lugdunum (> Lyon). Die keltische Bevölkerung war aber bereits im Zuge der Eroberung der Provinica Narbonensis (121 v. Chr.), deren nördlichster Punkt die Stadt Genf (lateinisch Genava) war, mit den Römern in Berührung gekommen. Als sich die Helveter 58 v. Chr. nach Gallien hin ausbreiten wollten, wurden sie von Cäsar gestoppt und in ihr altes Siedlungsgebiet zurückgedrängt. Mit dem Sieg über die Räter unter Augustus (15 v. Chr.) beginnt die Romanisierung auch in der östlichen Provinz Rätien – der Westteil der heutigen Schweiz gehörte zur Provinz Gallia Belgica –, wo sie beträchtlich länger dauerte als im verkehrstechnisch gut angebundenen Westen. Die römische Herrschaft, die formal bis ins 5. Jahrhundert währte, war allerdings bereits im 3. Jahrhundert nach Christus gefährdet: Die den Limes Germanicus überschreitenden Alemannen konnten zwar unter Caracalla zunächst noch zurückgeworfen werden, die Grenze bildete aber bald nicht mehr der Limes sondern der Rhein. Nachdem die Römer um 400 alle ihre Truppen über die Alpen zurückziehen mussten, siedelten sie im Jahre 443 den germanischen Stamm der Burgunder im Raum um Genf an. Schnell assimiliert, hinterließen die Burgunder und ihre Sprache als Superstrat nur wenige Spuren im Romanischen der Westschweiz. Ende des 5. Jahrhunderts begann die Landnahme der Alemannen; zunächst stießen sie nach Norden und Westen vor, wurden dort aber von den Franken gestoppt (496: Niederlage gegen Chlodwig/fr. Clovis). Ihr Ausweichgebiet wurde der Süden (= der heutige Ostteil der Schweiz), wo sich die dort ansässige romanische Bevölkerung allmählich assimilierte. Im Nordbereich der heutigen deutsch-französischen Sprachgrenze trafen sie rasch auf dichter romanisch besiedeltes Gebiet und breiteten sich weiter nach Süden aus, wo zwischen Bieler-, Neuenburger- und Genfersee ein gemischtsprachiges Gebiet entstand. Während im Norden – begünstigt durch die kirchenadministrative Teilung in Bistum Lausanne und Bistum Konstanz (um 750, Grenze war die Aare) eine klare Sprachgrenze entstand, ergab sich die Grenze im Süden (bis hin zu den Alpen) erst allmählich durch das Zusammenrücken der Siedlungsgebiete. Im Gebiet östlich des Genfer Sees war die germanisch-romanische Sprachgrenze im 12. und 13.
Schweiz | 33
Jahrhundert ausgebildet und hat bis zur Gegenwart nur mehr minimale Veränderungen erfahren.24 Im 8. Jahrhundert drangen die Alemannen auch ins untere Wallis vor, wo sich im 9. Jahrhundert erste Bruchstücke der Sprachgrenze abzeichneten. Die weitere Geschichte des Gebietes der heutigen Schweiz ist jene der 1291 gegründeten Eidgenossenschaft, die trotz Aufnahme romanischsprachiger Bündnispartner formal bis 1798 dominant deutschsprachig war. Die Besetzung durch die französische Armee und die darauf folgende Gleichstellung aller Bürger in der kurzlebigen Helvetischen Republik (1798–1814) führte zur dreisprachigen Schweiz, aus der mit der Verfassung von 1848 das Land in seiner heutigen Form hervorging.
5.1.3 Genese und Physiognomie des Regionalfranzösischen Die Suisse romande gehört – dialektologisch betrachtet – zwei galloromanischen Sprachtypen an. Ein kleiner Fleck im Norden (Jura) ist typologisch nordfranzösisch (domaine d’oïl), der überwiegende Teil hat als dialektales Substrat das Frankoprovenzalische. Dieser neben dem Nordfranzösischen und Okzitanischen (auch: Provenzalisch; domaine d’oc) dritte galloromanische Sprachtypus ist ein wissenschaftliches Konstrukt und wurde 1873 von dem italienischen Sprachwissenschaftler Graziadio Isaia Ascoli erstmals beschrieben. Im Unterschied zu Französisch und Okzitanisch hat der Begriff Frankoprovenzalisch bei den Sprechern selbst keine identitätsmäßige Verankerung, zumal es je weder eine mit dem Sprachraum deckungsgleiche politische Entität noch eine ausgeprägte schriftliche Tradition gegeben hat. Dieser Umstand tut jedoch der linguistischen Sonderstellung innerhalb der Galloromania keinen Abbruch. Die Bezeichnung als solche ist schon sprechend: In der Tat steht das Frankoprovenzalische (ursprünglich mit Bindestrich geschrieben) zwischen dem Nordfranzösischen und dem Okzitanischen. Einige Merkmale teilt es mit dem Französischen, in anderen bewahrt es den älteren okzitanischen Lautstand. Als Leitmerkmale gelten: - betontes lat. A nach Palatal wird wie im Französischen zu [e] bzw. [ie]: MERCATU > fr. marché / frpr. [martʃie] - lat. A in anderen Positionen bleibt erhalten, was eine Gemeinsamkeit mit dem Okzitanischen, aber eine Divergenz zum Französischen darstellt: PRATU > frpr. [pra] / okzit. prat vs. frz. pré.
|| 24 Die deutsch-französische Sprachgrenze ist in der Schweiz auch eine deutliche (alltags)kulturelle Grenze, die im Deutschen als Röstigraben, auf Französisch als barrière, fossé, mur oder rideau de(s) röstis bezeichnet wird.
34 | Die europäische Frankophonie
Hinzu kommen noch ein paar andere Charakteristika, wie die nur zum Teil erfolgte Palatalisierung von Ū > [y] (cf. LUGDuNUM > Lyon vs. AUGUSTODuNUM > Autun), der Erhalt älterer Lautstände bei der Palatalisierung von Ca (z. B. CAMPU > [tsã]), die bessere Konservierung der auslautenden Vokale, besonders nach schwerer Konsonanz25 (z. B. ALTERU > frpr. altro), und dadurch kein genereller Oxytonismus (wie im Französischen), da nach der betonten Silbe eine weitere folgt. Auf der folgenden Karte wird die Verbreitung dieser Merkmale in den Dialekten der Suisse romande dargestellt. Datenquelle sind die Tableaux phonétiques des patois suisses romands (TPPSR): Abb. 3: Kombiniertes Auftreten von Merkmalen des Frankoprovenzalischen
|| 25 Darunter versteht man das Zusammentreffen mehrerer Konsonanten – oft durch Synkopen bedingt.
Schweiz | 35
Merkmale: TPPSR Ib, 5: Ū in ŪNU > [ɔ͂ ] TPPSR Xb, 56: Ca in CAMPU > [ts]/[θ] TPPSR Xb, 57: Á[ in PRATU > [a] TPPSR XXIVb, 141: -U in ALT'RU > [u]/[o]
Das Verbreitungsgebiet des Frankoprovenzalischen umfasst nicht nur die Suisse romande, sondern auch das angrenzende Lyonnais, den Südteil der Franche-Comté, Savoyen, das Département Ain, den Forez und in Italien das Aosta-Tal. Für die Herausbildung des frankoprovenzalischen Sprachraums dürfte die spezifische Latinität des Raums um Lugdunum (cf. Gardette 1971) und das Bestehen eines eigenen Staatsverbandes, des Burgunderreiches, in dieser Gegend verantwortlich gewesen sein. Die Sprache der Burgunder als Superstrat dürfte hingegen kaum eine Rolle gespielt haben. Heute ist in der Schweiz vom Frankoprovenzalischen (und den nordfranzösischen Dialekten) kaum mehr etwas zu spüren. Der Anteil der patoisants an der Bevölkerung der Romandie dürfte zwischen 1 und 3 % liegen (cf. Knecht 1985, 143; Kristol 1998, 108), Tendenz sinkend.26 Die wenigen Dialektsprecher sind tendenziell männlich, gehören der älteren Generation an und wohnen in mehrheitlich katholischen Kantonen (Wallis, Freiburg, Jura). Die Regionen mit starken protestantischen Bevölkerungsanteilen (Kantone Genf und Neuenburg sowie der sog. Jura bernois, d. h. der französischsprachige Teil des Kantons Bern) sind weitgehend entdialektalisiert, und dies schon spätestens seit den 1930er Jahren (cf. Kristol 1999). Die Ausrichtung an der Sprache des größeren Nachbarn begann bereits im Hochmittelalter; ab der Mitte des 13. Jahrhunderts stand die Schriftkultur unter dem Einfluss des Französischen, das das Latein langsam ablöste. Im Bereich der gesprochenen Sprache markierte die Reformation den Wendepunkt: Calvin (1509– 1564) und seine protestantische Kolonie in Genf, die im Zuge der Religionskriege flüchtenden Hugenotten und natürlich die volkssprachliche Bibel, die zur häuslichen Lektüre diente, trugen zur Entdialektalisierung der urbanen Zonen bei. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich in Genf, Lausanne und Neuchâtel der Übergang zum Französischen als spontane Umgangssprache, während auf dem Land weiterhin Dialekte gesprochen wurden. Belege aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bezeugen die Vitalität der Dialekte außerhalb der größeren Städte; damals war es kaum möglich, sich auf dem Land auf Französisch verständlich zu machen (cf. Spichiger 1985, 25). Erst nach der Französischen Revolution, deren Ideologie auch in der Romandie übernommen wurde (Fortschrittsglaube, Verunglimpfung der
|| 26 Hinzu kommt, dass diese Daten auf Selbsteinschätzungen der Sprecher beruhen und es sich bei ihren Varietäten u. U. um ein mehr oder weniger stark dialektal beeinflusstes Regionalfranzösisch handeln könnte, das als patois empfunden wird.
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patois als der intellektuellen Entwicklung hinderlich etc.), gerieten die Dialekte in Gefahr: Analog zu Frankreich entwickelte sich eine nicht minder aggressive chasse aux patois. So ist im Règlement général des écoles primaires (1886) des Kantons Freiburg Folgendes zu lesen: L’usage du patois est sévèrement interdit dans les écoles; la langue française et l’allemand grammatical (Schriftdeutsch) sont seuls admis dans l’enseignement. Les instituteurs veillent à ce qu’il en soit de même en dehors de l’école et dans les conversations entre enfants. (zit. n. Spichiger 1985, 26)
Reste der patois begegnen gegenwärtig nur mehr im français régional, das kurioserweise umso mehr Regionalismen aufweist, je früher die Ablösung der Dialekte begonnen hat (cf. Voillat 1971, 235): Wenn im 19. Jahrhundert der patois von einer bestimmten Sprechergruppe aufgegeben wurde, trat an seine Stelle das im Umfeld schon existierende français régional; wurde der Dialekt in jüngerer Zeit aufgegeben, ersetzt ihn eher das Standardfranzösische. Ein Nebeneinander von Dialekt und Regionalfranzösisch existiert kaum mehr. Doch auch das Regionalfranzösische ist rückläufig; von dem reichen Inventar, das William Pierrehumbert in seinem Dictionnaire du parler neuchâtelois et suisse romand (1926) zusammengetragen hat, ist der überwiegende Teil bereits aus dem aktuellen Sprachgebrauch verschwunden, wenn man das Dictionnaire suisse romand (Thibault 2004) als Vergleichsmaßstab heranzieht. Im Folgenden behandeln wir die Spezifika des Regionalfranzösischen nach den verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den noch lebendigen Eigenheiten; Elemente, die bereits im Verschwinden begriffen sind, werden durch das Zeichen ( ) gekennzeichnet. Die Synthese basiert auf Andreassen et al. (2010), Knecht (1985), Knecht/Rubattel (1984; 1985), Thibault (2004), Voillat (1971) sowie eigenen Beobachtungen: Phonetik (bzw. Phonologie)/Prosodie: Das Französische der Schweiz bewahrt z. T. phonologische Oppositionen, die im hexagonalen Standard seit dem 19. Jahrhundert zunehmend aufgegeben wurden bzw. werden, z. B. die Opposition /o/ – /ɔ/ und /e/ – /ɛ/ im Auslaut sowie die Unterscheidung von /ɛ͂ / und /œ͂/: - pot [pɔ] vs. peau [po] - sot [sɔ] vs. seau [so] - je pourrai [puʁe] vs. je pourrais [puʁɛ] - emprunte [ɑ͂ pʁœ͂t] vs. empreinte [ɑ͂ pʁɛ͂ t] Ob die beiden Nasalvokale noch unterschieden werden, ist vielfach eine Altersfrage, da sich diese in Frankreich weit fortgeschrittene Neutralisierung der Opposition auch bei jüngeren Sprechern in der Suisse romande findet.
Schweiz | 37
Schriftinduzierte Ausspracheunterschiede (sog. spelling pronunciation; fr. orthographisme) treten im Bereich der Auslautkonsonanten auf (auch in Frankreich nicht selten), z. B. almanach [-k], auch wenn im Dialekt die entsprechenden Wörter keinen gesprochenen Auslautkonsonanten aufweisen. Zu den auffälligsten Merkmalen zählt die Aufhebung des generalisierten Oxytonismus, d. h. manche Schweizer Frankophone betonen Silben innerhalb von groupes rythmiques, insbesondere die vorletzte Silbe, ohne dass damit eine besondere Ausdrucksabsicht im Sinne eines accent d’insistance verbunden wäre.27 Es handelt sich dabei nicht – wie von Laien häufig vermutet wird – um Französisch mit alemannischem Akzent: Die für Schweizer Frankophone typische Betonung unterscheidet sich deutlich von jener, die bei L2-Lernern des Französischen (mit alemannischen Dialekten als L1) oder bei Sprechern eines Regionalfranzösisch mit alemannischem Substrat dokumentiert ist (cf. die Studie von Philipp 1985 über den elsässischen Akzent), da primär die vorletzte Silbe betroffen ist (cf. Andreassen et al. 2010, 225s.). Ein Adstrateinfluss ist im Übrigen auch im Hinblick auf die geringen Kontakte zwischen Französischsprechern in der Suisse romande und Alemannischsprechern in der Deutschschweiz völlig unwahrscheinlich. In Wahrheit handelt es sich um einen Substrateinfluss des Frankoprovenzalischen. Morphologie: Im Französischen der Suisse romande kann u. a. bei Wörtern auf -ée eine Markierung des Femininums hörbar sein. Zu einer durch das an sich verstummte auslautende [e] verursachten Längung kann noch ein Halbvokal kommen: craquée [kʁakeː]/[kʁakeːj], gonflée [go͂ fleː]/[go͂ fleːj]. Die beiden Beispielwörter sind zugleich Belege für die hohe Produktivität des eigentlichen Kollektivsuffixes -ée (< -ATA), das in den patois zur Bildung von Nomina agentis verwendet wurde. Im Regionalfranzösischen drückt es besondere Intensität aus und hat oft auch noch übertragene Bedeutungen: crevée ‚gaffe, bêtise, faute‘; craquée ‚craquement, grande quantité‘; gonflée ‚grande quantité de nourriture ou de boisson ingérée, forte ivresse‘. Mit eher bedeutungsarmen Verben können solche substantivierten Partizipien im Femininum Konstruktionen bilden, die an Funktionsverbgefüge erinnern: flanquer/prendre une assommée – être assommé/assommer; pousser une braillée – brailler; faire des crevées etc.
|| 27 Cf. Malmberg (1964, 91 und 93s.): „En français, c’est toujours la dernière syllabe prononcée du groupe qui est la plus forte et qui porte l’accent principal. [...] Même dans les langues où la place de l'accent est réglée, comme en français, il est pourtant parfois possible de se servir d’un accent d’intensité pour exprimer l’emphase ou l’affectation. Cet accent est dit accent d’insistance et implique la mise en relief d’une autre syllabe que celle qui porte normalement l’accent.“
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Die Bildung des periphrastischen Futurs erfolgt nicht nur wie im hexagonalen (Standard-)Französisch mit aller, sondern kommt auch mit vouloir als Hilfsverb vor: il veut pleuvoir ‚il va pleuvoir‘. Dieser Bildungstyp ist auch in anderen peripheren Gebieten der Romania dokumentiert (Wallonien, Rumänien). Morphosyntax: Höhere Frequenz der Verbindung Verb + Adverb in der Funktion einer Präpositionalphrase: Regionalfranzösisch/Standard
Regionalfranzösisch
il lui saute dessus
il me copie dessus
le chien s'est jeté sur moi
le chien m'est venu contre
Im Standard sind diese Verbindungen stark eingeschränkt. Manche davon sind im Regionalfranzösischen lexikalisiert: aller loin ‚partir‘, mettre loin ‚jeter‘ usw. Im hexagonalen Sprachgebrauch sind sie eher selten (z. B. mettre dehors). Auf frankoprovenzalischem Substrat – und nicht auf deutschem Adstrateinfluss, wie oft behauptet wird – beruht die Stellung der Negationspartikel personne: je n'ai personne vu (↓). Lexikon: Neben der Phonetik/Phonologie ist der Wortschatz jener Bereich, in dem sich Regionales am deutlichsten erkennen lässt. Dabei ist zwischen zwei Gruppen von lexikalischen Besonderheiten zu unterscheiden: a) jene, die u. U. als punktuelle dialektale Einsprengsel im Inneren der Suisse romande ein sehr enges Verbreitungsgebiet haben (Bezeichnungen für Hausrat, landwirtschaftliche Geräte, Landschaftsformen u. ä.) oder auch in den angrenzenden französischen Regionen vorkommen. Fréchet/Martin (1993) haben z. B. eine ganze Reihe der in den großen Wörterbüchern Trésor de la langue française und Grand Robert als „Helvetismen“ ausgewiesenen Wörter auf ihre Verbreitung außerhalb der Suisse romande hin untersucht. Dabei zeigte sich, dass manche Lexeme in mehreren französischen Regionen vorkommen, vielfach im gesamten frankoprovenzalischen Raum. In manchen Fällen haben sie außerhalb der Suisse romande sogar ein bedeutend größeres Verbreitungsgebiet. Beispiele: fion ‚remarque, allusion blessante’‚ panosse ‚serpillière, torchon’, tacon ‚pièce d'étoffe servant à raccommoder les vêtements’, guillon ‚fausset du tonneau’, dédite ‚dédit, congé’ etc.
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b) solche regionalen Wörter und Ausdrucke, deren Verbreitungsgebiet mit der politischen Grenze korreliert – die sog. Statalismen28. Dazu gehören selbstverständlich alle Benennungen und Bedeutungsunterschiede, die aus anderen politischen, administrativen u. ä. Gegebenheiten resultieren, wie etwa: bourgeoisie
‚droit de citoyenneté dans une commune‘
canton
‚l'un des États-membres de la Confédération helvétique‘ (bedeutet in Frankreich: ‚division territoriale de l'arrondissement‘)
case postale
‚boîte postale‘ (case postale ist übrigens die ältere Bezeichnung; es handelt sich um eine Schweizer Erfindung; das Lexem mit seiner Abkürzung C.P. ist auch in Québec gebräuchlich)
conseiller fédéral
‚ministre‘
école enfantine
‚école maternelle‘
gymnase
‚lycée‘ (bedeutet in Frankreich: ‚salle de sport‘)
maturité
‚examen équivalent au baccalauréat français‘
numéro postal
‚code postal‘
syndic/président
‚maire‘
Aber auch im Gemeinwortschatz finden sich unzählige Regionalismen; viele davon bezeichnen Realia. Beispiele: bancomat
‚distributeur automatique de billets‘ (Innovation)
cornettes
‚espèces de pâtes alimentaires‘ (möglicherweise Lehnübersetzung von dt. Hörnli/Hörnchen)
costume de bain
‚maillot de bain‘ (Archaismus)
coter (une porte)
‚fermer à clé‘
darre
‚branche de sapin‘ (Dialektalismus)
déci
‚mesure d’un décilitre‘ (übliches Hohlmaß in der Schweiz, oft auf Wein bezogen: un déci de rouge ‚un verre de rouge‘)
dispersion
‚(type de) peinture-émulsion‘ (Germanismus)
livret
‚table de multiplication‘
natel
‚(téléphone) portable‘
pendulaire
‚personne qui fait la navette‘
pive
‚pomme de pin ou de sapin‘
pression artérielle
‚tension artérielle‘
|| 28 Cf. Pohl (1984, 262): „Tout fait de signification ou de comportement, observable dans un pays, et qui soit arrêté ou nettement raréfié au passage d’une frontière“. In der Literatur wird der Begriff Statalismus meist eingeschränkt für Lexeme/Termini verwendet, die sich auf Spezifika des politischen Lebens, der öffentlichen Verwaltung u. ä. beziehen.
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pruneau
‚quetsche‘
ramassoire
‚pelle à poussière, à ordures‘
rampon
‚mâche‘
remettre
‚céder‘
s'encoubler
‚trébucher, buter contre qc.‘
Für viele außerhalb Frankreichs gebräuchliche Lexeme gilt, dass sie sog. frequenzielle Regionalismen sind, d. h. der entsprechende hexagonalfranzösische Ausdruck ist keineswegs unbekannt und wird auch gelegentlich verwendet; neben einigen der oben genannten Wörter gehören in diese Kategorie zum Beispiel: dès
in Kombination mit Zahlen, z. B. bei Preisangaben: dès 200 Fr., in Frankreich: à partir de
dîner
‚déjeuner‘ (die alte Gliederung des Wortfeldes der Mahlzeiten ist in Frankreich im Verschwinden begriffen; Archaismus)
grand-papa
‚grand-père, papi‘
septante / nonante
‚soixante-dix‘/‚quatre-vingt-dix‘ (auch in Frankreich belegt, aber dort sehr selten; Archaismus; das die Serie komplettierende huitante ‚quatre-vingts‘ ist nicht in der ganzen Suisse romande üblich)
Ein besonders problematisches Kapitel des Schweizer Französisch ist der deutsche bzw. alemannische Adstrateinfluss. Dass angesichts einer jahrhundertelangen Nachbarschaft sprachliche Einflüsse nicht ausbleiben können, wird nicht verwundern; auffallend ist aber die Heftigkeit, mit der gegen wirkliche oder vermeintliche Germanismen zu Felde gezogen wird. Hier spielt der im 19. Jahrhundert aus Frankreich übernommene Topos von der „Deformation“ des Französischen (entweder durch die patois oder andere „fremde“ Einflüsse) eine große Rolle (siehe unten).
5.1.4 Sprachbewertung Die Einstellung der frankophonen Schweizer zu ihrer Sprache ist geprägt von einem Widerspruch, der am besten mit dem folgenden Bonmot von Pierre Knecht umschrieben werden kann: Die Romandie sei „une France politiquement suisse ou une Suisse linguistiquement française“ (Knecht 1979, 249). Die Probleme, die es mit sich bringt, eine Sprache zu sprechen, die die Nationalsprache eines anderen Staates ist, sind dabei nicht an sich typisch schweizerisch, erfahren aber im Kontext der frankophonen Welt ihre besondere Ausprägung. Wie andere „periphere“ Sprecher des Französischen wurden die Romands auf das Pariser Französisch und die von ihm vehikulierten Werte eingeschworen, und ihre kulturelle Identität ist eindeutig französisch – als Angehörige eines anderen Staates verspüren sie aber das (natürliche) Bedürfnis, eine eigene sprachliche und
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kulturelle Identität zu pflegen. Dies spiegelt sich ganz deutlich in den Einstellungen zum regionalen Französisch: So hat eine Untersuchung ergeben, dass Sprecher mit regionaler Färbung auf der affektiven Ebene eindeutig positiv bewertet werden („sympathisch“), Informanten andererseits davon ausgehen, Sprecher ohne regionalen Akzent übten die prestigeträchtigeren Berufe aus und stünden in der sozialen Hierarchie höher (cf. De Pietro 1995, 232). Die Gespaltenheit resultiert ganz offensichtlich aus einer difficulté à concevoir son identité en accord avec ses pratiques quotidiennes effectives, avec sa situation réelle, de manière indépendante par rapport aux relations de domination [...] qu’on entretient avec ses voisins. (De Pietro 1995, 234)
Die Markierung der eigenen Identität geschieht zum Beispiel durch gezielten Einsatz von Regionalismen, wobei septante und nonante die wohl bekanntesten sprachlichen Embleme in der Romandie sind. Die zweite wichtige Komponente in der Sprachbewertung der frankophonen Schweizer ist die vermeintliche Bedrohung durch das Deutsche, die z. T. zur „sprachlichen Unterwanderung“ oder „schleichenden Germanisierung“ (fr. germanisation rampante) hochstilisiert wird. Das angeblich kontaminierte Französisch wird als français fédéral stigmatisiert; ursprünglich für schlechtes Französisch verwendet (entweder aus der Feder [deutschsprachiger] Bundesbeamter oder als Produkt achtloser Übersetzer), muss dieses Etikett heute immer herhalten, wenn der Einfluss der Nachbarsprache vermutet wird (cf. Knecht 1985, 163). Von der zweifelsohne nicht unerheblichen Anzahl von gesicherten Germanismen, geben wir hier nur eine kleine Auswahl: attendre sur qn.
< dt. auf jmd. warten
s'intéresser pour qc.
< dt. sich für etwas interessieren
il viendra déjà
déjà mit einer Funktion wie jene der deutschen Modalpartikel schon
peindre le diable sur la muraille
< dt. den Teufel an die Wand malen
benzine (↓)
< dt. Benzin
action
‚Sonderangebot, z. B. im Supermarkt‘ (< dt. Aktion, in Frankreich üblich: promotion)
vin ouvert
< dt. offener Wein; in Frankreich: vin en pichet
Von Puristen wird jedoch alles angeprangert, was auch nur im Entferntesten den Anschein des deutschen Einflusses hat, so z. B.:
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je n'ai personne vu
angeblich „deutsche“ Stellung der Negationspartikel; frankoprovenzalisches Substrat, nicht deutsches/alemannisches Adstrat
aider à qn.
indirektes Objekt sei Reflex des deutschen Dativs; Archaismus, belegt u. a. bei La Fontaine und Marivaux
auditoire
in der Bedeutung von ‚Zuhörerschaft‘; Archaismus
sans autre
‚sans plus, simplement, sans problème‘ (angebliche Lehnübersetzung von ohne weiteres)
logopédie
‚orthophonie‘; Innovation (nicht von dt. Logopädie)
Ebenfalls kritisiert werden Konstruktionen mit Verb + Adverb (avoir qc. contre; venir avec; Archaismus), die häufigere Verwendung des passé surcomposé oder auch die Bildung des periphrastischen Futurs mit vouloir usw. Das letzte Beispiele zeugt dabei von der völligen Unkenntnis der sprachlichen Verhältnisse des behaupteten Adstrats, da im Deutschen das Futur nicht mit wollen gebildet wird. Signifikativ für die Sprachbewertung in der Suisse romande ist eine Untersuchung, die mit rund 100 französischsprachigen Versuchspersonen aus Neuchâtel durchgeführt wurde (De Pietro/Matthey 1993; De Pietro 1995). Die Informanten waren u. a. dazu angehalten, die Akzeptabilität lexikalischer Elemente unterschiedlicher Kategorien (français standard, français régional, Anglizismen, Germanismen) in formellen („examen oral de français“) und informellen („conversation entre amis francophones“) Situationen zu bewerten: Tab. 1: Evaluation par des locuteurs neuchâtelois (n=107), sur une échelle de 1 à 7, de l'acceptabilité d'expressions diverses (1 = inacceptable; 7 = tout à fait acceptable) (nach De Pietro 1995, 239)
situation informelle
situation formelle
français „standard“ aider quelqu’un trébucher
6,4 6,35
5,9 6
anglicismes week-end walkman
6,5 6,2
5,3 4,2
régionalismes septante souper s’encoubler fricasse ‚froid intense‘ cramine ‚froid intense‘ fions il a eu coupé on a personne vu
6,7 6,3 5,6 5,5 5,2 4,9 4,4 3,3
6,5 5,3 3,4 2,1 1,9 2,0 2,9 2,1
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situation informelle
situation formelle
il veut pleuvoir
2,8
1,5
allemand/suisse allemand schuss schwyzertütsch benzine visiter quelqu’un s’intéresser pour spielgruppe
5,6 4,5 4,4 2,8 2,1 1,5
2,8 2,1 3,1 1,9 1,4 1,2
6,1 3,2
4,2 1,8
items ambigus catelle Je vais lui aider perçu comme: „germanisme“ „régionalisme“
2 4,5
Aus der Tabelle lässt sich ein klarer Statusunterschied erkennen: Neben regelrechten Emblemwörtern (z. B. septante), die hohe Akzeptanz genießen, stehen Wörter, die stark stigmatisiert sind. Der letzte Stimulusausdruck der Tabelle zeigt übrigens, dass die Bewertung auch davon abhängt, ob ein Regionalismus (hier fälschlicherweise!) als aus dem Deutschen kommend gesehen wird. Die Ergebnisse einer großangelegten repräsentativen soziolinguistischen Studie (Singy 1996) anderer methodischer Ausrichtung, an der 606 Probanden aus dem Kanton Waadt teilnahmen, deuten ebenfalls auf eine stark verwurzelte insécurité linguistique hin: Obwohl die Sprecher mehrheitlich angaben, dass sie stolz auf ihre Varietät seien (75,4 %), ihren Akzent schätzen (74 %) und typische Lexeme zum Ausdruck ihrer distinkten Identität verwenden (59,9 %), lehnten viele von ihnen (75 %) die Idee ab, dass diese Wörter im Schulunterricht gelehrt werden. Überdies sprachen sich 57,2 % der Befragten gegen ihre Aufnahme in Wörterbücher aus. Als elegantester Akzent gilt für 33,1 % jener von Frankreich, hingegen sehen nur 11,8 % das Französische, wie es in Genf gesprochen wird, an der Spitze. Eine besonders auffällige Diskrepanz zeigt sich bei der Frage nach der Unterdrückung des eigenen Akzents: 76,9 % der Probanden gaben an, dass französischsprachige Schweizer im Gespräch mit Franzosen ihren Akzent unterdrücken, aber 64,8 % meinten, dass ihnen selbst das noch nicht passiert sei. Die Loyalität gegenüber einem Schweizer Akzent sieht man also eher bei sich selbst als bei anderen, und das positive Sprachbewusstsein gegenüber der eigenen Varietät dürfte nur sehr oberflächlich sein. In der Tat meinten 30,5 % der Informanten, dass sich Sprecher aus der Suisse romande in sprachlicher Hinsicht gegenüber Franzosen in einer unterlegenen Situation befinden. Bemerkenswert ist zudem, dass die insécurité linguistique in stärkerem Ausmaß gebildete, wohlhabende und junge Menschen betrifft, die intensiveren Kontakt zum hexagonalen Französisch haben.
44 | Die europäische Frankophonie
Eine andere Studie, die ähnlich wie De Pietro (1995) der Bewertung regionaler Lexeme (Prikhodkine 2012) nachging, zeigt ebenfalls ein komplexes Bild: Während – wie erwartet – Regionalismen, die auf den Kontakt mit dem Deutschen zurückzuführen sind (z. B. poutzer < dt. putzen) oder ursprünglich Dialektwörter sind (z. B. roiller ‚battre, frapper; fig. pleuvoir à verse‘) im direkten Vergleich mit ihren hexagonalfranzösischen Äquivalenten hinsichtlich ihrer „Korrektheit“ schlecht abschneiden, scheinen sich die französischsprachigen Schweizer mit Regionalismen, die den Kategorien Archaismus und Innovation angehören, weitgehend „versöhnt“ zu haben: […] la légitimation des termes endogènes bénéficie d‘un large consensus auprès de la population. Quelle que soit l’identité sociale des locuteurs, les archaïsmes et les innovations romandes jouissent, en effet, d’attitudes positives ainsi que d’un emploi déclaré soutenu. (Prikhodkine 2012, 411).
Der Umstand, dass ein Wort, das zur eigenen Gebrauchsnorm gehört („termes endogènes“), als Regionalismus erkannt wird, führt nicht automatisch zur Stigmatisierung, im Gegenteil. Als eine der „Nagelproben“ für die Autonomisierung einer nationalen Varietät – und damit den Grad der Plurizentrik – kann ihre Verwendung in distanzsprachlichen Kontexten gelten, also solchen, in denen die Sprecher in großer symbolischer Distanz zueinander stehen und ein hohes Ausmaß an Standardsprachlichkeit erwartet wird. In der Forschung werden daher häufig die Sprachvarietäten von Nachrichtensprechern oder Fernsehmoderatoren untersucht. Diesbezüglich zeigt sich, dass sehr wohl auch in Situationen, in denen Selbstmonitoring hinsichtlich der eigenen Sprachproduktion betrieben wird, (professionell geschulte) Schweizer Französischsprecher vom hexagonalen Französisch abweichende (Aussprache-)Merkmale realisieren (cf. Pooley 2012), allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß, z. T. in Abhängigkeit vom Lebensalter.
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Arbeitsaufgaben: 1. Die folgenden (authentischen!) Texte verdienen wahrscheinlich zu Recht das Etikett „français fédéral“; kommentieren Sie sie aus der Perspektive der hexagonalen Norm. a) Dès le premier bain-crème F, aussi une peau sèche retrouve finesse et souplesse (Werbeslogan, zit. n. De Pietro 1995, 238). b) Mesdames, Messieurs, En espérant de pouvoir vous donner, de même qu’aux étudiants et à d’autres lecteurs intéressés une impression de la création littéraire actuelle en Suisse, nous avons de nouveau le plaisir de vous faire don de ces livres d’auteurs suisses. Pour savoir si vous êtes intéressés de reçevoir un prochain envoi de parutions nouvelles d’auteurs suisses nous vous prions d’accuser réception des livres reçus. Autrement nous nous voyons obligé de rayer votre adresse de la liste des déstinataires. Veuillez agréer, Mesdames, Messieurs, l’expression de nos sentiments distingués. (Begleitbrief zu einer Bücherspende der Stiftung Pro Helvetia) 2. Vergleichen Sie Matth. 18, 21–22 in älteren und neueren französischen Bibeln (wenn es möglich ist, ein solches Korpus zu erstellen)! Was fällt Ihnen auf? Wie ist die Veränderung ästhetisch zu bewerten? 3. Informieren Sie sich in Rézeau (2001) über die Entstehung der Unterschiede beim Wortfeld der Mahlzeiten im Französischen. 4. Konsultieren Sie das FEW (Walther v. Wartburg: Französisches etymologisches Wörterbuch. Bd. 10. Basel: Zbinden, 1962), um die Etymologie und Bedeutung von romand bzw. romanz/roman(t) herauszufinden. Woher kommt das -d bei romand?
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5.2 Aosta-Tal 5.2.1 Soziolinguistische Situation und rechtlicher Status Das Aosta-Tal (fr. Vallée d’Aoste; auch: Val d’Aoste) ist die kleinste der fünf autonomen Regionen (Aosta, Trentino-Südtirol, Friaul-Julisch Venetien, Sardinien, Sizilien) Italiens, zu dem es seit 1861 gehört. In dem Hochalpental im Dreiländereck Frankreich, Italien und Schweiz leben rund 127.00 Menschen.29 Die Mehrheit der Valdostaner spricht heute als Muttersprache Italienisch, etwa 15 % dürften muttersprachliche Kompetenz in frankoprovenzalischen Dialekten haben, die daher im Unterschied zu den Dialekten der Suisse romande und Südostfrankreichs noch recht lebendig sind. Abb. 4: Aosta-Tal mit angrenzenden Staaten
Das Französische wird nur von sehr wenigen tatsächlich verwendet, und Einschätzungen in der Literatur zu Beherrschung und Gebrauch des Französischen divergieren stark. So nennt der Rapport 1990 des Haut conseil de la Francophonie 12.000 || 29 Quelle: http://demo.istat.it/bil2015/index04.html (Datenstand: 31.12.2015)
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Frankophone, während die Organisation internationale de la Francophonie – basierend auf einer Umfrage aus dem Jahre 2001 – von 72.000 Personen oder 60 % der Gesamtbevölkerung ausgeht, die gut oder recht gut Französisch sprechen können (OIF 2014, 19). Dieser Unterschied liegt nicht an einem spektakulären Anwachsen der tatsächlichen Französischsprecher innerhalb von elf Jahren, vielmehr ist er auf unterschiedliche Kriterien bei der Einschätzung der Sprachkompetenz bzw. des Sprachgebrauchs zurückzuführen. (Wie in Kapitel 1 bereits angedeutet, ist dies ein Problem, mit dem man in praktisch allen Gebieten zu tun hat, in denen das Französische nicht entweder muttersprachlich verankert ist oder auf sehr hohem Niveau als Zweitsprache verwendet wird.) Französisch – nicht jedoch der Dialekt – ist seit 1948 ko-offiziell mit dem Italienischen; der Art. 38 des Autonomiestatuts legt fest, dass das Französische und das Italienische „à parité“ seien, offizielle Texte in einer der beiden Sprachen abgefasst werden können (Ausnahme: Rechtstexte ausschließlich auf Italienisch) und bei der Bestellung von Beamten solche zu bevorzugen seien, die entweder aus der Region stammen oder das Französische beherrschen. Während die frankoprovenzalischen Dialekte in den privaten Domänen verbreitet sind, d. h. in der Familie, beim Kontakt mit Freunden, in bestimmten Sektoren des Arbeitsmarktes sowie in kommunikativen Kontexten, in denen es um Volkskultur geht (cf. Josserand 2011, 92), sind sie im öffentlichen Raum wenig präsent: Kontakte mit Behörden, formelle Kommunikation bzw. sprachliche Kontakte mit in ihrer sprachlichen Zugehörigkeit nicht einschätzbaren Gesprächspartnern bedingen fast automatisch das Italienische. Generell tendieren Frauen eher zum Italienischen, Männer sind in stärkerem Ausmaß Dialektsprecher. In wenigen Bereichen der öffentlichen Sprachverwendung kann das Französische die andere offizielle Sprache konkurrenzieren, ohne sie jedoch zu verdrängen; tatsächliche kommunikative Funktionen hat das Französische im Tourismus, in der Schule und z. B. bei Bewerbungen (cf. Bauer 1995, 295). Die faktische Gleichstellung in den Schulen, die ebenfalls im Autonomiestatut festgeschrieben ist (gleiche Stundenanzahl für Französisch und Italienisch; Möglichkeit, das Französische als Unterrichtssprache zu verwenden), begann erst in den 1980er Jahren, zunächst im Kindergarten und im Elementarbereich, ab Anfang der 1990er Jahre auch im Sekundarbereich. Ob die Aufwertung des Französischen in der Schule wirklich zum Aufschwung des Französischen beitragen kann, bleibt mehr als fraglich: „La portée des programmes se trouve singulièrement réduite par le faible usage fonctionnel du français dans la région et ce, même dans la pratique extra-scolaire des enseignants“ (Kasbarian 1993, 342). Die Schule bleibt im Wesentlichen der einzige Ort, wo tatsächlich Situationen existieren, die den Gebrauch des Französischen zwingend erfordern (Jablonka 2002, 16s.; cf. auch Puolato 2006, 192). Die Medien sind italienisch dominiert; einsprachig französische Tageszeitungen existieren nicht, und Radio und Fernsehen senden mehrheitlich auf Italienisch.
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Allerdings können französischsprachige Sender aus Frankreich und der Suisse romande empfangen werden. Die Verwendung des Französischen außerhalb der wenigen Domänen, in denen es üblicherweise seinen (eingeschränkten) Platz hat, ist meist politisch-ideologisch motiviert: Der Gebrauch des Französischen hat symbolischen Charakter und wird – bei Verfechtern der Autonomie – bewusst zur Demonstration der Frankophonie des Aosta-Tals eingesetzt (cf. Jablonka 2002, 17; Bauer 2014, 211).
5.2.2 Die politisch-historischen Gründe der heutigen Sprachsituation Das Gebiet des heutigen Aosta-Tals und der dort lebende Stamm der Salasser wurden 25 v. Chr. unterworfen und in der Folge romanisiert; Aosta geht auf den Namen der Kolonie Augusta Praetoria Salassorum zurück. Nach dem Untergang des römischen Reiches ging Aosta 575 erstmals an das Frankenreich, womit die Ausrichtung zur Galloromania hin fixiert war. Bis 1032, als das Haus Savoyen die Herrschaft übernahm, gehörte das Aosta-Tal zunächst zum Mittelreich Lothars, dann zu einem der daraus entstandenen burgundischen Königreiche (Hochburgund) und geriet schließlich in den Einflussbereich des Deutschen Reiches. Im Jahre 1191 erhielt das Aosta-Tal vom Haus Savoyen weitgehende Autonomierechte, ab dem 15. Jahrhundert eine eigene Regierung und im Jahre 1572 einen eigenen Strafund Zivilrechtskodex. Das Französische ist spätestens seit dem Spätmittelalter im öffentlichen und kirchlichen Leben weit verbreitet. Sprachpolitisch von besonderer Bedeutung ist das Jahr 1561, in dem der Savoyer-Herzog Emmanuel-Philibert das Französische – nicht ganz ohne Widerstand – zur alleinigen offiziellen Sprache erhebt (cf. Perrin 1985). Bis 1860/61, als die frankophonen Gebiete Savoyen und Nizza an Frankreich gingen, Aosta aber zu Italien kam, war das Französische die unangefochtene und dank eines gut ausgebauten Netzes von Grundschulen von vielen beherrschte Dachsprache (cf. Bauer 2014). Mit der Eingliederung in den gerade entstandenen italienischen Staat verliert das Aosta-Tal auch alle noch verbliebenen Sonderrechte (derer es z. T. schon im 18. Jahrhundert verlustig gegangen war). Ab diesem Zeitpunkt wurde das Französische sukzessive aus allen öffentlichen Domänen verdrängt; die Italianisierungspolitik des jungen Nationalstaates führte dazu, dass u. a. der reguläre Französischunterricht in den Volksschulen verboten wurde (1883), und erreichte unter dem faschistischen Regime (1922–1945) seinen Höhepunkt: Verbot öffentlicher Beschilderung auf Französisch (1924), jeglicher Form des Französischunterrichts (1923) und der französischsprachigen Presse (1926), Italianisierung der Verwaltung (Grundbuch, Melderegister; ab 1925), der Straßennamen und Toponyme. In einem weiteren Schritt war sogar die Italianisierung der Familiennamen vorgesehen, was aufgrund des Kriegsausbruchs jedoch nicht mehr durchgeführt wurde. Diese sprachpolitischen Zwangsmaßnahmen bedeuteten eine massive Bedrohung für das Fortbestehen des Französischen.
Aosta-Tal | 49
Zusätzlich verschlechterte sich seine Situation noch durch die Abwanderung vieler Valdostaner nach der Trennung von Savoyen und den massiven Zustrom von Italienern (aus Venetien und dem Piemont), vor allem in der Zeit des Faschismus. Von 1921 bis 1936 nahm so die Zahl der Einwohner der Stadt Aosta um 80 % zu (1921: 9.554; 1936: 16.130; cf. Zanotto 1980, 244). Im ab September 1943 auch von deutschen Truppen besetzten Aosta-Tal bildeten sich Résistance-Gruppen, die sich z. T. für die Sezession von Italien und den Anschluss an Frankreich einsetzten. Von französischer Seite (General de Gaulle) wurden diese Bestrebungen gutgeheißen und trugen wesentlich zur Bereitschaft Italiens bei, dem Aosta-Tal im Jahre 1948 sein Autonomiestatut zu gewähren.
5.2.3 Erscheinungsformen des Französischen Das Französische begegnet im Aosta-Tal in zwei klar voneinander abgegrenzten Formen: Ein dem Standard nahes Französisch wird von denjenigen, die für die Berufsausübung (Tourismus, Journalisten, Übersetzer, Lehrer) eine spezifische Kompetenz erworben haben, verwendet. Auch Reimmigranten und deren Kinder mit französischer Muttersprache gehören zu dieser Gruppe (cf. Jablonka 1994, 185). Die andere Form und ihre Sprecher sind gekennzeichnet von den Auswirkungen der Triglossiesituation mit dem mittlerweile dominanten Italienischen und dem Dialekt. Der moderne französische Wortschatz, wie er beispielsweise zur Bezeichnung von elektronischen Geräten benötigt wird, existiert nicht; Neubildungen werden vom Italienischen gespeist: le stéreo (< it. lo stereo) statt la chaîne hifi, le régistrateur (< il registratore) statt le magnétophone usw. (Bsp. bei Jablonka 1994, 187). Da es sich beim Französischen im Aosta-Tal um „eine mittelmäßig bis gut beherrschte Fremdsprache“ (Bauer 1995, 263) handelt, fehlt natürlich auch das hexagonale Substandardvokabular. Angesichts der heutigen Situation des Französischen ist ein Inventar der lexikalischen Besonderheiten des Französischen im Aosta-Tal wie Martin (1984), das in den 1970er Jahren erarbeitet wurde und dessen Gewährsleute tatsächlich noch Muttersprachler waren, nur mehr von historischem Wert. Im Bereich der Phonetik/Phonologie fällt die Bewahrung der Opposition /e/ – /ɛ/ (z. B. in forêt, mais) auf, was aber nicht unbedingt als Archaismus zu interpretieren ist, sondern durch den Erwerbskontext (Schule) hinreichend erklärt werden kann. Nasalvokale sind häufig schwächer als im Standardfranzösischen und schwinden manchmal völlig: revendiquer [ʁəvɛndike], intéressant [inteʁesan]. Auch das Auftreten eines konsonantischen Elements ist zu beobachten: point [pwɛ͂ ŋ] (cf. Martin 1979; Kasbarian 1993). Was Abweichungen in der Syntax betrifft – etwa Unterschiede in der Verwendung der Pronomina (z. B. Ausfall des Subjektspronomens) oder Präpositionen (en le passé, ...) – ist es schwierig, die genaue Ursache zu bestimmen; neben den Ein-
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flüssen der schwach divergierenden Kontaktsprache dürfen auch Defizite beim Erwerb nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Auch die Pragmatik ist vom Einfluss der Kontaktsprachen betroffen: pronto statt allô beim Telefonieren, plaisir (< it. piacere, Stützung durch Dialekteinfluss) statt enchanté, boh! statt bon/eh bien, figure-toi (< it. figurati) statt pas de quoi oder de rien (cf. Jablonka 1994, 189ss.; 2002, 21). Arbeitsaufgabe: 1. Die Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539) des französischen Königs François I. und das Édit de Rivoli von Emmanuel-Philibert (1561) werden häufig in einem Atemzug genannt. Vergleichen Sie die beiden Texte und finden Sie heraus, inwieweit sich die Sprachsituation im jeweiligen Einflussbereich der beiden Herrscher unterscheidet. Was war die eigentliche Motivation, das Französische zur Amtssprache zu erheben? Die Texte sind (u.a.) zu finden in Wolf (1969) und Martin (1982).
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5.3 Belgien 5.3.1 Rechtlicher Status, Sprecherzahlen, Entstehung des Bundesstaates und der modernen Sprachgrenze In Belgien hat das Französische in der Region Wallonien alleinigen offiziellen Status, denn ganz ähnlich wie in der Schweiz herrscht in Belgien in sprachenrechtlicher Hinsicht das Territorialitätsprinzip. In der Region Flandern ist hingegen ausschließlich das Niederländische Amtssprache.30 Die Hauptstadt Brüssel (fr. Région de Bruxelles-Capitale), die wie eine Insel auf dem Gebiet der flämischen Provinz Vlaams-Brabant (fr. Brabant flamand) liegt, genießt innerhalb der Regionen Belgiens einen Sonderstatus: Sie ist offiziell zweisprachig, auch wenn der französischsprachige Bevölkerungsanteil wahrscheinlich jenseits von 85 % liegt.31 Neben Französisch und Niederländisch wird in der sehr internationalen Stadt Brüssel auch von einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen im Alltag Englisch gesprochen. Im Osten der Region Wallonien gibt es eine deutschsprachige Minderheit (ca. 70.000 Sprecher), deren Sprachgebiet nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien kam. Von den etwas mehr als 11 Mio. Einwohnern Belgiens sind rund 4,5 Mio. frankophon: 3,6 Mio. in Wallonien, etwa 900.000 in Brüssel. Belgien ist heute ein ausgeprägt föderalistischer Staat (Verfassungsreformen 1970, 1980, 1988 und 1993) und besteht neben den drei Regionen (Wallonien, Flandern, Brüssel) aus drei sog. Communautés (Communauté française,32 Communauté flamande, Communauté germanophone) mit je eigenen Kompetenzen. Da sich die Région und die Communauté flamande im Jahre 1980 vereinigt haben (Vlaamse Raad), besteht Belgien, den Bundesstaat mitgerechnet (aber unter Ausklammerung der Provinzen), aus sechs Körperschaften, die ihr politisches Agieren in einem beim
|| 30 Häufig wird im Zusammenhang mit der Sprachensituation in Flandern auch die Sprachbezeichnung Flämisch als Überbegriff für die in Belgien gesprochenen Varietäten des Niederländischen verwendet. In der dialektologischen Fachliteratur werden jedoch nur die westlichen dieser Varietäten so bezeichnet. 31 Da es in Belgien seit 1947 keinen Sprachenzensus mehr gibt, ist man bei Angaben von Sprecherzahlen immer auf andere (indirekte) Datenquellen angewiesen. Auf den genannten Anteil von Französischsprechern kann man schließen, wenn man z. B. die Sprache offizieller Dokumente auswertet. So wurden im Jahre 1997 87,6 % aller Geburtsurkunden, 89 % der Fernsehanmeldungen, 90,1 % der Einkommensteuererklärungen sowie 94 % der Heiratsurkunden auf Französisch ausgefertigt (Ch.-E. Lagasse, in Le Monde, 20/9/1997, Supplément Belgique, côté francophone). Die auf eine solche Weise ermittelte ungefähre Zahl der Französischsprecher dürfte recht stabil geblieben sein. Cf. auch Janssens (2008). 32 Im Jahr 2011 hat die Communauté française ihren Namen in Fédération Wallonie-Bruxelles geändert, um die Zusammengehörigkeit der Französischsprecher in Belgien zu betonen. Diese Bezeichnung steht seither in Konkurrenz zu jener, die in der Belgischen Verfassung festgelegt ist.
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Amt des Premierministers angesiedelten Comité de concertation abstimmen (müssen). Die Ursache für diesen komplexen Staatsaufbau liegt in den seit dem Bestehen Belgiens (1830) schwelenden und immer wieder neu ausbrechenden Konflikten zwischen den beiden großen Volksgruppen der Flamen und Wallonen.33 In dem nicht historisch gewachsenen Staatskonstrukt dominierten von Anfang an die Wallonen und somit das Französische; die Sprachgrenze war vor allem eine soziale: Französisch war die Sprache der wohlhabenden intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten, sowohl in Wallonien als auch in Flandern, Flämisch und Wallonisch die Sprachen der arbeitenden Massen in den beiden Sprachräumen. Die nach der Selbständigkeit eingeführte Freiheit der Sprachenwahl existierte nur auf dem Papier; dass die Rolle der Amtssprache dem Französischen zufallen würde, war eine Selbstverständlichkeit. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts regte sich von Seiten der Flamen Widerstand gegen diese Benachteiligung. 1873 wurde die administrative Gleichstellung des Niederländischen in den flämischen Provinzen erreicht, d. h. das Niederländische wurde ko-offiziell, 1898 errang es den Status als offizielle Sprache. Es sollte allerdings noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauern, bis es in allen öffentlichen Domänen gleichberechtigt war (cf. Erfurt 1992). Der erste große Schritt zur Regionalisierung Belgiens erfolgte im Jahre 1932 mit der Festlegung der Sprachgrenze, die allerdings noch nicht dauerhaft fixiert wurde. Erst in den Jahren 1962 und 1963 wurde sie nach massivem Druck der Flamen endgültig festgelegt und weitestgehend den tatsächlichen sprachlichen Verhältnissen angepasst (Abtausch von Gemeinden mit Schutzbestimmungen für die Minderheiten). Einen besonderen Problemfall stellte Brüssel dar, das seit dem 16. Jahrhundert, insbesondere aber im Laufe des 19. Jahrhunderts, immer mehr französiert wurde. Im 19. Jahrhundert wechselten auch viele flämische Zuwanderer zum Französischen, um bessere Aufstiegschancen zu haben. Durch Bevölkerungswachstum und stetig steigende Französierung griff Brüssel zum großen Unmut der Flamen immer mehr auf das umliegende flämische Territorium aus – es wird in diesem Zusammenhang auch von einer tache d’huile, einem sich ausbreitenden Ölfleck, gesprochen. 1963 wurden die Umlandgemeinden unter flämische Verwaltung gestellt und sechs Gemeinden mit besonders hohem Anteil an frankophoner Bevölkerung Sonderrechte zugestanden (sog. communes à facilités). Von militanten Flamen wird diese Lösung nicht als befriedigend empfunden; immer wieder kommt es zu Konflikten mit der französischsprachigen Bevölkerung.
|| 33 Cf. Francard (1990, 124): „La ‚pacification linguistique‘ de l'État belge est, nous dit-on, à ce prix.“ Einen knappen Überblick über die Kompetenzen der einzelnen Körperschaften gibt Guérivière (1994, 189–193). Interessant dazu auch: http://www.federation-wallonie-bruxelles.be/ (Homepage der Communauté française de Belgique bzw. Fédération Wallonie-Bruxelles).
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Abb. 5: Belgien mit Sprachgebieten
5.3.2 Geschichte des Sprachraums: Von der Romanisierung zur Eigenstaatlichkeit Der heute nordfranzösische und belgische Raum wurde 51 v. Chr. unter Caesar erobert, als Provinz Gallia Belgica in das römische Reich eingegliedert und romanisiert. Die Ansiedlungen der Franken legten ab dem 5. Jahrhundert den Grundstein zur Herausbildung der germanisch-romanischen Sprachgrenze; während sie im Norden dominierten, gingen sie im Süden in der zahlenmäßig stärkeren galloromanischen Bevölkerung auf. Im Vertrag von Verdun (843) wurde das Gebiet zwischen Ost- und Westfranken geteilt, ein Teil kam also zum Ostreich und damit zur Germania. Zu einer großen kulturellen Blüte kam es unter den Herzögen von Burgund (1384–1477). Durch Erbschaft ging das Reich an die Habsburger (Heirat von Maria von Burgund und Maximilian I. im Jahre 1477); unter Karl V. (fr. Charles Quint, Regierungszeit 1519– 1556) erhielt die spanische Linie des Hauses Habsburg die Gebiete des späteren Belgien und der Niederlande. In die Regentschaft des Sohnes von Karl V. (Philipp II. von Spanien), der brutal den Protestantismus bekämpfte, fiel die Herausbildung der späteren Nordgrenze Belgiens. Der südliche Teil, die sog. Spanischen Niederlande, fielen im Frieden von Rastatt (1714) an die österreichischen Habsburger, die bis zur
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Französischen Revolution herrschten. 1789 erklärten sich die Vereinigten Belgischen Staaten für unabhängig, doch schon 1794 wurde das Land von Frankreich besetzt und ein Teil der France des 130 départements. Nach Napoleons Niederlage bei Waterloo wurde Belgien auf dem Wiener Kongress (1815) mit den Niederlanden und Luxemburg vereinigt. Konfessionelle und sprachliche Differenzen verhinderten allerdings ein konfliktfreies Zusammenleben; im August 1830 kam es zu einer Volkserhebung und – nachdem auch ein Anschluss Walloniens an Frankreich erwogen worden war – im November desselben Jahres zur Proklamation der Unabhängigkeit und zur Schaffung einer konstitutionellen Monarchie.
5.3.3 Genese und Profil des belgischen Französisch Obwohl der geographische und politische Terminus Wallonien etwas anderes suggeriert, liegen dem belgischen Französisch nicht nur das Wallonische (fr. wallon), sondern noch drei weitere Dialekte als Substrate zugrunde: im Westen Walloniens das Pikardische (fr. picard), im äußersten Süden das Lothringische (fr. lorrain, in Belgien auch gaumais genannt) und mit einem ganz kleinen Stück im Südwesten das Champagnische (fr. champenois). Das Wallonische gliedert sich in die Kerndialekte namurois/centre-wallon und liégeois/est-wallon; das wallo-picard und das wallo-lorrain bilden Übergangszonen zum Pikardischen bzw. Lothringischen. Die Abbildung 5 zeigt die räumliche Verteilung der Dialekte. Abb. 6: Die dialektale Gliederung Walloniens (cf. Remacle 1992, 32)
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Im Folgenden seien einige markante lautliche Merkmale des Pikardischen, des Wallonischen und des Lothringischen genannt (cf. Remacle 1992); für die nordfranzösischen Dialekte (Pikardisch und Wallonisch) gilt generell, dass sie besonders archaisch sind: Pikardisch: - Erhalt von Ca und Ga (vs. Französisch: CAMPU > champ; GAMBA > jambe) - Palatalisierung von Ci,e zu [tʃ] (vs. Französisch: CENTU > [sɑ͂ ], CIVITATE > [site]) - keine Palatalisierung von L + [j] im Auslaut: BUTTIC'LA > [butɛl] ‚bouteille‘ Wallonisch: - Palatalisierung von Ca zu [tʃ] - Ŏ + [j] > [y] (statt Französisch: [ɥi] wie in cuir) - Konservierung von lat. S vor Konsonant: SPINA > [spɛne] (vs. Französisch: épine) - Für das liégeois gilt darüberhinaus noch: Erhalt des lat. Ū (keine Palatalisierung wie im Französischen: Ū > [y], z.B. FESTŪCUM > [fistu] ‚fétu‘) und des h aspiré (fränkisch hagja > [hajə] ‚haie‘, cf. auch Bal 1992) Gaumais: - -RS- > [ʃ] - A + [j] > [aː] (Französisch [ɛ]: FACERE > faire) - Denasalisierungen im Auslaut Die Französierung der wallonischen Skripta beginnt bereits im 12. Jahrhundert; die Graphik auf S. 56 illustriert den zunehmenden Einfluss des Franzischen bzw. Französischen:34 Was die gesprochene Sprache betrifft, kann man in urbanen Milieus von einer passiven Zweisprachigkeit Dialekt/Französisch ab der Renaissance ausgehen; seit dem 17. Jahrhundert tritt das Französische in der formellen Mündlichkeit in Konkurrenz zum Wallonischen und wird im 18. Jahrhundert ein fixer Teil des sprachlichen Repertoires regionaler und lokaler Eliten sowie des Adels (aktive Zweisprachigkeit). In ländlichen Gebieten bleiben die Dialekte jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konkurrenzlos, was auch damit zusammenhängt, dass der Dialekt in Wallonien ein höheres Prestige genießt als in Frankreich oder der Suisse romande und sogar als Identitätsmerkmal fungiert.
|| 34 In ähnlicher Weise, jedoch mit einer anderen Chronologie, ließe sich auch die Französierung anderer Dialekte/Skriptae in Frankreich und in der Suisse Romande darstellen.
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Abb. 7: Französierung der wallonischen Skripta (nach Remacle 1948, 117)
Erst die Einführung der allge allgemeinen meinen Schulpflicht Schulpflicht im Jahre 1914 leitete einen sich über drei Generationen er erstreckenden streckenden Prozess ein, an dessen Ende, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Jahrhunderts, das Fran Französische zösische zur Erstsprache aller Wallonen wer wer-den sollte. Für die Generation der in den 19 19770er 0er Jahren geborenen Sprecher kann man davon aus ausgehen, gehen, dass noch 40 bis 55 % den Dialekt verstehen; über eine aktive Kompetenz im Dialekt dürften hin hinge gegen gegen nur rund 10 % verfügen (cf. Francard 2000, 34). Die Die etwa im Vergleich zur Suisse romande verhältnismäßig starke Präsenz der Dialekte hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass zur Be dess Fran Franzö Beschreibung schreibung de zö-sischen in Belgien häufig zwei Niveaus unter sischen unterschieden schieden wurden: 1. ein „français diadialec lectal“, tal“, d. h. ein „français modifié, dans ses divers éléments (phoné (phonétiques, tiques, morphomorphosyntaxiques, lexicaux) ou dans l’un de ceux-ci, par l’influence d’un parler populaire régional“ régional“ (Piron 1979, 205) und 2. ein sog. „français marginal“, das sich mit dem dem Sprachgebrauch der Mittel Mittel-- und Oberschicht deckt, die die typischen Merkmale Merkmale im Bereich der Phonetik abgelegt hat und deren Französisch sich im Wesentlichen nur me mehr hr im Bereich des Lexi Lexikons kons von der hexagonalen (Standard-)Varietät unter unterschei scheischei1979,, 209 209). ). det (cf. Piron 1979 In In der Realität lässt sich aber das Ausmaß, in dem das Französische von regio regio-nalen Elementen gekennzeichnet ist, nicht allein an den Variablen Präs Präsenz enz des DiaDialekts und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht festmachen, umso mehr als nicht alle regionalen Charakteristika densel ben Status (Registerzugehörigkeit) auf denselben auf-wie wiesen sen und manche stärker stigmati siert sind, andere weniger. stigmatisiert
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Die folgende Übersicht geht davon aus, dass ein Kontinuum vorliegt, das von einem stark dialektal beeinflussten Französisch bis zu einem mit dem hexagonalen Standardfranzösisch weitgehend konvergenten Sprachgebrauch reicht; soweit möglich, wird immer von Fall zu Fall präzisiert, welche sozio-kulturellen Variablen mit den beobachtbaren Phänomenen korrelieren; die verwendeten Beispiele stammen aus Francard (1993b) und (1997), Francard et al. (2015), Massion (1987), Piron (1979), Pohl (1978; 1983) sowie Wolf (1980). Phonetik/Phonologie: Für den (stereo-)typischen accent belge, der von Franzosen sofort identifiziert wird, sind – so J. Pohl (1983, 22–23) – fünf Merkmale verantwortlich, die ungeachtet sozialer und bildungsmäßiger Unterschiede sehr weit verbreitet sind: - Der Erhalt der vier Nasalphoneme /ɑ͂ /, /ɔ͂ /, /ɛ͂ / und /œ͂/, die im Pariser Französisch seit der Mitte dieses Jahrhunderts zu einem 3er-System reduziert wurden; brin ‚Halm‘ und brun ‚braun‘, empreinte ‚Abdruck‘ und emprunte (participe passé von emprunter) oder Alain (männlicher Vorname) und alun ‚Alaun‘ sind dort bei den meisten Sprechern heute homophon. - Die Opposition palatales /a/ – velares /ɑ/ (z.B.: tache vs. tâche, mal vs. mâle) ist unbekannt; die Distinktion wird durch Längung aufrechterhalten: [taʃ] – [taːʃ], [mal] – [maːl] - Die gute Bewahrung der Quantitätsoppositionen, z. B. bei /i/ - /iː/ (nid vs. nie), /ɛ/ – /ɛː/ (faite vs. fête), auch als Überbleibsel der seit dem Beginn des 19. Jahrhundert im code phonique schwindenden Femininummarkierung: né [ne] vs. née [neː], nu [ny] vs. nue [nyː], aimé [eme] vs. aimée [emeː]. Diese Endung kann auch diphthongiert sein: année [aneːj] (cf. Suisse romande) - Aussprache mit Diärese in Wörtern wie lion, tuer, louer, niais usw., d. h.: [liɔ͂ ] statt [ljɔ͂ ], [tye] statt [tɥe], [lue] statt [lwe], [niɛ] statt [njɛ]. An die Stelle des Halbvokals [ɥ] tritt häufig auch ein [w]: puis [pwi], lui [lwi] etc. - Bewahrung der Opposition /o/ – /ɔ/ im Auslaut (cf. Suisse romande) und offene Aussprache des , wenn ein -s folgt: fosse [fɔs], calvados [kalvadɔs], grosse [gʁɔs] Ein weiteres verbreitetes Phänomen ist die Nasalierung von Oralvokalen vor Nasalkonsonanten (z. B.: reine [ʁɛ͂ n], poème [pɔɛ͂ m]). Die Längung auch anderer Vokale (vortonig, bzw. betont vor [l] oder stimmhaftem Okklusiv: usine [yːsin]; bible [biːblə]), auf die der Eindruck des Gezogenen, Schwerfälligen zurückgeführt werden kann, ist bei jüngeren Sprechern und Angehörigen der Bildungsschicht im Verschwinden begriffen. Ähnliches gilt für die oft beschriebene Hiat-Tilgung (z. B. théâtre [tejaːtʁ], européen [øʁɔpejɛ͂ ]), die vor allem bei älteren Sprechern des Zentrums und des Ostens Walloniens auftritt (cf. Francard
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1993b, 327). Dort und in Brüssel ist auch die offenere Aussprache der hohen Vokale [i], [u] und [y] zu beobachten. Einen guten Eindruck von der Variationsbreite des belgischen Französisch im Bereich der Phonetik gibt die von Michel Francard produzierte Video-CD Ces Belges qui parlent français (Francard 1997); dort sind z. B. auch Beispiele für die Bewahrung des h aspiré und die weniger gebildete Sprecher kennzeichnende Entsonorisierung finaler stimmhafter Frikative (z. B. village [vilaːʃ], grève [gʁɛːf]) zu hören. Morphosyntax: Partikularismen in der (Morpho-)Syntax sind weniger zahlreich und kommen z. T. auch außerhalb Belgiens vor, sind also weniger oft Statalismen (i. w. S). Die als typisch belgisch geltende Konstruktion aller + à + Berufsbezeichnung (aller au dentiste, au coiffeur) ist z. B. spontansprachlich auch in Frankreich verbreitet, und auch die Wendung qu'est-ce que c'est pour un/une [chose/personne]? (‚quel genre de [chose/personne] est-ce?‘) kann in Frankreich (Savoyen, Lorraine) und in der Suisse romande belegt werden. Ähnliches gilt für den infinitif substitut (je ne pouvais pas croire qu'il y a des gens qui se promènent et se faire bronzer) und den Gebrauch von sur statt dans (z. B. sur la rue; auch in Québec attestiert, in beiden Fällen möglicherweise Adstrateinfluss). Avoir facile (de/à/pour + Infinitiv) ‚sich (bei etwas) leichttun‘, avoir bon (de + Infinitiv) ,es angenehm finden, sich freuen, etwas zu tun‘ oder assez/trop ... que pour ‚assez/trop ... pour‘ sind ebenfalls nicht exklusiv belgisch, sondern sind sporadisch auch in Frankreich und in der Suisse romande dokumentiert. Genuine Belgizismen dürften z. B. die folgenden sein: - ne pouvoir mal de (+ Infinitiv) ‚ne pas être disposé à, ne courir aucun risque à‘ - ça mieux; ça moins ‚d’autant mieux; d’autant moins‘ - de commun accord ‚d’un commun accord‘ - mettre à place ‚mettre en place‘ - sauter bas du lit ‚sauter du lit‘ - les événements nous rapportés ‚... à nous rapportés‘ (auch in schriftlichen Texten; vielleicht niederländischer Adstrateinfluss) Ein Kandidat für einen frequenziellen Belgizismus ist die komplette Negation mit ne ... pas, die in Belgien noch häufiger sein dürfte als in Frankreich. Die von Francard (1993b) in diesem Zusammenhang genannte häufigere Inversionsfrage ist allerdings nicht typisch belgisch, da sie auch in Québec mit höherer Frequenz auftritt (Archaismus). Lexikon: Im Bereich des Lexikons ist auffällig, dass in größerem Ausmaß als z. B. in der Suisse romande substratunabhängige Charakteristika auftreten; regionale Lexeme
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sind vielfach panwallonisch, egal um welches Dialektgebiet es sich handelt. Jacques Pohl (1978) hat dies in einer Enquête in jeweils zwei Nachbarorten in Belgien und Frankreich deutlich aufgezeigt. Seine Befragungsorte Mouscron (Belgien) und Tourcoing (Frankreich) liegen beide auf pikardischem Gebiet; Longuyon (Frankreich) und Virton (Belgien) hingegen gehören der lothringischen Dialektzone an und sind mehr als 200 km von den pikardischen Orten entfernt. Seine 30 abgefragten Regionalismen (cf. unten in Auswahl) machen deutlich an der belgisch-französischen Staatsgrenze halt, und dies obwohl es sich nicht um Lexeme handelt, die für unterschiedliche politische oder administrative Gegebenheiten stehen, sondern der Alltagssprache angehören. Die Informanten – mehrheitlich Schüler aus dem Sekundarbereich – waren dazu angehalten, Schätzungen über die Verwendungshäufigkeit der betroffenen Wörter/Ausdrücke anzustellen: Essayez d'évaluer le nombre de personnes qui dans votre entourage connaissent bien ou utilisent les mots suivants; servez-vous des sigles P (personne), Q (quelques-un(e)s), B (beaucoup), T (tout le monde ou presque tout le monde) (zit. n. Wolf 1980, 201)
Tab. 2: Panwallonische Regionalismen (Enquête J. Pohl; adaptiert nach Wolf 1980, 201)35 Longuyon (F; 20)
Virton (B; 18)
Tourcoing (F; 77)
Mouscron (B; 15)
P
P
Q
B
T
P
Q
B
T
P
Q
B
T
Q
B
T
ajoute
20
5
10
2
1
61
15
1
0
2
11
2
0
blinquer
20
3
2
8
4
69
8
0
0
5
2
4
4
bloquer
14
5
1
0
0
0
6
12
70
3
3
1
1
1
5
8
être busé
18
2
0
0
0
0
10
8
70
4
2
1
0
0
6
9
copion
19
1
0
0
3
6
7
2
74
3
0
0
1
1
4
9
cumulet
19
0
1
0
0
7
8
3
63
9
5
0
1
0
9
5
entièreté
16
4
0
0
0
11
5
2
57
17
3
0
1
7
2
5
farde
17
3
0
0
0
1
9
8
69
3
3
2
1
0
3
11
1
1
10
6
75
1
1
0
4
3
7
1
guindaille 20
Bei allen Beispielen handelt es sich um in Belgien gebräuchliche Ausdrücke: ajoute
‚ajout, appendice, supplément‘
blinquer
‚reluire; faire reluire, astiquer‘
bloquer
‚bûcher‘
|| 35 Pohl hat nur seine Ergebnisse veröffentlicht (Pohl 1978); die Tabelle hat er H.-J. Wolf zur Verfügung gestellt, der sie publiziert hat (Wolf 1980).
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être busé
‚échouer‘
copion
‚antisèche, pompe‘
cumulet
‚culbute‘
entièreté
‚totalité‘
farde
‚dossier, cahier de copies non broché‘
guindaille
‚sortie joyeuse d'étudiants, souvent beuverie‘
Zumindest drei der genannten Wörter können einer Sondersprache, dem Studentenund Schülerargot, zugeordnet werden: bloquer, être busé und copion. In diesem Bereich verfügt das belgische Französisch ein vom hexagonalen Sprachgebrauch deutlich abweichendes Vokabular, z. B.: manche-à-balles ‚étudiant trop zélé auprès des professeurs‘, se faire mofler ‚échouer (à un examen)‘, kot ‚studio, chambre louée (à un étudiant)‘, heure de fourche ‚temps libre entre deux heures de cours‘ etc. Anhand des in Belgien (und auch in Québec) gängigen entièreté (16. Jhdt.; in Frankreich sind totalité oder intégralité viel üblicher) lässt sich der in peripheren Gebieten der Frankophonie deutlich schwächere Normdruck des bon usage illustrieren: Zum einen können erbwörtliche Ableitungen vital bleiben, die in Frankreich durch gelehrte Bildungen konkurrenziert wurden, andererseits werden die vom System des Französischen ermöglichten Wortbildungsverfahren ausgenützt. Zur ersten Kategorie gehören z. B. amitieux (19. Jhdt., wahrscheinlich älter) ‚aimable, affectueux‘ und taiseux (12. Jhdt.) ‚taciturne‘; Beispiele für moderne Ableitungen sind: autocariste ‚chauffeur d'autocar‘, salubriste ‚femme de ménage‘, savonnière ‚portesavon‘, navetteur ‚personne qui fait la navette‘. Von vielen belgischen Französischsprechern verwendete typisch belgische Lexeme finden sich in praktisch allen Lebensbereichen; dabei reicht die Bandbreite von der Kulinarik über die Bezeichnung von Baustoffen bis zu Haushaltsutensilien. Nachstehend eine kleine Auswahl gängiger Belgizismen des Alltagswortschatzes: fricassée
‚œufs sur le plat (ou omelette) avec garniture diverse‘ (in Frankreich bezeichnet das Wort je nach Region unterschiedliche Fleischgerichte)
chicon
‚endive‘
drache
‚forte averse, pluie battante‘ (aus dem Niederländischen)
évier
‚lavabo‘ (bedeutet in Frankreich: ‚Spülbecken, Abwasch‘)
friture
‚friterie‘ (bedeutet in Frankreich: ‚bain de matière grasse dans lequel on fait frire des aliments‘)
gyprok
‚placoplâtre, placo (fam.)‘
GSM [ʒeɛsɛm], G [ʒe] (fam.)
‚téléphone mobile, portable‘
nonante
‚quatre-vingt-dix‘
pain français
‚baguette, flûte‘
pécule de vacances
‚prime de vacances‘
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prester
‚accomplir une tâche, un service etc. contre rémunération‘: prester des services, des heures supplémentaires
ramassette
‚pelle à poussière‘
ring
‚périphérique, rocade‘
salade de blé
‚doucette, mâche‘
septante
‚soixante-dix‘
sonner (à qn.)
‚téléphoner‘
tirette
‚fermeture éclair‘
Legion sind natürlich die mit den unterschiedlichen administrativen und politischen Gegebenheiten, mit anderen Traditionen im Bildungswesen etc. zusammenhängenden Bezeichnungen; hier nur eine kleine Auswahl: académique
‚universitaire‘: z. B. in année académique, formation académique
association sans but lucratif ‚association à but non lucratif; association loi de 1901‘ (ASBL) athénée
‚lycée‘
bourgmestre
‚maire‘
chef-garde
‚contrôleur de train‘
communal
‚municipal‘: z. B. in conseiller communal
école gardienne
‚école maternelle‘
endéans
‚dans le délai de‘
enseignement moyen
‚enseignement secondaire‘ (niederländisches Adstrat)
matières personnalisables
‚matières considérées comme étroitement liées à la vie des personnes et confiées à la compétence des Communautés‘
minimex
‚allocation qui correspond au minimum vital‘ (Akronym von Minimum de Moyens d’Existence; mit dem Französischen R.M.I. / Revenu minimum d’insertion vergleichbar)
préfet
‚proviseur‘ (bedeutet in Frankreich: ‚haut fonctionnaire placé à la tête d’un département ou d’une région‘
subsidier
‚subventionner‘
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5.3.4 Sprachbewertung Estimez-vous parfois qu’une ajoute est souhaitable? Vous arrive-t-il de faire des coureries, de tirer votre plan, de parler d'une femme en position, d’un repas qui vous a bien goûté? Suspendez-vous votre manteau par la liche ou la lichette?36 Si oui, vous êtes victime, à votre insu peut-être, d’un mal qui touche la plupart des Belges: votre français est marqué de belgicismes. Faites-leur désormais la chasse! (Hanse/Doppagne/Bourgeois-Gielen 1971, Klappentext)
Diese Textstelle stammt aus dem Klappentext von La chasse aux belgicismes (1971), einem schmalen Band, mit Hilfe dessen sich die Belgier von der „Krankheit“ Belgizismus heilen sollten. Die medizinische Metaphorik ist sprechend, und die Verkaufszahlen – 34.000 Exemplare in den ersten zwei Jahren nach dem Erscheinen – zeigen, dass das Werk auf fruchtbaren Boden gefallen ist und die Selbsteinschätzung vieler Sprecher widerspiegelte. In der Tat gilt Belgien traditionell als Musterbeispiel für die sprachlichen Minderwertigkeitskomplexe von Sprechern in peripheren Gebieten der Frankophonie, und alle soziolinguistischen Untersuchungen, die in der Zeit zwischen 1980 und den frühen 1990er Jahren im französischsprachigen Belgien durchgeführt wurden,37 haben dies im Wesentlichen bestätigt: Auch wenn die Sprecher ihre eigenen Sprachformen nicht völlig abwerten, so sind sie doch bereit, sich in sprachlicher Hinsicht Frankreich unterzuordnen. Dass diese ursprünglich natürlich durch eine zu starke Orientierung an Frankreich bzw. Paris verursachte Selbstabwertung nicht von Anfang an durch Kompensationsstrategien gemildert, sondern vielmehr durch eine lange, eigene Tradition des sprachlichen Purismus – mit einer besonders hohen Dichte an Antibarbari – perpetuiert wurde, hängt vielleicht mit der spezifischen Situation der Frankophonie in Belgien zusammen: [...] à aucun moment, la communauté des francophones de Belgique ne s’est sentie menacée dans sa langue, tant de ce point de vue la lutte était inégale entre le néerlandais – à faible ancrage international et longtemps concurrencé en Flandre même par les dialectes locaux – et le français, partagé avec une large communauté internationale et plus particulièrement avec le grand voisin français.
|| 36 faire des coureries ‚avoir à faire des démarches, à se déplacer‘; tirer son plan ‚se débrouiller, se tirer d’affaire‘; être en position ‚être enceinte‘; liche, lichette ‚petit cordon servant à suspendre les vêtements‘. 37 Eine Analyse dieser Studien findet sich in Pöll (2005, 224–230).
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Cette quiétude linguistique s’est payée par un déficit identitaire aujourd’hui encore très présent. À la différence des Québécois qui ont fait du français un des moteurs de leur destin collectif, les francophones de Belgique n’ont pas été contraints, pour leur survie, de se forger une identité positive, c’est-à-dire de se reconnaître dans une culture, dans une histoire, dans une écriture et dans une parole qui leur appartiennent vraiment. (Francard 1993a, 67)
Hinzu kommt noch, dass den Belgiern die kulturelle und sprachliche Ausrichtung am grand voisin français, die sich in der Geschichte Belgiens auch in Anschlusswünschen geäußert hat, von französischer Seite nicht gedankt wird. Man denke nur an die kollektiven Zerrbilder vom langsamen, Pommes frites-essenden Belgier, der in jedem Satz une fois und allez sagt (Belgier-Witze, fr. histoires belges) und im kollektiven Unbewussten der Franzosen jene Funktion einnimmt, die die Ostfriesen für Deutsche und die Burgenländer für Österreicher haben. Was die Kulturproduktion belgischer Provenienz betrifft, wird sie von Frankreich ganz selbstverständlich als „französisch“ etikettiert, sobald sie international beachtet wird. Hätten nicht manche großen belgischen Autoren französischer Zunge niederländische Namen, bliebe ihre Herkunft völlig im Dunkeln. Auf der anderen Seite gibt es in Belgien aber auch die Tendenz, die sprachliche Anpassung nicht zu weit zu treiben: Wer sich zu sehr von den regionalen und lokalen sprachlichen Gepflogenheiten entfernt – und z. B. septante und nonante durch soixante-dix und quatre-vingt-dix ersetzt – muss damit rechnen, als fransquillon bezeichnet zu werden. Was die Stigmatisierung des eigenen Sprachgebrauchs betrifft, scheint sich in der jüngeren Vergangenheit der Trend hin zu einer vorsichtigen Valorisierung abzuzeichnen; in einem 1994 erschienenen Belgizismenwörterbuch, bei dem auch zwei der Autoren der Chasse aux Belgicismes mitgearbeitet haben, heißt es im Klappentext, dass das darin beschriebene Material „exprime, au-delà des réalités et des sentiments présents, le goût du passé, le bonheur de l’enfance, les souvenirs d’étudiants, le plaisir des mots oubliés et retrouvés ...“ (Bal et al. 1994, Klappentext). Zu diesen nun augenscheinlich mit einer bestimmten Form von Prestige38 ausgestatteten Wörtern und Ausdrücken gehören 92 der 101 noch 23 Jahre zuvor unbedingt zu vermeidenden … Allerdings muss eine solche, „von oben“ kommende Aufwertung Einzug in das Bewusstsein der Sprecher finden. Diesbezüglich darf man vorsichtig optimistisch sein: In ihrer Studie Les Belges et la norme haben Moreau et al. (1999) gezeigt, dass belgische Französischsprecher global zwar nach wie vor unkorrekt mit belgisch (und
|| 38 Es handelt sich um das sog. verdeckte Prestige (fr. prestige latent), das im Unterschied zum offenen Prestige (fr. prestige ouvert oder apparent) nicht von Parametern wie Bildungsgrad, gesellschaftlicher Status, Intelligenz, Handlungsautonomie etc. abgeleitet wird, sondern mit Werten wie Solidarität, Gruppenzugehörigkeit, menschliche Wärme, Heimatverbundenheit usw. verknüpft ist.
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umgekehrt) assoziieren, aber nicht alle Belgizismen39 stigmatisieren: Jene Wörter und Ausdrücke, die auch von den Bildungsschichten verwendet werden, verfügen über Prestige. Dazu gehören z. B. athénée ‚lycée‘, année académique ‚année universitaire‘, jobiste ‚personne, surtout étudiant, exerçant un petit boulot‘, accises ‚impôts sur certains produits de consommation, par ex. l’alcool‘, rhétorique ‚classe terminale de l’enseignement secondaire‘. Die sozio-kulturellen Eliten sind die Trägerschicht einer klar als belgisch erkennbaren Prestigevarietät, die mittelfristig dazu beitragen kann, eine von Minderwertigkeitskomplexen gekennzeichnete Sprachsituation zu entspannen. Aus dem klassischen Szenario (Moreau et al. 1999, 29s.) langue incorrecte = langue des Belges = langue populaire langue de prestige = langue des Français könnten sich „normalere“ Verhältnisse hinsichtlich der Bewertung der belgischen und hexagonalen Varietäten bzw. Sprachformen entwickeln: langue stigmatisée = langue populaire (belge ou française) langue de prestige = langue de la bourgeoisie culturelle (belge ou française) Hier würden der Hierarchisierung der Varietäten nur mehr sprecherbezogene soziale Kriterien zugrunde liegen; die Diatopik sollte keine Rolle mehr spielen. Was die Bewertung der Aussprachemerkmale angeht, ist die Situation jedoch weniger klar: Einige der weiter oben genannten sind deutlich stigmatisiert, wie etwa die Entsonorisierung der Frikative im Auslaut, und ihre Verbreitung ist je nach Region, Bildungsgrad und Alter der Sprecher verschieden. Eine klar definierbare spezifisch belgische Prestigeaussprache existiert nicht (cf. Francard 2010, 120). Dennoch werden auch die stigmatisierten Merkmale nicht systematisch von den Sprechern vermieden, auch nicht in sehr formellen Situationen. Wie im Falle der Suisse romande zeigt sich, dass bei Fernsehsprechern und -moderatoren belgische und hexagonal-französische Merkmale gleichermaßen vorkommen (cf. Pooley 2012), wobei Geschlecht und Alter eine Rolle spielen. Gesamthaft lässt sich feststellen, dass die Dichte an typisch belgischen Aussprachemerkmalen nicht extrem hoch ist; auf jeden Fall gilt aber nicht mehr, dass den soziokulturellen Eliten angehörende Sprecher um jeden Preis versuchen, alle belgischen Aussprachemerkmale zu vermeiden (cf. Hambye/Simon/Wilmet 2010, 205).
|| 39 Die Autorinnen verwenden übrigens wegen der negativen Konnotation von belgicisme den Begriff belgisme.
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Arbeitsaufgaben: 1. Lesen Sie die Komödie Dormez! Je le veux von Georges Feydeau; mit welchen Merkmalen wird dort der belgische Diener Eloi sprachlich charakterisiert? 2. Wer sind die bekanntesten belgischen Autoren französischer Sprache? 3. Ein nur in Belgien dokumentiertes Phänomen der französischen Tempusverwendung ist das sog. imparfait préludique. Konsultieren Sie Le Bon Usage von Grevisse/Goosse (1993), um sich darüber zu informieren!
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5.4 Luxemburg 5.4.1 Demographisches, Sprachenrecht, Domänen des Französischen Das Großherzugtum Luxemburg (fr. Grand-Duché de Luxembourg) mit seinen nur 2.586 km2 liegt im Dreiländereck Belgien, Deutschland und Frankreich und ist offiziell dreisprachig. Seit Inkrafttreten des Sprachengesetzes von 1984 ist Luxemburgisch/Lëtzebuergesch (eine Koiné auf der Basis verschiedener moselfränkischer Dialekte) die Nationalsprache. Als Amtssprachen sind das Französische, das Deutsche und das Lëtzebuergesche anerkannt. Sowohl das Französische als auch das Lëtzebuergesche genießen einen speziellen Status: Während Französisch die alleinige Sprache der Gesetzgebung ist, kommt die besondere Stellung des Lëtzebuergeschen dadurch zum Ausdruck, dass Einbürgerungswillige in ausreichendem Umfang eine der drei Amtssprachen beherrschen, auf jeden Fall aber Kenntnisse der Nationalsprache nachweisen müssen. Abb. 8: Luxemburg
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Von den rund 576.000 Bewohnern Luxemburgs sind etwa 307.000 autochthone Luxemburger, die allesamt Lëtzebuergesch als Muttersprache sprechen. Etwa 47 % der Gesamtbevölkerung sind Ausländer. Einen auffallend hohen Anteil haben darunter – abgesehen von den Franzosen (ca. 7 %) – die Italiener (ca. 3,5 %) und die seit den 1970er Jahren massiv zuwandernden Portugiesen (etwa 16 % der Gesamtbevölkerung),40 daneben pendeln täglich viele Arbeitskräfte aus den Nachbarstaaten Frankreich, Deutschland und Belgien ein. Die ausländischen Bevölkerungsanteile konzentrieren sich besonders in der Hauptstadt Luxemburg (cf. Stoll 1997). Deutsch und in noch bedeutenderem Ausmaß Französisch sind für die Luxemburger wichtige Zweitsprachen; bei der Alphabetisierung, die auf Deutsch erfolgt, fungiert das Lëtzebuergesche als Hilfssprache. Es wird dann (seit 1912) als eigenes Fach unterrichtet, dient aber offiziell nicht als Vehikel für die anderen Fächer. Das Französische wird im 2. Jahr der Grundschule (6 Jahre) eingeführt; Deutsch bleibt jedoch das Vehikel der Sachfächer. Ab der Sekundarstufe wird dann Französisch als Unterrichtssprache immer bedeutender. Mit diesen Regelungen hängt es zusammen, dass die Französischkompetenz der autochthonen Luxemburger vom Bildungsgrad abhängt (cf. Hoffmann 1988, 1335). Obwohl das Französische großes Prestige genießt, ist es nur in wenigen Domänen völlig unangefochten. Die Sprachenlage ist von einer medialen Diglossie gekennzeichnet: Das Lëtzebuergesche ist fast ausschließlich gesprochene Sprache und die natürliche und prinzipiell in allen Situationen verwendbare Alltagssprache der Luxemburger; den Bereich der Schriftlichkeit teilen sich das Französische und das Deutsche. In der privaten schriftlichen Kommunikation nimmt das Deutsche eine wichtige Position ein, während im öffentlichen Raum das Französische als geschriebene Sprache (Verwaltung, Wirtschaft) klar vorherrscht (cf. Goudaillier 1994, 13). Die Sprachenwahl ist dabei grundsätzlich funktional motiviert, d. h. es wird jene Sprache verwendet, die am leichtesten die Kommunikation ermöglicht (cf. Fröhlich 1996, 472). Was den mündlichen Gebrauch angeht, so kann es erstaunliche punktuelle Sprachwechselphänomene geben, z. B. wenn das Betreten eines Restaurants zu einem Wechsel hin zum Französischen führt, und dies nicht nur in der Kommunikation mit dem Restaurantpersonal, sondern auch zwischen den das Restaurant besuchenden Gästen. In den Medien sind alle drei Sprachen in unterschiedlichem Ausmaß präsent. Im öffentlichen Radio und Fernsehen dominieren das Deutsche bzw. das Lëtzebuergesche, daneben konsumieren die Luxemburger aber auch deutsches (öffentliches und privates) sowie französisches Fernsehen. In der für ein so kleines Land sehr reichen Printmedienlandschaft kommen ebenfalls alle drei Sprachen vor, wobei das Lëtzebuergesche insbesondere in tendenziell nähesprachlichen Textsorten (Ankün-
|| 40 Quelle: http://www.statistiques.public.lu (Stand der Daten: 2016).
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digungen, Leserbriefe, Annoncen) präsent ist (cf. Weber 1994, 150s.; Fröhlich 1996, 472). Theaterproduktion existiert in allen drei Sprachen. In der Kirche dominierte lange Zeit hindurch das Deutsche, in jüngster Zeit wird es stark durch das Lëtzebuergesche konkurrenziert (cf. Goudaillier 1994, 15), während das Französische – z. B. als Sprache der Messe – praktisch nur in der Hauptstadt Bedeutung hat. Im Militär schließlich ist das Französische Kommandosprache, nicht jedoch Sprache der Ausbildung – hier fungiert das Lëtzebuergesche als Umgangssprache. In der jüngeren Vergangenheit lässt sich eine Ausweitung des gesprochenen Französischen auf Domänen feststellen, die traditionell dem Lëtzebuergeschen vorbehalten waren; für die überwiegende Mehrheit der romanischsprachigen Ausländer (Italiener, Portugiesen), insbesondere wenn es sich um Tagespendler handelt (Franzosen, Belgier) ist es einfacher, sich im Umgang mit den Luxemburgern des Französischen zu bedienen. Dadurch entstehen – beginnend in der Schule – vermehrt Anlässe, das Französische in der informellen Alltagskommunikation zu verwenden (cf. Timm 2014, 32). Goudaillier (1994, 15) berichtet in diesem Zusammenhang von dem Phänomen, dass ältere Luxemburger, die sich im Französischen nicht sicher fühlen, es z. B. meiden, in manchen Geschäften anzurufen oder Besorgungen zu machen, weil sie dabei unweigerlich mit dem Französischen in Kontakt kommen würden.
5.4.2 Zur Geschichte der heutigen Sprachenlage Bis nach der fränkischen Landnahme teilt Luxemburg seine Geschichte mit jener Belgiens (cf. Kapitel 5.3.2). Im Vertrag von Verdun (843) fiel Luxemburg ans Mittelreich, kam aber schon 925 zum Ostreich. In dieser Zeit dürfte sich auch die germanisch-romanische Sprachgrenze in diesem Gebiet endgültig herausgebildet haben. Das heutige Territorium Luxemburgs liegt – von ganz kleinen Gebieten im Westen abgesehen (cf. Abb. 8) – in der Germania. 963 wurde Luxemburg aktenkundig: Der Ardennengraf Siegfried erwarb ein ehemaliges Römerkastell (Lucilinburhuc > Lützelburg ‚kleine Burg‘ > Luxemburg). Mit dem Aussterben der Dynastie (1136) ging Luxemburg an das Haus Namur (1138), das das Herrschaftsgebiet nach Osten hin (Wallonien) ausdehnte. In die Herrschaftszeit des Hauses Namur fällt die administrative Trennung (1340) in ein französischsprachiges Gebiet im Westen (fr. quartier wallon) und ein deutschsprachiges im Osten (fr. quartier allemand). Nach der Machtübernahme durch das Haus Burgund (1443, Philipp der Gute) wurde aus dem zweisprachigen Land offiziell ein einsprachig französisches, ohne dass der zweisprachige Charakter verloren gegangen wäre, da das Deutsche vielfach innere Amtssprache bleiben konnte (cf. Hoffmann 1988, 1338). Nach dem Ende der Burgunderherrschaft (1506) herrschten von 1506 bis 1684 die Spanier, von 1684 bis 1697 die Franzosen, von 1697 bis 1714 erneut die
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Spanier, von 1714 bis 1795 die Österreicher und von 1795 bis 1814 wieder die Franzosen in dem in das damals bestehende Département des Forêts eingegliederten Gebiet. Im Jahre 1659 (Pyrenäenfrieden) kam es zur Abtretung der südlichen Landesteile an Frankreich. Durch den Wiener Kongress (1815) wurde Luxemburg zum Großherzogtum erhoben und ein eigener Staat im persönlichen Besitz des Niederländischen Königs (Wilhelm I.), der das Land allerdings als niederländische Provinz verwaltete. Er förderte das Französische im Zuge seiner Abgrenzungsbemühungen gegenüber Preußen (cf. Hoffmann 1988, 1338). Im Anschluss an die Belgische Revolution (1830) wurde auch Luxemburg souverän (1839), der Westteil – das quartier wallon (i. e. die heutige belgische Provinz Luxemburg) – ging allerdings an Belgien. In der Zeit nach der Unabhängigkeit waren Französisch und Deutsch gleichberechtigt; der zweisprachige Charakter des – historisch gesehen – zur Germania gehörenden Landes wurde in der Verfassung von 1848 verankert (Deutsch und Französisch als Amtssprachen). Im Londoner Vertrag von 1867 wurde Luxemburg für neutral erklärt; die Gefahr, durch den sich abzeichnenden deutsch-französischen Konflikt die Eigenstaatlichkeit zu verlieren, war gebannt. Im Ersten Weltkrieg wurde das Land aber von deutschen Truppen besetzt und erst 1918 wieder befreit. Im Jahre 1939 feierte Luxemburg sein 100jähriges Bestehen und manifestierte damit angesichts der Bedrohung durch Hitler-Deutschland seine Eigenständigkeit. Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituierende nationalstaatliche Identität, die in dem 1867 geprägten Slogan „Mir wëlle bleiwe, wat mer sin“ ihren Ausdruck findet (cf. Hoffmann 1979, 8s.; Berg 1993) und eng mit dem Entstehen eines Eigensprachlichkeitsbewusstseins verbunden ist, wurde erneut beschworen – allerdings ohne Erfolg. Im Mai 1940 marschierten deutsche Truppen ein: Das Deutsche wurde als einzige Sprache vorgeschrieben, nicht-deutsche Namen mussten umgewandelt werden, und das Französische wurde gänzlich aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die nationalsozialistische Unterdrückung konnte jedoch nicht verhindern, dass sich die Mehrheit der Luxemburger in einer 1941 durchgeführten Volkszählung überwiegend als „nicht deutschsprachig“ deklarierte. Die Erinnerung an die deutsche Okkupation trug nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zum Prestigeverlust des Standarddeutschen bei. Zu einer Neuregelung der Sprachenfrage kam es erst 1984 (s. o.); die im entsprechenden Gesetz geschaffenen Bestimmungen stehen „eindeutig in der Tradition der Abwehrmaßnahmen gegen Versuche, das Land ungefragt der Germania, genauer Deutschland, oder der Romania, genauer der Frankophonie, zuzuteilen“ (Fröhlich 1996, 474). Die durch das neue Sprachengesetz vorgesehene Statusaufwertung des Lëtzebuergeschen könnte allerdings problematisch werden, da es für die potentiellen Anwendungsbereiche nicht ausreichend standardisiert ist.
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5.4.3 Erscheinungsformen des Französischen Die von den Luxemburgern anvisierte Zielnorm ist das hexagonale Standardfranzösisch; in der Kontaktsituation mit Lëtzebuergesch und Deutsch ist es jedoch nicht verwunderlich, dass Interferenzphänomene auftreten. Die folgenden Merkmale sind sporadisch, d. h. abhängig von Alter, Häufigkeit des Gebrauchs des Französischen und vor allem Bildungsgrad, zu beobachten (cf. Doppagne 1976; Goudaillier 1996; Fröhlich 1996; Krier 1981; Kramer 1992), ohne dass es sich dabei aber um reine interferenzielle Zufallsprodukte handeln würde: - Sonorisierung von satzphonetisch intervokalisch gewordenen stimmlosen Okklusiven: z. B. avec un couteau [avɛgɛ͂ kuto] - Auslautverhärtung: village [vilaʃ], Madrid [madʁit] - Öffnung des /ɛ/, insbesondere vor einem (leicht velarisierten) [l]: nouvelle [nuvæl̴] - Aspiration von stimmlosen Okklusiven: parler [phaʁle], théâtre [theatʁ] - Außerkraftsetzung der loi des trois consonnes; dadurch entstehen aus der Sicht der hexagonalen Norm problematische Konsonantencluster (pour quatre semaines: [katʁsmɛn] statt [katʁəsmɛn] bzw. – in ungezwungenerer Aussprache – [katsmɛn]. Im Lexikon sind – wenig verwunderlich – Statalismen (z. B. im Bereich des Bildungswesens: examen de fin d’études secondaires ‚baccalauréat‘, éducation précoce ‚éducation préscolaire pour les enfants de 3 à 4 ans‘, autorisation à diriger des recherches ‚habilitation à diriger des recherches‘) sowie Germanismen (z. B. absolver ‚achever, terminer‘ < dt. absolvieren; académicien ‚diplômé d’université‘ < dt. Akademiker; athéiste ‚athée‘ < dt. Atheist; avoir libre ‚avoir congé‘ < dt. frei haben) und Belgizismen zu verzeichnen, was angesichts eines langen und sehr engen Nebeneinanders nicht überrascht: carte-vue ‚carte postale‘, vidange ‚bouteille consignée, consigne‘, farde ‚chemise (d’un dossier)‘, athénée ‚lycée‘, salade de blé ‚doucette‘, tapis plain ‚moquette‘ etc. Hinsichtlich der Grammatik fällt der Einfluss des Deutschen (bzw. Lëtzebuergeschen) auf; die folgenden Beispiele stammen aus journalistischen Texten (cf. Bender-Berland 2000): (1) Le promoteur respectivement l’architecte sont dès le départ obligés de ... (Das Adverb respectivement hat hier die im Französischen nicht existierende Bedeutung von dt. oder.) (2) Tandis que l’enquête à l’encontre de deux conservateurs qui ont mis cette affaire sur la place publique se poursuit ... (stilistisch auffällige, vom deutschen beinflusste Wortstellung) (3) Je n’ai pas honte de l’affirmer par peur qu’une perle tombe de ma couronne. (wörtliche Übersetzung bzw. Adaptierung der deutschen idiomatischen Wendung jemandem fällt keine Perle aus der Krone)
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(4) La menace fut claire et elle était plusieurs fois répétée […] au cours de la journée. (inadäquate Tempuswahl: Es müsste ein Tempus mit perfektivem Aspekt (fut, a été) gewählt werden.) Arbeitsaufgaben: 1. Lesen Sie den Text des Sprachengesetzes von 1984. Welche Verwendungsbereiche sind ausschließlich dem Französischen vorbehalten? (Text u. a. in Dahmen et al. 1992, 164) 2. Informieren Sie sich in einem guten einsprachigen Wörterbuch (z. B. Petit Robert) darüber, wie man im Französischen respectivement verwendet. 3. Welche Wortstellung würde ein sprachgewandter Muttersprachler des Französischen in Satz (2) oben bevorzugen?
6 Die amerikanische Frankophonie 6.1 Von der Entdeckung zur Kolonisierung Das Eintreten des amerikanischen Kontinents in den französischen Gesichtskreis ist in erster Linie mit zwei Persönlichkeiten verbunden: Giovanni di Verrazzano (~1485–1528) und Jacques Cartier (1494–1554). Der florentinische Seefahrer war im Auftrag von François I. (Regierungszeit 1515–1547) auf die Suche nach einer Alternative zu der von Magellan entdeckten Route nach Asien gegangen; mit demselben Ziel segelte Cartier zweimal – 1534 und 1535/1536 – nach Westen: Bei seiner zweiten Reise drang er in die Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms ein und nahm für Frankreich von dem Land Besitz. Die Entdeckungsfahrten sowohl Verrazzanos als auch Cartiers blieben allerdings für Frankreich zunächst von geringer Bedeutung, da die gesuchte Passage nach Indien nicht entdeckt wurde und auch die Hoffnungen der Krone auf Reichtümer (Gold, Diamanten) kläglich enttäuscht wurden. Obwohl der König eine weitere Exploration förderte, blieben Franzosen auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Region präsent. Sie waren vor allem Fischer, die von den reichen Fischbänken vor der Küste angezogen wurden. Als weiterer Erwerbszweig tat sich ab 1550 allmählich der Pelzhandel auf. Eine wirkliche Kolonisierung der Nouvelle-France – mit dauerhafter Präsenz von Siedlern – erfolgte allerdings nicht vor dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Davor waren die diesbezüglichen Versuche wegen schlechter Planung und dem fehlenden Know-how gescheitert. Es war nicht gelungen, im Land selbst die für ein länger andauerndes Verweilen notwendige Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern, und auch die Härte des Klimas wurde vielfach unterschätzt. Hinzu kam der Widerstand der Ureinwohner, die sich den Vorstellungen und Plänen der Europäer nicht so einfach fügen wollten (cf. Mathieu 1991, 43s.).
Die Originalversion dieses Kapitels wurde revidiert. Seite 93 wurde korrigiert. Ein Erratum ist verfügbar unter: DOI 10.1515/97878311053346-012 DOI 10.1515/97878311053346-006
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Abb. 9: Kanada
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6.2 Québec 6.2.1 Geschichte, Demographisches, Sprachenrecht Zur dauerhaften Besiedlung des Gebiets der heutigen Provinz Québec kam es erst nach der Gründung der gleichnamigen Stadt durch Samuel de Champlain im Jahre 1608. Das neue Interesse der französischen Krone an dem Territorium erwuchs direkt aus der Bedeutung des Pelzhandels und der Fischerei. Der Gründung von Québec folgten 1634 Trois-Rivières und 1642 Montréal. Zwischen diesen drei Städten am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms erfolgte anfänglich die Besiedelung. Die Verwaltung der Kolonie wurde vom König zunächst an verschiedene sog. compagnies übergeben, die in einem feudalartigen System Grund und Boden an Kolonisten weitergaben. Die Kolonie erfreute sich allerdings nur eines geringen Zustroms aus dem Mutterland. Die Nouvelle-France oder Canada – wie das Gebiet ab dem 17. Jahrhundert auch genannt wurde – galt nicht als günstiges Auswanderungsland und wurde im Unterschied zu den englischen Kolonien wegen der starken Präsenz der katholischen Kirche (Jesuiten) auch kein Hoffnungsgebiet für die Protestanten. Erst ab 1663, als die Verwaltung wieder vom Mutterland selbst übernommen wurde, nahm der Zuzug aufgrund verschiedener Maßnahmen zu: - Wegen der Bedrohung durch die Irokesen wurden Anfang der 1660er Jahre rund 1.000 Soldaten in die Kolonie geschickt, von denen etwa die Hälfte als Kolonisten im Land blieb. - Zwischen 1663 und 1673 schickte der König rund 800 Waisenmädchen (sog. filles du Roi) nach Kanada, um den Überhang an männlichen Bewohnern auszugleichen. - Der Zugang zu verschiedenen Handwerken wurde erleichtert. Insgesamt verließen zwischen dem Anfang des 17. Jahrhunderts und der Machtübernahme durch die Engländer (1760) etwa 10.000 Franzosen ihr Heimatland, um sich in Kanada anzusiedeln. Eine nicht nur für damalige Verhältnisse enorme Geburtenrate führte dazu, dass die Kolonie 1760 bereits rund 70.000 Bewohner zählte. Seit ihrem Bestehen standen die französischen Besitzungen permanent unter der militärischen Bedrohung durch die Engländer. Bereits lange vor Ausbruch der Kolonialkriege (1689) war Québec bereits einmal an England gefallen (1629–1632). Aus zahlreichen militärischen Konflikten mit den Engländern zwischen 1689 und 1759 gingen letztere schließlich als Sieger hervor. Die Bataille des Plaines d’Abraham (1759, nahe der Stadt Québec), die Kapitulation und der Frieden von Paris (1763) besiegelten den Verlust aller französischen Besitzungen in Nordamerika. Das Ende des Régime français hatte unmittelbare Folgen für die Gesellschaftsstruktur: Die Armee und die französische Oberschicht kehrten ins Mutterland zurück, die verbliebenen Geschäftsleute sahen sich meist ruiniert. Das wirtschaftliche
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und politische Vakuum wurde sofort von Anglophonen gefüllt, die sich in den Städten konzentrierten (cf. Dulong 1973, 413). Wie sehr sich die gesellschaftliche Lage der Frankophonen veränderte, zeigt eindringlich der folgende vielzitierte Textausschnitt aus dem Werk eines der berühmtesten Amerika-Reisenden des 19. Jahrhunderts, des französischen Historikers Alexis de Tocqueville (1805–1859). Er beschrieb die Lage im Jahre 1831 so: Les villes, et en particulier Montréal (nous n’avons pas encore vu Québec) ont une ressemblance frappante avec nos villes de province. Le fond de la population et l’immense majorité sont partout français. Mais il est facile de voir que les Français sont le peuple vaincu. Les classes riches appartiennent pour la plupart à la race anglaise. Bien que le français soit la langue presque universellement parlée, la plupart des journaux, les affiches, et jusqu’aux enseignes des marchands français sont en anglais! Les entreprises commerciales sont presque toutes en leur mains. C’est véritablement la classe dirigeante du Canada. (Voyage en Amérique; Tocqueville 1991, 202)
Dass die zahlenmäßig schwachen Frankophonen nicht völlig von der anglophonen Übermacht aufgesogen wurden und heute rund 6 Millionen Frankophone in Québec leben, ist dem enormen Bevölkerungszuwachs durch eine hohe Geburtenrate zu verdanken (sog. revanche des berceaux): 1851 lag die Zahl der Frankophonen bereits bei 670.000, was annähernd eine Verzehnfachung innerhalb von 80 Jahren darstellt; bis 1901 verdoppelte sie sich fast wieder (1,3 Millionen), und im Jahre 1961 waren es bereits mehr als 4 Millionen (cf. Dulong 1973, 419). Zunächst waren die verbliebenen Frankophonen sprachlich noch nicht unterdrückt, obwohl Assimilationsabsichten unverkennbar existierten. 1791 wurde das aus zwei Provinzen bestehende Dominion of Canada geschaffen, wobei die Provinz Bas Canada im Wesentlichen dem heutigen Québec entsprach. Sprache des öffentlichen Gebrauchs (Parlament) war dort – sehr zum Missfallen der Frankophonen, die 90 % der Bevölkerung ausmachten – Englisch. Um die frankophone Bevölkerung zu minorisieren, wurden 1840 die beiden Provinzen vereinigt (Union Act; fr. Acte de l’Union); zur alleinigen Amtsprache wurde Englisch erklärt, eine Bestimmung, die allerdings 1848 wieder zugunsten der Zweisprachigkeit zurückgenommen werden musste. Im Jahre 1867 entstand dann der kanadische Staat in seiner modernen bundesstaatlichen Form, und der Constitution Act schrieb die Zweisprachigkeit fort. Englisch und Französisch waren im Bundesparlament und im Parlament der Provinz Québec gleichberechtigt. Weitergehende Sprachenregelungen sah das Gesetz nicht vor, allerdings gingen für zukünftige Regelungen bedeutsame Kompetenzen (Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Schulwesen etc.) an die Provinzen über. Bis in die 1960er Jahre ergaben sich kaum Statusverbesserungen für die französische Sprache, abgesehen von kleineren Konzessionen: 1910 Einführung von u. a. zweisprachigen Fahrkarten in Québec (Loi Lavergne), 1935 zweisprachige Bank-
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noten (auf Bundesebene), 1945 zweisprachige chèques d'allocation familiale (nur in Québec, ab 1962 auf Bundesebene). Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts bekam die ethnopolitische und sprachliche Lage in Kanada eine neue Dynamik. Den Frankophonen wurde in stärkerem Ausmaß bewusst, dass sie von einer anglophonen Mehrheit dominiert oder – noch schärfer formuliert – kolonisiert wurden.41 In der Tat hatten Frankophone ein deutlich niedrigeres Bildungsniveau (cf. Corbeil 1976, 16), sie bekleideten die schlechteren Arbeitsplätze und benötigten zum sozialen Aufstieg Englisch-Kenntnisse, während umgekehrt Französisch-Kenntnisse für Anglophone nicht notwendig waren. Durch Industrialisierung und Landflucht42 war ein städtisches Arbeiterproletariat entstanden, das im Dienste der englischen Industrie stand und sprachlich in eine erdrückende Diglossiesituation geraten war: Le drame des travailleurs francophones québécois, c’est que d’une façon générale leur langue de travail n’est pas le français mais l'anglais. En pratique, cela signifie qu’en arrivant à son travail, le travailleur francophone doit laisser sa langue maternelle, le français, au vestiaire. Le vocabulaire technique qu’il emploie à son travail est anglais. Le travail, au lieu d’enrichir la langue maternelle du travailleur, contribue ainsi à l’appauvrir de telle sorte que des secteurs complets du vocabulaire français ne lui seront jamais connus. L’anglais étant la langue de travail, le travailleur sera aussi amené à faire certaines lectures ou à suivre certains cours de perfectionnement en anglais. Dans le domaine du travail où le français n’est pas utile, le travailleur francophone du Québec se trouve ainsi placé, dans sa propre province, sur le même pied qu’un immigrant qui ignorerait totalement le français et qui a opté pour l’anglais et pour lui et pour ses enfants. (Dulong 1973, 420)
Zu Beginn der 1960er Jahre änderten sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse; unter der liberalen Regierung von Jean Lesage kommt es innerhalb weniger Jahre zu einer umfassenden, aber gewaltlosen Umstrukturierung der Gesellschaft, die deshalb auch als Révolution tranquille bezeichnet wird: Bei zunehmender Bedeutung des tertiären Sektors kam die wirtschaftliche Macht z. T. wieder in die Hände der Frankophonen, ein moderner Sozialstaat wurde entwickelt (Sozialversicherung etc.), Umweltschutz wurde zum politischen Thema, die Dominanz der Kirche im Bildungswesen gebrochen und die demokratischen Strukturen wurden modernisiert. Parallel dazu vollzog sich aber auch eine mentalitätsmäßige Entwicklung: Die im Entstehen begriffene gebildete französischsprachige Mittelschicht begann, ihre Situation zu verbalisieren, und es entstanden erste Ansätze eines Nationalismus-
|| 41 Eine noch extremere Sichtweise kommt z. B. in dem vielbeachteten Werk Nègres blancs d’Amérique (1968) von Pierre Vallières zum Ausdruck. Der Autor war einer der führenden Köpfe der militanten Quebecker Separatistenbewegung der 1960er Jahre. 42 1880 lebten ca. 80 % der Frankophonen auf dem Land, 1930 waren es nur mehr 37 % (cf. Laporte 1995, 209); der Trend setzte sich bis in die 1960er Jahre fort.
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Souveränismus.43 Auch die Basis der eigenen Identität wandelte sich grundlegend. Fußte die traditionelle „franko-kanadische“ Identität auf der Trias religion – „race“ – langue, bildete nun die enge Verbindung zwischen Sprache (Französisch) und Territorium (Québec) das neue Fundament für eine Identität als „québécois“. Die Frage, wie man das Französische, das im Zuge der gesellschaftlichen Wandelprozesse der Révolution tranquille symbolisch neu aufgeladen wurde, wieder zu einer vollwertigen, d. h. in allen Domänen verwendbaren und zu verwendenden Sprache machen könnte, prägte die gesellschaftspolitische Diskussion der 1960er und 1970er Jahre (cf. insbesondere Labrie 1992). Der kanadische Bundesstaat – besonders unter der Führung von Pierre Eliott Trudeau – setzte in dieser Frage dezidiert auf den Ausbau der Zweisprachigkeit (cf. dazu auch Vollmer 1992). Auf die Benachteiligungen des frankophonen Bevölkerungsanteils, die die im Jahre 1963 eingesetzte Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism aufgezeigt hatte, reagierte die kanadische Bundesregierung mit der Loi sur les langues officielles (1969), die die Zweisprachigkeit auf alle Ebenen der Verwaltung ausdehnte. Die Provinz Québec ging in den 1970er Jahren dann aber einen anderen Weg: Schrittweise wurde versucht, in Québec die territoriale französische Einsprachigkeit durchzusetzen (Territorialitätsprinzip). Zur Virulenz der Sprachenfrage trugen in den 1960er Jahren vor allem zwei Faktoren bei: 1. Der zahlenmäßige Rückgang der Frankophonen, verursacht durch Assimilation, vor allem auch von Zuwanderern, an die englische Sprache und Kultur sowie durch eine Abnahme der Geburtenrate (cf. Bourhis/Lepicq 1993, 349), und – eng damit verbunden –, 2. die Schulsprachen-Frage. Für Einwanderer kam es in der Regel nicht in Frage, sich an die französische Kultur zu assimilieren. Englisch zu lernen, ihre Kinder in englischsprachige Schulen zu schicken, war für sie die einzige Option und wurde als die Voraussetzung für den sozialen Aufstieg angesehen. Der frankophonen Bevölkerungsgruppe kam durch diesen Trend die notwendige demographische Erneuerung abhanden, während andererseits die Zahl der Anglophonen dadurch wuchs. Zudem wurde das öffentliche englischsprachige Schulwesen mehrheitlich mit Steuergeldern der Frankophonen finanziert – was vielen verständlicherweise ein Dorn im Auge war. Im Jahre 1969 kam es in Montréal deshalb zu so heftigen Auseinandersetzungen mit der italienischen Gemeinde, dass der Ausnahmezustand ausgerufen werden musste (cf. Labrie 1992, 26s.). Die 1969 zur Lösung der Konflikte verabschiedete regionale Loi pour promouvoir la langue française au Québec machte das Französische zwar zu einem Pflichtfach in
|| 43 Diese Strömungen führten zu zwei Referenden (1980 und 1995), bei denen die Quebecker Bevölkerung darüber befragt wurde, ob die Provinzregierung Austrittsverhandlungen mit dem kanadischen Bundesstaat einleiten sollte. Bei beiden Volksabstimmungen verloren die NationalistenSouveränisten knapp.
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den Schulen, gewährte aber weiterhin die Wahlfreiheit in Bezug auf die Unterrichtssprache. Für die Anglophonen und Immigranten war das Problem damit gelöst; der frankophone Bevölkerungsanteil war allerdings höchst unzufrieden. Zu einer befriedigenderen Lösung kam es erst 1974 mit der Loi sur la langue officielle, die a) das Französische zur offiziellen Sprache in Québec (z. B. Vorrang französischer Gesetzestexte) machte, b) verfügte, dass auf öffentlichen Aushängen, Schildern etc. das Französische zu verwenden ist, c) Unternehmen, die mit der öffentlichen Hand Geschäfte machen wollen, dazu verpflichtete, Französierungsprogramme einzuleiten und d) den Zugang zu englischen Schulen von ausreichenden Sprachkenntnissen abhängig machte. Im Hinblick auf die aus der letzten Bestimmung theoretisch entstehende Situation, dass Kinder von Immigrantenfamilien in unterschiedlichen Sprachen eingeschult würden, konnte auch diese Regelung nicht als brauchbar beibehalten werden. Mit der 1977 verabschiedeten Loi 101, der sog. Charte de la langue française, wurde Québec offiziell zu einem einsprachig französischen Territorium; die Bestimmungen der Loi sur la langue officielle (1974) wurden verschärft, d. h. im Detail, dass - im öffentlichen Raum (Schilder, Plakate etc.) ausschließlich das Französische zu verwenden ist, - Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern Französierungsprogramme durchzuführen haben, um das Französische zur Arbeitssprache zu machen, - Kinder nur dann öffentliche englische Schulen besuchen dürfen, wenn zumindest einer der Elternteile bereits in Québec englisch scholarisiert worden ist (sog. „clause Québec“), - nur die französische Version von Gesetzestexten offiziellen Charakter hat. Obwohl die Charte de la langue française noch heute gültig ist, mussten im Laufe der Zeit mehrere Bestimmungen nach Verfassungsklagen abgeändert werden: 1979 wurde die Bestimmung über den alleinigen offiziellen Charakter von französischsprachigen Gesetzestexten aufgehoben (unvereinbar mit dem Prinzip der Zweisprachigkeit, wie es im föderalen Constitution Act von 1867 niedergeschrieben ist), 1984 hob der Oberste Gerichtshof von Kanada die Schulzugangsbestimmungen auf, weil sie als nicht verfassungskonform erachtet wurden,44 und 1988 erklärte der Oberste Gerichtshof von Kanada die Bestimmung zur ausschließlichen Verwendung des Französischen auf Aushängen und Beschilderungen für verfassungswidrig, da sie im Widerspruch zum Recht auf freie Meinungsäußerung stehe. Hinsichtlich der Schulzu-
|| 44 Im Jahre 1982 hatte die kanadische Bundesregierung im Zuge der Wiedererlangung der vollen Verfügungsgewalt über die kanadische Verfassung aus den Händen Großbritanniens (sog. rapatriement de la Constitution) gezielt Minderheitenschutzbestimmungen eingeführt, denen Teile der Charte nun widersprachen.
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gangs war die folgende Novellierung vorzunehmen: Gemäß einer als „clause Canada“ bezeichneten Bestimmung musste auch Kindern von Eltern, die in anderen kanadischen Provinzen ihren Primarschulunterricht auf Englisch erhalten hatten, die Möglichkeit eröffnet werden, in Québec öffentliche englischsprachige Schulen zu besuchen (cf. Reinke/Ostiguy 2016, 153–160 mit weiterführenden Erläuterungen zur Entwicklung des Sprachenrechts in Québec). Die heute gültige Version der Charte mit den durch die höchstgerichtlichen Urteile notwendig gewordenen Novellierungen ist über den Server des Office québécois de la langue française (OQLF, https://www.oqlf.gouv.qc.ca/)45 leicht zugänglich. Trotz verschiedenster Fährnisse haben die sprachplanerischen Bemühungen seit den 1970er Jahren dazu geführt, dass das Französische heute in Québec für rund 6 Mio. Sprecher – das sind mehr als 80 % der Bevölkerung der Provinz – nicht nur Muttersprache, sondern auch in allen gesellschaftlichen Domänen das unangefochtene und spontane Kommunikationsmittel ist. Diese im Globalen richtige Behauptung muss jedoch für bestimmte Kommunikationssituationen bzw. Regionen nuanciert werden. Studien haben gezeigt, dass z. B. im Kontakt zwischen Kunde und Verkäufer letztlich der Kunde über die Sprache entscheidet, d. h. dass situative Normen im Einzelfall stärker sein können als die generelle Tendenz hin zum Französischen. Abgesehen von der an Ontario angrenzenden Region Outaouais und dem Osten der Provinz (Region Estrie), lebt in Montréal, der größten Stadt in Québec, eine recht starke anglophone Minderheit, hauptsächlich im Westteil der Stadt. Das Englische scheint sich dort besonders gut behaupten zu können: malgré plus de quinze ans de législation linguistique en faveur du français, les francophones du centre-ville de Montréal convergent plus souvent vers l’anglais (87 %), langue de la minorité, que ne le font leurs homologues anglophones en faveur du français (63 %), langue majoritaire. (Lepicq/Bourhis 1994, 417)
Neuere Daten bestätigen den hohen Stellenwert, den das Englische im Wirtschafts/Geschäftsleben von Montréal genießt: So verlangten z. B. im Jahre 2009 53 % aller Quebecker Kleinunternehmen Englischkompetenzen von zukünftigen Mitarbeitern; in Montréal waren es hingegen 75 %. Und während nur 15 % der Kleinunternehmen in der Provinz Québec Mitarbeiter haben, die keine tragfähigen Französischkenntnisse haben, steigt diese Zahl in Montréal auf 29 % (cf. Leclerc 2010, 351).
|| 45 Das Office québécois de la langue française (OQLF; 1961 als Office de la langue française gegründet) ist der wichtigste sprachenpolitische Akteur der Quebecker Provinzregierung.
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6.2.2 Sprachbewertung und Normenproblematik Die abrupte Trennung vom Mutterland durch die Conquête anglaise führte Québec im 19. Jahrhundert, mentalitätsgeschichtlich betrachtet, in eine Periode des Aufsich-selbst-bezogen-Seins. Unter der intellektuellen Führung des Klerus, der de facto das Bildungsmonopol innehatte, lag das Hauptaugenmerk auf der Bewahrung der traditionellen Werte, wozu auch die überlieferte französische Sprache gehörte. Prinzipiell blieb der hexagonale Sprachgebrauch als Referenzmodell verbindlich, allerdings mit Abstrichen: Da Québec nichts von den gesellschaftlichen Umbrüchen mitgemacht hatte, die Frankreich im Zuge der Französischen Revolution erschütterten, war der frankokanadischen Elite das Mutterland und seine Kulturproduktion – vor allem wegen der Laizisierung und Liberalisierung der Gesellschaft – als Vorbild suspekt (cf. Laporte 1995, 211). Hinzu kam noch, dass aus der Perspektive Québecs, das sich der fortschreitenden Anglisierung des Französischen im Laufe des (späten) 19. Jahrhunderts immer mehr bewusst wurde, der relativ laxe Umgang der ehemaligen mère patrie mit dem Einfluss des Englischen wie ein Verrat aussah – übrigens eine Sichtweise, die auch heute noch in Québec verbreitet ist. Spätestens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde für Teile der gesellschaftlichen Eliten klar, dass das kanadische Französisch, dessen ruraler und archaischer Charakter sich nach der Abtrennung von Frankreich verstärkt hatte, nicht die Antwort auf die Gefährdung durch das Englische sein konnte. Die Ausrichtung am hexagonalen Sprachgebrauch, d. h. an der klassischen Norm des bon usage, führte zu einem Purismus, der zwei Angriffspunkte hatte: 1. Die Anglizismen, die man beinahe überall vermutete, und 2. der Entwicklungsrückstand gegenüber dem europäischen Französisch. Da weite Teile der Quebecker – trotz Entwicklung des Tonfilms und der elektronischen Medien (zunächst Radio, später auch Fernsehen) ab dem 20. Jahrhundert – mit dem europäischen Modell des Französischen nur passiv in Berührung kamen (cf. Gendron 1986, 91), führte diese Form von Purismus mit seinen Sprachchroniken, den zahlreichen Antibarbari und campagnes de bon parler in den Schulen zu einer tiefgreifenden und anhaltenden Verunsicherung der französischsprachigen Bevölkerung, ohne das Sprachverhalten wesentlich zu verändern. Die diesem Purismus zugrundeliegenden Vorstellungen vom guten Gebrauch des Französischen lassen sich sehr deutlich anhand des 1965 vom Office de la langue française herausgegebenen Cahier Norme du français écrit et parlé au Québec aufzeigen: [...] la norme qui, au Québec, doit régir le français dans l’administration, l’enseignement, les tribunaux, le culte et la presse, doit, pour l’essentiel, coïncider à peu près entièrement avec celle qui prévaut à Paris, à Genève, Bruxelles, Dakar et dans toutes les grandes villes d’expression française. (Office 1965, 6)
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Abweichungen im Bereich der Morphologie und Syntax wurden als absolut unzulässig erachtet; in der Aussprache durften sie nur minimal sein, und für das Lexikon galt das Kriterium des „double emploi“, d. h. dass ein Regionalismus nur akzeptiert wurde, wenn das Bezeichnungsbedürfnis nicht bereits durch ein anderes französisches Wort abgedeckt war. Anglizismen waren – sofern nicht unbedingt notwendig – zu vermeiden: Entlehnungen sollten „avec modération“ vorgenommen werden (cf. Office 1965, 9–12). Die Zielscheibe dieser Form von Purismus war der im Gefolge der Landflucht und Industrialisierung entstandene, von Anglizismen affizierte populäre Sprachgebrauch der unteren Schichten, das sog. joual.46 Daneben bildete die „idéologie de conservation“ (Corbeil 1976, 9) des 19. Jahrhunderts auch das Substrat für ein affirmatives Sprachbewusstsein in Bezug auf die Charakteristika des kanadischen Französisch. Während die im 19. Jahrhundert publizierten Sammlungen von Kanadianismen mehrheitlich eine klare puristische Stoßrichtung hatten, zeigte sich ab 1880 ein vorsichtig positives Sprachbewusstsein, zumindest bei einigen Grammatikern und Lexikographen, etwa im Glossaire francocanadien et vocabulaire de locutions vicieuses usitées au Canada von Oscar Dunn (1880) und deutlicher noch in Sylva Clapins (1894) Dictionnaire canadien-français, das um eine objektive Beschreibung und Aufwertung vieler Ausdrücke bemüht war, die französische Wörterbücher nicht verzeichneten (cf. Martel/Cajolet-Laganière 1996, 23s.). Für Tendenzen zu Valorisierung des Quebecker Französisch waren die Vorurteile der Anglophonen ein wesentlicher Katalysator: Für die anglophone Mehrheit galt das kanadische Französisch als korrumpiert im Vergleich zum Pariser Sprachgebrauch, schlechterdings als Patois („French Canadian Patois“) eines kulturlosen Volkes. Die ständige Notwendigkeit, sich gegen dieses Vorurteil zu wehren, beförderte die Erforschung des kanadischen Französisch (Gründung der Société du parler français au Canada, 1902), und dabei trat vor allem der klassische, archaische Charakter zutage, der positiv besetzt wurde. Natürlich ist auch dieser Prozess mit sprachpflegerischen und puristischen Anliegen verbunden, und die Anglisierung, die als die Form von Sprachverfall schlechthin betrachtet wurde, spielte als Gegenbild eine bedeutende Rolle. Die intensive philologische Forschungstätigkeit, als Reaktion auf die Vorurteile von Seiten der Anglophonen, verhinderte allerdings nicht, dass viele Québécois diese negative Sprachbewertung internalisierten (cf. Laporte 1995, 211), sodass der ehemalige kanadische Premierminister Pierre Elliot
|| 46 Dieser Begriff, dem eine dialektale bzw. populäre Aussprache von cheval zugrunde liegt ([ʃəval] > [ʃval] > [ʒwal]) wird als Sprachbezeichnung ab ca. 1960 durch das Buch Les insolences du frère Untel von Jean-Paul Desbiens, eine radikale Abrechnung mit dem Gesellschaftssystem und Bildungswesen der damaligen Zeit, weiter verbreitet.
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Trudeau Ende der 1960er Jahre in einem auf Englisch gegebenen Interview das Französische seiner Landsleute als „lousy French“ bezeichnen konnte. Als sich in den 1960er und 1970er Jahren die Frage nach der Sprachform stellte, auf Basis derer die im vorhergehenden Kapitel 6.2.1 skizzierte Normalisierung von statten gehen soll, herrschte ein breites Einstellungsspektrum bei den betroffenen Französischsprechern; die Konstanten waren die Ablehnung des englischen Einflusses und die Stigmatisierung des joual, bei Teilen der Bevölkerung die Betonung der Werte des kanadischen Französisch und schließlich das problematische Verhältnis zu dem von offizieller Seite zunächst propagierten sog. français international47 als Standardnorm, weil man selbst anders, d. h. „schlechter“, zu sprechen glaubte. Gerade jene stigmatisierte populäre Varietät des kanadischen Französisch war es nun, die eine Gruppe von Schriftstellern um die von 1963 bis 1968 erscheinende links orientierte Zeitschrift Parti pris als Gegenentwurf zum hexagonalen Französisch propagierte und selbst in ihren Werken verwendete,48 denn das joual sei in höherem Maße dazu geeignet, als Identifikationssymbol zu dienen als das bürgerliche hexagonale Standardfranzösisch, das für die meisten Quebecker wie eine Fremdsprache anmutete (cf. Militz 1990). Im Zusammenhang mit dem joual stellt sich jedoch die grundlegende Frage, ob es tatsächlich eine real existierende und diskrete, d. h. von anderen Sprachformen klar abgrenzbare Varietät ist. Die Verwendung des Begriffs verweist eher auf eine sehr vage Kategorie des Sprecherbewusstseins, der alles zugeordnet wird, was von der Norm abweicht (cf. Laurandeau 1992). In den 1970er Jahren, spätestens nach dem Inkrafttreten der Charte, beruhigt sich die Polemik um das joual, umso mehr als die Generalisierung diastratisch niedrig markierter Sprachformen eine Abkoppelung Québecs von der französischen Sprachgemeinschaft bedeutet hätte. Dass das sprachliche Referenzmodell für die Normalisierung nicht allzu weit vom hexagonalen Sprachgebrauch entfernt liegen würde, war nach der querelle du joual offensichtlich; die genaue Beschaffenheit einer Quebecker Norm des Französischen ist allerdings bis heute nicht endgültig geklärt. Zahlreiche soziolinguistische Untersuchungen der 1970er und 1980er Jahre haben deutlich gezeigt, dass das hexagonale Französisch nach wie vor hoch eingeschätzt wird, der Quebecker Varietät aber – zumindest in bewussten Stellungnahmen – für viele Sprechanlässe der Vorzug gegeben wird. Aus den Resultaten einer im Rahmen der sog. Commission Gendron (von der Quebecker Regierung 1968 eingesetzte Kommission zur Lage des Französischen in Québec) durchgeführten Umfrage geht z. B. hervor, dass bei den
|| 47 Der Begriff français international suggeriert die Existenz eines nicht geographisch verankerten Sprachmodells; in Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um das Standardfranzösische hexagonaler Prägung. 48 Zu den wichtigsten Vertretern dieser Bewegung gehören Gérald Godin, André Major, Jacques Renaud und Michel Tremblay.
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Québécois ein deutliches „sentiment d'autonomie linguistique vis-à-vis le (sic, cf. Kapitel 6.2.3.1) modèle européen de langue parlée“ besteht und dieses sprachliche Modell „une nette connotation québécoise“ bewahren sollte (Gendron 1974, 207; cf. auch Cajolet-Laganière/Martel 1993, 176). Betrachtet man die Gesamtheit der soziolinguistischen Studien der vergangenen 50 Jahre,49 bei denen der Fokus auf den Spracheinstellungen der Quebecker liegt, so zeigt sich, dass sie ihrer nationalen Varietät tatsächlich viel verdecktes Prestige zumessen, das français québécois aber gleichzeitig dem hexagonalen Standard im Hinblick auf das offene Prestige immer noch nachhinkt. Im Jahre 1977 hat die Association québécoise des professeurs de français programmatisch von einem „français standard d'ici“ gesprochen und diese Norm definiert als „variété de français socialement valorisée que la majorité des Québécois francophones tendent à utiliser dans les situations de communication formelle“ (zit. n. Maurais 1986, 80). Eine Festlegung dieses Standards im Sinne einer verbindlichen Kodifizierung liegt jedoch bis heute nicht vor. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich in dem Umstand zu suchen, dass das OQLF durch die Charte de la langue française nicht mit einem entsprechenden Mandat ausgestattet worden war. Vielmehr konzentrierten sich seine Aktivitäten auf die Erarbeitung und Bereitstellung von Fachterminologie für die unterschiedlichsten Bereiche der Technik und des Wirtschaftslebens. Während die Zahl der Vertreter einer bedingungslosen Ausrichtung am hexagonalen Französisch abnimmt, existieren seit den späten 1980er Jahren Bemühungen, das Französische in Québec ohne Bezug zur Norm des ehemaligen Mutterlandes zu kodifizieren. Angesichts einer noch immer von Sprachkomplexen und unklaren Prestigeverhältnissen in Bezug auf die eigene Varietät und das hexagonale (Standard-)Französisch gekennzeichneten Lage ist es jedoch nicht wirklich verwunderlich, dass die in den Jahren 1988 bzw. 1992 unternommenen Versuche, die eigenen Normen im Bereich des Lexikons in Definitionswörterbüchern (Dictionnaire du français plus/DFP, Poirier/Beauchemin/Auger 1988; Dictionnaire québécois d’aujourd’hui, Boulanger/De Bessé/Dugas 1992) zu kodifizieren, sowohl von Experten als auch im öffentlichen Diskurs heftig kritisiert wurden. Die Idee hinter diesen Wörterbüchern war das Bestreben, das zu explizieren, was in Québec als Prestigevarietät angesehen wird. In der in Sprachenfragen äußerst sensiblen Quebecker Gesellschaft sind diese Nachschlagewerke jedoch rasch wieder aus den Buchhandlungen verschwunden. Man warf ihnen nicht nur die Aufnahme von als zu umgangssprachlich empfundenen Wörtern und einen zu laxen Umgang mit Anglizismen vor, sondern kritisierte auch, dass sie Wörter markierten, die – angeblich – einer fremden Varietät angehören (sog. francismes; cf. zur
|| 49 Eine Detailanalyse dieser Studien findet sich in Pöll (2005, 175–187) und in geraffter Form in Pöll (2017), wo auch neuere Arbeiten miteinbezogen sind (z. B. Kircher 2012).
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Problematik dieses Konzepts Wauthion 2001), gleichzeitig aber auf die Markierung der für den Quebecker Sprachgebrauch typischen Lexeme verzichteten. Trotz des Misserfolgs der genannten Werke wurde 2013 ein neues Wörterbuch des Quebecker Französisch auf den (digitalen) Markt gebracht. Dieses im Projektstadium ab den späten 1990er Jahren Franqus – Français québécois usage standard – genannte Wörterbuch ist unter dem Namen USITO ausschließlich on-line verfügbar und wird laufend aktualisiert.50 Obwohl es im Unterschied zu seinen Vorgängern, die nur Adaptierungen von in Frankreich verlegten Wörterbüchern darstellten, strikt korpusbasiert ist und die Autoren ernsthaft darum bemüht waren, ein Bild des Quebecker Wortschatzes zu zeichnen, das den Spracheinstellungen und der Erwartungshaltung der Sprecher gerecht wird, ist es schon in der Projektphase Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden. Dabei standen (und stehen) sich im Wesentlichen zwei Lager gegenüber: zum einen jene – unter ihnen auch die Autoren des Wörterbuchs selbst – die das Sichtbarmachen und Kodifizieren der eigenen Sprachnormen für etwas völlig Natürliches halten und andere, die dem gegnerischen Lager vorwerfen, einen Konsens über eine Norm herbeizureden, die gar nicht existiert, weil die Quebecker als Leitnorm ohnehin das français international wünschen.51
6.2.3 Das français québécois: Genese und Merkmale Die Entstehung der kanadischen Varietät52 des Französischen ist nach wie vor ein nicht vollständig gelöstes Rätsel. Seine Lösung setzt die Beseitigung eines evidenten Widerspruchs voraus: Zahlreiche, vom letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichende Belege von Kanada-Reisenden53 deuten darauf hin, dass in der Kolonie ein Französisch gesprochen wurde, das dem damaligen Französisch von Paris bzw. der Île-de-France sehr nahe stand.
|| 50 Adresse: http://www.usito.com. Der Zugang ist an ein kostenpflichtiges Abonnement gebunden. Eine Pilotversion war zwischen 2009 und 2013 frei verfügbar. 51 Für eine weitergehende Analyse der von den Vertretern der beiden Lager ins Treffen geführten Argumente, cf. Pöll (2009). 52 Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht das Französische, wie es sich in Québec herausgebildet hat; es teilt allerdings viele Charakteristika mit dem Französischen anderer Zonen und kann somit als das kanadische Französisch schlechthin angesehen werden. In seiner formellen Ausprägung hat es auch Modellcharakter für die französischsprachigen Gemeinschaften außerhalb Québecs. Cf. dazu auch Mougeon/Beniak (1989, 2). 53 Eine chronologische Gesamtschau dieser Belege findet sich bei Wolf et al. (1987, 8–12). Sofern die Belege sich nicht – wie z. T. aus dem Kontext erschließbar – auf die Elite der Einwanderer beziehen, können sie durchaus als glaubwürdig gelten.
86 | Die amerikanische Frankophonie
Dieser Befund steht in krassem Gegensatz zur Herkunft der Kolonisten; genealogische Studien haben nämlich folgende Regionen Frankreichs als Ursprungsgebiete der französischen Auswanderer ergeben: Tab. 3: Herkunft der kanadischen Einwanderer (Dulong 1973, 408)
17. Jhdt.
18. Jhdt.
Normandie54
18,5 %
Île-de-France
12,2 %
Île-de-France/Paris
14,7 %
Normandie
10,9 %
Poitou
10,9 %
Bretagne
8,2 %
Aunis, Ile de Ré, Ile d'Oléron
10,6 %
Poitou
6,0 %
Saintonge
5,8 %
Guyenne, Agenois
5,8 %
Perche
3,9 %
Saintonge
5,5 %
Bretagne
3,5 %
Aunis, Île de Ré
5,6 %
Anjou
3,0 %
Languedoc
5,2 %
Champagne
2,8 %
Gascogne
4,6 %
Maine
2,7 %
Champagne
3,4 %
Guyenne
2,6 %
Lorraine
2,6 %
Limousin, Périgord
2,4 %
Anjou
2,6 %
Picardie
2,2 %
Franche-Comté
2,1 %
Angoumois
2,0 %
Picardie
2,2 %
Touraine
1,9 %
Bourgogne
2,1 %
Beauce
1,9 %
Für Menschen aus den meisten dieser Gebiete ist nun für die Zeit der Emigration in Richtung Nouvelle-France nicht anzunehmen, dass sie als Französischsprecher im modernen Verständnis gelten können. Es steht außer Zweifel, dass sie Patois-Sprecher waren, d. h. sie kommunizierten in einem historischen Dialekt oder einer langue ethnique. In seinem vielbeachteten und nicht weniger kritisierten Buch Le choc des patois en Nouvelle-France hat Philippe Barbaud 1984 einen Erklärungsansatz für dieses Paradoxon präsentiert: Ausgehend von den Antworten auf die Enquête des Abbé Grégoire (1794) zieht er – im wahrsten Sinne des Wortes – Rückschlüsse auf die Muttersprachen der Kolonisten des 17. Jahrhunderts. Dabei unterscheidet er drei Kategorien: a) patoisants, d. h. Sprecher, die ausschließlich ihres Patois mächtig sind, b) || 54 Neueren Studien zufolge nehmen Regionen im Westen Frankreichs (Poitou-Charentes) die erste Position ein, zumindest was den Zeitraum 1608–1680 betrifft (cf. Charbonneau/Guillemette 1994, 67).
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semi-patoisants, die zumindest über passive Kenntnisse des „parler françoys“ (so die Bezeichnung Barbauds für die zentrale Varietät des Französischen) verfügen und c) francisants, die den „parler françoys“ oder eine typologisch sehr nahe stehende Varietät sprechen. Bei seinen Extrapolationen kommt er zu etwa je einem Drittel auf francisants, semi-patoisants und patoisants. Um einen „choc des patois“ handelt sich laut Barbaud nun deshalb, weil folgendes Szenario anzunehmen sei: Le peuplement de la colonie sous le régime français fut à ses débuts une entreprise qui a eu pour effet de soustraire des locuteurs natifs à l’ordre séculaire des pratiques linguistiques de manière brutale et ponctuelle. Déracinés de leur pays natal, transplantés dans un espace vital aussi vierge que réduit, ces sujets parlants se sont heurtés aux difficultés de la communication verbale dans sa dimension la plus vernaculaire. Ils ont été les acteurs du désordre linguistique qui a dû régner pendant un certain temps. Mais le besoin impérieux d’en revenir à un ordre plus stable les a poussés à modifier leur comportement linguistique entre autres. Ils ont appris à devenir bilingues. Ils ont finalement opté pour l'unilinguisme françoys. (Barbaud 1984, 183)
Bei diesem sich im Kreis der Familie abspielenden Sprachwechselprozess (außerfamiliäre soziale Kontakte, die sicher auch eine Rolle gespielt haben dürften, bleiben unberücksichtigt) zeichnet sich nun der „parler françoys“ durch eine besondere Dominanz aus; die Hauptrolle bei der Weitergabe des „parler françoys“ spielten laut Barbaud die Frauen – in ihrer Funktion als Mütter, und dabei scheint es schon zu genügen, dass die betreffende Frau semi-patoisante war, um in der Generation der Kinder eine Tendenz zur entstehenden französischen Koiné zu bewirken. Nach Barbauds Berechnungen war im Jahre 1663 bei 70 % der Paare zumindest ein Partner „locuteur françoys“ (cf. Barbaud 1984, 182). Dieser Prozess, der dazu geführt hat, dass das Französische zur Muttersprache der Québécois wurde, sei bereits zwischen 1680 und 1700 abgeschlossen gewesen, weshalb die sprachliche Rolle der Kolonisten des 18. Jahrhunderts zu vernachlässigen sei. Die Kritik an Barbauds Erklärungsansatz betraf vor allem die ausschließliche Beschränkung auf diatopische Aspekte bei der sprachlichen Zuordnung der Kolonisten: Aus einer Analyse strittiger Fragen der Norm im 17. Jahrhundert und dem Vergleich mit den Entscheidungen, die im kanadischen Französisch getroffen wurden, erkennt L. Wolf (1991), dass – entgegen den Erwartungen – nicht einfach der in Frankreich als populär oder schlecht geltende Gebrauch in Kanada dominiert. Daraus lässt sich auf ein relativ höheres sprachliches Niveau der Kolonisten schließen, als man aufgrund der Ausführungen Barbauds anzunehmen geneigt ist. Fest steht, dass die Kolonisten in höherem Maße alphabetisiert waren als der Durchschnitt der Bevölkerung (cf. Wolf et al. 1987, 14s.) – und Alphabetisierung bedeutet für Nordfrankreich den Kontakt mit der im Entstehen begriffenen Standardnorm. Niederehe (1987) geht noch weiter und nimmt an, dass die Kolonisten eine „idée plus ou moins claire du bon usage“ (Niederehe 1987, 197) gehabt hätten – woraus Folgendes resultiere:
88 | Die amerikanische Frankophonie
Ils laissaient donc dans l’Ancien Monde les variantes classées comme ‚vulgaires‘ [...] et, dans le Nouveau Monde, ils abandonnaient vite ces variantes diatopiques, auxquelles ils croyaient découvrir une teinte de ‚vulgaire‘.
Die Einwände gegen Barbauds Erklärungsansatz lassen sich auf die folgende Formel bringen: Die spätere sprachliche Homogenität der Kolonisten war bereits vor ihrer Ankunft in der Nouvelle-France angelegt – entweder weil die dialektalen Unterschiede in Frankreich überschätzt wurden (d. h. die gegenseitige Verständigung möglich war) oder weil die Auswanderer aufgrund ihres sozialen Status (urbane Herkunft, Reisen, überdurchschnittlicher Bildungsgrad etc.) keine reinen patoisants waren, die sich nicht hätten verständigen können. Die gegen Barbaud vorgebrachten Einwände relativieren die „choc“-Hypothese, in dem Sinne, dass ein traumatisches Aufeinandertreffen von Sprechern mit unterschiedlichen Muttersprachen, die die gegenseitige Verständigung beeinträchtigen, nicht stattgefunden hat. Im Prinzip sind zwischen Barbauds These der Distinktivität und der diametral entgegengesetzten Annahme der vorgegebenen Homogenität aber alle Schattierungen denkbar. Und wenn schon die Mehrzahl der Kolonisten des Französischen mächtig war, ist kaum auszuschließen, dass diese Sprecher bilingual waren, also gleichzeitig auch und wahrscheinlich sogar hauptsächlich einen patois verwendeten. Es ist also sicherlich von einem Sprachwechsel auszugehen, dergestalt, dass aus Zweisprachigen einsprachig Frankophone wurden (cf. zur gesamten Problematik und zu weiteren Erklärungsansätzen die Beiträge in Mougeon/ Beniak 1994). Bei dem Sprachwechselprozess, wie er wahrscheinlich in der Nouvelle-France stattfand, werden genauso wie bei anderen Entstehungsprozessen von regionalen Varietäten Merkmale der Dialekte auf die neu entstehende Sprachform übertragen; Archaismen, Innovationen und Adstrateinflüsse sind ebenso zu beobachten. Im Folgenden beschreiben wir wesentliche Merkmale55 des français québécois, und zwar in zwei Etappen: Zunächst steht der spontane, alltägliche Sprachgebrauch im Vordergrund, dann wird versucht, innerhalb dieser Varietät jene Merkmale zu bestimmen, die von den Sprechern selbst als zur eigenen Standardvarietät gehörig empfunden werden. Die Darstellung beruht im Wesentlichen auf Bibeau (1993), Cajolet-Laganière/ Martel (1993), Gendron (1986), Maury/Tessier (1991), Meney (2003), Poirier (1980), Ostiguy/Tousignant (2008), Reinke/Ostiguy (2016), Rézeau (1987), Walker (1979) sowie auf eigenen Beobachtungen.
|| 55 Die Auswahl wird durch den Umstand erschwert, dass „in popular CF [ = Canadian French], as elsewhere, a considerable amount of individual variation may occur“ (Walker 1979, 139).
Québec � ��
�.�.�.� Allgemeine Merkmale des français québécois Phonetik/Phonologie:56 Die überwiegende Mehrzahl der Besonderheiten sind entweder Archaismen oder Verstärkungen von in den relevanten galloromanischen Dialekten vorkommenden Tendenzen. Besonders auffällig sind: - die Assibilierung von [t, d] vor den vorderen Vokalen bzw. Halbkonsonanten [i, y, j, ɥ] und - die Öffnung bzw. Schwächung der geschlossenen Vokale [i, y, u], vor allem (aber nicht nur) in geschlossenen Silben. Diese beiden Eigenheiten ergeben z. B. für die Wörter tu dire Baptiste costume bouche actuel difficile
folgende Aussprache in Québec:
[tsy] [dziʁ] [batsɪst] [kɔstsʏm] [bʊʃ] [aktsɥɛl] [dzifɪsɪl]
Die Schwächung kann in unbetonter Stellung bis zum Schwund gehen: politique [pɔltsɪk], citrouille [stʁuj], décider [desde], piscine [psɪn], discipline [dɪsplɪn] etc. -
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die Bewahrung der Auslautkonsonanten, die in Frankreich bereits ab dem 13. Jahrhundert aus der Aussprache verschwinden: tout [tʊt], fouet [fwɛt], plus [plʏs] die häufige Vereinfachung von Konsonantenverbindungen (auch in Frankreich bei der Verbindung Okklusiv + Liquid spontansprachlich gängig): probable [pʁɔbab], autre [ot], artiste [aʁtɪs], juste [ʒʏs] etc. die Bewahrung älterer bzw. dialektaler Lautstände beim Diphthong : moi [mwɛ], froid [fʁɛt] – neben [mwa] bzw. [mwɑ] und [fʁwɑ] Aussprache mit a postérieur [ɑ] im Auslaut, das häufig zum [ɔ] tendiert: ce temps-là [lɔ], ça va ? [... vɔ] das besonders für Franzosen seltsam anmutende System der Nasalvokale, vor allem wenn • [e͂ ] statt [ɛ͂ ]: vin [ve͂ ] • [a͂ / æ͂] statt [ɑ͂ ]: enfant [a͂ fa͂ ], vent [væ͂]
�� 56 Dazu grundlegend Gendron (1966), Juneau (1972), Walker (1984), Ostiguy/Tousignant (2008).
�� � Die amerikanische Frankophonie
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gesprochen werden. Die Opposition zwischen /œ͂/ und /ɛ͂ /, die in Frankreich bei sehr vielen Sprechern zu Gunsten des ungerundeten Vokals neutralisiert ist, hält sich in Québec noch gut. die Diphthongierung von (langen) Oral- und Nasalvokalen: Es handelt sich dabei nicht – wie man annehmen könnte – um einen englischen Adstrateinfluss, sondern zweifelsohne um ein genuin französisches Phänomen; ihr Ursprung ist noch nicht hinreichend geklärt.57 Die Diphthongierung ist nicht in ganz Québec verbreitet, und ihre Resultate können unterschiedlich ausfallen; hier nur einige Beispiele: • neige [nɛʒ] → [naeʒ] • cœur [kœʁ] → [kaœʁ] • meute [møt] → [mœyt] • rose [ʁoz] → [ʁɔuz] • sein [sɛ͂ ] → [sẽı͂] • monde [mo͂ d] → [mɔ͂ u͂ d] Das Auftreten der Diphthongierung kann stilistisch begründet sein (etwa bei gleichzeitigem accent d’intensité) und auch als Marker (z. B. einer Gruppenzugehörigkeit) fungieren (cf. Maury 1993). apikale Aussprache von /ʀ/: Der phonetische Wandel von apikalem [r] zu uvularem [ʀ] bzw. [ʁ], der in Frankreich ab dem 17. Jahrhundert von statten ging, scheint in Québec in den letzten Jahrzehnten vollzogen worden zu sein. Das früher als besonders typisch für Montréal angesehene apikale [r] ist deutlich seltener geworden (cf. Clermont/Cedergren 1979, 13f.; Maury/Tessier 1991, 71). die Öffnung von [ɛ] > [a], besonders vor [ʁ]: gercer [ʒaʁse], merde [maʁd] die Längung vortoniger Vokale oder Diphthonge, was den typisch kanadischen Sprechrhythmus ausmacht: je comprends [ʃkɔ͂ ːpʁa͂ ], du beau parler français [dzyboːpaʁlefʁa͂ ːsɛ]
Morphologie und (Morpho-)Syntax: Unterschiede zum hexagonalen Französisch sind vor allem bei den Personalpronomen, den Verbalparadigmen und dem Artikel festzustellen. Die Formen der Subjektspronomen und des Artikels sind durch den Ausfall von intervokalischem -l- reduziert: z. B. la → [a]: c'est pas la même chose [sepɑamɛm ʃoz]; elle → [ɛ]: elle est partie → [ɛːpaʁtsi]. Das kanadische Französisch bewahrt mit höherer Frequenz die verstärkte Form des Personalpronomens der 1., 2. und 3. P. pl.:
�� 57 Zur kontroversiellen Diskussion um den Ursprung der Diphthongierung (erklärbar aus dem Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts vs. Reflex der Dialekte des Westens, Nordens und Nordwestens) cf. Dagenais (1986, 1993) sowie Kap. III (Table ronde) in Horiot (1991).
Québec | 91
nous-autres, vous-autres, eux-autres statt wie im hexagonalen Französisch nous, vous, eux. Das kanadische Französisch weist eine Vielzahl von analogischen Bildungen bzw. Konkurrenzformen (= Archaismen) auf, z. B.: qu’il [ko͂ tinʏs]58 (statt continue; cf. je finis – ils finissent); il se [tɛz] (Analogie zu den Pluralformen von se taire59); il bouille („regelmäßige“ Ableitung vom Infinitiv bouillir); je vas; il s'assisent (archaische Konkurrenzform), vas-y pas ‚n’y va pas‘, dis-moi-le ‚dis-le-moi‘. Wie auch in Norm-fernen Varietäten des hexagonalen/europäischen Französisch treten analogische Formen bei der Bildung des Femininums und des Plurals auf: avare – avar[d], cru – cru[t], canal – pl. can[al], etc. Eine dem alten hexagonalen français populaire vergleichbare Interrogativpartikel -[tsi] bzw. häufiger -[tsy], die sowohl bei Entscheidungsfragen als auch bei Ergänzungsfragen an das finite Verb angehängt wird, existiert ebenfalls; beim zweiten Fragetyp steht die Partikel statt est-ce que: T'as-[tsi] un char?, Il y avait-[tsy] des affaires spéciales? Quel jour c'est[tsi]? Où c'est-[tsy] que tu vas? Beispiele für weitere Archaismen, die von der im 17. Jahrhundert fixierten Norm des Französischen nicht mehr berührt wurden: être après + inf. (‚être en train de‘), à cause que (‚parce que‘; auch im europäischen français populaire), que statt qui als Relativpronomen (auch im europäischen français populaire) (cf. Offroy 1975). Auch die Kontaktsprache Englisch kann auf die (Morpho-)Syntax einwirken, so findet man z. B. im Quebecker Französisch dû à und comparé à/avec als präpositionale Wendungen mit der Bedeutung ‚à cause de/en raison de‘ bzw. ‚en comparaison avec‘ nach dem Vorbild von engl. due to und compared to/with.60 Lexikon: In weiten Bereichen ist der Wortschatz des français québécois deckungsgleich mit jenem des hexagonalen Französisch, wodurch ungeachtet gegenteiliger Behauptungen (vor allem von Franzosen) eine uneingeschränkte Kommunikation mit Sprechern aus anderen Teilen der Frankophonie sichergestellt ist. Im Detail, d. h. in den Feinstrukturen des Wortschatzes, verbergen sich aber hinter vielen dieser Übereinstimmungen Unterschiede, weil z. B. Wortfelder nicht identisch gegliedert sind und/ oder unterschiedliche Verwendungshäufigkeiten vorliegen: Während in Frankreich voiture das üblichste Wort für ‚Auto‘ darstellt, wird in Québec häufig char (Lehnbedeutung von engl. car) verwendet, die Synonyme automobile und auto haben andere Gebrauchsbedingungen und sind anders konnotiert (cf. Poirer 1980, 54s.). Martel (1984), der das français fondamental mit dem québécois fondamental ver|| 58 Phonetische Umschrift bedeutet, dass die betreffende Form nur im code phonique vorkommt. 59 Von Péronnet (1989, 230) als Archaismus klassifiziert (mfr. soi taisier) 60 Vergleichbare Verwendungen im europäischen (Standard-)Französisch sind Partizipialkonstruktionen, bei denen das Partizip immer mit einem (pro)nominalen Bezugswort kongruiert.
92 | Die amerikanische Frankophonie
glichen hat, kommt zu dem Ergebnis, dass u. a. die Diskursmarker alors und enfin, das Adverb très und das Verb voir im gesprochenen Französisch in Québec seltener vorkommen, puis, bien und savoir61 dagegen häufiger sind als im hexagonalen Sprachgebrauch. Abgesehen davon haben die historischen, sozialen und geographischen Rahmenbedingungen, unter denen das Französische in Nordamerika implantiert wurde und es heute seine Funktion erfüllen muss, zu zahlreichen Unterschieden geführt; Poirier (1980) folgend, gliedern wir sie hier in fünf Gruppen: Archaismen, Dialektalismen, amerindisches Adstrat, anglo-amerikanisches Adstrat und Innovationen (cf. dazu auch Martucci 1988). - Archaismen: Die Abtrennung vom Mutterland hat bewirkt, dass älteres Wortgut, das in Frankreich selten oder gar nicht mehr verwendet wird, in Québec erhalten geblieben ist, z. B. à cette heure/astheure [astœʁ] ‚maintenant‘, brunante ‚tombée du jour‘, s'écarter ‚s'égarer‘, gageure ‚pari‘ (bedeutet in Frankreich: ‚défi‘), mitaine ‚moufle‘, menterie ‚mensonge‘, noirceur ‚obscurité‘ (bedeutet in Frankreich heute: ‚caractère méchant, perfide [d'une personne, d'une action]‘), œuvrer ‚travailler‘, présentement ‚actuellement‘ (gängiger als in Frankreich), souliers ‚chaussures‘ (üblicher als in Frankreich), souvent,-e (adjektivische Verwendung), suçon ‚sucette‘ (bedeutet in Frankreich ‚ecchymose faite par succion sur la peau‘), tantôt ‚il y a peu de temps/dans peu de temps‘, venir/s'en venir ‚devenir‘, vis-à-vis ‚vis-à-vis de‘ usw. - Dialektalismen: Die Zuordnung zu dieser Kategorie ist schwierig, weil ausgeschlossen werden müsste, dass das betreffende Element auch in der Gemeinsprache existiert hat. Wahrscheinliche Dialektalismen sind z. B.: achaler ‚importuner, ennuyer‘ (aus dem Nordwesten Frankreichs), casser (des fraises, des pommes etc.) ‚cueillir‘ (Nordwesten, Westen), doux-temps ‚période de dégel‘ (Nordwesten, Westen), tralée ‚grande quantité de ...‘ (Norden, Nordwesten, Westen). Zu den Archaismen bzw. Dialektalismen gehören wahrscheinlich viele der früher fälschlich als Innovationen62 interpretierten Bedeutungserweiterungen von sog. termes maritimes (cf. Juneau 1991): amarrer ‚attacher‘, l’autre bord de la rue ‚ ... côté ...‘, débarquer (d’une voiture etc.) ‚descendre‘, chavirer ‚devenir fou‘, au large ‚au loin, loin des habitations‘, virer ‚tourner‘ etc.
|| 61 Bei voir bzw. savoir handelt es sich um Vorkommen als Gliederungssignale oder Diskursmarker wie voyons voir, tu sais u. ä. 62 Wegen der großen Bedeutung des Verkehrs zu Wasser (keine Straßenverbindung zwischen Montréal und Québec vor 1735; 1860 erste Brücke über den Sankt-Lorenz-Strom) lag es nahe, dieses Phänomen als kanadische Innovation zu betrachten (cf. Dulong 1970, 331s.).
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-
Amerindianismen: Die meisten Entlehnungen aus nordamerikanischen indigenen Sprachen stammen aus dem 17. Jahrhundert, als der Kontakt zur eingeborenen Bevölkerung durch die coureurs des bois am stärksten war. Sie dienen hauptsächlich zur Bezeichnung von Realia (Fauna, Flora), z. B.: atoca ‚plante des marais à baies rouges, la baie elle-même‘, carcajou ‚espèce de blaireau‘, ouaouaron ‚grenouille géante de l’Amérique du Nord‘, ouananiche ‚espèce de saumon d’eau douce‘, maskinongé ‚poisson apparenté au brochet‘. Deutliche Spuren haben die Kontakte mit der indigenen Bevölkerung in der Toponymie hinterlassen: z. B. Canada < irok. kanata ‚Dorf, Siedlung‘, Québec < alg. kebec ‚Verengung‘, Chicoutimi < mont. shkoutimeou ‚Ort, bis zu dem das Wasser tief ist‘. Anglizismen: Lexikalische Anglizismen sind oft gemäß dem phonologischen System des Französischen angepasst, was sich z. T. in der Orthographie spiegelt: drave ‚flottage du bois‘ (< engl. drive), bines ‚haricots, fèves‘ (< engl. beans), smatte (< engl. smart), une toune ‚mélodie, chanson‘ (< engl. tune), lousse (< engl. loose) vs. fun, cute, job (f.; in Frankreich: m.), chum ‚copain, ami‘, cheap ‚bon marché, de qualité médiocre‘ usw. Semantische Anglizismen sind – besonders für nicht muttersprachliche Sprecher des Französischen – eher unauffällig, aber wahrscheinlich noch zahlreicher als direkte Entlehnungen. Die folgenden Beispiele von lexikalischen und semantischen Anglizismen stammen u. a. aus einer Belegsammlung von Québecismen (Rézeau 1987), Bibeau (1993) sowie Meney (2003): à l’effet que
‚selon + pronom relatif; voulant que‘ (... les déclarations à l’effet que ...; < engl. to the effect that; cf. in Frankreich: à l’effet de ‚en vue de‘)
annonces classées
‚petites annonces‘ (< engl. classified ads)
batterie
‚pile‘ (Bedeutungserweiterung durch engl. battery)
bureau-chef
‚siège social‘ (< engl. head office)
canal
‚chaîne (de télévision)‘ (< engl. channel)
céduler (une visite, des activités,
‚fixer, prévoir‘ (< engl. to schedule)
un rendez-vous) centre d'achats
‚centre commercial‘ (< engl. shopping centre)
conduire une recherche
‚mener, réaliser‘ (< engl. to conduct a study)
de ce que j’ai vu
‚d’après ce que j’ai vu‘ (< engl. from what I have seen)
habileté
‚compétence, capacité‘ (< engl. ability; bedeutet in Frankreich: ‚adresse‘)
s’identifier
‚présenter son identité‘ (< engl. to identify oneself)
levée de fonds
‚collecte de fonds‘ (< engl. fund raising)
longue-distance
‚interurbain‘ (< engl. long distance)
lumières
‚feux (de circulation)‘ (< engl. (traffic) lights)
s’objecter à
‚s’opposer à‘ (< engl. to object)
94 | Die amerikanische Frankophonie
parade
‚défilé‘ (< engl. parade)
prendre une marche
‚faire une promenade‘ (< engl. to take a walk)
(médecin) résident
‚interne‘ (< engl. resident)
tapis mur à mur
‚moquette‘ (< engl. wall to wall carpet)
sur la rue
‚dans la rue‘ (< engl. on the road)
Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen Englisch und Französisch kann sich der Einfluss der Kontaktsprache auch auf den Erhalt älterer Wörtern auswirken – man spricht dann von sog. anglicismes de maintien, z. B.: barbier ‚coiffeur (pour hommes)‘ (< engl. barber), breuvage ‚boisson non alcoolisée‘ (< engl. beverage), canceller ‚annuler‘ (< engl. to cancel), une couple de + NP ‚quelques + NP‘ (< engl. a couple of‘), manufacturier ‚fabricant‘ (< engl. manufacturer). Auch die Gebrauchspräferenz für bestimmte Wörter kann durch das englische Adstrat beeinflusst sein (sog. anglicismes de fréquence). So sind z. B. prescription (cf. engl. prescription) und surplus (cf. engl. surplus) häufiger als ordonnance und excédent, und die Präferenz für additionnel (vs. supplémentaire) erklärt sich einerseits durch die formale Ähnlichkeit mit engl. additional und andererseits dadurch, dass es sich – anders als im europäischen Französisch, aber wie engl. additional – auch auf Personen beziehen kann. Die Anglophobie der Québécois hat dazu geführt, dass Anglizismen, die in Frankreich einen festen Platz im Wortschatz haben, genuin französische (Ersatz-) Bildungen gegenüberstehen: interview vs. entrevue, faire du shopping vs. magasiner, week-end vs. fin de semaine, stop vs. arrêt (auf dem entsprechenden Verkehrszeichen), fax vs. télécopie, ferry-boat vs. traversier etc. In der jüngeren Vergangenheit ist jedoch festzustellen, dass hexagonale Anglizismen wie week-end, match oder surf des neiges (in Québec eigentlich: planche à neige) im Alltag und in den Medien vermehrt verwendet werden. Innovationen im Wortschatz haben als Ursprung oft besondere, mit der spezifischen nordamerikanischen Umwelt zusammenhängende Bezeichnungsbedürfnisse: motoneige ‚véhicule pour se déplacer sur la neige‘, chevreuil ‚espèce de cerf‘, érablière ‚peuplements d’érables à sucre‘, frasil ‚cristaux ou fragments de glace flottant à la surface de l’eau‘ (Bedeutungserweiterung eines westfranzösischen Dialektwortes), poudrerie ‚neige sèche et fine que le vent soulève en tourbillons‘, bleuetière ‚terrain où poussent des bleuets (= espèce de myrtille)‘, bordée de neige ‚chute de neige (abondante)‘, cégep (Akronym von collège d’enseignement général et professionnel) etc. Die schwächere Präsenz der hexagonalen Norm hat – wie auch in anderen peripheren Gebieten der Frankophonie – eine weitergehende Ausnützung der vom System des Französischen vorgegebenen Möglichkeiten zur Folge: dépanneur ‚petit magasin qui reste ouvert hors des heures d’ouverture normales‘ (bedeutet in Frankreich: ‚technicien, électricien etc. chargé de dépanner‘), débarbouillette ‚carré de tissu-éponge dont on se sert pour se laver‘ (dem entspricht funktional in Frankreich
Québec | 95
gant de toilette), avionnerie ‚usine d‘avions‘. Besonders augenfällig ist die Feminisierung von Berufsbezeichnungen, z. B.: professeure, mairesse, auteure, écrivaine, présidente etc. Auch der in der Vergangenheit starke gesellschaftliche Einfluss der katholischen Kirche hat im kanadischen Französisch seine Spuren hinterlassen, z. B. in Form von Flüchen und Interjektionen (bzw. Diskursmarkern), die ursprünglich Lexeme aus dem Sakralbereich sind: christ/crisse [kʁɪs], hostie [ɔstsi], câlice [kɔːlɪs] etc. Von solchen sog. sacres gibt es auch gängige Ableitungen: décrisser ‚foutre le camp, se barrer‘, câlicer qn. dehors ‚mettre qn. à la porte‘ etc. 6.2.3.2 Umrisse der Standardnorm Die nicht kodifizierte Standardnorm – wie sie hinsichtlich der Aussprache insbesondere von den annonceurs (nicht speakers!) des öffentlichen kanadischen Radios und Fernsehens repräsentiert wird – steht im Spannungsfeld zwischen der traditionellen europäischen Standardaussprache und den Quebecker Artikulationsgewohnheiten; sie stellt in gewisser Weise eine Adaptierung des hexagonalen Standardfranzösisch für nordamerikanische Bedürfnisse dar. Die folgenden Einschätzungen basieren im Wesentlichen auf Bigot/Papen (2013), Cox (1998), Ostiguy/Tousignant (2008), Reinke (2004) sowie Reinke/Ostiguy (2016): - Einen festen Platz in der Quebecker Prestigeaussprache haben einige phonetische Besonderheiten, insbesondere die Assibilierung von [t, d] und die Öffnung der geschlossenen Vokale. Sie charakterisieren die Aussprache aller Quebecker Französischsprecher, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, ihres Bildungsgrades und der Gesprächssituation, d. h. sie werden auch in distanzsprachlichen Kontexten realisiert. Zum eigenen Standard gehören auch das a postérieur, nicht jedoch die Aussprache mit [ɔ]; in formellen Situationen produzieren die Sprecher wie in der europäischen Frankophonie in den relevanten Positionen u. U. auch ein [a]. - Andere phonetische Charakteristika genießen nicht diesen Stellenwert: Distanzsprachlich nähert sich z. B. das System der Nasalvokale mehr dem europäischen Modell an ([a͂ ] statt [æ͂] für /ɑ͂ /). Ferner wird die alte Aussprachevariante [wɛ] gemieden, und der komplette Ausfall unbetonter Vokale scheint ebenfalls nicht prestigeträchtig zu sein. Ein besonders komplexes Thema ist die Bewertung der Diphthongierungen, da sie im metasprachlichen Diskurs der Sprecher global abgewertet werden, aber praktisch bei allen Quebecker Sprechern, auch in formellsten Situationen, zu hören sind. Betrifft die Diphthongierung die Langvokale [øː] und [oː], scheint sie eher akzeptiert zu sein als bei anderen Vokalen. Wie stark die Ablehnung ausfällt, hängt auch von der Intensität der Diphthongierung ab: „[…] la diphtongaison forte est socialement stigmatisée“ (Mercier/Remysen/Cajolet-Laganière 2017, 291).
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Im Standardwortschatz sind die typischen Elemente des kanadischen Sprachgebrauchs, insbesondere wenn sie Bezeichnungsbedürfnisse befriedigen, die vom europäisch-französischen Wortschatz nicht abgedeckt werden können, fest verankert; ihre Zahl übersteigt naturgemäß jene der 1969 vom Office de la langue française tolerierten „canadianismes de bon aloi“63 erheblich. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das auch für die Terminologienormierung zuständige OQLF im Grenzbereich zwischen Fach- und Gemeinsprache eigene Festlegungen getroffen und damit Wörter offizialisiert hat, die im hexagonalen/europäischen Französisch nicht geläufig sind oder von deren Gebrauch sogar abgeraten wird,64 z. B. binette ‚smiley‘ (in Frankreich: frimousse), détour ‚déviation‘ (Verkehrsschild), familiale ‚Kombi‘ (in Frankreich: break), pourriel ‚spam‘, urgentologue ‚(médicin) urgentiste‘ usw. Feminisierungen von Titeln, Graden und Berufsbezeichnungen sind der Normalfall; lexikalische Anglizismen sind in formeller Mündlichkeit und Schriftlichkeit tabu, was nicht ausschließt, dass sie ebenso wie die beschriebenen Calques und Lehnbedeutungen insbesondere in journalistischen Texten vorkommen können. Die oben als Beispiele genannten Parallelformen zu „französischen“ Anglizismen sind gebräuchlich und werden als korrekter empfunden.
|| 63 In seinem Cahier Canadianismes de bon aloi (1969) veröffentlichte das Office eine Liste mit 62 Wörtern, die vom europäischen Gebrauch abweichen, aber toleriert werden. Obwohl noch immer stark puristisch im Bereich der Morphologie und Phonetik, ging das Office im Wortschatz von seinen strengen Kriterien („double emploi“) ab, und im Vorwort steht zu lesen: „[...] un alignement aveugle sur le lexique parisien ne risquerait-il pas d’inculquer aux sujets parlants québécois le sentiment d’une infériorité culturelle et linguistique, sur des points où elle ne serait nullement justifiée.“ (Office 1969, 4) 64 Die Beispiele stammen aus dem Grand dictionnaire terminologique (GDT; http://www.grand dictionnaire.com) des OQLF. – Zur Problematik der Terminologienormierung in Québec cf. Pöll (2005, 259–265).
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6.3 Acadie und andere frankophone Gebiete in Kanada 6.3.1 Acadie: Geschichte, Sprachenrechtliches, Merkmale des français acadien Noch älter als die Besiedlung Québecs ist jene von Acadien (entspricht heute in etwa dem Territorium von Neuschottland/fr. Nouvelle-Écosse/engl. Nova Scotia): Mit PortRoyal (heute: Annapolis Royal) wurde bereits im Jahre 1605 die erste französische Siedlung in Nordamerika gegründet. Dieses zweite frankophone Siedlungsgebiet in Nordamerika kam bereits 1713 an England (Vertrag von Utrecht). Wurden die frankophonen Siedler bis 1755 von den Engländern noch geduldet, folgte ab dann bis 1763 die als Grand Dérangement bekannte gewaltsame Aussiedlung. Von den damals rund 15.000 Bewohnern flüchteten viele nach Québec, nach Frankreich, auf die Antillen und in die Neu-EnglandStaaten (Connecticut, Maine, Massachusetts, New Hampshire, Rhode Island, Vermont); etwa 3.000 von ihnen bilden die Basis für die Kultur der Cajuns in der ab 1699 dauerhaft von Franzosen besiedelten dritten nordamerikanischen Kolonie, Louisiana (cf. Dulong 1973, 407). Die heutige Bevölkerungsverteilung entspricht nicht derjenigen vor der Aussiedlung, da Rückwanderer nicht mehr ihre alten, von den Engländern übernommenen Besitzungen zurückerhielten. Die etwa 270.000 Frankophonen besiedeln heute vornehmlich die Provinzen Nouvelle-Écosse (ca. 34.000; 3,6 % der Gesamtbevölkerung), Île-du-Prince-Édouard (ca. 5.500; 3,9 %) und Nouveau-Brunswick (ca. 233.000; 31 %).65 Der Anteil der Frankophonen ist – gemessen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung – nicht stabil, da der Assimilationsdruck groß ist. Daran haben auch einige kleine Statusverbesserungen für das Französische seit den 1970er Jahren nichts ändern können: Den rechtlich günstigsten Status hat das Französische in Nouveau-Brunswick, das seit 1969 die einzige offiziell zweisprachige Provinz Kanadas ist (Loi sur les langues officielles; im Jahre 2002 neu gefasst). Schon 1963 wurde eine ausschließlich französischsprachige Universität gegründet (Moncton), und 1981 erfolgte die volle rechtliche Gleichstellung beider Sprachgemeinschaften (Loi reconnaissant l’égalité des deux communautés linguistiques officielles, 2011 neu gefasst).66 In den beiden anderen Provinces maritimes geht der rechtliche Status des Französischen kaum über das in der Verfassung von 1982 festgelegte Recht auf Scholarisierung in der Muttersprache hinaus. || 65 Quelle: www12.statcan.gc.ca; Daten aus 2011. 66 Die sprachpolitischen Maßnahmen in Nouveau-Brunswick zielen ausschließlich auf eine Gleichberechtigung des Englischen und des Französischen im öffentlichen Bereich (Verwaltung, öffentliche Dienstleistungen, Gerichtsbarkeit etc.) ab; anders als in Québec ist der private bzw. privatwirtschaftliche Bereich (Sprachverwendung am Arbeitsplatz, Werbung, Produktbeschriftung etc.) nicht betroffen (cf. Léger 2014).
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In allen drei Provinzen ist französisch-englischer Bilingualismus in der Gruppe der Frankophonen weit verbreitet und führt in der spezifischen Minderheitensituation zu häufigen Unsicherheiten bei der Sprachenwahl im öffentlichen Raum (cf. Péronnet 1993, 102; Boudreau 2016, 51 mit spezifischem Bezug zur Situation in Moncton). Längerfristig fördert dies den Übergang zum Englischen. Das akadische Französisch ähnelt in vielen Bereichen dem français québécois, es ist aber generell archaischer bzw. führt alte Tendenzen in stärkerem Maße fort, insbesondere was das traditionelle akadische Französisch anlangt. Diese Varietät ist jedoch dem starken Einfluss sowohl des Englischen als auch des Standardfranzösischen (cf. Dubois 2005, 92) ausgesetzt. Besonders auffallend (cf. Eychenne/Walker 2010; Dubois 2005, 90s.; Motapanyane 1997; Péronnet 1989 und 1993) sind im Bereich der Phonetik - die Palatalisierung von [k,g] und [t,d] vor vorderen geschlossenen Vokalen und Halbvokalen: cuire [tʃyiʁ], qui [tʃi], tiens [tʃɛ͂ ], Acadien [akadʒɛ͂ ]67 - die Bewahrung des h aspiré (als konsonantisches Phonem), sodass z. B. haut [ho] und eau [o] nicht homophon sind - der sog. ouïsme: homme [hum], pommier [pumje] etc. - die Öffnung von [ɛ] vor /ʁ/, das häufig als [r] realisiert ist: certain [sartɛ̃ ], fermier [farmje] Die Morphologie ist ebenfalls durch Archaismen/Dialektalismen gekennzeichnet: - Verbalendung -ont in der 3. P. pl., -ons in der 1. P. pl. in Verbindung mit dem Pronomen je sowie -iont für die 3. P. pl. im imparfait: ils travaillont ‚ils travaillent‘, j'avons ‚nous avons‘, ils aviont ‚ils avaient‘ - Generalisierung von avoir als Auxiliar - umgekehrte Abfolge der Personalpronomen beim bejahten Imperativ (auch in Québec) In der Syntax stößt man u. a. auf ältere Formen bei der Verwendung der Präpositionen (aider à qn., la fille à Emile, aimer de + inf.), die auch im français populaire zu beobachtende Modusverwendung im hypothetischen Satz (si + conditionnel) und Calques aus dem Englischen: Tu peux toujours appliquer pour des bourses (< engl. to apply for). Das Lexikon ist ebenfalls von Anglizismen geprägt; neben vielen älteren und in das phonologische System integrierten, finden sich in neuerer Zeit viele Luxusentlehnungen, z. B. [watʃe] für regarder. Archaismen bzw. Dialektalismen sind z. B.
|| 67 Dieses Merkmal erklärt die Lautung von cajun/cadjin/cadien: engl. ['keɪdʒən], fr. [kadʒɛ͂ ].
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abrier ‚couvrir‘, bailler ‚donner‘, garrocher ‚lancer, jeter‘, gravaille ‚gravier‘, hardes ‚vêtements‘, menterie ‚mensonge‘, die z. T. auch in Québec bekannt sind.68 Dass das Französische dank der Refranzösierungsbemühungen daneben noch in einer Form auftritt, die stärker von der hexagonalen aber auch von der Quebecker (Standard-)Varietät beeinflusst ist, ändert nichts an den massiven Sprachkontakteinflüssen des omnipräsenten Englischen. Insbesondere schlägt sich dieser Einfluss in weitverbreitetem code-switching (fr. alternance codique) und der Herausbildung einer als chiac69 bezeichneten Mischform nieder. Es handelt sich dabei um eine hybride, partiell stabile Varietät (cf. Perrot 2005, 313), die primär von der jüngeren zweisprachigen Bevölkerung verwendet wird.70 Obwohl sie traditionell als stigmatisiert gilt, fungiert sie auch als Identitätsmarker: „[...] le ‚chiac‘, associé au mélange est fortement dévalorisé, bien que des mouvements de contre-légitimité soient de plus en plus visibles, particulièrement chez les jeunes et les artistes“ (Boudreau 2016, 56). Die Basis des chiac bildet ein stark anglisiertes Französisch, das durch spezifische Restrukturierungsprozesse gekennzeichnet ist. So können Entlehnungen aus dem Englischen Funktionen erhalten, die sie in der Spendersprache nicht haben, wie beispielsweise back im Verb back watcher ‚regarder de nouveau‘ oder im folgenden authentischen Dialog, wo es in Kombination mit supposer auftritt (cf. Perrot 2005, 315): Sprecher 1: Sprecher 2:
c’est-tu encore on ça? non but c’est back supposé venir on
‚est-ce que ça passe encore?‘ ‚non, mais c’est censé repasser‘
Das Adverb back kann im Englischen so nicht verwendet werden, und auch als Entlehnung im Französischen ist es auffällig: Zum einen drückt engl. back nicht die Wiederholung einer Handlung aus, sondern das Zurückkehren an einen Ort oder zu einer Situation (man erwartet im Englischen again), zum anderen würde die Wiederholung im Französischen nicht mit Hilfe eines Adverbs, sondern mittels eines morphologischen Verfahrens ausgedrückt (Präfigierung mit re- wie in der Übersetzung des Antwortturns).71 || 68 Differenzielle Darstellungen des (traditionellen) Wortschatzes des français acadien und ihm nahestehender Varietäten liegen mit Cormier (1999), Brasseur (2001) und Naud (2011) vor. 69 Die Bezeichnung dürfte auf den Namen der in Nouveau-Brunswick gelegenen Kleinstadt Shediac zurückgehen. 70 Auch wenn der Umstand, dass es für eine solche bilinguale Interaktionspraxis eine eigene Bezeichnung gibt, auf eine Stabilisierung hindeutet, ist nicht von einer eigenen, autonomen Varietät, etwa im Sinne einer Mischsprache, auszugehen. Zur Problematik der Autonomisierung/Stabilisierung von code-switching cf. u. a. Lüdi (1998) und Auer (2014). 71 Bei King (2008) findet sich eine gute Zusammenschau der (älteren) Forschung zum chiac und zum französisch-englischen Sprachkontakt in Acadien, auch hinsichtlich der Frage, in wie weit das
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6.3.2 Ontario und andere kanadische Provinzen/Territorien Schon in der Frühzeit der Kolonisierung der Nouvelle-France stießen französische Waldläufer (fr. coureurs de[s] bois) und Siedler nach Westen vor. Die zahlenmäßig größte frankophone Gemeinschaft, die durch Auswanderung aus Québec im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden war, findet sich in der Provinz Ontario: 493.000 Sprecher (3,9 % der Gesamtbevölkerung) gaben 2011 an, Französisch als alleinige Muttersprache zu haben. Rechnet man Zwei-/Mehrsprachige hinzu, kommt man auf 561.000 Frankophone.72 Ab den späten 1960er Jahren kam es zu einer teilweisen Offizialisierung des Französischen (französischsprachiges Fernsehen, Bilingualismus in Teilen der öffentlichen/kommunalen Verwaltung, Schaffung eines französischen Primar- und Sekundarschulwesens) (cf. Mougeon 1993; Mougeon/Beniak 1995), wobei der Beschluss der Loi sur les services en français (1986) die zentrale sprachpolitische Maßnahme darstellte: U. a. garantiert dieses Gesetz in taxativ aufgezählten Regionen bzw. Kommunen Ontarios, dass die öffentliche Verwaltung auf Französisch funktioniert (cf. https://www.ontario.ca/fr/lois/loi/90f32#BK34). Eine geraffte Darstellung des Französischen in Ontario gibt Thomas (1989); wesentliche externe Faktoren, die seine Erscheinungsformen beeinflussen, sind die Abwesenheit eines organisme centralisateur, wodurch teils archaischere, teils innovativere Lösungen als im français québécois ermöglicht werden, sowie die stärkere Dominanz des Englischen. Generell ähnelt das in Ontario gesprochene Französisch jedoch stark der Quebecker Varietät, auf jeden Fall bei jenen Sprechern, die das Französische tatsächlich regelmäßig in den verschiedensten Domänen verwenden (cf. Nadasdi 2005, 108s.). In den anderen, noch weiter im Westen Kanadas gelegenen Provinzen (Alberta, Saskatchewan, Manitoba, British Columbia/fr. Colombie-Britannique), in Neufundland und Labrador (fr. Terre-Neuve-et-Labrador) sowie in den unter bundesstaatlicher Hoheit stehenden Territorien (Yukon, Northwest Territories/fr. Territoires du Nord-Ouest, Nunavut) ist das Französische ein Minderheitenphänomen: Der Anteil der muttersprachlichen Frankophonen liegt zwischen knapp 0,5 % (Neufundland und Labrador) und 4,3 % (Yukon). Absolut betrachtet leben in Alberta (ca. 68.000; 1,9 % der Gesamtbevölkerung), British Columbia (ca. 57.000; 1,3 %) und Manitoba (ca. 42.000, 3,5 %) die meisten Sprecher des Französischen.73 Obwohl seit dem Beginn der 1990er Jahre eine „atténuation du déclin des taux de transmission du français des parents à leurs enfants“ (Mougeon 2014, 268) beob-
|| chiac durch Phänomene gekennzeichnet ist, die in anderen Kontaktsituationen der beiden Sprachen nicht vorkommen. 72 Quelle: http://www12.statcan.gc.ca 73 Quelle: http://www12.statcan.gc.ca (Daten aus 2011)
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achtet werden kann, bleibt der Assimilationsdruck in allen genannten Provinzen/ Territorien groß (cf. Landry 2012). Da es sich um Expansionsgebiete des Französischen Quebecker Prägung handelt, ähneln die Varietäten in diesen Gebieten stark dem kolloquialen français québécois. Der Einfluss des Englischen als dominanter Sprache ist massiv und äußert sich in zahlreichen lexikalischen und semantischen Entlehnungen sowie häufigem code-switching (cf. Walker 2013, mit Daten zum in der Provinz Alberta gesprochenen Französisch). Die von Québec ausgehende Expansion des Französischen im Westen Kanadas hat auch zur Herausbildung einer Mischsprache geführt. Das sog. michif/mitchif (Aussprache: [mitʃɪf]; von fr. métis bzw. der älteren Parallelform métif), das eine auffällige „Zweiteilung“ in der Grammatik aufweist – die nominale Komponente kommt fast ausschließlich aus dem Französischen, das Verbalsystem entstammt dem Cree, einer amerindischen Sprache aus der Algonkin-Familie – wird den optimistischsten Schätzungen zufolge noch von einigen Tausend Sprechern in Saskatchewan, Alberta sowie im amerikanischen Bundestaat North Dakota verwendet. Der Ursprung dieser Mischsprache, die sich wahrscheinlich vor der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts stabilisiert hat, ist in der Verbindung von indigenen Frauen mit französischsprechenden Männern zu suchen. Alle michif-Sprecher sind heute zweisprachig mit Englisch (cf. Bakker 1997; Papen 2005).
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6.4 Louisiana 6.4.1 Geschichte des Sprachraumes, Typologie der Frankophonen, Sprachenrechtliches Das Gebiet des späteren Louisiana wurde im 16. Jahrhundert von den Spaniern erforscht, ohne dass dies zu einer Besiedlung und Eingliederung in das spanische Kolonialreich geführt hätte. 1682 nahm Robert Cavelier de la Salle, der von Kanada ausgehend über die Großen Seen und den Mississippi entlang nach Süden vorgestoßen war, das riesige Territorium zwischen den Großen Seen und dem Golf von Mexiko für Frankreich in Besitz; zu Ehren Ludwigs XIV. nannte er es Louisiane. Es dauerte jedoch noch mehr als 30 Jahre, bis die neue Kolonie wirklich aufblühte. Im Jahre 1717 wurde das Gebiet der Compagnie des Indes von John Law anvertraut (bis 1731), ein Jahr später erfolgte die Gründung von New Orleans (fr. Nouvelle-Orléans). Durch gezielte Propaganda nahm ab dieser Zeit die Zahl der Immigranten aus dem Mutterland zu. Als die französische Herrschaft 1763 zu Ende ging und Louisiana an Spanien fiel, zählte das Land rund 10.000 Bewohner, etwa die Hälfte davon waren schwarze Sklaven, die für die Plantagenwirtschaft (Zuckerrohr) benötigt wurden. Abb. 10: Louisiana (dunkelgrau: Gebiete mit höherem frankophonen Bevölkerungsanteil, Acadiana)
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Etwa 3.000 Acadiens, die von den Engländern vertrieben wurden, siedelten sich zwischen 1764 und 1785 – oft nach längeren Umwegen über die Antillen oder Frankreich – in Louisiana an. Sie wurden von den Spaniern wohlwollend aufgenommen und erhielten Land. Im Gefolge der Sklavenaufstände auf Saint-Domingue (später Haiti) ab 1791 flüchteten bis 1810 etwa 10.000 Weiße und Farbige (Freie und Sklaven) nach Louisiana. Von 1800 bis 1803 war Louisiana noch einmal französisch, dann verkaufte Napoléon I. die Kolonie an die Vereinigten Staaten. 1812 wurde es ein eigener Bundesstaat und blieb, mit kleinen Konzessionen, bis 1968 formal ein einsprachig englisches Gebiet. Die im weitesten Sinne als frankophon geltende Bevölkerung Louisianas setzt bzw. setzte sich aus drei Gruppen zusammen (cf. Dorais 1993, 140s.): - Die Créoles (blancs): Darunter versteht man die sich selbst als „Aristokratie“ einschätzenden Nachkommen aus Frankreich stammender Kolonisten und Siedler, die in erheblicher Zahl auch noch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Louisiana kamen. Ihre Sprache, die in der Literatur oft als français colonial oder de plantation bezeichnet wird, steht bzw. stand dem hexagonalen (Standard-)Französischen sehr nahe. De facto ist diese Gruppe aber heute verschwunden: Smith-Thibodeaux (1977, 48) spricht von drei bis vier Tausend Sprechern, Dorais (1993 [1983], 140) geht von „quelques dizaines de locuteurs“ aus. In der Selbstbezeichnung als créoles ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, nämlich „in einer Kolonie geboren, aber von europäischer Abstammung“ bewahrt. Bis zum Amerikanischen Sezessionskrieg (1861–1865) waren sie als Plantagenbesitzer die Träger der wirtschaftlichen Macht. Zuzug aus anderen amerikanischen Bundesstaaten und die wirtschaftliche Modernisierung führten schließlich zu ihrer Minorisierung und dem fortschreitenden Aufgehen in der anglo-amerikanischen Kultur, sodass das Französische europäischer Prägung spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Louisiana keine Rolle mehr spielt. - Die Cajuns: Sie sind die Nachkommen der aus Acadien vertriebenen französischen Kolonisten und die in ihrer Gruppe aufgegangenen Zuwanderer anderer Herkunft (z. B. Italiener, Deutsche, Iren).74 Ursprünglich Fischer und Bauern, erweiterten sie ihre Erwerbszweige um das Jagen und Fallenstellen. Ihre Siedlungsgebiete lagen im westlichen, früher durch die Sümpfe vom übrigen Land
|| 74 Der Begriff cajun hat seit dem 19. Jahrhundert eine Bedeutungserweiterung erfahren und bezieht sich heute nicht mehr nur auf die Nachfahren der aus Akadien stammenden Siedler; vielmehr wird er im weiteren Sinne mit französischsprachig bzw. französischstämmig (in Louisiana) gleichgesetzt. Zur Filiation zwischen den Cajuns und Akadien in ethnischer und sprachlicher Hinsicht cf. Klingler (2009).
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abgeschnittenen Teil Louisianas. Da sie und ihre Sprache (cajun) von den Créoles blancs, die auf ihre französische Abstammung besonderen Wert legten, verachtet wurden, nannten sie sich selbst z. T. auch Créoles oder Français. Die Anglisierung erfasste auch diese Bevölkerungsgruppe: Die Industrialisierung (angetrieben durch die Entdeckung von Erdölvorkommen) und die Mechanisierung der Landwirtschaft veränderten die traditionellen Lebensformen, 1916 wurde die Schulpflicht (ab 1921 ausschließlich in Englisch) eingeführt. Schließlich haben die aufkommenden elektronischen Massenmedien das Englische in alle Haushalte getragen. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts haben die meisten Cajuns aufgehört, das gesellschaftlich funktionslos gewordene Französisch an die nächste Generation weiterzugeben, sodass heute nur mehr ganz wenige ältere Menschen monolinguale Französischsprecher sind; die mittlere Generation ist vielfach aktiv oder passiv zweisprachig (Französisch/Englisch), die jüngste Generation mehrheitlich einsprachig anglophon (cf. Trépanier 1993, 385). Auf Basis der US-Zensusdaten75 aus dem Jahr 2000 ist davon auszugehen, dass am Ende des letzten Jahrtausends nur mehr etwas unter 200.000 Personen des Französischen mächtig waren bzw. es zu Hause verwendeten (cf. auch Picone/ Valdman 2005, 144). Die Zahl jener, die angaben, französischer oder frankokanadischer Abstammung zu sein, ist jedoch deutlich höher: Rund 545.000 bzw. 179.000 Menschen schrieben sich im Jahre 2000 ein „French“ oder „French Canadian Ancestry“ zu. Vergleicht man die Schätzungen des US-Zensus-Büros für 2009–2013 mit den Daten aus 2000, so ergibt sich ein dramatischer Rückgang bei den Sprecherzahlen, da nur mehr knapp 120.000 Menschen zu Hause tatsächlich Französisch sprechen dürften. -
Die Créoles (noirs): Die Nachfahren der Sklaven – ethnisch entweder Schwarze oder Mischlinge – bezeichnen sich ebenfalls als „créoles“, eine Bezeichnung, die jedoch von den Créoles blancs abgelehnt wurde. Ihre stark stigmatisierte Sprache steht dem Kreolischen von Haiti und Martinique nahe, weist aber mehr Affinitäten zum Französischen auf, weshalb die Kreolsprecher Louisianas in der Literatur oft als frankophon geführt werden. Neuere Schätzungen hinsichtlich der Sprecherzahlen divergieren stark: Während Klingler/Neumann-Holzschuh (2013, 229) von weniger als 7.000 Kreolsprechern ausgehen, nimmt HazaëlMassieux (2012, 10) 20.000 Sprecher an.
Mitte der 1960er Jahre begann sich unter gebildeten Cajuns Unmut angesichts des fortschreitenden Verschwindens des Französischen breit zu machen, und man wurde sich des Umstands bewusst, dass das Französische ein (vor allem wirtschaftli-
|| 75 Quelle: http://www.census.gov
Louisiana | 105
cher) Trumpf sein kann: „Parler français, c’est de l’argent en poche“ war einer der gängigen Slogans, mit denen das Erlernen des Französischen propagiert wurde. Diese Bewegung mündete Ende der 1960er Jahre in eine Reihe von Gesetzen, die u. a. Louisiana zu einem zweisprachigen Bundesstaat machten und FranzösischUnterricht im Primarbereich vorsahen. 1971 wurde im Süden Louisianas, wo die Dichte der frankophonen Bevölkerung am größten ist (French Triangle), per Gesetz sogar ein französischsprachiges Territorium namens Acadiana (cf. Abb. 10) ausgewiesen. Zur Konzertierung der Aktivitäten im Schulbereich wurde der Council for the Development of French in Louisiana (CODOFIL) geschaffen, eine Organisation, in der die politische und akademische Elite des Bundesstaates vertreten ist. Hauptanliegen, zumindest in der Anfangsphase des CODOFIL, war „le bilinguisme reconquis par l’enseignement et le français relié, rallié à la francophonie“ (Henry 1993, 30). Mit den aus diesen Zielvorgaben resultierenden Detailentscheidungen hängt der nur mäßige direkte Erfolg76 der Bemühungen zusammen: Die in hohem Maße wirtschaftlich motivierte Anbindung an die Frankophonie ging mit der Entscheidung einher, als Zielnorm für den Unterricht das français international, d. h. die hexagonale Standardnorm festzulegen. Wegen des fehlenden Lehrerpotentials war das Schulprogramm in den Anfangsjahren von der Kooperation mit frankophonen Partnern (Frankreich, Belgien, Québec) abhängig. Die entsandten coopérants waren natürlich mit der spezifischen Ökologie und Problematik des Französischen in Louisiana nicht vertraut. Zudem war das didaktische Konzept unausgereift: „[...] il consistait en un enseignement du français langue étrangère présenté à petites doses sans liens avec les divers réseaux de communication extra-scolaires et les domaines d’emploi des variétés vernaculaires“ (Valdman 1996, 637). Die Wahl des Standardfranzösischen europäischer Prägung führte in die bestehende Diglossie noch eine zweite high variety ein, wodurch die Sprache der Cajuns noch mehr stigmatisiert wurde. Außerdem war mit dem Erwerb des Standardfranzösischen ein Ziel der betroffenen Eltern nicht erreicht: die Kinder in die Lage zu versetzen, u. a. mit ihren Großeltern kommunizieren zu können. Die Unzufriedenheit mit dem Konzept des CODOFIL zog einerseits eine Nichtbefolgung der Bestimmungen bezüglich des Französischunterrichts (in manchen Bezirken) nach sich, trug andererseits aber – und dies sind die indirekten positiven Effekte der Aktivitäten des CODOFIL – zu einer prise de conscience der Cajuns bei: Man begann eine tragfähige Norm für den Unterricht zu definieren, die ab 1985 an die Stelle des Standardfranzösischen trat, und erarbeitete auf die Zielgruppe zuge-
|| 76 Dennoch lernten im Schuljahr 1991/92 mehr als 77.000 Kinder im Primarschulbereich Französisch, das sind mehr als 4mal so viele wie 1972/73 (cf. Henry 1993, 34).
106 | Die amerikanische Frankophonie
schnittene Lehrmaterialien. Damit war auch der Grundstein für eine auch literaturfähige Verschriftung und stärkere Legitimierung des cajun gelegt. In den letzten Jahrzehnten ist cajun ein positiv besetzter Begriff geworden, der für die Mehrheit der Frankophonen in Louisiana Identifikationswert besitzt. Paradox dabei ist jedoch, dass sich die identité cadjine weniger über die Sprache als über die Abstammung und andere – vor allem im Hinblick auf den Tourismus wichtige – kulturelle Besonderheiten (Stichwort ethnic food) definiert. Eine Normalisierung des Französischen hat der Renouveau der letzten Jahrzehnte nicht bewirkt; es ist weiterhin „absent[e] de la vie de tous les jours“ und kann als „langue culturelle de cérémonie“ (Trépanier 1993, 391) nur in der Musik und Folklore als Vehikel dienen.
6.4.2 Profil des Französischen in Louisiana Die weiter oben vorgenommene Klassifizierung der Frankophonen und ihrer Sprachen in Louisiana ist nur ein Hilfskonstrukt zur besseren Beschreibung. In der Realität ist von einem sprachlichen Kontinuum, insbesondere zwischen dem französischbasierten Kreol77 und dem français cadien/cajun, das im Folgenden im Vordergrund steht, auszugehen (cf. Valdman 1996, 630). Während das Kreol natürlich in grammatischer Hinsicht eigenständig bleibt, sind im Wortschatz die Konvergenzen zwischen dem Kreolischen und dem Französischen in Louisiana weitreichend (cf. Neumann-Holzschuh 1998, 65). Das im Folgenden verwendete Beispielmaterial stammt insbesondere aus Dorais (1993), Maury/Tessier (1991), Neumann-Holzschuh (1991, 1998), Picone/Valdman (2005) und Valdman (1996). Phonetik/Phonologie: - Bei den Vokalöffnungen und Palatalisierungen/Assibilierungen wird besonders deutlich, dass das Französische von Louisiana kanadische Wurzeln hat und einige seiner Merkmale insbesondere auf das français acadien zurückgeführt werden können: moitié [mɔtʃe], tu [tsy], église [eglɪz]. Auch das h aspiré ist als Konsonant erhalten, z. B.: la honte [hɔ͂ t]. - Phonologisch relevant ist der Zusammenfall der Vokale /ɑ͂ / und /ɔ͂ /, eine an sich alte Tendenz des Französischen, die im modernen, v. a. Pariser Sprachgebrauch ebenfalls zu beobachten ist.
|| 77 Zum Louisiana-Kreol cf. insbesondere Neumann (1985) und Klingler/Neumann-Holzschuh (2013), zu den französischen Kreolsprachen generell Hazaël-Massieux (2012) und Stein (2017).
Louisiana | 107
-
-
Bei mittleren und offenen Vokalen + kann man die Konservierung der Nasalvokale feststellen (in Frankreich bereits ab dem 16. Jahrhundert Tendenz zur Entnasalisierung): vilaine [vilɛ͂ n]. Vor /ʁ/ (in der Regel jedoch apikal realisiert) wird [a] oft zu [ɛ] bzw. [æ] geschlossen: cher [ʃær]; [e/ɛ] wird hingegen geöffnet (cf. Québec): Américains [amarike͂ ].
Morphologie/Syntax: Besonders auffallend sind hier wieder die Parallelen zum français acadien, so die Generalisierung von avoir (statt être) als Auxiliar und die Bewahrung von -ont als Verbalendung der 3. P. pl., z. B. j’ai resté ‚j’ai habité‘, ils connaissont ‚ils connaissent‘, vous-autres statt vous sowie die umgekehrte Abfolge bei Personalpronomen beim Imperativ (cf. Québec, Acadie). Wie in anderen Varietäten des Französischen existiert eine Verbalperiphrase mit être après + inf. für être en train de + inf. Andere Merkmale wie analogieinduzierte Regularisierungen und Simplifizierungen der Oberflächenstruktur sind auch in anderen populären Varietäten anzutreffen (cf. Valdman 1996, 642), so die „regelmäßige“ Pluralbildung bei Nomen wie cheval (pl. chevals), Plural-s bei Numeralia, Konkurrenzierung von nous durch on und dadurch Vereinfachung des Verbalparadigmas, Neutralisierung der Genusdifferenzierung bei Adjektiven und Personalpronomen (eux, ils, ça können sowohl für weibliche als auch männliche Referenten stehen), Verwendung des conditionnel in der Protasis des hypothetischen Satzgefüges usw. Lexikon: Auch in diesem Bereich decken sich vielfach das akadische (bzw. generell das kanadische) Französisch mit dem cajun: à cette heure ‚maintenant‘, bâtisse ‚bâtiment‘ (das Wort hat im europäischen Französisch oft einen negativen Beigeschmack), butin ‚mobilier‘, garrocher ‚lancer‘, graffigner ‚égratigner‘, espérer ‚attendre‘, grouiller ‚bouger‘, rester ‚habiter‘, usw. sind auch in Kanada bzw. Acadien belegt (cf. zum Lexikon des cajun und des français acadien Neumann-Holzschuh 1991 und 1998 sowie insbesondere das Wörterbuch von Valdman/Rottet 2010). Viele termes maritimes (z. B. amarrer ‚attacher‘, bord ‚côté‘) und das sog. vocabulaire des Îles, d. h. Wörter, die durch administrative und wirtschaftliche Kontakte in weiten Teilen des ehemaligen französischen Kolonialreiches verbreitet wurden, gehören auch zum Lexikon des cajun, z. B. maringouin ‚moustique‘, habitant ‚cultivateur‘ (auch in Kanada). Amerindisches Adstrat manifestiert sich u. a. in der Toponymie (bayou < chok. bayuk ‚petite rivière‘) und in Tiernamen, z. B. chaoui ‚raton laveur‘. Ouaouaron stellt einen Import aus Acadien dar. Der spanischen Herrschaft sind beispielsweise tchourize/chaurize ‚type de saucisse‘ (< sp. chorizo) und gniappe ‚petit cadeau (que l’on donne à un client)‘ (< sp. ñapa ‚ajout‘) zu verdanken. Der mit Abstand größte
108 | Die amerikanische Frankophonie
Einfluss geht freilich vom Englischen aus: le west ‚l’ouest‘, east d’ici ‚à l’est d’ici‘, drive ‚rouler‘, les brakes ont pas travaillé ‚les freins n’ont pas fonctionné‘ (< engl. the breaks didn’t work), lumière ‚feu (de circulation)‘ (< engl. traffic light), huile ‚pétrole‘ (Einfluss von engl. oil; anglicisme de maintien), improuver ‚améliorer‘ (< engl. to improve) sind nur einige wenige Beispiele. Im Unterschied zum français québécois sind Anglizismen in Louisiana auch in der Syntax i. e. S. zu beobachten: Pour faire les enfants apprendre l’anglais ‚pour faire apprendre l’anglais aux enfants‘ (< engl. to make the children learn English). In Form des code-switching ist das Englische Komponente fast jeden Gesprächs: Der Einfluß des Englischen ist mittlerweile insbesondere in der jüngeren und mittleren Generation so stark, daß oft ganze Passagen auf Englisch in den Diskurs einfließen, was in bezug auf die Zukunftsperspektiven der beiden Vernakulare zu Sorge Anlaß gibt. (Neumann-Holzschuh 1991, 134)
Die Neu-England-Staaten | 109
6.5 Die Neu-England-Staaten Die Frankophonie in den sechs Neu-England-Staaten (Connecticut, Maine, Massachusetts, New Hampshire, Rhode Island, Vermont; cf. Abb. 11) geht in erster Linie auf Auswanderungsbewegungen aus Québec ab etwa der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Zu einem geringen Teil waren auch Auswanderer aus Acadien und dem ehemaligen französischen Mutterland beteiligt. Abb. 11: Neu-England-Staaten
Zwei Gründe veranlassten zwischen etwa 1840 und 1930 mehr als eine halbe Million frankophone Kanadier dazu (cf. Breton 1996, 654), ihr angestammtes Siedlungsgebiet zu verlassen: Zum einen war die Landwirtschaft nicht mehr in der Lage, die rasant zunehmende Bevölkerung Québecs zu ernähren, zum anderen benötigte die sich in den Neu-England-Staaten rasch entwickelnde Industrie (Textil- und Lederverarbeitung, Papierindustrie, Maschinenerzeugung usw.) Arbeitskräfte (cf. Brault 1979, 76).
110 | Die amerikanische Frankophonie
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konnte sich das Französische relativ gut behaupten. Während die traditionellen franko-amerikanischen Institutionen (caisses populaires, paroisses, sociétés de secours mutuel, Vereine und Verbände) noch länger aktiv waren, ist das frankophone bzw. bilinguale Schulwesen in Form der écoles paroissales seither jedoch weitgehend verschwunden (cf. Fox/Smith 2005, 120). Die Franco-Américains (auch Francos genannt) haben sich zwar länger als andere ethnische Minderheiten der USA gegen die Assimilation78 behaupten können (cf. Quintal 1991), mit der abnehmenden Bedeutung der Industrie, dem Eintreten ins Dienstleistungszeitalter, der Infragestellung alter Werte und Hierarchien (Vorherrschaft der Kirche) und der Auflösung der traditionellen Wohn- und Sozialformen79 ging jedoch ein Wandel einher, der die kulturelle und sprachliche Amerikanisierung unausweichlich machte: „La Nouvelle-Angleterre est entrée dans l’ère post-industrielle: ses habitants sont désenclavés, brassés, standardisés, foncièrement américanisés“ (Breton 1996, 655). Auch ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl hat nichts daran geändert, dass heute die Akkulturation als „quasi totale“ (Quintal 1991, 78) bezeichnet werden kann. Am deutlichsten lässt sich die fortschreitende Amerikanisierung – als Resultat der gesellschaftlichen Funktionslosigkeit des Französischen – an den Sprecherzahlen ablesen: 1970 sprachen in den sechs Neu-England-Staaten 906.000 Menschen das Französische als Muttersprache; 1980 gaben 412.000 an, zu Hause Französisch zu verwenden, 10 Jahre später sind es nur mehr 339.000 (cf. Breton 1996, 652s.). Die Zensusdaten von 2000 zeugen von einem weiteren Rückgang: Je nach Bundesstaat gaben zwischen 1 und weniger als 5 % der Bevölkerung an, zu Hause Französisch zu sprechen (gesamt: ca. 264.000); das sind zwischen 10 und 27 % jener, die in irgendeiner Form französischer Abstammung sind (cf. Fox/Smith 2005, 126). Zwischen 2000 und 2010 hat die Zahl derjenigen, die Französisch als Heimsprache verwendet, weiter abgenommen, und zwar über alle sechs Bundesstaaten hinweg im Durchschnitt um 23 % (cf. Fox 2017, 378). Dabei muss man sich ins Bewusstsein rufen, dass diese Frankophonen natürlich zweisprachig sind. Aus innerlinguistischer Perspektive ist festzuhalten, dass das Französisch der Francos dem kanadischen Französisch in seiner Quebecker bzw. akadischen Ausprägung nahe steht; aufgrund des spezifischen Erwerbskontexts zeigt sich jedoch, dass die Varietäten der dritten und vierten Generation der Einwanderer stärker vom hexagonalen Standard beeinflusst sind (cf. Szlezák 2010, 111 mit speziellem Bezug zur Situation des Französischen in Massachusetts).
|| 78 Weshalb sie manchmal in Anspielung auf die wenig assimilationsfreudigen asiatischen Einwanderer an der amerikanischen Westküste scherzhaft als Chinois de l’est bezeichnet werden. 79 Im Industriezeitalter lebten die Franco-Américains meist abgeschlossen von anderen Gruppen in Ghetto-artigen Siedlungen (sog. Petits Canadas). Unter die Veränderung der Sozialformen fallen vor allem auch Mischehen, die den Übergang zum Englischen fördern.
Die Neu-England-Staaten | 111
Arbeitsaufgaben: 1. Die französischsprachige Universität in Nouveau-Brunswick heißt Université de Moncton. Versuchen Sie herauszufinden, wer oder was Moncton war! 2. Untersuchen Sie mit Hilfe des ALF (Atlas linguistique de la France) die Verbreitungsgebiete verschiedener Eigenheiten des kanadischen Französisch in Frankreich (z. B. ALF 612 „froid“, 91: „nous avons“, 1333: „trois, vous trois“, 1064: „ils portent“, 1376: „vert, verte“, 163: „deux bouts“). Sind diese Merkmale aufgrund ihres Verbreitungsgebiets im kanadischen Französisch zwingend als Dialektalismen einzustufen? Begründen Sie Ihre Antwort. 3. Wie erklärt sich in Louisiana und den Neu-England-Staaten die Diskrepanz zwischen der Zahl der Französischsprecher und jener der Personen mit französischer Abstammung? 4. Suchen Sie die den folgenden Sätzen bzw. Strukturen entsprechenden englischen Syntagmen/Sätze: - Va espérer sur ton customer! (Louisana) - On se joignait tous ensemble (Acadie) - J’ai tombé en amour avec une fille (Connecticut) - ... l’homme que je travaille pour... (Ontario) - ... un édifice de 120 pieds par 240 pieds (Québec) - … la femme que j’ai parlé à hier (Massachusetts) Ist in allen Fällen eine Interpretation als Anglizismus zwingend? 5. Die Grenzen der Klassifizierung regionaler Partikularitäten zeigen sich in Nordamerika u. a. bei den sog. anglicismes de maintien oder de fréquence, weil die Bedeutungen der englischen Wörter und der Anglizismen nicht immer völlig deckungsgleich sind. Erklären Sie die Problematik anhand der folgenden Beispiele: baccalauréat ‚premier degré universitaire (obtenu après trois années d’études)‘, liqueur ‚boisson non alcoolisée‘, cabinet ‚petit meuble‘, cédule ‚programme, horaire, calendrier‘.
112 | Das Französische in Afrika
Abb. 12: Die frankophonen Staaten Afrikas
7 Das Französische in Afrika 7.1 Schwarzafrika 7.1.1 Stellenwert und rechtlicher Status des Französischen, historischer Rückblick Wenn wir uns mit dem Französischen in Schwarzafrika (fr. Afrique noire, Afrique subsaharienne) beschäftigen, betreten wir ein Terrain, das sich zumindest in zweierlei Hinsicht fundamental von anderen frankophonen Gebieten unterscheidet. Für die Sprecher stellt das Französische nur sehr selten die Muttersprache, d. h. die als erste erlernte Sprache, dar. Im Unterschied zu Ländern wie Deutschland, Italien oder den USA ist es aber keineswegs eine Fremdsprache, sondern integraler Bestandteil der kommunikativen Umwelt und des Erfahrungshorizonts eines jeden einzelnen – egal ob er nun eine der muttersprachlichen Kompetenz vergleichbare besitzt oder nur über rudimentäre Kenntnisse verfügt. Die gesellschaftliche Seite dieser Feststellung ist die Tatsache, dass nur Teile der Kommunikationsbedürfnisse vom Französischen abgedeckt werden und es in allen schwarzafrikanischen Staaten in Kontakt bzw. Konkurrenz zu einer oder mehreren autochthonen Sprachen steht. Gabriel Manessy (1994, 12) hat die Situation des Französischen in Schwarzafrika mit jener verglichen, die im 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich herrschte: Der Status als offizielle Sprache bringt eine funktionelle Verteilung mit sich, bei der in genau abgegrenzten Bereichen nur das Französische volle Gültigkeit hat, ohne dass die Verwendung anderer Sprachen in privaten und sogar in manchen öffentlichen Domänen ausgeschlossen wäre. Der Umstand, dass das Französische heute in 18 Staaten Schwarzafrikas alleine oder gemeinsam mit einer anderen europäischen oder autochthonen Sprache de facto oder de jure offiziellen Status genießt (cf. Tab. 4), ist eine direkte Konsequenz der Kolonisierung. Wenn häufig behauptet wird, die heute frankophonen Staaten Afrikas hätten sich nach der Entkolonialisierung Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre für das Französische entschieden, ist das zwar in Bezug auf das Ergebnis richtig, eigentlich aber nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit war es eine Wahl, zu der es keine echte Alternative gab, denn die postkolonialen Regierungen waren obligés, au moment des indépendances, de supporter le poids d’une tradition coloniale qui leur a légué un appareil juridique, administratif, politique et militaire dont la langue de fonctionnement est le français. (Dumont/Maurer 1995, 14)
Trotz verschiedener Versuche in den jungen unabhängigen Staaten, eine oder mehrere autochthone Sprachen zu Landes- bzw. Amtssprachen zu erheben, war das Französische nicht aus seinen Domänen zu verdrängen. Mit der Beibehaltung des Französischen als Sprache der höheren Domänen haben die neuen unabhängigen,
DOI 10.1515/97878311053346-007
114 | Das Französische in Afrika
offiziell frankophonen Staaten nicht unwesentlich zur internationalen Statusverbesserung des Französischen beigetragen, das spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vor allem in der sog. Ersten Welt an Terrain verloren hat. Tab. 4: Die frankophonen Staaten Schwarzafrikas80
Staaten (unter französischer bzw. belgischer Herrschaft von– bis)
Amtssprache(n)
wichtige autochthone Sprachen
Benin (fr. Bénin; früher: Dahomey; französisch 1805– 1814, 1830–1960)
Französisch
Fon, Aja
Burkina Faso (früher: Obervolta/fr. Haute-Volta; französisch 1896–1960)
Französisch
Mòoré, Dioula, Bissa, Fulfulde (Peul)
Burundi (belgisch 1916–1962)
Kirundi und (de facto auch) Französisch81
Kirundi, Swahili
Dschibuti (fr. Djibouti; französisch 1898–1977)
Französisch und Arabisch
Afar, Somali
Elfenbeinküste (fr. Côte d’Ivoire; französisch 1893–1960)
Französisch
Baoulé, Dioula, Senoufo, Bété
Gabun (fr. Gabon; französisch 1849–1960)
Französisch
Bantusprachen (Fang, Punu, Téké)
Guinea (fr. Guinée; französisch 1885–1958)
Französisch
Fulfulde (Peul), Kissi, Malinké, Susu
Kamerun (fr. Cameroun; partiell französisch 1919–1960)
Französisch und Englisch
Fulfulde (Peul), Ewondo, Douala, Fang, Mandala
Demokratische Republik Kongo (fr. République démocratique du Congo; früher: Zaïre; belgisch 1885–1960)82
Französisch
Swahili, Lingala, Kiluba, Kikongo
|| 80 Von der deutschen Namensform abweichende französischsprachige Länderbezeichnungen werden hier zusätzlich angegeben. Im Text verwenden wir durchgehend die üblichen deutschsprachigen Länderbezeichnungen, die jedoch nicht immer den offiziellen entsprechen (z. B. Elfenbeinküste vs. offiziell: Republik Côte d’Ivoire). 81 Französisch wird zwar nicht (mehr) in der Verfassung erwähnt, ist aber auf verschiedenen Niveaus als eine der Unterrichtssprachen festgelegt. Im tertiären Bildungsbereich ist es konkurrenzlos, und auch in der öffentlichen Verwaltung ist es im schriftlichen Bereich dominant. 82 Zur Unterscheidung der beiden Kongos wird informell auch von Kongo-Kinshasa (Demokratische Republik Kongo; fr. Congo-Kinshasa) und Kongo-Brazzaville (Republik Kongo; fr. Congo-Brazzaville) gesprochen.
Schwarzafrika | 115
Staaten (unter französischer bzw. belgischer Herrschaft von– bis)
Amtssprache(n)
wichtige autochthone Sprachen
Republik Kongo (fr. République du Congo; französisch 1880– 1960)82
Französisch
Munukutuba, Lingala, Lari
Mali (französisch 1895–1960)
Französisch
Bambara, Soninké, Senoufo, Tamasheq
Mauretanien (fr. Mauritanie; französisch 1904–1960)
Arabisch und (de facto auch) Französisch
Hassaniya, Wolof, Pular, Soninke
Niger (französisch 1890–1960)
Französisch
Haussa, SonghayZerma, Fulfulde (Peul), Tamasheq
Ruanda (fr. Rwanda; belgisch 1919–1962)
Französisch, Englisch und Kinyarwanda
Kinyarwanda, Swahili
Senegal (fr. Sénégal; französisch Französisch 1854–1960)
Wolof, Pular, Serere, Diola, Mandingue, Soninke
Togo (französisch 1885–1960)
Französisch
Ewe, Kabye
Tschad (fr. Tchad; französisch 1900–1960)
Französisch und Arabisch
Sara, Fulfulde (Peul), Sango,
Zentralafrikanische Republik (fr. République Centrafricaine; französisch 1887–1960)
Französisch und Sango
Banda, Gbaya, Ngbandi, SangoYakoma,
Die eigentliche Kolonialisierung Afrikas ist rezent; zwar wurden schon im 17. Jahrhundert an der afrikanischen Westküste (1638 Senegal, 1686 Elfenbeinküste, 1704 Benin) Faktoreien errichtet, zu einer wirklichen Erschließung kam es allerdings erst im Second Empire (1852–1870) und in der ersten Hälfte der Troisième République (1870–1940). Die kurz vor und nach der Konferenz von Berlin83 erworbenen Territorien wurden zu zwei großen Verwaltungseinheiten zusammengefasst: Afrique-Occidentale française (A.O.F.) und Afrique-Équatoriale française (A.E.F.). Erstere umfasste von 1910 bis 1958 Senegal, Mauretanien, Mali, Obervolta (fr. HauteVolta; heute: Burkina Faso), Guinea, Niger, Dahomey (heute: Benin) und die Elfenbeinküste; letztere von 1895 bis 1958 Gabun, (Französisch-)Kongo (heute: Republik Kongo), die heutige Zentralafrikanische Republik und den Tschad. Ein Teil Kameruns und Togo, die deutsche Kolonien waren, kamen nach dem Ersten Weltkrieg unter französische Oberhoheit, Burundi und Ruanda (beide ebenfalls deutsch) wur-
|| 83 1884–85: Dabei wurde die territoriale Aufteilung zwischen den europäischen Kolonialmächten festgelegt.
116 | Das Französische in Afrika
den (Belgisch-)Kongo (heute: Demokratische Republik Kongo, früher: Zaïre) einverleibt. Die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs an seinen Kolonien lagen vor allem im primären Sektor, weshalb der Aufbau einer eigenen Industrie unterblieb. Die Schaffung einer Verkehrsinfrastruktur (Eisenbahn-, Straßenbau) war ganz auf die Bedürfnisse dieser Form von Nutzbarmachung abgestimmt, was noch heute erkennbar ist: Die bestausgebauten Verkehrswege verbinden das Landesinnere mit der Küste. In der Anfangsphase wurde das Französische nicht institutionell verbreitet; dennoch spielte eine Institution – die koloniale Armee – eine wichtige Rolle: Zum einen wurden nicht mehr im Dienst stehende Offiziere für die Zivilverwaltung rekrutiert, zum anderen nahmen die sog. tirailleurs sénégalais (sowohl in Afrika als auch in Europa eingesetzte afrikanische Soldaten, nicht notwendigerweise aus dem Senegal) nach ihrer Rückkehr in die Heimat eine Vermittlerrolle zwischen der autochthonen Bevölkerung und der Verwaltung ein, wodurch die Unterworfenen mit (rudimentärem) Französisch in Berührung kamen. Als dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein strukturierteres Schulsystem geschaffen wurde,84 war das erklärte Ziel der Bildungspolitik die Auslöschung der Mehrsprachigkeit auf der Basis von Lehrplänen, die überall im französischen Kolonialreich identisch waren. Allerdings betraf der Französischunterricht in der Realität nur einen äußerst geringen Teil der indigenen Bevölkerung (cf. Nadjo 1992, 345; Vigner 1998, 101), denn Frankreich beschränkte sich darauf, jene auszubilden, die es zur Aufrechterhaltung der Kolonialverwaltung benötigte. Zu diesem Zweck wurden für die Kinder der afrikanischen Bevölkerung und der Kolonisten unterschiedliche Ausbildungswege vorgesehen. Ein mit jenem des Mutterlandes vergleichbares, alle Niveaus umfassendes Bildungssystem wurde hingegen erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Einen etwas anderen Weg schlug die zweite französischsprachige Kolonialmacht Belgien ein; der Akzent lag auf der praktischen Ausbildung, und als Unterrichtssprache wurden auch die afrikanischen Sprachen herangezogen.
7.1.2 Sprecherzahlen Die Zahl der Frankophonen zählt zu den heikelsten Problemen der Demographie in Schwarzafrika, da dabei entschieden werden muss, welches Kompetenzniveau als Kriterium anzusetzen ist. Das heute nicht mehr existierende IRAF (Institut des recherches sur l’avenir du français) verwendete für seine Schätzungen eine 6stufige Kompetenzskala, um das vom français approximatif (etwa vergleichbar mit dem,
|| 84 Davor wurde Schulunterricht von Missionaren erteilt, die sich der lokalen Sprachen und nicht des Französischen bedienten.
Schwarzafrika � 117
was man im deutschen Sprachraum unter Gastarbeiterdeutsch kennt) bis zum français académique der Bildungseliten reichende Kontinuum zu gliedern: - N0: non-francophones - N1: francophones caractérisés par la seule oralité, pouvant écouter et comprendre la radio, répondre à des questions simples. Dans ce groupe sont aussi inclus les scolarisés ayant seulement effectué les premières années de l’enseignement primaire, car, après déscolarisation, ils peuvent être rapidement considérés comme redevenus analphabètes. - N2: francophones caractérisés par la possibilité de lire un journal et d’écrire un texte simple, ce qui correspond à peu près au niveau atteint à la fin d’un cycle primaire de qualité, soit 6 à 7 années d’apprentissage guidé. - N3: francophones caractérisés par la possibilité de lire des ouvrages simples, de comprendre un film parlant français, d’exprimer par écrit des idées simples, ce qui correspond à peu près au niveau atteint à la fin du premier cycle de l’enseignement secondaire (classe de 3e, BEPC [i. e. Brevet d’études du premier cycle], soit 10 à 11 années d'apprentissage guidé. - N4: francophones caractérisés par la pratique aisée d’un français écrit et oral correct, montrant que la langue est dominée, ce qui correspond à peu près à la fin de l’enseignement secondaire (baccalauréat, soit 13 à 14 années d’apprentissage guidé). - N5: francophones ayant effectué des études universitaires (zit. n. Lafage 1990, 770). Da die weitaus größte Zahl der Französisch-Sprecher der Gruppe N2 angehört, können sich große Unterschiede ergeben, je nachdem, ab welchem Niveau man von stabilen Kenntnissen ausgeht. Im Folgenden kontrastieren wir zwei ältere Statistiken – die des Haut Conseil de la Francophonie (HCF, Rapport 1990) und jene von Rossillon (1995, 79ss.), um deutlich zu machen, wie heikel die Bestimmung des Grads der Frankophonie in der Praxis ist. Der HCF geht davon aus, dass eine Mindestschuldauer von vier Jahren für die Etikettierung „frankophon“ anzusetzen ist. Im Hinblick auf wiederholt vorgebrachte Einwände, dass die Dauer der Scholarisierung kein verlässlicher Gradmesser sei,85 werden auch andere, leider nicht näher spezifizierte Faktoren mitberücksichtigt und zwei Kategorien angenommen: „francophones réels“ und „francophones occasionnels“. Rossillon (1995) unterscheidet „locuteurs potentiels“ (= N1) und „locuteurs réels“ (≥ N2).
�� 85 Beim Kriterium der Scholarisierungsdauer muss immer in Betracht gezogen werden, dass die Bedingungen, unter denen in afrikanischen Schulen gelehrt und gelernt wird, einer größeren qualitativen Schwankungsbreite unterliegen können, als man es von den Verhältnissen in der westlichen Welt gewöhnt ist.
118 | Das Französische in Afrika
Tab. 5: Sprecherzahlen des Französischen in Schwarzafrika (1989/1993)86
HCF 1990
Rossillon 1995 FrancoGesamtbevölphones kerung occasionnels
Locuteurs réels
Locuteurs potentiels
Staat
Gesamtbe- Francovölkerung phones réels
Bénin
4,7 Mio.
10 %
20 %
5,1 Mio.
11 %
14 %
Burkina-Faso
8,7 Mio.
7%
15 %
10 Mio.
4%
11 %
Burundi
5,5 Mio.
3%
10 %
5,8 Mio.
2%
13 %
Cameroun
10,8 Mio.
18 %
20 %
12,8 Mio.
3%
27 %
Centrafrique
2,8 Mio.
5%
13 %
3,1 Mio.
8%
16 %
Rép. Congo
2,2 Mio.
35 %
30 %
2,4 Mio.
44 %
15 %
Côte d’Ivoire
12,1 Mio.
30 %
30 %
13,4 Mio.
14 %
34 %
Djibouti
410.000
7%
24 %
-
-
-
Gabon
1,0 Mio.
30 %
40 %
1,1 Mio.
17 %
46 %
Guinée
7,1 Mio.
5%
10 %
6,2 Mio.
5%
15 %
Mali
8,9 Mio.
10 %
10 %
8,9 Mio.
5%
5%
Mauritanie
2,0 Mio.
6%
4%
2,2 Mio.
6%
10 %
Niger
7,4 Mio.
7%
15 %
8,5 Mio.
3%
8%
Rép. dém. Congo
34,9 Mio.
5%
10 %
41,2 Mio.
9%
30 %
Rwanda
7,0 Mio.
3%
5%
7,4 Mio.
2%
20 %
Sénégal
7,2 Mio.
10 %
14 %
7,9 Mio.
9%
15 %
Tchad
4,9 Mio.
3%
20 %
5,4 Mio.
4%
16 %
Togo
3,4 Mio.
20 %
30 %
4,1 Mio.
18 %
18 %
Dass die prozentualen Anteile zwischen den beiden Statistiken stark schwanken, liegt nicht so sehr am zeitlichen Abstand (1989 vs. 1993) als vielmehr an unterschiedlichen Erfassungskriterien und einem – bei Daten aus offizieller französischer Hand – immer zu beobachtenden Optimismus. Im Hinblick auf Lafage (1990, 771), die von stabilen Kenntnissen erst ab N3 ausgeht und alle darunterliegenden Niveaus unter „français approximatif“ subsumiert, sind beide Statistiken sicher als zu unkritisch einzustufen. Aber auch neuere Angaben zu Sprecherzahlen müssen mit gebührender Vorsicht gelesen werden. So veröffentlichte das Observatoire de la langue française (OLF), eine Teilorganisation der OIF, im Jahr 2014 die folgenden Daten:
|| 86 Jeweiliger Datenstand: 1989 bzw. 1993.
Schwarzafrika | 119
Tab. 6: Sprecherzahlen des Französischen in Schwarzafrika laut OLF im Jahre 201587
Staat
Gesamtbevölkerung 2015
Französischsprecher
Anteil an der Gesamtbevölkerung
Benin
10,88 Mio.
3,85 Mio.
35 %
Burkina Faso
17,92 Mio.
3,97 Mio.
22 %
Burundi
10,81 Mio
0,90 Mio.
8%
Dschibuti
0,90 Mio.
0,45 Mio.
50 %
Elfenbeinküste
21,30 Mio.
7,22 Mio
34 %
Gabun
1,75 Mio.
1,10 Mio.
61 %
Guinea
12,35 Mio.
2,97 Mio.
24 %
Kamerun
23,39 Mio.
9,33 Mio.
40 %
Demokratische Republik Kongo
71,25 Mio.
33,22 Mio.
47 %
Republik Kongo
4,67 Mio.
2,72 Mio.
58 %
Mali
16,26 Mio.
2,74 Mio.
17 %
Mauretanien
4,08 Mio.
0,53 Mio.
13 %
Niger
19,27 Mio.
2,44 Mio.
13 %
Ruanda
12,43 Mio.
0,70 Mio.
6%
Senegal
14,97 Mio.
4,28 Mio.
29 %
Togo
7,17 Mio.
2,79 Mio.
39 %
Tschad
13,61 Mio.
1,71 Mio.
13 %
Zentralafrikanische Republik
4,80 Mio.
1,41 Mio.
29 %
Auch wenn der Ermittlung der Zahl der Frankophonen eine Vielzahl von Parametern zugrunde gelegt wurde, ist eine globale Angabe – ohne Berücksichtigung des gesellschaftlichen Stellenwerts und der realen Sprachkompetenzen – von geringer Aussagekraft. Wie problematisch die Angaben des OLF sind, verdeutlicht auch die folgende Gegenüberstellung: Für Ruanda, das zu den am wenigsten frankophonen Ländern Schwarzafrikas zählt, ist von 6 % Französischsprechern die Rede. In Bezug auf Österreich, das Beobachterstatus in der Organisation internationale de la Francophonie hat, spricht das OLF von 11 % Frankophonen (Gesamtbevölkerung: 8,56 Mio., Frankophone: 0,97 Mio.). Während jedoch in Ruanda das Französische – wenn auch in beschränktem Umfang – tatsächlich eine gesellschaftliche Realität darstellt, in den Medien und im Bildungswesen (noch immer) präsent
|| 87 Zahlen auf zwei Kommastellen gerundet.
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ist,88 hat das Französische in Österreich im öffentlichen Leben keinerlei Funktion, und der überwiegende Teil der (angeblichen!) „Frankophonen“ sind Menschen, die Französisch irgendwann einmal – in der Regel als zweite Lebende Fremdsprache – in der Schule gelernt haben.89
7.1.3 Ökologie des Französischen: Typologie der Kontaktsituationen Das Französische in Schwarzafrika als Zweitsprache zu bezeichnen, bedeutet, den kleinsten gemeinsamen Nenner für alle soziolinguistischen Situationen festzuhalten, in denen es kommunikative Funktionen in der Gesellschaft erfüllt. Den wahren Stellenwert, den das Französische in den einzelnen Ländern des subsaharischen Afrika genießt – jenseits des rechtlichen Status, der ihm zukommt – hängt in hohem Maße von der Verbreitung und den z. T. historisch gewachsenen Funktionen der autochthonen afrikanischen Sprachen ab, die mit ihm konkurrieren. In den vielfach am grünen Tisch geschaffenen Staatsgebilden, die noch weniger als viele europäische Staaten der westlichen Vorstellung von Nationalstaaten mit einer sprachlich und ethnisch homogenen Bevölkerung entsprechen, haben in sehr unterschiedlichem Ausmaß einheimische Idiome Funktionen in den verschiedensten, auch offiziellen Domänen (Handel, Bildung, Politik, Religion etc.) übernommen. Das Französische steht dabei in Schwarzafrika in zwei verschiedenen Grundszenarien (cf. Manessy 1992, 44) – mit einer breiten Übergangszone – mit den autochthonen Sprachen in Kontakt. Wir illustrieren die beiden Extremfälle im Folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele: A – Das Französische steht einer (oder mehreren) afrikanischen Sprache(n) gegenüber, die als von einer Bevölkerungsmehrheit verwendete Verkehrssprache(n) dient (dienen). Dies ist der Fall in mehr oder weniger einsprachigen Ländern wie Burundi oder Ruanda oder in multiethnischen Staaten wie dem Senegal, der Demokratischen Republik Kongo oder der Zentralafrikanischen Republik, in denen eine der einheimischen Sprachen dominant ist und zur interethnischen Kommunikation dient. In einer solchen Konstellation ist das Französische im Extremfall auf einige wenige Domänen wie Verwaltung, Internationale Beziehungen, Politik u. ä. beschränkt.
|| 88 Cf. Ntakirutimana (2010) zur spezifischen Situation des Französischen in Ruanda, das nicht nur durch die von allen Sprechern beherrschte Nationalsprache Kinyarwanda, sondern insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre auch durch das Englische einer starken Konkurrenz ausgesetzt ist. 89 Zur Problematik der Bestimmung der Zahl der Französischsprecher, insbesondere in Afrika, cf. auch Diao-Klaeger (2015, 510s.).
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Fallbeispiel A1: Burundi In Burundi existiert das Französische, das bis 1991 auch offiziell eine der Amtssprachen war, neben Kirundi und Suaheli. Während Suaheli von rund 10 % der Bevölkerung gesprochen wird und eng mit dem Islam verbunden ist, ist Kirundi für 97 % aller Burundier die Muttersprache (cf. Frey 2017, 563). Thema, Code (mündlich/ schriftlich), Formalitätsgrad und das Repertoire der Sprecher determinieren die Verwendung entweder des Kirundi oder des Französischen: Nur formelle Kommunikation, Schriftlichkeit, sowie eine nicht die eigene Kultur betreffende Thematik bedingen die Verwendung des Französischen (cf. Frey 1993, 248). Alle anderen Kommunikationsbedürfnisse, wie etwa Gespräche im Freundeskreis, in der Familie oder der Schule werden natürlicherweise vom Kirundi befriedigt. Daran ändert auch nichts, dass das Französische im sekundären und tertiären Bildungsbereich Unterrichtsmedium ist. Von der gesellschaftlichen Funktion her betrachtet, hat das Französische für die Mehrheit der Bevölkerung eher den Stellenwert einer (privilegierten) Fremdsprache (cf. Hatungimana 1994, 91), mit Ausnahme der gesellschaftlichen Eliten: „Le français demeure accessible à une minorité restreinte des élites sociales […]“ (Kadlec 2010, 189). Erlernt wird es praktisch ausschließlich im institutionellen Kontext, d. h. in der Schule. Fallbeispiel A2: Senegal Senegal ist ein multi-ethnisches und mehrsprachiges Land. Neben dem Französischen, das alleinigen offiziellen Status genießt sowie Medium und Fach im gesamten Schulwesen ist, sind sechs Sprachen als „langues nationales“ ausgewiesen: Wolof, Pular, Serere, Mandingue, Dioula, Soninke. Wolof ist dominant und wird von mehr als 85 % der Bevölkerung verstanden bzw. verwendet; rund zwei Drittel der Senegalesen haben es als L1, doch nur rund 45 % der Bevölkerung gehören auch der Ethnie der Wolof an (cf. Diallo 2010, 16–21). Vor allem im urbanen Raum kann das Französische viele Domänen nicht besetzen: Dans toutes les communications orales que ce soit dans l’administration, dans les tribunaux et même dans les lieux d’enseignement, le recours au wolof est fréquent. C’est la langue des affaires dans les grandes agglomérations. C’est aussi celle des confréries religieuses dont la puissante confrérie mouride qui l’utilise comme principal vecteur de diffusion de son enseignement. (Cissé 2005, 105s.)
Für die Hauptstadt Dakar gilt, dass das Französische immer weniger im Alltagsleben verwendet wird; sogar Intellektuelle und Verwaltungsbeamte verwenden Wolof (cf. Manessy 1992, 45). Ihm kommt eine zentrale Rolle zu, jene der „langue d’intégration dans la vie quotidienne […] et, partant, du travail formel et informel“ (Daff/Dramé 2016, 153).
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Die unangefochtene Bastion des Französischen – dies hängt mit der offiziellen Sprachpolitik Senegals zusammen – ist jedoch die (formelle) Schriftlichkeit. Fallbeispiel A3: Zentralafrikanische Republik In der Zentralafrikanischen Republik genießt seit der Verfassungsänderung von 1991 auch Sango (ab 1963: „langue nationale“) den Status einer offiziellen Sprache, gemeinsam mit dem Französischen. Daneben gibt es noch mehrere kleinere afrikanische Sprachen, denen aber im Kräftespiel keine Rolle zukommt. Der rechtliche Status des Sango entspricht seiner Stellung in der Gesellschaft: Selbst in manchen Bereichen der Verwaltung befriedigt es – zumindest im mündlichen Bereich – den überwiegenden Teil der Kommunikationsbedürfnisse. Außerhalb der traditionell dem Französischen vorbehaltenen Domänen (internationale Politik, Außenbeziehungen, Schule, Schriftlichkeit) ist das Französische kaum anzutreffen; Anlässe, es spontan zu sprechen, bestehen nur selten: Unter gleichaltrigen Jugendlichen verwenden nur 4,75 % ausschließlich das Französische, 6,53 % wechseln in der Kommunikation zwischen Französisch und Sango, der Rest bedient sich ausschließlich der einheimischen Sprache. Auch unter Freunden wird mehrheitlich Sango gesprochen: 66,62 % sprechen nur Sango, 19,29 % verwenden beide Sprachen, 7,72 % nur Französisch (cf. Wenezoui-Déchamps 1994, 93). Die Situation in der Zentralafrikanischen Republik lässt sich daher alles in allem als „marqué par la prédominance du sango et les fonctions marginales du français“ (Queffélec 1997, 62) beschreiben. B – Das Französische steht einer mehr oder weniger großen Zahl einheimischer Idiome gegenüber, von denen keines dominant ist und überregional/interethnisch verwendet wird. Dabei stehen dem Französischen prinzipiell alle Domänen offen, d. h. auch die nicht-offiziellen. Fallbeispiel B1: Kamerun Das heute offiziell zweisprachige Land (Französisch dominant mit acht Provinzen; Englisch wird in zwei Provinzen im Westen des Landes gesprochen) hat – je nach Zählweise – zwischen 240 und 300 autochthone Sprachen, die unterschiedlichen Sprachfamilien angehören (cf. Echu 2012, 29ss. mit einer Übersicht über die Sprachenvielfalt). Keine dieser Sprachen wird in nennenswertem Umfang in den Medien oder in der Verwaltung verwendet, und ihr Gebrauchswert schwindet, während das Französische in immer mehr Domänen verwendet wird, auch im familiären Kontext (cf. Nzessé 2009, 34). Das Französische eignet sich aufgrund seiner „Neutralität“ besonders für die Funktion einer die Sprachenvielfalt (und die daraus resultierenden Verständigungsprobleme) überbrückenden Dachsprache und wird auch zum Vehikel einer „identité camerounaise“ (cf. Manessy 1992, 51). Es wird nicht nur in der Schule gelehrt und
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gelernt, sondern – vor allem in den urbanen Zentren der südlichen Landesteile – auch auf der Straße, d. h. ungesteuert, erworben (cf. Féral 1993, 206), ist also im öffentlichen Leben überall präsent. Die Landflucht in Richtung der großen Städte Yaoundé und Douala sowie eine überdurchschnittlich junge Bevölkerung sind wesentliche Faktoren für die Verbreitung der französischen Sprache (cf. Onguéné Essono 2016). Fallbeispiel B2: Republik Kongo Die Republik Kongo zählt ebenfalls zu den vielsprachigen Staaten Schwarzafrikas; die interethnische Kommunikation über die rund 70 autochthonen Sprachen hinweg sichern drei lokale Verkehrssprachen (Lingala, Munukutuba, Lari) und das Französische, das allein offiziellen Status genießt. Pressewesen, Medien, Verwaltung, Schule werden vom Französischen dominiert, sodass ein großer Teil der Bevölkerung mit ihm in Kontakt kommt. Die Republik Kongo zählt traditionell zu den Ländern mit besonders hohem frankophonen Bevölkerungsanteil (cf. Tab. 6; zum Status und zu den Funktionsbereichen des Französischen cf. Massoumou/Queffélec 2007). Die Konkurrenz mehrerer einheimischer Verkehrssprachen ermöglicht es dem Französischen, an Bedeutung zu gewinnen (cf. Manessy 1992, 50), allerdings handelt es sich um ein regional markiertes Französisch. Es wird in den Medien verwendet und konkurrenziert zumindest im mündlichen Bereich das Standardfranzösische im Schulwesen, ohne dass der (theoretische) Bezug zur hexagonalen Norm völlig verloren geht. Fallbeispiel B3: Elfenbeinküste Die Elfenbeinküste gilt als „le pays le plus francophone au sud du Sahara“ (Lafage 1996, 587): Das rund 60 Sprachen zählende Land verfügt über keine einheimische Verkehrssprache, die in so hohem Ausmaß wie im Senegal (Wolof), in Burundi (Kirundi) oder der Zentralafrikanischen Republik (Sango) die interethnische Kommunikation zufriedenstellend sichern könnte, daran ändert auch nichts, dass das stark mit dem Islam und der Urbanisierung assoziierte Dioula von einer Mehrheit der Bevölkerung als Zweitsprache verwendet wird (cf. Lafage 2002, XXXIII). Die sprachliche und ethnische Heterogenität der Bevölkerung, die noch durch Zuwanderer (Arbeitsmigranten) aus anderen schwarzafrikanischen Ländern verstärkt wird, bildet einen idealen Nährboden für die Generalisierung des Französischen, das vor allem im urbanen Raum allgegenwärtig ist. Bevölkerungsmischungen (Mischehen) haben zur Folge, dass das Französische immer mehr zu einer Alltagssprache (fr. langue vernaculaire) wird (cf. Kouadio 2008, 7): In einer Umfrage aus den Jahren 2013/2014 haben fast 80 % der befragten Bewohner von Abidjan angegeben, in verschiedensten Alltagssituationen (z. B. auf dem Markt, mit den El-
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tern und den Kindern, in öffentlichen Verkehrsmitteln) Französisch zu sprechen (cf. Koffi 2016, 15). Hinzu kommt, dass es auch als ein die verschiedenen ethnisch basierten Partikularinteressen überspannendes Dach und Ausdruck einer nation ivoirienne bewusst gefördert wurde. Es wird in allen Domänen verwendet, unabhängig vom sozialen Status und Bildungsgrad der Sprecher (cf. Manessy 1992, 53); die Kompetenz ist jedoch sehr unterschiedlich, denn für viele Sprecher ist die Straße „le lieu principal d’apprentissage“ (cf. Lafage 2002, XLII). Die beiden Grundsituationen der Koexistenz des Französischen mit einheimischen Sprachen haben hinsichtlich der Auswirkungen des Sprachkontakts auf das Französische Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede. In allen Konstellationen kann es prinzipiell zu einer „continuité par le bas“ (Dumont/Maurer 1995, 157) kommen, d. h. auf den unteren Kompetenzniveaus, insbesondere wenn der Erwerb des Französischen ungesteuert oder unter schlechten institutionellen Bedingungen erfolgt, durchdringen sich die einheimischen Sprachen und das Französische. Solcher Art stark von der jeweiligen Muttersprache beeinflusste Lernervarietäten werden auf Französisch u. a. als français façon90, français approximatif, français pidginisé, petit français, sabir bezeichnet. Früher war dafür auch der Begriff français petit-nègre üblich. Wenn einer oder mehreren einheimischen Sprachen die Funktion der Verkehrssprache zukommt (Gruppe A), ist oft code-switching (fr. discours mixte, alternance codique) zu beobachten. Dieses Phänomen betrifft, wenn auch nicht ausschließlich, so doch überwiegend, die Bildungsschichten und liegt darin begründet, dass das Französische für diese Sprecher tatsächlich eine wesentliche Komponente des eigenen sprachlichen Repertoires geworden ist (cf. Maurer 1996, 878). Diese bilingualen Sprecher verwenden innerhalb eines Gesprächsturns sowohl das Französische als auch die einheimische Sprache: Le fait est habituellement décrit en termes d’alternance codique, linguistiquement acceptable, mais qui a l’inconvénient de suggérer un choix délibéré ou aléatoire, alors qu’il s’agit d’un mode d’expression cohérent autorisé par une double compétence, d’un discours mixte qui respecte les contraintes syntaxiques des langues employées et qui combine sans heurts et sans ruptures les séquences empruntées à l’une ou à l’autre. (Manessy 1994, 15; Hervorhebungen BP)
|| 90 Façon ist in Schwarzafrika – als Adjektiv – weit verbreitet und drückt aus, dass das Substantiv, das es näher determiniert, nicht wirklich ein Vertreter dieser Klasse ist; es entspricht in etwa einer Periphrase mit une espèce de ... , dem Adjektiv ... indéfinissable oder auch ... de fortune (cf. IFA 1983, 181).
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Zwei Gründe sind für dieses Sprachmischungsphänomen, das eher der parole zuzuordnen ist als der langue (cf. Dumont/Maurer 1995, 157ss.), zu nennen: 1. Zum Teil spielt die Kompetenzfrage eine Rolle, denn eine volle Zweisprachigkeit, bei der beide Sprachen alle Kommunikationsbedürfnisse abdecken können, ist selten gegeben. Kompetenzlücken in der einen Sprache werden mit Elementen aus der anderen Sprache gefüllt (cf. Wenezoui-Déchamps 1994, 96 mit Evidenz aus dem franc-sango in der Zentralafrikanischen Republik). Dabei kann es zu starken Sprachkontakteinflüssen auf die einheimische Sprache kommen. 2. Wesentlich ist ferner, dass mit der Sprachmischung die Prestigesprache Französisch verwendet werden kann, gleichzeitig aber nicht auf den Ausdruck afrikanischer Authentizität verzichtet werden muss. Wie in anderen Teilen der Frankophonie genießt das hexagonale Französisch das höchste (offene) Prestige, das Streben nach einer vollständigen Ausrichtung darauf91 oder seine alleinige Verwendung, unter Preisgabe identitätsstiftender regionaler Merkmale, wird aber auch in Schwarzafrika von vielen Sprechern nicht gutgeheißen. Wenn etwa in Wahlreden von afrikanischen Politikern code-switching praktiziert wird, geschieht dies nicht nur wegen bestimmter Inhalte, sondern weil jemand, der (auch) Französisch spricht, sich als kompetent, handlungsfähig, gebildet etc. darstellen kann, gleichzeitig aber durch die Verwendung der autochthonen Sprache Volksnähe signalisiert. Sprachmischungsphänomene der skizzierten Art wurden u. a. für die Zentralafrikanische Republik (Französisch/Sango: franc-sango, fransango), den Senegal (Französisch/Wolof: francolof), die Republik Kongo (Französisch/Lingala: frangala), Burundi (Französisch/Kirundi) und Madagaskar92 (Französisch/Malgasy: frangache) beschrieben, sind aber auch in Staaten der Gruppe A nicht ausgeschlossen (z. B. Demokratische Republik Kongo: Französisch/Lingala).93 Der Umstand, dass es eigene Namen für diese Form des sprachlichen Interagierens gibt, darf nicht ohne weiteres als Indiz für eine Stabilisierung im Sinne der Herausbildung einer Mischsprache
|| 91 Für eine solche Verletzung der Sprachloyalität – z. B. wenn ein afrikanischer Sprecher den hexagonalfranzösischen Akzent zu imitieren versucht – ist in der Elfenbeinküste, in Burkina Faso und im Senegal das Verb chocobiter (auch: chokhobiter) üblich; das Französische von Gabun kennt dafür das Wort gorger. 92 Madagaskar wird hier nicht nur wegen seiner geographischen Nähe zu Afrika erwähnt, sondern auch weil es hinsichtlich seiner Sprachsituation Ähnlichkeiten mit den schwarzafrikanischen frankophonen Staaten aufweist, im Speziellen mit jenen, in denen eine autochthone Sprache weit verbreitet ist. Weiterführend sei auf Bavoux (1993; 2000), Babault (2006) sowie Randriamarotsimba (2017) verwiesen. 93 Einen guten Eindruck von der Vielfalt solcher Sprachkontaktphänomene geben die Studien in Queffélec (1998).
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interpretiert werden.94 Mit Ausnahme der untersten Kompetenzniveaus kann man davon ausgehen, dass die sprachlichen Repertoires getrennt bleiben. Wenn das Französische – wie in der Gruppe B – zur interethnischen Kommunikation dient, kommt es in verstärktem Maße zu einer echten appropriation mit oft massiven Restrukturierungsprozessen, da das Französische zu einer Alltagssprache wird – man spricht in diesem Zusammenhang von Vernakularisierung (fr. vernacularisation). Konstellationen der Gruppe B fördern in stärkerem Maße die Herausbildung regionaler Varietäten mit endogenen Normen. Der Begriff Norm bezieht sich hier nicht im herkömmlichen Sinn auf die Festsetzung von zu verwendenden Strukturen oder Formen, sondern korreliert mit dem Adjektiv normal, d. h. eine endogene Norm umfasst das, was normalerweise realisiert wird, ohne in positiver oder negativer Hinsicht markiert zu sein. Solche endogenen Normen wie etwa in Kamerun, der Republik Kongo, Burkina Faso oder in der Elfenbeinküste existieren oft in einem Kontinuum mit dem hexagonalen Modell des Französischen und approximativen Varietäten. Die Frage, ob sich die Sprecher der endogenen Norm bewusst sind und sie (zumindest in ihren Vorstellungen) von der exogenen Norm (= das hexagonale Modell des Französischen) unterscheiden können oder ob sie vielmehr glauben, dass ihr Sprachgebrauch dem Standardfranzösischen entspricht, muss von Fall zu Fall untersucht werden.95 Im Falle der Elfenbeinküste z. B. haben die Sprecher sehr wohl ein Bewusstsein darüber, dass sich ihr alltägliches Französisch von dem in der Schule propagierten Standard unterscheidet (cf. Lafage 2002, XLVIII). Vernakularisierungsprozesse in Kontexten, die durch die Präsenz sehr vieler Sprachen gekennzeichnet sind, wie z. B. in Kamerun, der Republik Kongo oder der Elfenbeinküste, können von der Herausbildung sog. parlers hybrides oder métissés begleitet sein. Solche Sprachmischungsphänomene, die über „normales“ code-switching hinausgehen, sind durch Restrukturierungen und eine gewisse Vorhersagbarkeit bestimmter Formen gekennzeichnet. Das folgende Beispiel aus Queffélec (2009, 48) illustriert das camfranglais (auch francanglais genannt), eine Mischvarietät auf Basis des Französischen, des Englischen und autochthoner Sprachen, hier konkret des Duala:
|| 94 Cf. dazu auch das in Kapitel 6.3.1 zum chiac Ausgeführte. 95 Endogene Normen können daher nicht nur den sog. objektiven Normen (fr. normes objectives, normes d’usage) entsprechen, sondern auch subjektive Normen (fr. normes subjectives) darstellen. Darunter versteht man die Vorstellungen der Sprecher vom sprachlich Richtigen, Guten, Schönen und/oder Vorbildhaften. Schließlich ist es auch denkbar, dass endogene Normen kodifiziert werden, was bislang in der Frankophonie jedoch nur in Québec (cf. Kapitel 6.2.2) versucht wurde. Cf. weiterführend zu dieser Problematik Pöll (2017).
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Sprecher 3: [le gaʀ tchopɔ͂ vit + e : ɔ͂ sə mit u] ‚Les gars tchopons vite ; et on se meet où‘ ‚Les gars mangeons vite. Et où va-t-on se rencontrer?‘ Sprecher 2: [ʃtwa twa mɔ͂ big ɛ a la pʝol + pasmwa le diba + ty nə ʒɔ͂ pa] ‚Chez toi mon big est à la piaule passe-moi le diba tu ne jong pas‘ ‚Chez toi. Mon frère aîné est à la maison. Passe-moi de l’eau. Ne bois-tu pas?‘ Sprecher 1: [ʒə ʒɔ͂ g + put mwa bindi da͂ lə kɔp la] ‚Je jong. Put moi bindi dans le cup-là‘ ‚Je bois. Sers-moi un peu dans ce gobelet.‘ Hier sieht man gut den hohen Integrationsgrad der beteiligten Sprachen: Neben (pidgin-)englischen Lehnwörtern (big ‚frère‘, meet ‚se rencontrer‘, tchop ‚manger‘) finden sich Lexeme aus dem Duala (bindi ‚un peu; petit‘, diba ‚eau‘, jong ‚boire‘,), wobei die Verben nach französischem Muster konjugiert werden.96 Andere Vertreter dieser Kategorie sind z. B. das hindoubill in der Demokratischen Republik Kongo und das nouchi in der Elfenbeinküste (cf. Kube 2005). Diese Varietäten waren zunächst nur in Randgruppen der Gesellschaft verbreitet: Kleinkriminelle, vor allem auf der Straße lebende Jugendgruppen sowie bestimmte Berufsgruppen wie z. B. Straßenverkäufer. Sie hatten vor allem eine kryptische und (gruppen-)identitätsstiftende Funktion und wurden daher zunächst als Soziolekte (Gruppensprachen bzw. Argots) angesehen. In der einschlägigen Forschung gehen heute die Meinungen hinsichtlich der Frage, wo diese Mischvarietäten innerhalb des Diasystems des Französischen zu verorten sind, weit auseinander. Dass es so schwierig ist, diese Varietäten in soziolinguistischer Hinsicht präzise zu beschreiben, hängt mit ihrer Dynamik zusammen, denn ihr Sprecherkreis und ihr Funktionsbereich haben sich mit der Zeit ausgedehnt, wodurch sie sich sowohl diatopisch als auch diastratisch und diaphasisch ausdifferenziert haben (cf. Queffélec 2009 mit einem Problemaufriss). Was z. B. das camfranglais anlangt, wird von manchen Forschern (u. a. Simo Nguemkamp-Souop 2009) die Meinung vertreten, dass es in Kamerun die Rolle eines „français ordinaire“ (im Sinne von Gadet 1989) erfüllt. In eine ähnliche Richtung scheint die Entwicklung des nouchi zu gehen, das heute auch von Jugendlichen, die Zugang zu Bildung (und damit zum normierten Französisch) haben, bewusst als Ausdrucksmittel verwendet wird und auch in andere Gesellschaftsschichten vordringt (cf. Aboa 2011; 2016).
|| 96 Zur „Grammatik“ und Lexik des camfranglais cf. insbesondere Ntsobé/Biloa/Echu (2008) und Kouega (2013).
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7.1.4 Erscheinungsformen des Französischen97 Zur linguistischen Beschreibung des afrikanischen Kontinuums werden in der Literatur häufig artifizielle Kategorisierungen vorgenommen; so spricht man z. B. von français acrolectal/mésolectal/basilectal oder français des élites/des lettrés/des nonlettrés. Eine solche Aufgliederung entspricht jedoch oft nicht der tatsächlichen Sprachenlage, da es vielfach zu Konvergenzerscheinungen kommt, insbesondere zwischen den in der Mitte und am oberen Ende des Kontinuums angesiedelten Varietäten. Im Folgenden verzichten wir auf eine Beschreibung nach Kompetenzniveaus oder Registern zwar nicht ganz, verwenden sie aber als Kategorie nur auf einer nachgelagerten Ebene, u. a. weil sie als Idealtypen den faktischen Kompetenzen vieler afrikanischer Sprecher nicht gerecht werden. In der Tat schließt die Zugehörigkeit zu den lettrés nicht zwingend aus, dass auch Aussagen produziert werden, die typisch sind für die Gruppe der Analphabeten, und – freilich seltener – bringen umgekehrt non-lettrés oder peu lettrés teilweise Strukturen hervor, die normalerweise nur im institutionellen Rahmen der Schule erworben werden. Ähnlich präsentiert sich die Situation bei der passiven Kompetenz: Sprecher, die aktiv nur ein petitfrançais gebrauchen können, verstehen vielfach ein dem Standard näher stehendes Französisch, und den Eliten angehörende Sprecher bedienen sich eines Französisch, das dem hexagonalen Modell sehr nahe steht oder erreichen die Zielnorm vielleicht sogar zu 100 %. Im Unterschied zu europäischen Sprechern sind sie aber in der Lage, das approximative Französisch von Analphabeten zu verstehen. Abweichend vom bisherigen Beschreibungsraster nach sprachlichen Ebenen gehen wir beim afrikanischen Französisch von den für seine Spezifika verantwortlichen Faktoren aus, wobei nicht immer alles monokausal erklärt werden kann. Im Rahmen dieser Beschreibung soll auch zu erhellen versucht werden, warum das afrikanische Französisch – trotz einer Vielzahl verschiedener Substrate und eines sich immer wieder vollziehenden Erwerbsprozesses als Zweitsprache – ein erstaunlich einheitliches Gepräge auf mehreren sprachlichen Ebenen aufweist. Für den Bereich des Lexikons, um ein besonders augenfälliges Beispiel vorwegzunehmen, ist dies aus den Forschungen für das Inventaire des particularités lexicales du Français en Afrique noire (IFA 1983) deutlich hervorgegangen.
|| 97 Dieses Kapitel basiert im Wesentlichen auf Manessy/Wald (1984) sowie den in der Bibliographie genannten einschlägigen Titeln. Dem letzten Teil liegt insbesondere Manessy (1992) zugrunde. Wieteres Beispielmaterial wurde dem IFA 1983 (Inventaire des particularités lexicales du Français en Afrique noire) und anderen differenziellen Wörterbüchern für Varietäten des Französischen in Afrika entnommen.
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7.1.4.1 Phänomene beim Erwerb Beim ungesteuerten Erwerb einer fremden Sprache werden Mechanismen und Strategien wirksam, die weitgehend universell sein dürften, d. h. sie wirken unabhängig von der Muttersprache und der zu erwerbenden Sprache. Von wesentlicher Bedeutung ist, dass der Lerner zu Beginn nur über sehr geringe Analysefähigkeiten verfügt; die innere Struktur der zielsprachlichen Äußerungen, mit denen er konfrontiert ist (sog. Input), bleibt ihm vielfach verschlossen. Am einfachsten ist es noch, bedeutungstragende Komponenten aus dem Input herauszuschälen und sie wiederzuverwenden. Dabei können allerdings grammatische Kategorien (Konjugation, Genus etc.) verloren gehen, die verwendeten Elemente sind invariabel, und die grammatische Kohäsion von mit ihnen erzeugten Äußerungen wird in erster Linie durch die Position der kombinierten Einheiten sichergestellt. Bildungsprinzip ist die Juxtaposition, wobei universell sein dürfte, dass 1. Bekanntes (Thema/Topik) vor Unbekanntem (Rhema/Kommentar) steht, 2. von der Bedeutung her zusammengehörige Elemente beieinander stehen, 3. funktionale Einheiten entweder am Anfang oder am Ende einer Äußerung plaziert werden, 4. Angaben der Zeit, des Ortes und der Modalität eher die Anfangsposition der Äußerung einnehmen (cf. Klein 1989, 111s.). Das bisher Gesagte sei mit den folgenden Beispielen aus der Zentralafrikanischen Republik, Togo und der Elfenbeinküste illustriert (cf. Manessy/Wald 1984, 31–36; Lafage 1990, 783); hinzu kommt hier noch die Verwendung von kleineren oder größeren aus dem Input herausgefilterten, aber unanalysierten Einheiten: il y a bzw. il y en a [ja/jana] und c’est [se]. Sie dienen häufig als Träger der Aussage und entsprechen semantisch etwa ‚es gibt‘, ‚es ist‘, ‚da ist‘, ‚es ist der Fall, dass ...‘ oder fungieren als Kopula: (1) le cinq jour se rencontrer ici ‚dans cinq jours nous nous rencontrerons ici‘ (Zentralafrikanische Republik) (2) à Lomé ya beaucoup voiture ‚à Lomé il y a beaucoup de voitures‘ (Togo) (3) moi, c’est va à la maison ‚je rentre chez moi‘ (Togo) (4) lui ventre c’est malade ‚il a mal au ventre‘ (Togo) (5) y en a [jana] machine pour cousir ‚il y a une machine à coudre‘ (Togo) (6) ya [ja] voiture beaucoup (Elfenbeinküste) In Beispiel (1) sieht man, dass Temporalität durch adverbielle Ausdrücke (und in vielen Fällen ausschließlich durch den Kontext) ausgedrückt wird; die Verbalmorphologie ist reduziert, sodass in der Regel der Infinitiv (bzw. das Perfektpartizip) oder eine Form des Präsens erscheint, sofern sich nicht – bei höherer Kompetenz – ein System mit drei Tempora herausbildet: ein präsentisches Tempus (Infinitiv oder Form des Präsens), ein vergangenes (meist passé composé) und ein futurisches (periphrastisches Futur mit aller). (2) zeigt einerseits die rahmensetzende Funktion des Adverbiales und andererseits die nicht korrekt erworbene Verwendung des
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quantifizierenden Ausdrucks. Aus der Wohlgeformtheit von va à la maison in Beispiel (3) ist zu erkennen, dass mit größeren unanalysierten syntaktischen Einheiten operiert wird; typisch ist auch die Topik-Kommentar-Struktur. Ähnlich verhält es sich auch in (4), wo zwei zusammengehörige Topiks (lui / ventre) eingeführt werden, auf die dann der durch c’est eingeleitete Kommentar folgt. In den Äußerungen in (5) und (6) verwenden die Sprecher die typischen Präsentativformen [ja] und [jana]; in (5) begegnet ein durch Übergeneralisierung entstandener falscher Infinitiv (nous partons ↔ partir vs. nous cousons ↔ *cousir). Abweichungen dieses Typs weisen schon auf ein etwas höheres Kompetenzniveau hin. Das letzte Beispiel illustriert zudem – wie auch schon (2) – die nicht normkonforme Verwendung von beaucoup. Juxtaposition als Prinzip zur Erzeugung von Äußerungen ist auch bei abhängigen Sätzen zu beobachten. Daraus resultiert z. B. die abweichende Verwendung der Personen in der indirekten Rede – die Objektsätze sind nicht wirklich untergeordnet, sondern einfach aneinandergereiht: (7) il l’a demandé si tu l’as vu (< il lui a demandé // „tu l’as vu?“) (8) tout le monde conseille l’enfant que si tu vois un chien ne cours pas (< tout le monde donne des conseils à l'enfant //„si tu vois un chien ne cours pas“) Der Erwerb des Französischen in Afrika geschieht in jedem Fall – ob ungesteuert oder institutionell – unter instrumentellen Vorzeichen: Im Vordergrund steht das Bedürfnis zu kommunizieren. Diese Prädominanz der Mitteilungsfunktion steht im Widerspruch zu den sprachlichen Mitteln, zu Regeln – und ganz besonders zu Asymmetrien in der Struktur der Sprache. Unter Funktionalisierung (cf. Manessy 1992, 64) fasst man eine ganze Reihe von Phänomenen zusammen, die darauf abzielen, im Sinne der Optimierung der sprachlichen Ausdrucksmittel Anomalien zu beseitigen oder eine größere Eindeutigkeit in der Zuordnung der Formen zu den durch sie ausgedrückten sprachlichen Funktionen zu erreichen: Simplification, expression des catégories grammaticales au moyen de marques explicites et stables, et [...] résolution d’une ambiguïté propre au français standard, tous ces processus concourent à conférer à la langue seconde une plus grande efficacité dans sa fonction de code de communication. (Manessy/Wald 1984, 29)
Zur ersten Kategorie gehören u. a. die Reduktion der Kongruenz (les Bassas ne peut pas me laisser mourir de faim; les filles ne fait plus ça [Kamerun]), Regularisierungen im Verbalparadigma (z. B. il disa; jusqu’à ce qu’il fusse, usw.), Spezialisierung von Präpositionen (z. B. nur dans für jegliche Lokalisation: je suis venu m’arrêter dans la troisième [Republik Kongo]; ... sortir dans la crise ... [Senegal]; je vais essayer d’apporter ma modeste contribution dans ce travail ... [Senegal]). In diesem Zusammen-
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hang fällt auf, dass im mesolektalen Französisch das System der Präpositionen (vor einem Nomen) auf drei Formen reduziert sein kann (pour, dans und au niveau de),98 wie die folgenden Beispiele (Daff 1998, 111; Senegal) zeigen: les conditions de travail pour les enseignants; dans ce temps-là; … au niveau du professeur, il n’y a pas de problèmes; y a tout un travail à faire au niveau des gens usw. Die Tendenz zu einem regelmäßigeren Verhältnis zwischen Form und Funktion manifestiert sich z. B. in analytischen Umstrukturierungen – aus notre faute, wo notre sowohl Definitheit als auch Zugehörigkeit ausdrückt, wird so la faute pour nous mit der Verteilung der beiden grammatischen Funktionen auf zwei syntaktische Elemente. Die Nominalphrase les frères wird zu beaucoup le frère: Auch hier sind die grammatischen Funktionen (Plural und Definitheit) auf zwei Konstituenten verteilt. Eine besondere Form von Regularisierung stellt die Ausnützung der vom System her möglichen Wortbildungsmuster dar; wie bereits mehrfach beschrieben, passiert dies überall dort, wo Normdruck fehlt. Bildungen wie amender ‚infliger une amende‘ (Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Niger, Senegal, Tschad), balancer ‚peser à l’aide d’une balance‘ (Elfenbeinküste), berceuse ‚bonne d’enfants‘ (Burkina Faso), enceinter ‚rendre (une femme) enceinte‘ (Senegal, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Gabun, Tschad), essencerie ‚station-service‘ (Elfenbeinküste, Senegal), indexer ‚dénoncer, pointer un doigt accusateur sur, juger de façon défavorable‘ (Kamerun, Republik Kongo, Elfenbeinküste, Gabun, Senegal) oder tablier ‚vendeur non ambulant qui présente ses marchandises sur un étal‘ (Burkina Faso, Elfenbeinküste, Mali, Niger, Senegal) würden in Frankreich sicher nicht akzeptiert, obwohl sie prinzipiell morphologisch wohlgeformt sind. Eine Anpassung an die spezifisch afrikanischen Kommunikationsbedürfnisse ist vielfach in den fest etablierten Bedeutungsverschiebungen zu sehen: So bezeichnet frère nicht nur den Bruder im europäischen Sinne, sondern jegliche Person, die man in irgendeiner Weise als zur eigenen Gruppe gehörig empfindet; évolué ist in Schwarzafrika jemand, der eine europäisch geprägte Erziehung erhalten hat, und pomme bedeutet in der Zentralafrikanischen Republik ‚petite banane à peau très jaune‘. Ein weiterer Aspekt der Funktionalisierung und Ökonomie ist die Verwendung generischer Ausdrücke; so verzeichnet das IFA (1983, 183s.) mehr als 120 Verbindungen mit dem Verb faire (z. B. faire palabre avec, faire la causerie, faire l’amitié avec). Es handelt sich dabei um Bildungen, deren Leistung an Funktionsverbgefüge erinnert, denn das Verb aktualisiert den Handlungsaspekt.
|| 98 Hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Lernervarietäten im schulischen und universitären Fremdsprachenunterricht: Auch (deutschsprachige) Lerner des Französischen als Fremdsprache tendieren stark dazu, die semantisch nahezu leeren Präpositionen à und de durch solche mit mehr „Gehalt“ (z. B. dans und pour) zu ersetzen.
��� � Das Französische in Afrika
Im Bereich der Adjektive kann diese Tendenz zu Ambiguitäten führen: gros mot ‚mot recherché, savant‘ und gros français ‚gutes Französisch‘ werden nur nachvollziehbar, wenn man weiß, dass in den afrikanischen Varietäten des Französischen gros neben der physischen Ausdehnung ganz allgemein auch den hohen Grad oder die Intensität ausdrückt. Dass Verben wie pardonner oder prêter auch für ‚demander pardon‘ und ‚emprunter‘ verwendet werden, erklärt sich aus der Dominanz des lexikalischen Gehalts gegenüber grammatischen Beschränkungen. Einen verwandten Erklärungsansatz erfordern der absolute Gebrauch von Verben (fréquenter ‚aller à l’école‘, préparer ‚faire la cuisine‘ etc.) und die Fehler beim Anschluss von Komplementen bzw. Adverbialien (avant, lui c’est travaillé jardinier; il est parti au travailler; mon fils fonctionne chauffeur; Beispiele aus Togo; cf. Manessy/Wald 1984, 38): Im mentalen Lexikon der Sprecher ist nur die Semantik der betreffenden Verben verankert, grammatische Kategorisierungen (z. B. Transitivität, Festlegung der semantischen Rollen) fehlen. Die Absenz bestimmter grammatischer Merkmale (± transitiv, ± belebt, ± zählbar etc.) ist für viele Abweichungen verantwortlich. �.�.�.� Interferenz und Substrat Unter Interferenz versteht man gemeinhin die Übertragung von Strukturen oder Einheiten aus der L1 in die L2. Sie ist ein Phänomen, das bei der Sprachproduktion auftritt, insbesondere dann, wenn Kompetenzlücken bestehen oder Schwierigkeiten lexikalischer, syntaktischer oder phonetischer Art noch nicht vollständig gemeistert werden oder die momentanen Bedingungen für die Produktion von Äußerungen in der Zweit-/Fremdsprache nicht günstig sind (Müdigkeit, mangelnde Konzentration u. ä.). Interferenzphänomene, z. B. im Bereich der Lexik, können sich auch verfestigen und werden dann zu einem fixen Bestandteil des sprachlichen Repertoires aller Sprecher einer Sprachgemeinschaft. Hierbei ist zu bedenken, dass viele afrikanische Sprecher im Alltag primär mit afrikanischem Französisch als Input konfrontiert sind. Eine besondere Rolle spielen die Substrate in der Aussprache. Die weite Verbreitung bestimmter Merkmale hängt mit den ähnlichen Verhältnissen in den zugrundeliegenden Erstsprachen zusammen. Besonders auffällig sind: 1. gerolltes, apikales [r] statt uvularem [ʁ] 2. der häufige Ersatz nasaler Vokalen durch verwandte Oralvokale, z. B. bei: [ɑ͂ ] → [a], [o͂ ] → [a]. 3. die Artikulation von ungerundeten Vokalen statt gerundeten (bzw. zentralen): pr[e]mier, in[i]tile, s[e]lement, dégré (geschrieben), [debita] ‚débutant‘ usw. Das Wissen um dieses artikulatorische Problem kann zu Hyperkorrektismen führen: chez nous → [ʃønu]
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4. die fehlende Differenzierungsfähigkeit bei [s]/[ʃ] einerseits und [z]/[ʒ] andererseits: cheveu [seve], l’argent [larzɑ͂ ], jardin [zardɛ͂ ] 5. epenthetische Vokale, die auftreten, um die aus der Erstsprache vertraute phonotaktische Struktur CVCV beizubehalten (vor allem bei niedrigem Kompetenzniveau): train [tɛ͂ rɛ͂ ], pneu [pine] usw. 6. die Prosodie, die oft durch einen wellenförmigen Intonationsverlauf gekennzeichnet ist; viele afrikanische Sprachen sind sog. Tonsprachen (fr. langues à ton), bei denen Tonhöhenunterschiede phonologisch relevant sind.99 Der Einfluss der jeweiligen Muttersprache macht sich aber auch auf anderen Sprachebenen bemerkbar. So werden Wortbildungsverfahren übernommen (z. B. intensivierende Reduplikation: lui petit petit ‚il est très petit‘). Im Bereich des Lexikons, das dank des IFA (1983) und zahlreicher anderer, neuerer differenzieller Wörterbücher für einzelne afrikanische Varietäten des Französischen sehr gut beschrieben ist,100 finden sich: Direkte (d. h. lexikalische) Entlehnungen, z. B. attali
‚manutentionnaire qui, au marché, charge des marchandises dans un véhicule ou les décharge‘ (< Arabisch; Tschad)
biloko
‚objet, chose‘ (< Lingala; Elfenbeinküste, Ruanda, Tschad, Demokratische Republik Kongo)
go
‚jeune fille‘ (< Bassa; Kamerun)
ndok
‚plat traditionnel d’origine fang‘ (< Fang; Gabun)
ngabko
‚alcool distillé à partir d’un mélange de maïs et de manioc‘ (< Sango; Zentralafrikanische Republik)
pipao
‚tunique pour hommes allant jusqu’à la taille et ouverte sur les côtes‘ (< Bambara; Mali)
reguédiou
‚battements des paupières qui, chez les femmes, exprime divers sentiments et messages‘ (< Wolof, Senegal)
sabar
‚séance de tamtam‘ (< Wolof; Senegal)
tchêba
‚pote, copain‘ (< Mandingue ; Elfenbeinküste)
|| 99 Hinsichtlich der Frage, ob manche Varietäten des Französischen in Afrika als Tonsprachen anzusehen sind cf. Boukari (2010) zum français populaire ivoirien und Bordal (2013) zum français centrafricain. 100 Solche Wörterbücher liegen z. B. für Guinea (Diallo 1999), Kamerun (Nzessé 2015), die Republik Kongo (Massoumou/Queffélec 2007), Elfenbeinküste (Lafage 2002), Gabun (Boucher/Lafage 2000), die Zentralafrikanische Republik (Queffélec 1997), den Senegal (N’Diaye Corréard 2006), den Tschad (Ndjérassem 2005) und Mauritanien (Ould Zein/Queffélec 1997) vor. – Eine gute Einführung in die lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Afrika bietet Lafage (1993).
��� � Das Französische in Afrika
Direkte Entlehnungen füllen oft lexikalische Lücken und können auch Ausgangsbasis für französische Ableitungen werden, z. B. dolo
‚bière de mil‘ (< Mandingue; u. a. Elfenbeinküste, Burkina Faso und Mali) → dolotière ‚femme qui fabrique et vend le dolo‘
malafutier
‚personne dont l’occupation principale est de récolter la sève des palmiers consommée comme vin de palme‘ (< Kituba malàfu + -ier zur Bildung des nomen agentis; Republik Kongo)
thiof
‚espèce de poisson dont la chair est très appréciée; par ext.: homme désirable par son physique, sa situation sociale et sa fortune‘ (< Wolof; Senegal) → thiofesse ‚femme désirable, nana‘
toubab
‚toute personne ayant la peau blanche, à l’exception des Arabo-Berbères‘ (< Arabisch; u.a. Elfenbeinküste, Burkina Faso, Senegal) → toubabisme ‚imitation du comportement, des manières des Blancs‘ (Senegal)
Calques (Lehnübersetzungen) aus den lokalen Sprachen sind ebenfalls nicht selten: froidir son cœur
‚se calmer‘ (Elfenbeinküste)
avoir une mémoire de poule
‚avoir mauvaise mémoire‘ (Kamerun, Mali)
donner la route
‚donner l’autorisation de prendre congé‘ (u. a. Benin, Elfenbeinküste, Mali)
la maladie l’a attrapé
‚il est tombé malade‘ (Guinea)
penser dans sa tête
‚réfléchir profondément ou secrètement‘ (Benin, Togo)
viande de brousse
‚gibier‘ (Elfenbeinküste)
Schließlich kann man auch von Substrateinfluss sprechen, wenn – wie oben beschrieben – Nebensätze (indirekte Rede) ohne Modifikation von Tempus und Person aneinandergereiht werden. Dahinter verbirgt sich die in afrikanischen Sprachen gegebene Möglichkeit, eine dem Verb inhärente Bedeutung ‚sprechen‘ mittels eines que, das mit ‚en disant que‘ paraphrasiert werden kann, explizit zu machen. �.�.�.� Die „manière africaine de saisir et concevoir les choses“: andere Diskurstraditionen und kognitive Strukturen Die Afrika und den dort lebenden Menschen eigene Art, Sachverhalte zu beschreiben, die Wirklichkeit wahrzunehmen und vermittels der Sprache andere daran teilhaben zu lassen, ist wahrscheinlich der bedeutendste Faktor für die Erklärung des einheitlichen Gepräges, das das Französische in Afrika aufweist: Il y a [...] une grande cohérence dans le comportement des locuteurs africains indépendamment des codes linguistiques qu’ils utilisent. Le français se trouve coulé dans un moule énonciatif nouveau et cela est pour beaucoup dans le sentiment d’étrangeté que suscite chez l’auditeur occidental le discours africain. (Manessy 1992, 67)
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Im Detail hängt die hier angesprochene Fremdheit u. a. mit dem im Vergleich zur westlichen Welt höheren Stellenwert zusammen, den Sprache und ihr Gebrauch in afrikanischen Kulturen genießen. Dies äußert sich z. B. in einer oft übertrieben wirkenden Metaphorik und der Präferenz für stereotype Formulierungen; hinzu kommen bei den lettrés wahrscheinlich Bemühungen, die in Afrika allgegenwärtige insécurité linguistique (cf. Kapitel 2) zu kompensieren (das Prestige des hexagonalen Französisch ist in Schwarzafrika intakter als etwa in Québec oder der Wallonie). Hier nur drei Beispiele für die beschriebenen Phänomene: (1) la pénurie s’éloignait des ménagères (im Zusammenhang mit dem Ende von Versorgungsschwierigkeiten) (2) citadelle du silence ‚prison‘ (3) Bonjour L’honneur m’échoit aujourd’hui de venir auprès de votre haute personnalité, vous demander conseil pour la préparation de mon exposé qui a pour thème: […] Voici mon plan: […] Je suivrai votre conseil, l’indication que me donnerez concernant ce que j’ai à faire. Dans l’espérance de recevoir une suite fructueuse de votre part, je vous prie cher professeur de bien vouloir agréer l’assurance de mes sincères déférences. L’étudiant *** Beispiel (1) ist eine schöne Metapher, wirkt aber in diesem prosaischen Kontext deplatziert; (2) gehört nicht einer poetischen Sondersprache an, und das letzte Beispiel (3) – aus einem (handgeschriebenen) Brief eines aus der Demokratischen Republik Kongo stammenden Studenten an einen deutschsprachigen Universitätsprofessor für französische Sprachwissenschaft – verdeutlicht besonders anschaulich eine aus europäischer Perspektive übertrieben formelhafte und stilistisch auffällige Auswahl von sprachlichen Mitteln: Auf die ziemlich informelle Anrede („Bonjour“) folgt die Apostrophierung des Adressaten als „haute personnalité“ verbunden mit einer äußerst gesuchten Wortwahl („…l’honneur m’échoit …“), und der Brief schließt mit einer außergewöhnlich höflichen Schlussformel. Auch die schon beschriebene abweichende Verwendung der indirekten Rede kann z. T. auch durch andere Diskurstraditionen erklärt werden, denn un récit n’est pas la simple relation d’une série d’événements [...] le narrateur s’engage et engage son auditoire dans la situation qu’il évoque. Cela se manifeste par l’emploi fréquent des pronoms allocutifs et parfois par l’irruption inopinée du style direct lorsqu’une opinion est prêtée à un personnage du récit: [...] (Manessy 1992, 66)
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Unterschiede in der Raumwahrnehmung können Probleme mit der dafür inkompatiblen Deixis des Französischen ergeben, denn was für Europäer vor einem Gegenstand situiert ist, kann für Afrikaner u. U. dahinter liegen. Ähnliches gilt für die Struktur von Vergleichen, die vom französischen Muster dahingehend abweichen, dass das Konzept WENIGER nicht existiert. 7.1.4.4 Perspektiven Obwohl viele der im Französischen Afrikas beobachtbaren Phänomene (vor allem jene im Bereich des Erwerbs) auch in französischen Kreolsprachen aufgetreten sind – etwa die Agglutinierung von Determinierern oder die Partikel -là in der Funktion des Artikels –,101 besteht die Gefahr der Pidginisierung und Kreolisierung nicht. Der zumindest theoretisch überall mögliche Zugang zur Standardnorm und das hohe Prestige, das sie genießt, verhindern dies. Wie wir gesehen haben, werden allerdings vielfach Restrukturierungen und auch Komplexifizierungen vorgenommen, wodurch sich die Varietäten des Französischen, insbesondere in vielsprachigen Staaten wie der Elfenbeinküste oder Kamerun, in denen das Französische die überregionale oder interethnische Kommunikation sichert, deutlich vom europäischen Französisch entfernen. Die auf diese Weise entstandenen endogenen Normen auf der mesolektalen Ebene (d. h. das français des lettrés) betreffen nicht nur das Lexikon und die Morphosyntax, sondern insbesondere auch die Pragmatik. So haben z. B. verschiedene Varietäten des Französischen eigene Diskursmarker entwickelt (cf. Diao-Klaeger 2015 mit weiterführenden Literaturverweisen sowie Diao-Klaeger 2017 speziell zum Französischen von Burkina Faso). Was die Vitalität des Französischen anlangt, ist dem OLF (2014, 22) sicher zuzustimmen: Verglichen mit anderen französischsprechenden Gebieten auf der Welt nimmt in Afrika die Zahl der Französischsprecher spürbar zu. Dies gilt jedoch nicht für alle Länder gleichermaßen. Vor allem zwei Faktoren bremsen den Anstieg der Zahl der Frankophonen: schlecht funktionierende Schulsysteme (oft als Folge politischer und wirtschaftlicher Krisen) wie in Mali oder der Elfenbeinküste und die Existenz einer überregionalen autochthonen Sprache, die nicht nur zur Alltagskommunikation dient, sondern auch offizielle Domänen besetzen kann. Dieses Szenario ist in vielen Ländern der Gruppe A (cf. Kapitel 7.1.3) gegeben.
|| 101 Beispiele: ballon là, c’est raté ‚le ballon est cassé‘ (Togo; Manessy/Wald 1984, 45); ya pas du riz ‚il n’y a pas de riz‘– si tu payé ton du riz ‚si tu achètes ton riz‘ (Elfenbeinküste; Lafage 1990, 777).
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Arbeitsaufgaben: 1. Beschreiben Sie die folgenden Beispielwörter bzw. -sätze vor dem Hintergrund der Ausführungen zu den Besonderheiten des Französischen in Afrika: motamoter
‚traduire un texte mot à mot‘
africainement
‚d’un point de vue africain‘
putaine
‚putain‘
son duriz [so͂ dyri]
‚son riz‘
tu ne dois pas mentir que c’est un voleur!
2. 3.
gâter
‚abîmer, détériorer, gâcher, désorganiser, déchirer, faire échouer, contrecarrer etc.‘
bénéficier
‚faire des bénéfices‘
gagner
‚obtenir, recevoir‘
disputation
‚dispute‘
je ne peux pas dire à ma femme que je t’ai trompé
t[e] koreferent mit ma femme (Diao-Klaeger 2015, 517)
Worin liegt aus europäisch-frankophoner Perspektive das Problem bei Afrikanismen wie berceuse, tablier und balancer ? Analysieren Sie den nachstehenden Text hinsichtlich seiner Stilistik und Textsortenadäquatheit: Suite à notre entretien [...] je vous fais parvenir par le ministère de votre collègue [...] A n’en douter votre surprise est grande de constater que je vous retourne votre magnétophone. Mais pour ne rien vous cacher, il n’a pas cessé de faire des siennes depuis le jour où vous me l’avez remis. En effet, outre le problème de lecture que vous me signaliez déjà lors de notre entrevue à Paris, il s’est posé un problème d’enregistrement, avec en prime, une destruction systématique des cassettes. Le sort subi par les deux cassettes que vous m’aviez remises [...] m’a donc amené à faire mon deuil dudit magnétophone [...] Sur ce, je mets un terme à ce petit pli en vous rappelant que je me tiens à votre disposition pour toutes informations supplémentaires. (Brief eines Studenten aus Kamerun an eine französische Linguistin, zit. n. Féral 1994, 44).
4. Lesen Sie Manessy (1984) und nehmen Sie zu den folgenden Punkten Stellung: a) Der Autor vergleicht das français-tirailleur mit dem Französischen der nonlettrés und stellt eine Vielzahl von Übereinstimmungen fest. Was unterscheidet diese beiden Varietäten unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion? b) Warum steht die Hypothese des Substrateinflusses zur Erklärung der Gemeinsamkeiten zwischen français-tirailleur und français des non-lettrés auf so schwachen Beinen? 5. Lesen Sie Nadjo (1992) und beantworten Sie die folgenden Fragen: a) Welche Länder waren führend an der Erforschung Afrikas im 15. und 16. Jahrhundert beteiligt? b) Wer vermittelte zu Beginn der Kolonialära in Afrika das Französische?
138 | Das Französische in Afrika
Inwieweit unterschied sich die belgische von der französischen Schulpolitik? d) Skizzieren Sie den Wandel der Einstellungen zum Französischen bzw. zu den einheimischen Sprachen in der Kolonialzeit und danach. e) Welche grammatische Struktur des Französischen verbirgt sich hinter a ka mobili pousser? f) Welche stilistischen Merkmale glaubt der Verfasser bei Sédar-Senghor auf afrikanische Diskurstraditionen zurückführen zu können? c)
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7.2 Maghreb Im Kontext der Frankophonie werden unter der Bezeichnung Maghreb102 in der Regel die drei nordafrikanischen Staaten Marokko, Algerien und Tunesien verstanden. In Nordafrika sind Beherrschung und Gebrauch des Französischen ähnlich wie in Schwarzafrika ein Phänomen der sozio-kulturellen und ökonomischen Eliten. Von einigen Bereichen des universitären Bildungswesens abgesehen, kann das Französische in keiner der offiziellen Domänen Ausschließlichkeit beanspruchen: Die durch die Arabisierungsbestrebungen nach der Unabhängigkeit verstärkte Präsenz des (Standard-)Arabischen (oft auch als klassisches oder Koranarabisch bezeichnet), das heute in allen drei Ländern Amtssprache ist, steht dem entgegen, auch wenn diese Varietät von vielen Sprechern nicht beherrscht und daher gar nicht aktiv verwendet wird. Zudem werden – wie auch in anderen Teilen der arabischsprachigen Welt – weite Bereiche der (informellen) Mündlichkeit von regionalen/ dialektalen Varietäten des Arabischen103 abgedeckt, die für die überwiegende Zahl der Bewohner des Maghreb die eigentlichen Muttersprachen darstellen. Französisch ist in diesem Gefüge Distanzsprache; seine Verbreitung und Verwendung korreliert generell mit Urbanität und dem Grad der Schulbildung. Auch wenn es nicht Amtssprache ist, genießt das Französische in Tunesien und Marokko einen rechtlichen Sonderstatus, nicht jedoch in Algerien, wo von offizieller Seite die Arabisierungsbemühungen bei zweifelhaftem Erfolg am schärfsten vorangetrieben wurden. Im Unterschied zu Tunesien und Marokko ist Algerien auch nicht in das institutionelle Netz der Frankophonie eingebunden und somit kein Mitglied der Organisation internationale de la Francophonie. Das Französische steht jedoch in allen drei Ländern in einem gesellschaftlich-politischen Spannungsfeld, das von zwei Extrempositionen geprägt ist: einerseits von der völligen Ablehnung der eine kulturelle Abhängigkeit erzeugenden Sprache der ehemaligen Kolonisatoren, verbunden mit der Stärkung der arabisch-islamischen Identität (wobei die Arabisierung nicht grundsätzlich mit dem religiösen Fundamentalismus in Zusammenhang || 102 Gelegentlich werden auch Mauretanien und Libyen unter diesem Begriff subsumiert (sog. Grand Maghreb). Der Gegenbegriff zu Maghreb ist Machrek/Machreq (ar. ‚Osten‘); gemeint ist damit das Ausgangsgebiet der arabischen Expansion ab dem 7. Jahrhundert n. Chr., d. h. jene arabisch geprägten Gebiete, die sich nördlich von Saudi-Arabien befinden. 103 Hinzu kommt noch das Berberische, eine Gruppe von untereinander lexikalisch stark differenzierten Varietäten mit nur rudimentärer Schriftkultur, die – wie das Arabische und Hebräische auch – zur Familie der hamito-semitischen (auch: afro-asiatischen) Sprachen gehören. Den geringsten Anteil an Berberophonen hat mit wahrscheinlich weniger als 1 % Tunesien (cf. Naffati/Queffélec 2004, 45; Gabsi 2011, 142), den höchsten Marokko (35–45 %) (cf. Benzakour/Gaadi/Queffélec 2000, 66). Was Algerien anlangt, schwanken die Angaben zu den Sprecherzahlen zwischen 17 % (cf. Lachachi 2008, 65) und 25–30 % (cf. Moatassime 1992, 21; Chaker 2008, 1). Sowohl in Marokko als auch in Algerien ist Berberisch 2011 bzw. 2016 zur zweiten Amtssprache erhoben worden, was jedoch nur symbolische Bedeutung hat.
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steht, cf. Moatassime 1996), andererseits von einer z. T. glorifizierenden, zumindest aber grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber der langue de Voltaire, die als Vehikel der Modernität, der Öffnung gegenüber der westlichen Welt und eines (diffusen) Humanismus angesehen wird. So konnte z. B. Marley (1998) in einer Ende der 1990er Jahre in Marokko durchgeführten Umfrage zeigen, dass eine große Mehrheit (84 % der Befragten) der Meinung ist, dass alle Marokkaner Französisch lernen sollten. Aber auch für eine Koexistenz des Französischen und des Arabischen sprach sich eine Mehrheit aus. Mit Bezug auf Tunesien beschreibt Mejri (2012, 219) die Situation wie folgt: on peut être contre le français, tout en veillant à bien le maîtriser et à le pratiquer régulièrement, comme on peut le défendre, tout en ayant une maîtrise limitée. Ces représentations et pratiques font le plus souvent l’objet d’un mouvement d’instabilité qui fait qu’il est vraiment difficile d’établir des correspondances très nettes entre les pratiques linguistiques courantes et les positions idéologiques ou politiques.
Zum Erhalt des frankophonen Charakters des Maghreb tragen wesentlich der Tourismus (Marokko, Tunesien), der Konsum französischer bzw. frankophoner elektronischer Medien (Fernsehen, soziale Medien), die Arbeitsmigration sowie die engen wirtschaftlichen Kontakte mit dem ehemaligen Mutterland bei. Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die heutige Sprachsituation in den drei Staaten des Maghreb sowie ihre politisch-historische Genese.
7.2.1 Marokko Nachdem Marokko Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts Spielball der Kolonialmächte war („Marokko-Krisen“ 1905 und 1911, mit dem Aufeinanderprallen deutscher und französischer Hegemonialansprüche), gelangte es 1912 mit der Errichtung eines Protektorats endgültig in den französischen Einflussbereich, Teile des Landes im Norden und Süden wurden allerdings spanisches Protektorat. Nach der Landung der Alliierten im Jahre 1942 wurde Marokko vom amerikanischen Präsidenten Roosevelt die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Die sich schon in den 1930er Jahren formierenden Unabhängigkeitsbewegungen erhielten dadurch zusätzlichen Auftrieb. Unruhen in den 1940er und 1950er Jahren versuchte Frankreich noch durch Absetzung des Sultans Herr zu werden; angesichts der krisenhaften Entwicklung in Algerien (s. u.) entschied sich Frankreich 1956 jedoch dazu, Marokko in die Unabhängigkeit zu entlassen: Die beiden Protektorate wurden vereinigt und 1957 das Königreich Marokko proklamiert, das nach mehreren Verfassungskrisen in den 1960er und 1970er Jahren zu gemäßigt demokratischen Strukturen gefunden hat. In der Zeit des Protektorats war Französisch de facto Amtssprache und prominent im Schulwesen vertreten, was wesentlich zur Erhaltung des frankophonen
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Charakters des Landes nach der Unabhängigkeit beitrug. Im Zuge der Arabisierungsbestrebungen nach Erreichung der Unabhängigkeit wurde das Französische jedoch schrittweise zurückgedrängt. Die unter dem Regime des Protektorats recht günstigen Bedingungen für den Erhalt des arabischen Kulturerbes führten dazu, dass diese Bemühungen in Marokko (und auch in Tunesien) erfolgreicher waren als in Algerien (cf. Moatassime 1996, 287). Französisch ist heute im öffentlichen Raum dennoch stark präsent; es wird im Geschäftsleben konstant verwendet und die öffentliche Verwaltung bedient sich neben dem Arabischen auch des Französischen. In der Schule wird das Französische auf der Primarstufe als Fremdsprache mit sieben Wochenstunden eingeführt. Im Sekundarbereich (öffentliches Schulwesen) ist das Arabische alleinige Unterrichtssprache, d. h. das Französische wird nur als (Fremdsprachen-)Fach gelehrt; in zahlreichen privaten Schulen ist jedoch Französisch Unterrichtssprache. An den Universitäten dominiert das Französische in den Naturwissenschaften, der Medizin, den technischen Disziplinen sowie in den Wirtschaftswissenschaften, während das Arabische Unterrichtsmedium der Geistes- und Sozialwissenschaften ist (cf. OIF 2014, 214). Zielnorm ist das hexagonale Standardfranzösisch, das – sprachdidaktisch betrachtet – als Fremdsprache gelehrt wird. Der Gebrauch des Französischen korreliert mit dem Formalitätsgrad des Sprechanlasses. Für soziales und wirtschaftliches Fortkommen, die Erlangung von Führungspositionen in Wirtschaft und Politik sind Kenntnisse des Französischen unabdingbar. Sein Erwerb erfolgt also primär mit instrumenteller Motivation (cf. Boukous 1996, 695–697). Zum Erwerb eines eher rudimentären Alltagsfranzösisch trägt die Rückkehr von Arbeitsmigranten aus Frankreich während der Ferien bei. Nur die Kinder der urbanen Bildungseliten haben jedoch die Möglichkeit, das Französische auf hohem Niveau in Privatschulen, in denen es Unterrichtsmedium ist, oder z. B. im Zuge von Reisen nach Frankreich zu erwerben. Neben dem Französisch der Bildungseliten, das der präskriptiven Norm verpflichtet ist, existieren aber auch Varietäten, die man unter dem Begriff français mésolectal zusammenfassen kann. Diese mesolektale Varietät ist l’idiome le plus répandu, le plus vivant, le plus typique des variétés de français en usage au Maroc et dans les autres pays du Maghreb. Il est truffé d’emprunts, de créations métissées, de néologismes de forme résultant d’une surexploitation des potentialités offertes par la langue française. (Benzakour 2010, 38)104
Wie auch im subsaharischen Afrika ist die Angabe von Sprecherzahlen wegen der sehr unterschiedlichen Kompetenzniveaus ein schwieriges Unterfangen; für Marok-
|| 104 Zum Lexikon des Französischen in Marokko cf. Benzakour/Gaadi/Queffélec (2000).
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ko geht das Observatoire de la langue française (OIF 2014, 16) für das Jahr 2015 von 31 % Frankophonen aus, das sind 10,66 der 33,96 Mio. zählenden Gesamtbevölkerung.
7.2.2 Tunesien Nachdem Tunesien ab dem 7. Jahrhundert von verschiedenen arabisch-islamischen Herrscherhäusern regiert worden war, kam es gegen Ende des 16. Jahrhunderts unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Ab 1871 war es nominell unabhängig, jedoch erzwang Frankreich 1881 die Unterstellung unter seine Schutzherrschaft, und 1883 wurde offiziell das Protektorat errichtet: Französisch wurde offizielle Sprache, man ließ aber der autochthonen Kultur ihren Raum. Die sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts manifestierenden Bestrebungen, die Unabhängigkeit von Frankreich zu erreichen, mündeten 1953 in blutige Unruhen, die das Mutterland dazu bewogen, dem Protektorat im Jahre 1956 die volle Unabhängigkeit zu gewähren. Habib Bourgiba, der neben Léopold Sédar-Senghor zu den Propheten der Frankophonie zählte, wurde zum Präsidenten gewählt und ließ sich in diesem Amt 1975 auf Lebenszeit bestätigen. Im Jahre 1987 wurde er von seinem Ministerpräsidenten Zine elAbidine Ben Ali abgesetzt. Nach einer kurzen, von einer vorsichtigen demokratischen Öffnung gekennzeichneten Phase herrschte Ben Ali zunehmend autoritär. Sein von Korruption, Diebstahl von Staatseigentum und Unterdrückung geprägter politischer Führungsstil löste im Jahre 2011 den sog. Arabischen Frühling in Tunesien aus. Im öffentlichen Raum (z. B. Beschilderung, Produktetikettierung) ist das Französische stark präsent, jedoch nie exklusiv. Die öffentliche Verwaltung funktioniert offiziell auf Arabisch, de facto wird aber auch häufig das Französische verwendet. Was den Unterricht anlangt, haben die Arabisierungsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte dazu geführt, dass in der ersten Phase der Primarstufe in den öffentlichen Schulen das Arabische dominiert; Französisch wird im dritten Jahr der Primarstufe mit acht Wochenstunden eingeführt. Erst im zweiten Teil der Sekundarstufe wird es dann zum Medium des Mathematik- und Informatikunterrichts sowie für die naturwissenschaftlichen Fächer. Im tertiären Bildungsbereich ist es ebenfalls Unterrichtssprache in den naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fächern, während in den Geisteswissenschaften primär das Arabische und in den Rechtswissenschaften beide Sprachen verwendet werden (cf. OIF 2014, 215; Sayahi 2011, 119s.). Wie in Marokko hängen stabile Französischkenntnisse klar vom Bildungsgrad bzw. -weg ab. Für Tunesien gilt wahrscheinlich, dass es von allen Maghreb-Staaten die am stärksten pragmatische Haltung zum Französischen einnimmt; dies bedeutet allerdings auch, dass für das Englische, das ebenfalls als „langue d’ouverture“ fungieren kann, ein günstiges Terrain vorhanden ist (cf. Manzano 2011, 56s.).
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Was die Sprecherzahlen betrifft, so sollen laut den Angaben des Observatoire de la langue française in Tunesien mit 6,1 von 11,24 Mio. Einwohnern 54 % der Bevölkerung frankophon sein (OIF 2014, 16). Ältere Schätzungen, die als Mindestkompetenz den Sekundarabschluss voraussetzen, sprechen hingegen von nur 5,9 % (cf. Laroussi 1996, 708; Datenmaterial aus den 1980er Jahren).
7.2.3 Algerien Der Algerien betreffende Teil der französischen Kolonialgeschichte gehört – vor allem in seiner Endphase – zu den dunkelsten Kapiteln der französischen Geschichte überhaupt. Die französische Kolonialisierung Algeriens begann im Jahre 1830 mit der Eroberung Algiers. Der arabische Emir Abd el-Kader musste 1843 nach Marokko fliehen und sich 1847 endgültig ergeben. Das Land wurde vollständig erobert, wobei die Franzosen bis in die Sahara vordrangen. Ab 1871 wurden massiv Kolonisten ins Land geholt, vor allem aus dem kurz zuvor von Deutschland annektierten ElsassLothringen. Daneben gab es eine nicht unbedeutende Anzahl von spanischen, katalanischen und italienischen Einwanderern. Die Kolonisten erhielten die fruchtbarsten Gebiete des Landes, die einheimische Bevölkerung wurde brutal enteignet und unterdrückt. Abgesehen davon war die französische Algerienpolitik von einer eindeutig kulturvernichtenden Stoßrichtung gekennzeichnet (cf. Achour 1990); gewachsene Strukturen im Bildungswesen und in der Verwaltung wurden zerstört: C’est [...] en Algérie que la déstructuration culturelle a été la plus féroce et l’impact dévastateur. Les écoles autochtones furent éliminées et l’arabe banni, non seulement de la vie officielle, mais aussi de l’éducation où il n’avait plus qu’un statut de langue étrangère (Hervorhebung B.P.). Une dépersonnalisation aussi profonde, ajoutée à la durée coloniale la plus longue et à son statut le plus répressif du Maghreb, pourrait aussi expliquer, tout au moins partiellement, les déboires actuelles. (Moatassime 1996, 284)
Im Jahre 1848 wurde Algerien offiziell ein Teil des französischen Staatsgebietes; dies bedeutete jedoch keine Statusverbesserung für die autochthone Bevölkerung, etwa im Sinne der Erlangung elementarer Grundrechte. Hoffnung auf politische Veränderungen wurden immer wieder enttäuscht, da die europäischen Siedler (die sog. Pieds-Noirs)105 jegliche Reform blockierten. In den 1920er und 1930er Jahren formierten sich die ersten nationalistischen Gruppen, die eine volle Unabhängigkeit von Frankreich forderten. De Gaulle versprach der autochthonen Bevölkerung zwar 1944
|| 105 Diese Bezeichnung leitet sich vermutlich aus dem Umstand ab, dass die Kolonisten – im Unterschied zur einheimischen Bevölkerung – (schwarze) Schuhe trugen.
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das volle Bürgerrecht, es kam jedoch nur zum sog. Algerien-Statut (fr. Statut de 1947), das der muslimischen Bevölkerung im Lande weiterhin weniger politisches Gewicht zubilligte als der französischen bzw. europäischen Minderheit. Im Jahre 1954 kam es schließlich zum massiven bewaffneten Widerstand gegen die französische Unterdrückung: Der Front de Libération Nationale (FLN), der bald 30.000 Widerstandskämpfer zählte, hielt eine Armee von 500.000 französischen Soldaten in Schach. Obwohl Frankreich auch vor Aktionen nicht zurückschreckte, die heute als „Staatsterrorismus“ bezeichnet würden, gewann die Kolonialmacht erst 1959 die Oberhand. Zuvor (1958) war es durch Putschandrohung der algerischen Siedler und von Teilen der Armee zum Sturz der Vierten Republik und zur Wiederwahl de Gaulles gekommen, der als Verfechter eines zu Frankreich gehörenden Algerien galt. Er leitete jedoch Verhandlungen ein, die trotz eines Putschversuches der Armee und der französischen Siedler in die Verträge von Evian (1962, fr. Accords d’Évian) und schließlich die Unabhängigkeit Algeriens (Volksabstimmung am 1. Juli 1962) mündeten. Die Loslösung vom Mutterland führte zur Aussiedlung fast aller Pieds-Noirs. In der ersten Zeit der Unabhängigkeit (bis 1976) wurde Algerien von mehr oder weniger stark kommunistisch orientierten Machthabern bzw. der Armee kontrolliert. Erst 1989, als eine katastrophale Wirtschaftskrise das Land erschütterte und das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus (fr. intégrisme) förderte, kam es zu einer vorsichtigen Demokratisierung und einem Mehrparteiensystem. Seit 1991, als der fundamentalistische Front islamique du salut (FIS) einen überwältigenden Wahlsieg errungen hatte und daraufhin verboten wurde, kommt das Land nur schwer zur Ruhe. Die 1990er Jahre waren u. a. von einem blutigen Bürgerkrieg und bewaffneten Konflikten mit den Berbern der Kabylei (fr. Kabylie; Gebirgsregion östlich von Algier) geprägt, die sich gegen die radikale Arabisierungspolitik zur Wehr setzten. Wie in dem obigen Zitat bereits angeklungen ist, liegt die heutige konfliktuelle Situation in der französischen Kolonialpolitik begründet, die einer extremen Spaltung der Gesellschaft Vorschub geleistet hat: hie eine frankophone Elite, da die breite Masse der wirtschaftlich benachteiligten arabophonen/berberophonen (oder nur rudimentär frankophonen) Mehrheitsbevölkerung. Die offiziell betriebene Arabisierung der jüngeren Vergangenheit hat nichts daran geändert, dass es durch die Beibehaltung der kolonialen Strukturen im Bildungsbereich in der Zeit der Unabhängigkeit eher noch zu einer „Frankophonisierung“ gekommen ist und der funktionale Wert des Französischen unverändert hoch bleibt: À l’indépendance, le pays hérite d’une élite francisante qui maintient le français comme langue du pouvoir économique et financier, scientifique et technique. Aujourd’hui, il est enseigné dès le primaire comme langue étrangère dans tout le pays. Il reste la langue de l’enseignement dans la plupart des filières scientifiques, en médicine et en architecture. Ailleurs, il reste très présent par la publication d’ouvrages en français, par l’importation de matériel pédagogique et la formation supérieure à l’étranger. (Saadi 1995, 131)
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Was die Rolle des Arabischen und des Französischen im Bildungswesen betrifft, bedeutet dies konkret, dass auf der Primar- und Sekundarstufe das Arabische als Unterrichtsmedium fungiert. Ab dem dritten Jahr der Primarstufe wird das Französische als Fach eingeführt (cf. Oualeb-Pellé 2016). An den Universitäten zeigt sich eine ähnliche funktionale Verteilung zwischen dem Arabischen und dem Französischen wie in den anderen Maghreb-Staaten, d. h. in den wirtschaftlichen und technisch-naturwissenschaftlichen Fächern kommt dem Französischen eine zentrale Rolle zu (cf. Boukhannouche 2016). Auch hinsichtlich der Präsenz des Französischen im öffentlichen Raum und in der Verwaltung zeigt sich ein ähnliches Bild wie in Marokko und Tunesien. Ein Indiz für die große Bedeutung, die dem Französischen nach wie vor zukommt, ist der Umstand, dass z. B. für die Internetauftritte der staatlichen Behörden neben der arabischen auch eine französische Version existiert oder Ausweisdokumente und Briefmarken zweisprachig sind. Obwohl Algerien nicht Teil der institutionellen Frankophonie ist, liegen Schätzungen bezüglich der Sprecherzahlen von Seiten des OIF vor (OIF 2014, 19): Für das Jahr 2008 wird von 11,2 Mio. Frankophonen ausgegangen. Das entspricht 33 % der 34,08 Mio. zählenden Gesamtbevölkerung. Im Unterschied dazu spricht Erfurt (2005, 47) von je 7,47 Mio. „realen“ bzw. „okkasionellen“ Französischsprechern; das wären rund 50 % der Gesamtbevölkerung von 30,3 Mio. im Jahre 2003.
7.2.4 Besonderheiten des Französischen im Maghreb Da es sich beim Französischen im Maghreb um eine Sprache handelt, die vorwiegend im institutionellen Kontext der Schule erworben wird, lassen sich seine besonderen Merkmale häufig aus der Interferenz mit der Erstsprache Arabisch erklären. Freilich hängt das Vorkommensausmaß der Interferenzen von mehreren Variablen ab; neben rein persönlich-psychischen Faktoren (Müdigkeit, Konzentration etc.) spielt der Grad der Scholarisierung und die Intensität des Kontakts mit anderen Frankophonen eine ganz wesentliche Rolle. Die nachfolgende Übersicht beschränkt sich auf die hervorstechendsten und stabilsten Merkmale in den Bereichen der Phonetik, der (Morpho-)Syntax und des Lexikons sowie auf Sprachmischungsphänomene, insbesondere code-switching: Phonetik – der „accent arabe“ Der Vergleich der Phoneminventare des Arabischen und des Französischen ergibt einige offensichtliche „Lücken“ und Unterschiede, die relativ sichere Voraussagen über die Abweichungen erlauben. So verfügt das Arabische nur über zwei Reihen (kurz/lang) von jeweils drei vokalischen Phonemen: /i/, /a/, /u/ und /iː/, /aː/, /uː/. Es gibt also weder die vorderen gerundeten Vokale /y/, /œ/, /ø/ noch die Nasal-
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vokale /ɑ͂ /, /ɔ͂ /, /ɛ̃ /. Im Bereich des Konsonantismus fehlen im Vergleich zum Französischen z. B. /p/, /v/ und /ɲ/. Andererseits verfügt das Inventar des Arabischen über Phoneme, die das Französische nicht kennt, z. B. emphatische Konsonanten.106 Allerdings haben die dialektalen Varietäten des Arabischen, die auch innerhalb des Maghreb stark divergieren können, recht unterschiedliche Realisierungen der vokalischen Phoneme, die dann artikulatorisch den französischen Vokalen ähnlich sind: /a/ schwankt zwischen [e] und [a], /u/ kann auch als [ə] oder [o] realisiert werden (so z. B. im tunesischen Dialekt, cf. Maume 1973, 96). Generell ist aber das arabische System im Vergleich zum Französischen ärmer an Kontrasten, dies ist bei der Aussprache des Französischen durch Sprecher mit Arabisch als Muttersprache häufig spürbar. Manche der im Standardarabischen fehlenden Konsonanten können durch alte Sprachkontakte mit dem Französischen oder anderen Sprachen in regionalen Varietäten sehr wohl vorhanden sein (cf. Maume 1973, 99): Hier ist zu bedenken, dass vor der französischen Kolonisierung im Mittelmeerraum die sog. lingua franca (auch als sabir bezeichnet) als Verkehrssprache im Bereich des Handels verwendet wurde. Sie enthielt romanische (südfranzösische, italienische), arabische und auch griechische Elemente. Typische Abweichungen bzw. Schwankungen (cf. Maume 1973, Bastide 1980, Dalache 1981, Nissabouri 1996), die man im Maghreb hören kann, sind beispielsweise: [ɛ] → [e]
très [tre]
[e] → [i] / [ɔ]→ [u]
téléphone [tilifun]
[y] → [i] / [u]
inutile [initil]
[ɔ̃ ] ↔ [ɑ̃ ]
dont [dɑ̃ ], raison [rezɑ̃ ]
[ɔ̃ ] → [uː]
savon [sabuːn]
[ɑ̃ ] → [a]
campagne [kapaɲ]
[v] → [f] / [b]
vérité [firiti], savon [sabuːn]
[p] → [b]
proviseur [brufizur]
[t] → [ᵵ] /[s] → [ᵴ]
tasse [ᵵaᵴ]
[ʀ]/[ʁ] → [r]
Einen Sonderfall stellt die Ersetzung des uvularen [ʀ] bzw. [ʁ] durch ein gerolltes apikales [r] dar, weil das Arabische über einen Laut (Ghain, transliteriert: ġ) verfügt, der dem uvularen [ʁ]/[ʀ] sehr ähnlich ist, also eigentlich kein großes artikulatori�� 106 Im Arabischen versteht man darunter Konsonanten, die gepresst und weiter hinten im Sprechtrakt produziert werden als ihre nicht-emphatischen Gegenstücke (mit denen sie Minimalpaare bilden).
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sches Problem besteht. Der Umstand, dass die Ersetzung vor allem bei Männern zu beobachten ist, während Frauen dem hexagonalen Standard folgen, hat zur Theorie geführt, dass es sich grundsätzlich um ein historisches Phänomen handelt, weil die ersten Kolonisten Franzosen aus dem Midi, Spanier und Italiener waren. Später sei die apikale gerollte Aussprache dann zu einem Gruppenmerkmal geworden. Zweifelsohne hat die Ersetzung aber auch einen sprachimmanenten Hintergrund (cf. Maume 1973, 101; Walter 1988, 215); zum einen ist das arabische [ʀ] viel seltener als sein gerolltes Pendant, zum anderen wird es bei der Entlehnung aus dem Arabischen fast durchgängig als geschrieben (z. B.: Maghreb, magasin). Morphosyntax: Viele der „Abweichungen“ in diesem Bereich – ein brauchbarer Überblick mit weiterführenden bibliographischen Angaben findet sich bei Gleßgen (1996) – sind nicht typisch für die arabisch-französische Kontaktsituation, sondern vielfach auch in anderen Teilen der Frankophonie belegt. Gleßgen (1996, 53) nennt als charakteristische Eigenschaft des maghrebinischen Französisch: […] seine starke Varianz bei habituellen Wortverknüpfungen (Rektionen, Phraseologismen etc.), die eine deutliche syntaktische Relevanz erhält und jede Sprachäußerung prägt, gleichwohl nur selten zu Lexikalisierungen und Neustrukturierungen auf Systemebene führt.
Zahlreiche Phänomene, die auf der Ebene des Mesolekts beobachtet werden können, sind klar auf den Einfluss des Arabischen zurückzuführen,107 z. B.: - Fehlen der Kopula: les soldats Ø saisis de peur; ses cheveux Ø lisses (Tunesien) - Probleme mit dem Artikel: lorsqu’il y a Ø queue (Tunesien); mener la vie de l’hermite (statt: une vie d’hermite; Marokko) - Schwierigkeiten bei der Verwendung von avoir und être: mon père n’a pas content des notes (Marokko) - Probleme bei der Tempus- und Moduswahl: ils pourront être des excellents maîtres expérimentés si on s’occupe d’eux et on les recycle (Tunesien); hier, il y a un film français à la télévision (Marokko); quoique personne ne peut nier la valeur artistique (Marokko); il espère que les hommes le comprennent (Marokko)
|| 107 Die Beispiele stammen aus Gleßgen (1997), Naffati/Queffélec (2004) und Rhaïb (1998).
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Lexikon:108 Lexikalische Besonderheiten des Französischen im Maghreb – häufig Entlehnungen aus dem Arabischen – erklären sich in vielen Fällen aus spezifischen Bezeichnungsbedürfnissen. Lexeme, die religiöse Sachverhalte bezeichnen, sind im gesamten Maghreb verbreitet und oft auch in Frankreich bekannt, z. B.: charia
‚loi musulmane‘
ramadan
‚id.‘ (bei Bedarf werden auch Ableitungen gebildet: ramadanesque, ramadanien)
(o)umma
‚nation, communauté musulmane‘
niqab/nigab/nikab
‚type de voile‘
fark
‚cérémonie funèbre qui a lieu dans la première semaine après la mort du défunt‘ (Tunesien)
grande fête/grand aïd
‚fête musulmane commémorant le sacrifice d’Abraham‘ (Marokko bzw. Tunesien)
Auch in anderen Lebensbereichen finden sich Entlehnungen, die u. U. länderspezifisch sind; die folgenden Beispiele stammen aus dem marokkanischen und tunesischen Französisch: adel
‚auxiliaire de la justice islamique chargé de la procédure‘ (Marokko)
bouha
‚alcool de figue‘ (Tunesien)
chkouba
‚jeu de cartes‘ (Tunesien)
deggaz
‚guerisseur‘ (Tunesien)
guerrab
‚porteur d’eau‘ (Marokko)
imada
‚circonscription‘ (Tunesien)
lablabi
‚potage aux pois chiches‘ (Tunesien
trid
‚crêpe large, fine et huilée‘ (Marokko)
Ohne den Normdruck, wie er in Frankreich herrscht, kommt es zu Ableitungen von französischen Lexemen, die im ehemaligen Mutterland unbekannt sind, sowie zu auffallenden Bedeutungsverschiebungen: agencier
‚agent immobilier’ (Marokko), ‚employé d’une agence de voyages, d’assurance, etc.’ (Algerien)
|| 108 Alle Beispiele wurden aus den differenziellen Wörterbüchern von Naffati/Queffélec (2004) und Benzakour/Gaadi/Queffélec (2000) sowie Debov (1995), Derradji (1995) und Salah-Eddine (1995) entnommen.
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agrumicole
‚relatif aux agrumes’ (Tunesien)
billetteur
‚vendeur de billets dans les transports collectifs‘ (Marokko)
civiliste
‚jeune diplômé qui accomplit le service civile‘ (Marokko)
chameaudrome
‚champ de course pour dromadaires’ (Algerien)
cycliste
‚réparateur/vendeur de bicyclettes‘ (Algerien, Tunesien)
éditorialiser
‚écrire un éditorial‘ (Marokko)
formaliser
‚rendre officiel‘ (Algerien)
navettiste
‚personne qui fait la navette’ (Marokko)
novembrisme
‚idéologie politique qui se réclame des valeurs à l’origine du déclenchement de la guerre d’indépendance’ (Algerien)
oasien
‚relatif aux oasis’ (Tunesie, Algerien)
ordurier
‚éboueur‘ (Marokko)
parabolé
‚équipé d’une antenne parabolique’ (Algerien, Marokko)
s’urbaniser
‚se concentrer en ville‘ (Algerien)
Code-switching und discours mixte: das francarabe Diese Form der Kommunikation ist überall im Maghreb verbreitet und kann sowohl bei Sprechern mit geringer Französischkompetenz als auch bei den Angehörigen der zweisprachigen Eliten beobachtet werden. Bei ersteren erklärt sich die alternance codique vielfach aus dem Umstand, dass die Kontaktsprachen, vor allem hinsichtlich des Wortschatzes, nicht in vollem Umfang beherrscht werden und der Rückgriff auf die andere Sprache Lücken schließt; für die vor allem in den Städten lebenden kompetenten Bilingualen ist die sprachliche Hybridisierung Ausdruck einer Identität, in der zwei Sprachen eine wichtige Bedeutung zukommt: [...] le discours alternatif est également révélateur de l’emprise culturelle du français; il manifeste combien pour certains l’„union“ des deux cultures véhiculées par l’arabe dialectal et le français a été grande. Pratique individuelle très diversifiée, le discours alternatif est le fait d’une communauté très peu homogène qui a comme principal trait commun d’être citadine. (Boucherit 1987, 120s.)
Code-switching kommt dann vor, wenn vom Interaktionspartner angenommen wird, dass er über die gleiche Kompetenz verfügt. In diesen Fällen ist es jedoch meist auf informelle Kontexte beschränkt, da sich die Sprecher, die das code-switching praktizieren, des Umstands bewusst sind, dass die Verwendung zweier Sprachen nicht normkonform ist.109
|| 109 Cf. z. B. Darot (1998), die Telefongespräche zwischen Freundinnen in Tunis analysiert hat, und Derradji (1998) zum Sprachverhalten von algerischen Studenten.
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In den beiden folgenden Beispielen aus Marokko (cf. Benzakour/Gaadi/ Queffélec 2000, 115) hat das Französische die Rolle der sog. Matrixsprache (fr. langue matrice), in die die arabischen Elemente eingebettet sind: (1) Je t’ai téléphoné plusieurs fois, merra zwabat-ni la secrétaire. - elle m’a dit que tu étais en réunion. ‚je t’ai téléphoné plusieurs fois, une fois. C’est la secrétaire qui m’a répondu. Elle m’a dit que tu étais en réunion.‘ (2) Je ne sais pas pourquoi tu fais cette tête-là. Waxa kunja tu ne l’aurais pas vu. ‚je ne sais pas pourquoi tu fais cette tête-là, même s’il était venu, tu ne l’aurais pas vu.‘ Es handelt sich hierbei um intraphrastisches code-switching, da der Wechsel in die andere Sprache innerhalb eines Satzes bzw. Gesprächsturns erfolgt. Interphrastisches code-switching, d. h. die Verwendung der beiden Sprachen in aufeinanderfolgenden Redebeiträgen kommt ebenfalls vor, ist aber – wie z. B. eine Studie aus Tunesien ergeben hat – weniger häufig und korreliert mit dem Bildungsgrad. Dass interphrastisches code-switching weniger häufig ist, hängt mit der Rolle des Französischen zusammen: Anders als in Migrationskontexten – man denke etwa an die Hispanics in den USA – gibt es für die Sprecher im Maghreb mit Ausnahme bestimmter Domänen (Unterricht, Bereiche des Wirtschaftslebens) wenig Gelegenheiten, durchgehend und länger Französisch zu sprechen. Dies führt auch dazu, dass tendenziell das Arabische die Sprache ist, von der aus geswitcht wird (cf. Sayahi 2011, 131s.). Beim intraphrastischen code-switching können die Sprecher nicht frei wählen, an welchen Stellen sie in die andere Sprache wechseln; die Grammatiken beider Sprachen geben Beschränkungen vor, und es kann zudem für diese Form des sprachlichen Interagierens spezifische Prinzipien geben (cf. Boucherit 1987; Messaoudi 2008). *** Die lange französische Präsenz in Algerien hatte außer den bisher erwähnten in sprachlicher Hinsicht noch zwei andere Konsequenzen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden müssen: 1. Die Übernahme arabischer Wörter in (Non-Standard-)Varietäten des (hexagonalen) Französisch (z. B. bézef ‚beaucoup‘, bled ‚contrée reculée ou petit village isolé, sans commodités ni distractions‘, clebs ‚chien‘, faire fissa ‚faire vite‘, smalah ‚famille, suite nombreuse qui entoure, accompagne quelqu’un‘, maboul ‚fou, cinglé‘, souk ‚pagaille‘, toubib ‚médecin‘) und
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2.
die Entstehung eines français d’Algérie (auch pataouète genannt), einer für die Pieds-Noirs typischen Varietät des Französischen, in das u. a. arabische, spanische, katalanische und italienische Elemente Eingang gefunden haben (cf. zum Wortschatz Duclos 1992). Über diese heute im Verschwinden begriffene Varietät dürften die arabischen Wörter in den Non-Standard-Wortschatz in Frankreich gelangt sein (cf. Gadet/Ludwig 2015, 87).
Arbeitsaufgaben: 1. Versuchen Sie die Etymologie von pataouète und Maghreb herauszufinden! Welches Toponym für eine Kulturlandschaft auf der Iberischen Halbinsel hängt etymologisch mit Maghreb zusammen? 2. Informieren Sie sich über die Ausbreitung des Islams (und damit des Arabischen) im Maghreb. 3. Erstellen Sie anhand der Angaben in Noll (1991) eine Liste der heute noch geläufigen Arabismen im französischen Nonstandard und beschreiben Sie mit Hilfe großer einsprachiger Wörterbücher deren Bedeutung und Verwendung.
8 Schlussüberlegungen Anstatt einer echten Zusammenfassung, die angesichts der Fülle der Daten, Fakten und Sprachenlagen in der französischsprachigen Welt hier gar nicht zu leisten wäre, wollen wir einige grundlegende Fragen im Zusammenhang mit der Beschreibung und Erforschung der diatopischen Variation im Französischen diskutieren bzw. abschließend wiederaufnehmen. Vor allem drei Aspekte verdienen es, näher beleuchtet zu werden: 1. die Problematik eines kontrastiven, d. h. differenziellen Herangehens an sprachliche Variation im Raum, 2. die Notwendigkeit eines soziolinguistischen, die Einstellungen der Sprecher berücksichtigenden Blicks auf die sprachlichen Fakten und schließlich 3. die Frage der Spracheinheit. Die Option, die Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs im Kontrast zur Varietät desjenigen Landes zu beschreiben, das im kollektiven Bewusstsein vieler muttersprachlicher Sprecher des Französischen, aber auch der meisten L2Sprecher ganz eng mit der langue de Molière verknüpft ist, bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Zunächst lässt sie in besonderem Maße die Unterschiede zwischen den Varietäten hervortreten und erweckt vielleicht den Eindruck, dass außerhalb Frankreichs ein ganz anderes Französisch gesprochen wird als jenes, mit dem z. B. die meisten Fremdsprachenlerner im deutschsprachigen Raum in Kontakt kommen. Dabei stellt sich auch die Frage, was man als Vergleichsmaßstab heranzieht: Was soll man, was will man unter „hexagonalem Französisch“ verstehen? Geht es nur um jene Sprachformen, die man aus dem Munde oder aus der Feder der Bildungseliten kennt und die in den Sprachkodizes und Nachschlagewerken (z. B. Petit Robert) als Standard beschrieben werden? Oder will man das Französische in Frankreich in seiner ganzen Variationsbreite als terme de comparaison definieren? Egal wie man sich entscheidet, die Liste der zu verzeichnenden Merkmale wird anders aussehen: Legt man den hexagonalen Standard zugrunde, treten viele Ähnlichkeiten zwischen den Varietäten nicht ins Bewusstsein. So würde der Ausdruck à cette heure/astheure [astœʁ] ‚maintenant‘ als typisch für das Französische in Amerika erscheinen, während er in Wahrheit auch in Teilen Frankreichs (und im französischsprachigen Belgien) belegt ist, aber eben nicht als standardsprachlich gilt. Auch bei Relativsätzen wie le gars que je suis sortie avec ‚le gars avec qui je suis sortie‘, die eine sog. préposition orpheline ou échouée aufweisen, würde man den Eindruck gewinnen, dass sie typisch für Québec oder die Acadie sind. Solche Konstruktionen sind jedoch in allen normfernen spontansprachlichen Varietäten anzutreffen, sei es nun in Amerika oder in Europa. Die Varietäten unterscheiden sich dabei im Wesent-
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lichen nur im Inventar der Präpositionen, die vorkommen können.110 Ähnliches gilt für die Verwendung des conditionnel im mit si eingeleiteten Bedingungssatz – dieses Merkmal gibt es ebenfalls in vielen Non-Standard-Varietäten, und man hört solche Verwendungen natürlich auch in Frankreich. Zieht man umkehrt die gesamte Bandbreite der diaphasischen, diastratischen und diatopischen Variation innerhalb Frankreichs heran, werden die Unterschiede im Verhältnis deutlich geringer erscheinen, und als auffallendes Merkmal wird die Konvergenz zwischen den Varietäten hervorstechen. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die regionale Variation an sich, sondern auch der gewählte Vergleichsmaßstab Gegenstand der Reflexion sein muss. Während man auch heute noch oft auf traditionelle Konzepte wie français standard, français de France, français de Paris oder bon usage zurückgreift, taucht in der einschlägigen Literatur mindestens seit den späten 1990er Jahren vermehrt das Konzept français de référence111 auf. Als Beschreibungswerkzeug soll es auf das verweisen, was in den großen Referenzwerken des Französischen ohne jegliche Markierung verzeichnet ist und somit – zumindest theoretisch – einen völlig neutralen Sprachgebrauch repräsentiert. Vielfach wird der Begriff aber nur als Synonym für die zuvor genannten Konzepte verwendet, was seinen Wert schmälert und ihn zu einem schwer definierbaren Konstrukt macht (cf. Thibault 2006), das im besten Falle darauf abhebt, dass Sprecher Vorstellungen davon haben, was für sie die sprachnormative Referenz darstellt (subjektive Normen).112 Niemand bestreitet heute mehr, dass im Zusammenhang mit der diatopischen Variation das reine Auflisten von particularités ungenügend ist, wenn die Beschreibung nicht auch die Bewertung durch die Sprecher bzw. die Sprachgemeinschaft miteinschließt. So macht die Spezifik eines Merkmals u. U. nicht (nur) die simple Existenz/Absenz113 oder Frequenz in der zu beschreibenden Varietät aus, sondern auch seine Konnotation oder Registerzugehörigkeit. Man kann hier erneut das schon erwähnte à cette heure/astheure bemühen: Während es in Frankreich als rural/regional und in Belgien als dialektal gilt, hat es in Québec bestenfalls eine leicht
|| 110 Nordamerikanische Varietäten erlauben – im Unterschied zu den europäischen – z. T. auch à und de, was vermutlich auf den Einfluss des Englischen als Kontaktsprache zurückzuführen ist. 111 Der Problematik dieses Konzepts war im Jahre 1999 eine an der Universität Louvain-la-Neuve organisierte internationale Tagung gewidmet (Francard/Geron/Wilmet 2000/2001). 112 In diesem Sinne sollte der Begriff vielleicht besser im Plural verwendet werden, um die sprachnormative Ausdifferenzierung in der Frankophonie deutlich zu machen (cf. Pöll 2001). Damit eignet er sich aber nicht mehr als Bezeichnung für den Vergleichsmaßstab bei der differenziellen Betrachtung der regionalen Variation. 113 Auch der Fall des Fehlens eines bestimmten Elements oder einer Bedeutung darf nicht vergessen werden. Ein schönes Beispiel für einen solchen trait négatif ist das Fehlen der Bedeutung ‚enfant, jeune garçon ou fille‘ bei gosse im Quebecker Französisch. Das Wort bedeutet in Québec umgangssprachlich ‚testicule‘.
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umgangssprachliche Note. Als weiteres Beispiel möge moquette dienen, das in Frankreich das Normalwort für ‚tapis cloué, couvrant généralement toute la surface d’une pièce‘ darstellt, während damit in Belgien ein eher luxuriöser Spannteppich assoziiert wird. Das Normalwort hingegen ist dort tapis plain. Dieses Beispiel führt uns direkt zu einem anderen wichtigen Aspekt: der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den diatopischen Varietäten. Einfach zu behaupten, septante, rampon oder coter (une porte) seien typisch schweizerische Lexeme, erweckt den falschen Eindruck, dass alle französischsprachigen Schweizer immer diese Wörter verwenden, wenn sie sich auf die Zahl 70, Feldsalat oder das Absperren einer Tür beziehen wollen. In Wirklichkeit sind die hexagonalen Äquivalente dieser Wörter – soixante-dix, doucette bzw. mâche und fermer à clé – natürlich ebenfalls bekannt und auch gebräuchlich. Da dies analog für praktisch alle Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs gilt, musste der zweifelsohne auch ideologisch motivierte Versuch der Quebecker Lexikographie der 1980/1990er Jahre, angeblich einer „fremden“ Varietät (dem Französischen Frankreichs) angehörende Wörter als francismes zu markieren, scheitern. Angesichts des nach wie vor großen Prestiges, das das hexagonale Französisch aus demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen in der gesamten französischsprachigen Welt genießt, ist es auch nicht verwunderlich, dass Wörter eher von Frankreich in die „Peripherie“ wandern als umgekehrt.114 Wir haben gesehen, dass das Spektrum der Einstellungen der „peripheren“ Sprecher zu ihren eigenen Varietäten und zum Französischen Frankreichs breit gefächert ist und von tief verwurzelter insécurité linguistique mit Unterordnung unter die traditionelle, exogene Norm bis hin zur Emblematisierung eigener Sprachformen und einem stolz zur Schau getragenen affirmativen Sprachbewusstsein bezüglich des eigenen Sprachgebrauchs reichen kann, den man als nationale Varietät aufgewertet sehen will. Die Methoden und experimentellen Designs, mit denen die moderne Soziolinguistik das Prestige und den Wert misst, der Sprachen oder Varietäten von den Sprechern zugebilligt wird, sind jedoch nach wie vor nicht so verlässlich, dass auf Basis der Ergebnisse der Spracheinstellungsforschung das konkrete Sprachverhalten verlässlich vorhergesagt werden könnte, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob sich Sprecher in bestimmten Situationen an eine dominante Varietät bzw. exogene Norm anpassen. Damit kommen wir zum letzten Punkt, der Frage nach der Spracheinheit. In großen Sprachgemeinschaften wie dem Englischen, dem Portugiesischen, dem Spanischen oder eben auch dem Französischen gab es – zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrer Geschichte – Debatten über die drohende Gefahr einer Sprachspaltung. Gerne wurde dabei der Vergleich mit der Geschichte des Lateins und seiner Auf-
|| 114 Hier gibt es natürlich Ausnahmen, von denen wir in Kapitel 3 einige genannt haben.
156 | Schlussüberlegungen
spaltung in unterschiedliche (romanische) Sprachen bemüht, der jedoch für die Situation, in der sich das Französische heute befindet, völlig inadäquat ist. Zum einen muss man sich bewusst machen, dass es Sprachvariation natürlich immer gegeben hat, zum anderen stellt sich die Frage, ob eine größere Toleranz gegenüber der sprachlichen Vielfalt, d. h. weniger sprachnormativer Zentralismus bzw. Unterordnung unter eine als monolithisch verstandene Norm, tatsächlich mit der Gefahr einer babélisation verbunden ist. Die Antwort ist zweifelsfrei ein klares Nein, denn nie zuvor waren die Bedingungen für den Zusammenhalt der Sprachgemeinschaft – was nichts anderes bedeutet als Interkomprehension zwischen den Sprechern verschiedener Varietäten – so günstig wie heute: Zum großen Überschneidungsbereich zwischen den Varietäten des Französischen auf der Ebene des Sprachsystems kommen nicht nur der klare Wunsch aller Frankophonen, eine Sprachgemeinschaft zu bilden, in der man einander verstehen kann, sondern auch die Möglichkeiten des einfachen Austauschs und des günstigen Kommunizierens über Ländergrenzen und Kontinente hinweg, z. B. durch Reisen oder dank der Neuen Medien. Diese beiden Faktoren sind die besten Garanten für die Zukunft der Frankophonie als Sprachgemeinschaft und gleichzeitig ein starkes Regulativ: Keine Institution der Sprachpflege oder Sprachplanung, keine normsetzende Autorität verfügt über einen solchen Einfluss. Es gibt daher keinen Grund anzunehmen, dass in diesem kontinuierlichen Regulationsprozess die zentrifugalen Kräfte das Übergewicht bekommen.115 Vielmehr darf man annehmen, dass im Zuge der Globalisierung, die auch auf sprachlicher Ebene wirkt, einiges von der Variation verloren geht, die wir in diesem Band darzustellen versucht haben.
|| 115 Nur hinsichtlich der Situation in einigen Ländern des subsaharischen Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste und in Kamerun, muss diese Einschätzung nuanciert werden: Die Herausbildung einer endogenen Norm des Französischen, die die mit der Vernakularisierung einhergehenden Restrukturierungen umfasst, kann die Kommunikation mit anderen Frankophonen massiv beeinträchtigen. Cf. Kapitel 7.1.3.
Bibliographie und Verzeichnis der Internetadressen ° = grundlegende oder für eine vertiefte Auseinandersetzung besonders empfohlene Titel
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|| 116 Alle aufgeführten Internetadressen waren im Juli 2017 aktiv.
Erratum Bernhard Pöll Französisch außerhalb Frankreichs 978-3-11-053346-0 Trotz sorgfältiger Erstellung unserer Bücher lassen sich Fehler manchmal leider nicht ganz vermeiden. Wir entschuldigen uns, dass auf S. 37 „alamanach“ (statt „almanach“) und auf S. 93 „à l’effet que + inf.“ (statt „à l’effet que“) gedruckt worden sind. Beide Fehler wurden nun behoben. Inhaltliche Änderungen am Text sind nicht vorgenommen worden. Alle Änderungen sind ohne Änderungen beim Seitenumbruch erfolgt.
Die aktualisierte Version der Kapitel ist verfügbar unter: DOI 10.1515/97878311053346-004 DOI 10.1515/97878311053346-006 DOI 10.1515/97878311053346-012