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German Pages 180 [184] Year 1972
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 14
Peter Wunderli
Ferdinand de Saussure und die Anagramme Linguistik und Literatur
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1972
ISBN 3-484-22013-9 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1972 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Herstellung: Papierhaus Mack Grafischer Betrieb Schönaich
Inhalt
Vorwort
vii
0 EINLEITUNG
0.1 0.2 0.3
3
Das „Momoire" und die indogermanistischen Arbeiten Der „Cours" Die Anagramme
..
1 SAUSSURES ANAGRAMMSTUDIEN
l. l
1.2
l .3 l .4
11
Grundlagen und Aspekte von Saussures Anagrammkonzeption
16
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
16 23 26 41
Das paarweise Auftreten der Phoneme im Vers Die Wiederholung der Diphone Die Anagramme Die Prioritätsfrage
Terminologische Probleme
42
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6
44 46 49 49 52 53
„Anagramme" „Hypogramme" „Paragramme" Weitere Bezeichnungen für das Anagramm „Paramorphe" „Anaphonie"
Die Verbreitung des Anagramms Saussures Zweifel
54 60
2 DIE ANAGRAMMSTUDIEN UND DER „COURS"
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
3 5 7
Phonem oderPhonie? Das Problem der Linearität Die Beziehung zwischen „signifio" und „signifiant" Das Wechselspiel zwischen Form und Substanz Der Assoziationsmechanismus
70
....
74 78 85 92 95
2.6 2.7
Der soziale Charakter Die Frage der Objektivität
3 DIE ANAGRAMMTHEORIE IM LICHTE MODERNER LITERATURKONZEPTTONEN
3.1
3.2 3.3
113
„Tel Quer
113
3.1.1 3.1.2
Die Position von „Tel Quel" „Tel Quel" und Saussure
114 126
Francis Ponge Lautreamont und Stephane Mallarme
134 139
4 SCHLUSSBETRACHTUNG
Verzeichnis der zitierten Literatur Index
VI
104 110
151
159 167
Vorwort
Meine Beschäftigung mit Saussures Anagrammstudien geht auf den Sommer 1969 zurück, als ich — noch in Zürich — für das folgende Semester eine Vorlesung über die Genfer Schule vorbereitete. Es war unausweichlich, daß ich bei der Zusammenstellung der neueren Literatur über Saussure und seine Nachfolger auch auf die in den vorangehenden fünf Jahren erschienenen Texte und Kommentare zu den Anagrammen stieß. Das Thema und die Problemstellung faszinierten mich auf Anhieb — es erging mir also ähnlich wie seinerzeit Saussure selbst. Wenn mir auch sehr bald die Schwächen und die Problematik von Saussures Unterfangen klar wurden, und ich nicht umhin konnte, die Anagrammtheorie in der vom Genfer Meister angestrebten Form als geniale Fehlleistung zu betrachten, so schien mir der ganze Versuch doch immer noch genügend interessante und diskussionswürdige Ansätze zu enthalten, um ihm einmal eine die verstreuten Einzelbemerkungen zusammenfassende Gesamtdarstellung widmen zu können. Allerdings sollen die folgenden Ausführungen sich nicht auf eine Zusammenfassung beschränken, es soll vielmehr und vor allem auch das zur Sprache kommen, was für mich in erster Linie das heutige Interesse dieses Versuchs ausmacht: einmal das Verhältnis der durch die Anagrammtechnik vorausgesetzten Mechanismen zu einer Reihe von zentralen, die Sprache und das sprachliche Zeichen betreffenden Prinzipien, wie sie im Cours dargestellt werden; dann die Frage, wie sich Saussures Versuch zu gewissen ähnlichen Ansätzen in der Literatur und der Literaturtheorie verhält, wo z.B. die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Mallarme' und Francis Ponge liegen, und was die moderne Avantgarde um die Zeitschrift Tel Quel an Saussures Konzeption besonders herausstellen bzw. unterdrücken mußte, um ihn zum Kronzeugen für ihre eigene Sicht des sprachlichen Kunstwerkes machen zu können. Die wichtigsten Texte aus dem umfangreichen Material sind heute bereits publiziert; es ist vor allem das Verdienst von Jean Starobinski, Emile Benveniste und Giuseppe Nava (cf. die Bibliographie), sie uns zugänglich gemacht zu haben. Wohl konnte ich mich bei einer Durchsicht der Ana-
VII
gramm-Materialien in Genf im Juli 1971 davon überzeugen, daß es zwar noch eine gewisse Zahl weiterer Texte gibt, doch bringen diese meist kürzeren Stücke außer (anders formulierten) Wiederholungen von bereits Bekanntem und einigen Einzelheiten betreffenden Ergänzungen kaum mehr etwas Neues; der größte Teil des noch nicht publizierten Materials besteht aus einer Unzahl von in erster Linie lateinischen und griechischen Vers- und Textanalysen, in denen Saussure — mit wechselndem Erfolg — das Anagramm eines von ihm vom Inhalt her festgelegten, letztlich aber doch intuitiv und willkürlich ausgewählten Leitwortes nachzuweisen versucht. Da es sich bei den nicht unter den Analysen einzustufenden Texten größtenteils nur um Entwürfe oder flüchtige Notizen handelt, nicht aber um ausredigierte Bruchstücke oder Abschnitte, ist es nur verständlich, daß die Genfer Nachlaßverwalter nicht wünschen, daß das ganze Material publiziert werde; eine allzu weitgehende Veröffentlichung könnte der Sache nur schaden. Da die wichtigen Aspekte in den publizierten Texten bereits enthalten sind, fällt es mir leicht, diesem Wunsch nachzukommen: ich werde mich im folgenden v. a. auf die von Benveniste, Starobinski, Nava und Rossi zugänglich gemachten Materialien stützen. An einigen Stellen werden allerdings trotzdem unveröffentlichte Materialien verwendet, sei es, daß sie eine meiner Ansicht nach wichtige Ergänzung oder Präzisierung enthalten, sei es, daß die Anlage eines bestimmten Textes besser in meinen Darstellungszusammenhang paßt als die (inhaltlich gleichwertigen) bereits veröffentlichten Parallel texte. Alle neu publizierten Texte sind daran zu erkennen, daß ich als Quelle die Signatur des betreffenden Genfer Manuskripts angebe, während bei den bereits bekannten Abschnitten auf den Ort der erstmaligen Publikation verwiesen wird. Abschließend bleibt mir noch die angenehme Aufgabe, zu danken. Dank schulde ich v. a. der Bibliotteque publique et universitaire in Genf und insbesondere dem Konservator der Handschriftenabteilung, Ph. Monnier, dafür, daß ich die handschriftlichen Materialien von Ferdinand de Saussure einsehen durfte und mir diese Arbeit in der angenehmen Atmosphäre der Genfer Bibliothek ermöglicht wurde; daß ich die Erlaubnis erhielt, noch einige zusätzliche Textausschnitte zu veröffentlichen, weiß ich als großzügiges Entgegenkommen zu schätzen. Ganz besonders verpflichtet bin ich dann Leopold Gautier, der seinerzeit als — äußerst kritischer - Mitarbeiter von F. de Saussure mit Kontrollarbeiten im Rahmen der Anagrammstudien beauftragt worden war und deshalb die ganze Problematik wie kaum ein anderer kennt. Er hat mir einen ganzen Vormittag gewidmet, mir Gelegenheit geboten, einige noch unklare Punkte mit ihm durchzubesprechen, und mir überdies erlaubt, den von Saussure an ihn geVIII
richteten (noch unpublizierten) Brief vom 21. Oktober 1908 abzudrucken. Für den freundlichen Empfang und sein Entgegenkommen sei ihm an dieser Stelle nochmals aufrichtig gedankt.1 Freiburg i. Br., 1. August 1971
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P.W.
Im November 1971, also nach Abschluß dieser Arbeit, ist erschienen: Jean Starobinski, Les mots sous les mots. Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris 1971. In dieser Buchpublikation faßt Staiobinski seine fünf früher erschienenen Aufsätze zu Saussures Anagrammstudien zusammen, indem er das Material z. T. umgliedert und einige noch nicht veröffentlichte Texte beifügt; für unsere Problemstellung ergeben sich daraus keine neuen Aspekte (cf. demnächst meine Besprechung in ZRPh. 88 [1972]). IX
Ferdinand de Saussure und die Anagramme
0. Einleitung
Der Name Ferdinand de Saussure hat heute einen ausgezeichneten Klang, und es gehört beinahe zum guten Ton, den bedeutenden Genfer Gelehrten in jeder größeren sprachwissenschaftlichen Arbeit wenigstens einmal irgendwo zu zitieren. Für viele Autoren ist er zu einer Art Alibi geworden, ein vielseitig verwendbares Aushängeschild, mit dem sie sich selbst und der Fachwelt ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Problemen der allgemeinen Sprachwissenschaft und ihre methodische Fortschrittlichkeit bei der Behandlung von Einzelfragen zu bezeugen versuchen — und dies ganz unabhängig von der Forschungsrichtung, die sie wirklich vertreten. Meist ist es der posthum von seinen Schülern Charles Bally, Albert Sechehaye und Albert Riedlinger publizierte Cours de linguistique generate, der zur Stützung irgendeiner Aussage herangezogen wird. In der Tat erweist sich der CLG in seiner Vielfalt der angeschnittenen Probleme, in seiner Tiefe und seiner entscheidenden Bedeutung für die Entwicklung fast aller Gebiete der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert als wahre Fundgrube für Zitate jeder Art. Und dabei vergißt man immer wieder, daß Saussure nicht nur der Schöpfer dieses epochemachenden Werkes zur allgemeinen Sprachwissenschaft ist! 0.1
Das „Momoire" und die indogerrnanistischen Arbeiten
Saussure war schon zu Lebzeiten ein berühmter Mann, von dem Leute wie Michel Breal, Antoine Meillet, Wilhelm Streitberg usw. mit größter Bewunderung sprachen; diese vorerst in Publikationen und Briefen, dann auch in zahlreichen Nekrologen1 zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung konnte noch nicht auf dem CLG fußen. Saussure galt zu Lebzeiten denn auch nicht als entscheidender Neuerer im Bereiche der allgemeinen Sprachwissen· l Für bibliographische Angaben cf. Godel, SM, p. 18/19; dazu ist der von Benveniste, CFS 21 (1964), 126-128 abgedruckte Nachruf von Noel Valois (Präsident der Academic des Inscriptions zum Zeitpunkt von Saussures Tod [22.2. 1913]) zu ergänzen.
schaft, sondern vor allem als hervorragender Indogermanist. Dieser Ruhm gründete in erster Linie auf seinem noch als Student verfaßten und 1878 in Leipzig erschienenen Memoire mr le Systeme primitifdes voyelles dans les langues indo-europeennes,2 sowie auf einer Reihe von bedeutenden Artikeln zu Problemen aus dem Bereich der Indogermanistik.3 Im Zentrum des Memoire steht die Streitfrage um das indogermanische a, und alle anderen angeschnittenen Probleme werden im Zusammenhang mit dieser Kernfrage gesehen. Es gelingt Saussure, zu zeigen, daß die zu seiner Zeit mehr oder weniger allgemeingültige Theorie eines ursprünglich dreistufigen indogermanischen Vokalsystems (a/i/u), in dem /e/ und /o/ erst später von /a/ abgespalten worden wären, unhaltbar ist und das primitive System die mittleren Öffnungsgrade bereits gekannt haben muß.4 Darüber hinaus enthält die Arbeit wichtige Resultate über die vokalischen Alternanzen im Indogermanischen, die Entwicklung des sonantischen n zu a5, den Wechsel zwischen vokalischer und konsonantischer Funktion bei den Sonanten, und die Theorie der Wurzeln vom Typus Kons. + Vok. + Kons. (*ten- etc.).6 Ganz besondere Bedeutung kommt dann der Postulierung eines indogermanischen Phonems (/a/)7 zu, zeigt doch dieser Teil der Arbeit (wie auch derjenige über e/o), daß Saussure nach im modernen Sinne phonologischen Kriterien arbeitet. Die Substanz der einzelnen Laute tritt für ihn in den Hintergrund vor der Frage nach ihrer Funktion, nach ihrer Form', erstmals werden hier die Laute als oppositive und relationeile Einheiten eines Systems gesehen und nach ihrer Funktion innerhalb dieses Systems beurteilt.8 2 Das Werk trägt die Jahreszahl 1879, ist aber im Dezember 1878 ausgeliefert worden, cf. De Mauro, Corso, p. 294; Nachdrucke erschienen Paris 1887 und Hildesheim - New York 1967. - Für die auf dem Memoire beruhende ursprüngliche Wertschätzung cf. Godel, SM, p. 23, und Vallini, SSL 9 (1969), l ss. 3 Die zu Lebzeiten erschienenen Arbeiten wurden 1922 in einem Sammelband vereinigt: Recueil des publications scientifiques de F. de Saussure, ed. par Ch. Bally et L.Gautier, Geneve-Heidelberg 1922 (Nachdruck 1971). - Zur Bedeutung dieser Arbeiten cf. Vallini, SSL 9 (1969), 3 ss. 4 Cf. hierzu Vallini, SSL 9 (1969), 6 ss., 12 ss., 62 ss. 5 Saussure hatte 1872 das Entwicklungsgesetz für n selbst entdeckt, sich aber über die Bedeutung dieser Entdeckung keine Rechenschaft abgelegt. Als er dann 1876 nach Leipzig kam, mußte er erfahren, daß soeben Brugmann in einem Artikel dieses Gesetz als sensationelle Entdeckung der Öffentlichkeit vorgelegt hatte. Cf. De Mauro, Corso, p. 290, 292 s.; Godel, CFS 17 (1960), 17, 20. 6 Cf. dazu VaUini, SSL 9 (1969), 25 ss., 32 ss. 7 Saussure bezeichnet sein neues Phonem noch mit.4; die Bezeichnung geht auf H. Möller zurück. Zur Bedeutung dieses Teils der Arbeit cf. auch Vallini, SSL 9 (1969), 38 ss., 46 s. 8 Zur Bedeutung des Memoire in dieser Hinsicht cf. z.B. De Mauro, Corso, p.
Obwohl Saussure hier in verschiedener Hinsicht Erkenntnisse der Phonologie vorwegnimmt, erweisen sich diese Ansätze später im CLG als zum großen Teil wieder verschüttet oder zumindest derart mit traditionellen phonetischen Konzeptionen vermischt, daß sie nur noch schwer und kaum je mit Sicherheit faßbar sind. Für seine Zeit waren es nicht die phonologischen Aspekte des Mtmoire, die im Vordergrund standen, ja sie bildeten sogar den eigentlichen Stein des Anstoßes, warf ihm doch Osthoff gerade hinsichtlich von eine starre und 9 und übertriebene Konsequenzmacherei vor. Die Bedeutung der Arbeit wurde vor allem im Bereich der Indogermanistik gesehen, und auch hier war sie nicht unangefochten — allerdings weniger, weil man ihr konkrete Mängel hätte vorwerfen können, als einfach aus Eifersucht gegenüber dem jungen und brillanten Forscher. Besonders die deutschen Indogermanisten um Brugmann und Osthoff organisierten eine Kabale des Schweigens gegen Saussure, was sie allerdings nicht hinderte, seine Resultate stillschweigend zu übernehmen. Diesen durch die erste größere Arbeit Saussures geschaffenen Spannungen ist es vielleicht zuzuschreiben, daß seine Dissertation mit dem Titel De l'emploi du genitif absolu en sanserif10 nicht (und auch später nie) sonderlich beachtet wurde. Obwohl vielleicht weniger brillant als das Mamoire, verdient auch diese Arbeit Aufmerksamkeit. Nicht nur wendet sich Saussure hier dem damals von der Indogermanistik noch kaum berücksichtigten Feld der Syntax zu, er behandelt auch in diesem Falle den Untersuchungsgegenstand als Teil eines Sprachzustands, eines zu einer bestimmten Zeit gültigen Systems: der absolute Genitiv wird vor allem in Opposition zum absoluten Lokativ gesehen, er zeigt distinktive Züge und ist ein durch die Relationen und Oppositionen innerhalb des Systems bestimmter Wert.11 Auch in dieser Arbeit ist Saussures Vorgehen wieder durchaus modern und seiner Zeit weit voraus. 0.2
Der „Cours"
Saussures Ruhm zu Lebzeiten fußte also vor allem auf dem Momoire — allerdings weniger auf den methodischen und systematischen Aspekten, die für uns heute im Vordergrund stehen, als vielmehr auf den konkreten Resultaten im indogermanistischen Bereich. Dies sollte nach seinem Tode 294/5, 297; Leroy, Courants, p. 42-45; Vallini, SSL 9 (1969), 23/13,19/20, 38, 65 s., 70 ss., 82. 9 Cf. De Mauro, Corso, p. 295; Vallini, SSL 9 (1969), 5 N 10, 12 N 14. 10 Genf 1881 (angenommen in Leipzig, im Februar 1880). 11 Cf. v.a. De Mauro, Corso, p. 297/98.
anders werden, wobei allerdings die vermehrte Beachtung, die Saussures methodisch-systematischen Leistungen fanden, paradoxerweise Memoire und Dissertation stark in den Hintergrund treten ließen - eine Entwicklung, die sich nur daraus erklären läßt, daß man in ihnen eben spezifisch indogermanistische Arbeiten sah und ihre allgemein-sprachwissenschaftliche Bedeutung weitgehend verkannte. Seit 1916 nun ist Saussure vor allem als Verfasser des Cours de linguistique gonorale bekannt. Erst diese posthume, aufgrund von studentischen Vorlesungsskripten und — in recht bescheidenem Ausmaße — handschriftlichen Notizen Saussures äußerst geschickt zusammengestellte Publikation12 hat seinen Namen auch außerhalb des Kreises der Indogermanisten bekannt gemacht: Saussures Ruhm als Sprachwissenschaftler schlechthin ist ein posthumer. Es wäre nun falsch, zu glauben, der CLG habe gleich bei seinem Erscheinen wie eine Bombe eingeschlagen und Saussure gewissermaßen über Nacht zu einem anerkannten Meister der allgemeinen Sprachwissenschaft gemacht. Vielmehr wurde diese Publikation vorerst eher kritisch aufgenommen, und erst nach und nach setzte sich die Erkenntnis ihrer Bedeutung durch.13 Seit 1930 kann man sagen, der CLG habe sich einen Platz unter den Standardwerken der allgemeinen Sprachwissenschaft erobert, wenn man auch noch bis nach dem zweiten Weltkrieg warten mußte, bis sein Einfluß auf die einzelnen Philologien größere Ausmaße annahm — ja selbst heute gibt es noch Forscher, die Saussures Erkenntnisse nicht oder nur mangelhaft zur Kenntnis genommen haben. Mit dem Eindringen des Cours in die Spezialphilologien ging nun ein Bedeutungsverlust im Bereich der allgemeinen Sprachwissenschaft einher: nur was in der allgemeinen Sprachwissenschaft zum festen Besitz geworden ist, dringt auf breiterer Basis in die Spezialbereiche ein, gleichzeitig wird es aber in seiner etablierten allgemeinsprachwissenschaftlichen Position durch neue Theorien und Methoden bedrängt (oder oft auch verdrängt). So weit ist es nun allerdings mit dem CLG noch nicht gekommen, ganz im Gegenteil: seit der Mitte der Fünfzigerjahre erleben wir eine eigentliche Renaissance des Interesses an Saussure, eine Renaissance, die großenteils auf die Zugänglichmachung der Quellen des CLG durch R. Godel und R. Engler zurückgeht.14 Zwar kann nicht bestritten werden, daß 12 Zur Entstehung der „Vulgatafassung" des Cours cf. Saussure, CLG, p. 7-8 (Bally und Sechehaye); Godel, SM, p. 36-129, bs. 95 ss.; Engler, Ed.crit., p. IX-XI. 13 Cf. hierzu De Mauro, Corso, p. 334 ss. 14 Godel, SM erschien 1957, umrahmt von einer Reihe weiterer Publikationen Godels (CFS12 [1954], 49-71; CFS 15 [1957], 3-103; CFS 16 [1958/59], 22-32; CFS 17 [i960], 5-11 und 12-25); die kritische Ausgabe Englers er-
dieses Interesse wenigstens zum Teil ein philologisches ist;15 gleichzeitig läßt sich aber auch nicht leugnen, daß die Quellen des CLG die Klärung zahlreicher bis anhin scheinbar unlösbarer Streitfragen ermöglichen und überdies verschiedene vorher unbekannte oder kaum erkennbare Aspekte von Saussures Sprachkonzeption zutage förderten. 0.3
Die Anagramme
Die Beschäftigung mit den handschriftlichen Quellen und Saussures Manuskripten, die in der Bibliotheque publique et universitaire de Geneve aufbewahrt werden, hat eine weitere Folge gehabt: sie hat Saussure zu einem zweiten posthumen Ruhm verholfen. Dieser neue Ruhm geht auf seine Untersuchungen über die Anagramme, die anagrammatische Durchdringung der Poesie zurück und seine auf dem Anagrammphänomen und gewissen Begleiterscheinungen beruhende Dichtungstheorie. Gewisse Parallelen zum CLG springen in die Augen: auch von diesen Arbeiten hat Saussure zu Lebzeiten nichts publiziert, auch hier sind seine Resultate und Schlüsse seit ihrem Bekanntwerden zum Teil heftig umstritten. Von einer „Verfestigung" der Bedeutung der Anagrammarbeiten kann man bis heute kaum sprechen — auf alle Fälle nicht in gleichem Maße wie beim Cours; und doch haben diese Studien zur Folge gehabt, daß Saussure heute nicht nur als bedeutender Sprachtheoretiker, sondern auch als Literaturtheoretiker zu gelten hat. Aufmerksam auf Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen wurde man durch zwei Publikationen des Jahres 1964. In diesem Jahre publizierte Emile Benveniste die von Saussure an Antoine Meillet gerichteten Briefe.16 In vier von ihnen (bei insgesamt 20) spricht Saussure von den Anagrammen (23.9.1907; 15.12.1907; 18.12.1907; 8.1.1908); dazu kommt noch ein weiterer Brief an Meillet, der bei Benveniste fehlt und 1969 von Starobinski publiziert wurde.17 Ebenfalls 1964 machte Jean Starobinski in einem aus Auszügen aus Saussures Manuskripten sowie erklärenden und paraphrasieschien 1968 (vol. I; vol. II steht noch aus), nachdem ihr ebenfalls verschiedene Artikelpublikationen vorausgegangen waren (Kratylos4 [1959], 119-132; CFS19 [1962], 5-77; CFS 21 [1964], 25-32; CFS 22 [1966], 35-40; usw.). 15 „Philologisch" hier in der französischen Bedeutung. 16 Cf. E. Benveniste, Lettres de Ferdinand de Saussure a Antoine Meillet, CFS 21 (1964), 89-130. 17 Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 7-9. - Ob dieser Brief allerdings je abgeschickt wurde, ist mehr als zweifelhaft; er ist bezeugt aufgrund eines unvollendeten Entwurfes, der auf losen Blättern in einem der Hefte von Ms. fr. 3962 liegt.
renden Zwischentexten bestehenden Artikel einen Teil der Anagrammstudien des Genfer Meisters zugänglich.18 Seither haben sich verschiedene weitere Publikationen direkt oder indirekt mit diesem Problem befaßt; die wichtigsten stammen von Giuseppe Nava, Aldo Rossi, Michel Deguy und (erneut) Jean Starobinski.19 Als Quellen für den ganzen Fragenkomplex haben in erster Linie acht Schachteln mit Entwürfen, Skizzen und „Versuchen" von Saussures Hand zu gelten, die in der Bibliotheque publique et universitaire de Geneve unter den Signaturen Ms.fr. 3962-3969 aufbewahrt werden.20 Zu diesen Quellen kommen als äußerst wichtiges Zeugnis die Briefe, in denen Saussure von den Anagrammen spricht — wichtig vor allem deshalb, weil zumindest in einem Teil von ihnen seine Gedankengänge (wenn auch nur provisorisch) ausformuliert sind und eine kohärente Darstellung erfahren.21 An erster Stelle sind hier die fünf bereits erwähnten Briefe an Antoine Meillet zu nennen, die in zwei Dokumenten von der Hand Meillets ihr Echo gefunden haben: 18 Cf. Jean Starobinski, Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Textes inedits, Mercure de France 350 (1964), 243-262. - Dieser Artikel basiert v.a. auf dem 1er Cahier a lire preliminairement (Ms. fr. 3963), das als Einleitung zu den homerischen Anagrammanalysen gedacht war, die Saussure Meillet zur Begutachtung vorlegen wollte; wie aus den Briefen hervorgeht, ist diese Sendung aber nie abgeschickt worden: Saussure hat von einem bestimmten Zeitpunkt an die lateinischen (und v.a. die saturnischen) Texte für geeigneter und instruktiver gehalten und deshalb Meillets Zustimmung auf dieser Basis gesucht. 19 Cf. Giuseppe Nava, Lettres de Ferdinand de Saussure a Giovanni Pascoli, CFS 24 (1968), 73-81; Aldo Rossi, Gli anagrammi di Saussure: Poliziano, Bach, Pascoli, Paragone 218 (1968), 113-127; Michel Deguy, Lafolie de Saussure, Critique 25 (1969), 20-26; Jean Starobinski, Les mot sous les mots: Textes inedits des cahiers d 'anagrammes de Ferdinand de Saussure, in: To honor Roman Jakobson III, The Hague - Paris 1967,1906-1917; Jean Starobinski, Le texte dans le texte. Extraits inedits des cahiers d'anagrammes de Ferdinand de Saussure, Tel Quel 37 (1969), 3-33. 20 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1906; Rossi, Paragone 218 (1968), 113. - Genau besehen handelt es sich um 7 Schachteln (Ms. fr. 3962-3968) und einen großen Pappdeckel mit losen Blättern (Ms. fr. 3969). Die Schachteln enthalten insgesamt 117 Hefte und 2 Umschläge mit losen Blättern (Ms. fr. 3962 und 3966), wobei auch in die einzelnen Hefte zum Teil noch freie Blätter eingelegt sind. Ais. fr. 3969 enthält neben einigen Einzelblättern zwei Bündel von losen Blättern von je verschiedenem Format, die man ebenfalls als Hefte bezeichnen könnte; auf diese Weise kommt man auf die total 121 Einheiten von Rossi (Paragone 218, 113); wieso dagegen Starobinski, Mercure 350, 243, von 99 Heften spricht, ist mir nicht klar. 21 Cf. v.a. den Brief vom 23.9.1907 an Meillet (CFS 21 [1964], 107-115); dies gilt auch für das von Starobinski (Mercure 350, 243 ss.) wenigstens teilweise publizierte 1er Cahier a lire preliminairement (Ms. fr. 3963). 8
ein Brief vom 7.2.(1908? ) und eine Postkarte vom 10.2.1908.22 Dazu kommen zwei Briefe Saussures an Giovanni Pascoli (19.3.1909; 6.4.1909), von denen allerdings der erste derart allgemein gehalten ist, daß er zum Problem selbst nichts hergibt,23 und schließlich drei Briefe und zwei Postkarten an seinen Mitarbeiter LeOpold Gautier, der an den Nachforschungen über die Anagramme mit Kontrollarbeiten beteiligt war.24 Das vorliegende Material ist somit recht umfangreich, doch entspricht sein Aussagewert nicht der Quantität: allzu vieles ist bruchstückhaft oder nicht über das Stadium des flüchtigen Entwurfs, der momentanen Eingebung hinaus gediehen; zudem stellen Saussures Nachforschungen über weite Strecken nur eine Wiederholung früher gemachter Erfahrungen an neuen Objekten dar — also eine quantitative Vermehrung der Analysen, ohne daß substantiell etwas Neues hinzukäme. Trotz diesen Einschränkungen reichen die Unterlagen aber bei weitem aus, um die wesentlichen Züge von Saussures Intuition festzuhalten, die sich aus seinem Ansatz ergebenden Probleme zu erkennen und einer Klärung zuzuführen, und die literaturwissenschaftliche Bedeutung seiner Anagrammstudien zu beurteilen. Wenn Saussures Interesse für die Literatur und ihre Probleme auch vor allem aufgrund seiner Beschäftigung mit den Anagrammen bekannt geworden ist, so hat sich seine Auseinandersetzung mit literarischen Problemen doch nicht auf diese recht spezielle Frage beschränkt. Schon während seiner Pariser Zeit las er mit seinen Studenten das Hildebrandslied (1883/84)25 und auch in Genf blieb er der germanistischen Literatur treu: er vertrat im Sommersemester 1904 den germanistischen Lehrstuhl seines Kollegen Emile Redard und hielt eine Vorlesung über die Nibelungen.26 In seinen handschriftlichen Materialien finden sich überdies umfangreiche Vorarbeiten zu einem Buch über die germanischen Sagenstoffe.27 Schließlich las Saussure in Genf auch noch vom Wintersemester 1900/01 bis zum Winter22 Cf. Starobinski,Mercure 350, 261 und Rossi, Paragone 218, 126/27; Starobinski, Tel Quel 37,32.- Dies sind die einzigen bis heute publizierten Dokumente, in denen Meillet auf das Problem der Anagramme eingeht; es ist anzunehmen, daß es noch weitere gibt oder zumindest gegeben hat. 23 Cf. Nava, CFS 24 (1968), 79-81; cf. auch unten, p. 68. 24 Der erste und der letzte dieser Texte (28.8.1908 und 29.10.1908) sind von Starobinski ganz bzw. in den wesentlichen Punkten publiziert worden (Jakobson III, 1910 und N 5), denjenigen vom 21. Oktober 1908 werde ich unten geben (p. 48). Die beiden Postkarten (15.9.1908; 1.10.1908) enthalten nichts, was ihre Publikation notwendig machen würde. 25 Cf. De Mauro, Corso, p. 304/05. 26 Cf. Godel, SM, p. 25/26; De Mauro, Corso, p. 310. 27 Cf. Godel, SM, p. 28; De Mauro, Corso, p. 314/15; Mounin, Saussure, p. 18.
semester 1908/09 jedes Jahr einmal über französische Verslehre (Versification franqaise; etude de ses lois du XVf siede a nos jours)™ Sieht man von der Verslehre ab, so befaßte sich Saussure allerdings nur mit alter Literatur, und auf die Literatur der Antike waren im wesentlichen auch seine Anagrammstudien bezogen; diese Begrenzung wird nur hinsichtlich der lateinischen Literatur der Renaissance und der Neuzeit nicht eingehalten. Die Ironie des Schicksals will es nun allerdings, daß sich Saussures Überlegungen zu den Anagrammen und seine Dichtungstheorie in bezug auf die alte Literatur mit beinahe an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht aufrecht erhalten lassen; dagegen haben seine Ideen für die modernste Literatur - vor allem für die Tel-Quel-Gmppt - größte Bedeutung erlangt und sind so erst nachträglich zu einer Existenzberechtigung gekommen. Wie in der Linguistik, so war Saussure auch hier seiner Zeit weit voraus.
28 Cf. Godel, SM, p. 13, 26; De Mauro, Corso, p. 310. 10
l. Saussures Anagrammstudien
Wenn Saussure zu Beginn des 20. Jahrhunderts die antike Literatur auf Anagramme hin zu untersuchen beginnt, dann setzt er scheinbar nur eine humanistische Tradition der Renaissance fort. Im französischen Kulturraum, in dem Saussure primär einmal einzuordnen ist, waren es die Dichter der Pleiade, die das Anagramm in der antiken Literatur kennengelernt hatten. Sie verwendeten es nicht nur zum Teil in ihren eigenen Werken, sie übernahmen auch das griechische < als anagramme? allerdings scheint die Bezeichnung anagramme erst 1571 aufgekommen zu sein, während man 1560 die gleiche Erscheinung noch als anagrammatisme bezeichnete.2 Sowohl bei den Dichtern der Ploiade wie auch im heute allgemeingültigen Gebrauch bedeutet anagramme eine Versetzung oder Vertauschung von Buchstaben, ein ,BuchstabenversetzrätseP. Eines der bekanntesten Anagramme ist wohl der Name Voltaires (Francis-Marie Arouet), der auf Arouet l(e) j(eune) zurückgeführt wird. Allerdings zwingt dieses Anagramm dazu, mit der alten Vertauschbarkeit der Graphien u und v einerseits, z und / andererseits zu spielen: man betrachtet sie für die Schaffung des Anagramms als gleichwertig, während man in der Normallesung des geschaffenen Anagramms nur ihren modernen Wert als Konsonant (v) resp. Vokal (i) berücksichtigt. Dieser spielerische Charakter haftet dem Anagramm aber ganz allgemein an, es gilt als trickreiches Kunststücklein — oder auch als Spinnerei. Obwohl bei Saussure das Anagramm eine weit über das Spielerische oder durch Geschicklichkeit Verblüffende hinausgehende Bedeutung hat, spricht er selbst in bezug auf seine Konzeption von/eu und performance3 - während Michel De"guy diese Untersuchungen mit,,La folie de Saussure" betitelt.4 1 Cf. Brunot, Histoire II, p. 237/38 (Jean Dorat); BWtbg., DDM s.v. (Remi Belleau). 2 Cf. DDM, s.v. 3 Cf. Starobinski,Mercure550, 257, 248; Benveniste, CFS21 (1964), 114; u. passim. 4 Cf. Deguy, Critique 25. 11
Trotzdem haben aber die Anagramme nicht nur den Wert einer Schrulle oder einer Spielerei. Im Argot ist z. B. das Anagramm in einer leicht abgewandelten Form zu einem konstitutiven Element der Wortbildung geworden. Sehr oft wird so vorgegangen, daß der Anlautkonsonant (oder die Konsonantengruppe im Anlaut) an den Schluß des Wortes versetzt wird und an seine Stelle ein (ursprünglich wohl auf den Artikel zurückgehendes) / tritt; am Schluß werden zudem noch „Suffixe" wie -e, -em oder -i beigefügt: (La) Force (Gefängnis) > lorcefe, prince > linspre, vingt > usw.5 Im Gegensatz zum traditionellen Anagramm fußt das argotische Anagramm — die beiden letzten Beispiele machen dies deutlich — nicht mehr auf den Buchstaben, sondern auf den Phonemen, Obwohl nicht mehr reine Spielerei, sondern eigentlicher Funktionsträger im Rahmen eines sprachlichen Diasystems, muß das argotische Anagramm immer noch als sprachliche Randerscheinung bezeichnet werden. Saussures Konzeption geht nun weit über die Randerscheinung hinaus. Für ihn ist das Anagramm — primär nicht im sprachlichen, sondern im poetischen Bereich — ein allgemeines dichterisches Prinzip, das zwar nicht immer und überall nachgewiesen werden kann, aber doch für die früheren Epochen der indogermanischen Poesie und der lateinischen Dichtung allgemeine Gültigkeit gehabt haben soll. Der Dichter ist für ihn ein „Phonetiker" — heute würden wir sagen Phonologe —, der vor dem Kompositionsakt ein „Leitwort" wählt, dieses „Leitwort" dann in seine Einheiten (Phoneme) zerlegt und sein Gedicht so aufbaut, daß die in ihm verwendeten Moneme das „Leitwort" auf möglichst engem Räume reproduzieren.6 Von den zahlreichen Texten, die diese Haltung Saussures zum Ausdruck bringen, hier nur deren zwei: 1 C'est depuis les temps indo-europeens que celui qui composait un carmen avait ä se preoccuper ainsi, d'une maniere reflechie, des syllabes qui entraient dans ce carmen, et des rimes qu'elles formaient entre elles ou avec un nom donne. Tout votes etait avant tout un specialiste en fait de phonemes. CFS21 (1964), 114 2 ... j'affirme en effet... que le poete se livrait, et avait pour ordinaire metier de se livrer ä Fanalyse phonique des mots: que c'est cette science de la forme vocale 5 Cf. z.B. Dauzat, Argots, p. 121 ss. - Für weitere Typen (u.a. vollständige Elimination des Anlautkonsonanten,«- anstelle von /-, Suffixe wie -iche, -uche, -ic, -on usw.) cf. Guiraud, Argot, p. 66 ss. 6 Cf. hierzu Nava, CFS 24 (1968), 74; De Mauro, Corsa, p. 315/16; Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 10/11; usw.
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des mots qui faisait probablement des les plus anciens temps indo-europeens, la superiorite, la qualite particuliere du Kavis des Hindous, du Vates des Latins, etc. Mercure 350 (1964), 249/50
Diese Konzeption Saussures läßt deutlich seine intensive Beschäftigung mit dem Sanskrit erkennen:7 seine Sicht des indogermanischen Dichters stellt eine Verallgemeinerung der altindischen Verhältnisse dar, wo der Dichter nicht nur als Autor, sondern gleichzeitig auch als Grammatiker (und Phonologe) erscheint. Das bisher Gesagte läßt aber bereits auch erkennen, daß Saussures Konzeption des Anagramms von der traditionellen Auffassung abweicht. Obwohl er den Namen „Anagramm" verwendet, obwohl das Monem -gramm auf die Schrift verweist,8 baut Saussure auf der Lautung auf;9 er folgt hier also nicht der von der Renaissance ausgehenden Tradition, sondern gelangt zu einer den Verhältnissen im Argot entsprechenden Auffassung. Saussure war sich dieser Diskrepanz zwischen seiner Konzeption und der Bezeichnung wohl bewußt, aber es blieb ihm offensichtlich kein Ausweg: Anaphonie konnte er deshalb nicht benutzen, weil er diesen Ausdruck schon mit einer anderen Funktion belegt hatte: 3 En me servant du mot äOnagramme, je ne songe point a faire intervenir l'ecriture ... Anaphonie serait plus juste, dans ma propre idee: mais ce dernier terme, si on le cree, semble propre ä rendre plutot un autre service, savoir celui de designer i'anagramme incomplet... Jakobson III, 1906
Anaphone oder paraphone lehnte er deshalb ab, weil die ungewöhnliche Bezeichnung nach ihm auch suggeriert hätte, das Anagramm sei etwas Ausgefallenes; Saussure war aber der Meinung, hier auf etwas Verbreitetes und geradezu Normales gestoßen zu sein: 4 Ni anagramme ni paragramme ne veulent dire que la poesie se dirige pour ces figures d'apres les signes ecrits; mais remplacer - gramme - par - phone - dans Tun ou l'autre de ces mots aboutirait justement a faire croire qu'il s'agit d'une espece de choses inouie. Mercure 350 (1964), 247
7 Cf. De Mauro, Corso, p. 310 ss.; Godel, SM, p. 24/25. 8 Cf. ebenso hypogramme, paragramme, die von ihm gleichfalls benutzt werden; vgl. zu diesen Termini unten, p. 46ss. 9 Cf. auch Starobinski.Afivcure 350 (1964), 244; Rossi, Paragone 218 (1968), 115.
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Der Primat der Lautung gegenüber der Schrift ist also auch in Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen ganz eindeutig. Diese Haltung deckt sich vollkommen mit der imCLG zum Ausdruck kommenden, wo die Schrift als sekundäres System dargestellt wird, das Schriftbild als dem lautlichen signifiant überlagert erscheint: also ein signifiant du signiflant: 5 Langue et ecriture sont deux systemes de signes distincts; Funique raison d'etre du second est de representer le premier; l'objet linguistique n'est pas defini par la combinaison du mot ecrit et du mot parle; ce dernier constitue ä lui seul cet objet. CZ,G,p.45
Die Tatsache, daß diese Sicht von einigen modernen Autoren abgelehnt wird, braucht uns im Moment nicht weiter zu beschäftigen.10 Ein zweiter Unterschied zur traditionellen Anagrammkonzeption ist der, daß Saussure nicht sämtliche Laute eines „Leitwortes" in ein kompaktes Sekundärwort umstellt; vielmehr wird dieses Leitwort „verteilt" auf verschiedene Moneme, seine Einheiten werden eingebettet in selbst nicht zum Anagramm gehörende Phonempolster. Diese „Verteilung" der Konstituenten des Leitwortes kann sich je nachdem auf einen oder mehrere Verse erstrecken.11 Saussures Anagramm ist in diesem Sinne also „unvollständig". Vergleicht man es mit dem traditionellen und dem argotischen Anagramm, so nimmt das letztere eine Art Mittelstellung ein: es ordnet die Elemente des Leitwortes zwar noch in einem kompakten Monemkörper an, gestattet aber bereits die Einbeziehung von selbst nicht zum Leitwort gehörenden Elementen. In einem anderen Punkt dagegen sind die drei besprochenen Anagrammtypen identisch: in ihrem gewollten Charakter. Sowohl das traditionelle wie das argotische Anagramm sind in ihrer Entstehungsphase als bewußte Konstruktionen eines Individuums (oder einer Gruppe) anzusehen, wobei der Autor sich des Transformationsmechanismus durchaus bewußt ist: in diesem Sinne darf das Anagramm in seiner Entstehung als „durchsichtig" bezeichnet werden.12 Einmal in den Verkehr gesetzt, kann das Anagramm 10 Cf. z.B. Derrida, Grammatologie, p. 16 ss., 46 s.u. passim; vgl. auch Bachmann, NZZ PP/1970, p. 51 (3), usw. 11 Cf. auch Staiobinski.A/ercure 350 (1964), 244. 12 Den Begriff durchsichtig / Durchsichtigkeit übernehme ich von Gauger, Wort, p. 113 ss., wo er allerdings auf die Wortbildung bezogen ist; auf die Anagramme verwendet kann er sich nicht auf ein aus verschiedenen Monemen (signes) gebildetes Wort beziehen, sondern nur auf das signifiant (bei graphischen Anagrammen das signiflant du signiflant) resp. den Transformationsmechanismus, der im
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diese Durchsichtigkeit bewahren; sehr oft wird es sie aber auch für den Großteil der Benutzer verlieren, man wird die Tranformationsregeln vergessen: das Anagramm wird so zu einem normalen signiflant (lautlich) oder signifiant du signifiant (graphisch). Dieser gewollte Charakter gilt auch für Saussures Anagramm. Obwohl er die Technik der Anagrammatisierung bei keinem Theoretiker nachweisen kann, obwohl sich bei keinem Dichter ein Hinweis in dieser Richtung findet, steht für ihn fest, daß es sich um eine bewußte Technik, einen gewollten Effekt handeln muß; so spricht er hinsichtlich der Anagramme bei Vergfl von einer „intention poe"tique",13 und an LeOpold Gautier schreibt er hinsichtlich der Anagramme bei Polizian: 6 ... en effet, si l'hypogramme n'existe pas chez Ange Politien, j'entends comme une chose que reconnait voulue par ledit Ange, je declare abandonner l*hypogramme alors partout, sans remission aucune et pour toutes les epoques de la latinite. Jakobson III, 1910
Nur ein in seiner Entstehungsphase gewolltes Anagramm ist also für Saussure ein wirkliches Anagramm; sollte sich erweisen, daß diese Effekte nicht gesucht sind, sondern zufallig entstehen, würde er auf seine Theorie verzichten.14 Auch hier kann natürlich bei der Inverkehrsetzung, beim Gebrauch des Anagramms die Durchsichtigkeit verloren gehen, der Transformationsmechanismus vergessen werden; dieser Fall ist von dem von Saussure ins Auge gefaßten zu scheiden. Interessant ist er insofern, als die Effekte ganz anders sind als beim traditionellen und argotischen Anagramm: während in diesem Fall bei Verlust der Durchsichtigkeit einfach der anagrammatische Charakter verlorengeht und ein neuer Normalsignifikant bleibt, löst sich'bei Saussures Typus das anagrammatisierte Zeichen in signifiant-Eeieich von der Anagrammbasis zum Anagramm führt (und umgekehrt). 13 Cf. Starobinski.Mercure 350 (1964), 258. 14 Weil gewollt, und damit im Bewußten anzusiedeln, heben sich die Anagramme in der Konzeption Saussures deutlich von den von Freud untersuchten Assoziations- und Verdrängungserscheinungen im Rahmen des Versprechens, Verlesens und Verschreibens ab; obwohl die Resultate oft sehr ähnlich sind, haben wir in diesem Falle im Vor- oder Unbewußten sich abspielende Prozesse (cf. Freud, Psychopathologie, p. 60-147). Saussures Anagramm hebt sich somit in gleichem Sinne von diesen Fehlleistungen ab wie der Witz: „Endlich wollen wir nicht versäumen, aufmerksam zu machen, daß die Rede der Dame ihrem Wortlaut nach ebensowohl einen vortrefflichen Witz wie ein lustiges Versprechen bedeuten kann. Es hängt nur davon ab, ob sie diese Worte mit bewußter Absicht oder mit unbewußter Absicht gesprochen hat..." (Freud, Psychopathologie, p. 87). 15
nichts auf; da seine Komponenten eingebettet sind in andere signifiants, bleiben im Falle eines Verlusts der Transformationsregeln diese „Trägerelemente" allein übrig. l. l
Grundlagen und Aspekte von Saussures Anagrammkonzeption
Ausgangspunkt für die ganze Anagrammfrage ist Saussures Beschäftigung mit dem saturnischen Vers, den er hinsichtlich der Bedeutung von Akzent und Quantitäten untersuchen wollte. Bei Autoren wie Livius Andronicus, Naevius, Ennius, Pacuvius, Accius usw.15 fielen ihm nun gewisse Lautrepetitionen auf, die sich häuften, je mehr er ihnen seine Aufmerksamkeit zuwandte. Saussure dehnte seine Nachforschungen auf andere Epochen der lateinischen Literatur, auf andere indogermanische Sprachen aus — immer wieder stieß er auf die gleichen Erscheinungen. Welches sind nun die Gesetzlichkeiten, die Saussure entdeckt zu haben glaubte? 1.1.1 Das paarweise Auftreten der Phoneme im Vers An erster Stelle steht die These eines paarweisen Auftretens der Phoneme innerhalb eines Verses. Dieses Gesetz gilt nach Saussure sowohl für die Vokale wie für die Konsonanten, wobei allerdings im vokalischen Bereich gewisse Freiheiten bestehen; diese Freiheiten würden nach ihm aber nie die Quantität, sondern nur die Qualität betreffen. Es wäre also nicht erlaubt, die lange und kurze Variante eines Vokals einander gleichzusetzen,16 wohl aber gewisse im System einander benachbarte Vokale gleicher Quantität. Am deutlichsten formuliert Saussure dies in seinem für Antoine Mefllet bestimmten Briefentwurf vom 14.7.1906: 7 1° Une voyelle n'a le droit de figurer dans le Saturnien que si eile a sä contrevoyelle dans un endroit quelconque du vers (ä savoir, la voyelle identique, et sans transaction sur la quantite: il y a seulement transaction, pour le timbre, entre e bref -1 bref; o bref - ü bref; 2 q[uelque] fois e : ei; 3 q[uelque] fois o : u.)... 2. Loi des consonnes. Elle est identique, et non moins stricte, et aucune consonne quelconque, mSme parmi les implosives comme stabawf, et parmi les finales comme Loucanam, n'est portee en compte moins rigoureusement que le dernier e ou u de la serie vocalique. II y a toujours le nombre pair pour toute consonne quelconque,. .. Tel Quel 37 (1969), 8/917 15 Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 8, 12; Starobinski, Jakobson III, p. 1909; u. passim. 16 Cf. z.B. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 11. 16
Allerdings l t sich die so formulierte Gesetzlichkeit nicht in dieser Absolutheit aufrecht erhalten — schon deshalb nicht, weil es ja Verse mit ungerader Silbenzahl gibt und in diesem Falle zumindest die Zahl der Vokale nicht ohne Rest durch 2 teilbar ist — es mu also ein Vokal ohne „Echo" bleiben. Diese Einschr nkung wird von Saussure bereits im erw hnten Briefentwurf an Meillet gemacht: 8 D resulte de la que, si le vers n'a pas un nombre impair de syllabes {or il faut compter taute syllabe, sans s'inquieter des elisions, d'ailleurs assez rares, qu'exige le metre), les voyelles se couplent exactement, et doivent toujours dormer pour reste: zero, avec chiffre pair pour chaque espece de voyelles: par ex. 2a, 4 e [= \], 6 o [= u] 2a. - Si les syllabes du vers sont en chiffre impair, comme 11, 13, 15, il reste necessairement 1 voyelle sans contre-voyelle. ... Tel Quel 37 (1969), 8/9 Allerdings bleibt dieser berz hlige Vokal nicht einfach verloren; Saussure sieht in diesem Falle einen neuen Kunstgriff vor, der auch dort angewendet werden kann, wo einmal ausnahmsweise ein Konsonant innerhalb des Verses ohne Echo bleibt: der berz hlige Vokal (oder Konsonant) wird dann im n chsten Vers wieder aufgenommen durch ein Element, das seinerseits innerhalb des Verses keinen „Partner" findet: 9 S'il y a un residu irreductible quelconque, soit dans les voyelles, ce qui arrive necessairement si le chiffre des syllabes du vers est impair; soit dans les consonnes ce qui peut arriver facilement par groupes de consonnes avec n'importe quel chiffre de syllabes, bien contrairement ce qu'on pourrait croire, il n'est pas passe condamnation du tout sur ce residu, f t-il d'un simple e, ou d'un 17 In einem anderen Text wird auch noch gefordert, der Hiatus m sse paarweise auftreten: „Enfin, le versificateur avait a recommencer le meme compte pour les HIATUS, tout mot comme meli-οτ, su-a, exigeant s compensation, ou bien par un autre mot de ce genre, ou bien par hiatus entre les mots comme atque idem." (Tel Quel 37 [1969], 11). Dieser Forderung wird auch in den zahlreichen Analysen Rechnung getragen. - Wie der folgende Text zeigt, macht Saussure nicht nur bei den lateinischen Texten gewisse Zugest ndnisse in bezug auf die Vokalqualit t; auch bei seinen griechischen Analysen verzichtet er in dieser Hinsicht fters auf eine allzu strenge Anwendung seines Gesetzes: „La substitution d'un 77 al'autre pour lesyllabisme pendant que la veritable qualite est marquee par un autre 7J a la marge, est un procede qu'on peut souvent relever dans les anagrammes homeriques. Ainsi pour un mot comme Νοήμων, avec η = e , le syllabisme peut etre donne par βοή avec 17 = a, pourvu qu'un des mots voisins, par exemple 7|λθε, μη, fasse entendre, a cote, le timbre qu'il faut substituer dans βοή ." (Ms. ft. 3963). 17
simple / en u n groupe comme fl deja alliterant avec /; mais le poete prend note de cet e ou de cet /, et on le voit alors reparaitre au vers suivant comme nouveau residu correspondant au trop-plein du precedent. TelQuel37 (1969), 918 Durch einen Trick gelingt es also Saussure, seine Theorie vom paarweisen Auftreten der Vokale innerhalb eines Verses vor der Bedrohung durch die Verse mit ungerader Silbenzahl zu retten. Wie er sich das Funktionieren seiner Theorie vorstellt, läßt sich gut an den beiden folgenden Versen darstellen: Taurasia Cisauna Samnio cepit Subigit omne Loucanam opsidesque abdoucit.19 In der Analyse des zweiten Verses stellt Saussure folgende zweimal auftretende Laute und Lautgruppen fest: ouc (LoMcanam, abdowcit), d (opskfesque, abdoucit), b (suMgit, aMoucit), it (subig/f, abdouc/f), / (subzgit, opszdes-), a (Loucanam, abdoucit), o (omne, opsides-), n (oirwe, Loucanam), m (omne, Loucanaw).20 Das isolierte p des zweiten Verses 18 Cf. auch Tel Quel 37 (1969), 11. 19 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 245, 247/8. - Für den Text cf. Buecheler, Carmina epigraphica 7,5-6 (vgl. Rossi, Paragone 218 [1968], 116). 20 In einer Anmerkung erklärt Saussure die überraschende Form omne anstelle von omnem als vom Dichter bewußt gesetzte Unregelmäßigkeit, um seinen Vers von einem überzähligen m zu befreien (cf. Mercure 350 [1964], 248 Nl). Vgl. dazu auch noch den folgenden Text, der unter dem Titel „Les falsifications epigraphiques de la forme des mots en vue de satisfaire a la loi arithmetique du Saturnien" steht: Le plus bei exemple est celui de QVOM pour la preposition cum dans Aetate qvom parva possidet hoc saxsum C'est qu'en effet le v de parva resterait, autrement, sans correlatif; et comme le vers precedent ne fournissait pas de v en surplus (vu que les deux v de multasqve virtutes s'annulent reciproquement), le poete n'a pas hesite, non seulement a inventer QVOM, mais aveiller que ce barbarisme fut reproduit sur la pierre. Nous commen9ons a voir par cet exemple que, loin d'etre des negligences faites contre l'intention du versificateur, les fautes ou les a-peu-pres de nos inscriptions saturniennes ont grande chance de representer la version voulue en vue du vers. Ms. fr. 3962 - Nicht erwähnt wird von Saussure in seiner Analyse das paarweise Auftreten von e (omne, que) und u (subigit, -que). 18
(cpsides-) würde nun durch ein isoliertes p im vorausgehenden Vers (cepit) kompensiert; ebenso ließe sich das (von Saussure nicht erwähnte) dreimalige Auftreten von s im letzten Vers (subigit, opsidesque) durch einen Rückgriff auf den vorhergehenden Vers ausgleichen, wo s ebenfalls dreimal vorkommt, d. h. einmal überzählig ist, und das e von opsides könnte mit demjenigen von cepit zusammengestellt werden. Damit sind allerdings noch nicht alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt, denn der zweite Vers enthält dreimal ein Phonem /k/ (Loucanam, opsides/yue, abdoucit), das sich nicht aufgrund des vorhergehenden Verses kompensieren läßt: /k/ ist dort bereits paarweise vertreten (Cisauna, cepit); einen nachfolgenden Vers gibt es nicht. Überdies läßt sich auch das g von subigit nicht kompensieren — weder innerhalb des gleichen noch des benachbarten Verses. Saussures streng formuliertes Gesetz beginnt also Löcher zu zeigen. Konnte man das Kompensationsgesetz der Vokale noch als durch die Silbenzahl der Verse aufgezwungene Ausnahmeerscheinung akzeptieren, erscheint die in Zitat Nr. 9 erwähnte Ausdehnung dieser Kompensationsmöglichkeit auf Konsonanten bereits bedenklicher: hier bestünde theoretisch die Möglichkeit, im gleichen Vers zu kompensieren — der Dichter müßte nur die entsprechende Wortwahl treffen. Durch die Ausweitung auf den konsonantischen Bereich wird somit der Willkür Einlaß gewährt, und diese Willkür findet ihre Fortsetzung im Zugeständnis, auch Vokale könnten — unabhängig von der durch eine ungerade Silbenzahl geschaffenen Zwangslage — erst im nächsten Vers wieder aufgenommen werden.21 Dadurch wird das ursprüngliche Kompensationsgesetz zuerst einmal auf zwei Verse ausgedehnt: 10 Nous ne saurions trop repeter que la certitude et la valeur de cette loi repose avant tout ou meme totalement, dans notre propre appreciation, sur le faire la Compensation des le vers suivant, et disparaitrait en grande partie sans cette loi subsidiaire et protectrice. Ms. fr. 3962
Wenn es nun auch noch möglich ist, daß beliebige Phoneme im Vers ohne Entsprechung bleiben, erweitert sich dann das Feld der Unregelmäßigkeiten nicht in gefährlicher Weise? Saussure sieht diese Gefahr zweifellos, doch scheint er sie - der obige Text zeigt es - für nicht allzu schwerwie21 Cf. Tel Quel 37 (1969), 11, wo Saussure hinsichtlich der Vokale sagt: „On peut d'ailleurs aussi, par legere licence courante, compenser avec le vers suivant meme hors du cas de force majeure. Mais ce qui n'est point permis est de confondie une longue quelconque avec sä breve ..."
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gend zu erachten. Diese positive Beurteilung dürfte zumindest teilweise daher rühren, daß Saussure glaubt feststellen zu können, die Kompensation sei in den meisten Fällen schon vor der Mitte des folgenden Verses perfekt: 11 ... il faut que chaque consonne soit compensee avant la fin du vers suivant, quitte ä faire un nouveau renvoi pour ce vers lui-meme. Dans la majorite des cas, la compensation est presque totale deja par le premier hemlstiche du vers suivant; toutefois, reciproquement, il y a quelquefois l consonne, ou mSme 2, qui attendent et ne rencontrent qu'au bout de plusieurs vers la consonne compensatoire. Tel Quel 37 (1969), 11
Hatte Saussure ursprünglich nur einen benachbarten Vers in kompensatorischer Funktion zugelassen, so wird hier nun die anfänglich so straff formulierte Gesetzlichkeit weiter verwässert: um sich von „verwaisten" Phonemen zu befreien (cf. oben k, g), zieht er eine Ausweitung der für die Gesamtkompensation relevanten Texttranche auf mehrere Verse in Betracht. Im Brief an Antoine Meillet vom 23.9.1907 wird dieses vorerst nur als Notlösung berücksichtigte Vorgehen geradezu zum Prinzip erhoben: 12 Toutefois, vu la difficulte pour le versificateur, il est d'emblee accorde que peut se rattraper pour un couple sur le vers suivant, et meme sur l'espace de plusieurs vers: de soite que la loi aboutirait ä ce que dans un epigramme comme ceux des Scipions, tous les elements doivent - c'est-a-dire doivent simplement se trouver en nombre pair au bout des 6 ou 8 vers qui forment repigramme. CFS21 (1964), 110
Auf den einzelnen Vers bezogen, bedeutet dies, daß in diesem nicht mehr alle Phoneme paarweise auftreten. Im Zitat Nr. 11 hatte Saussure von l oder 2 Konsonanten gesprochen, die sich pro Vers unter Umständen der enger formulierten Regel entziehen können. Doch auch diese Begrenzung scheint nicht aufrecht zu erhalten zu sein; in einem weiteren Text will Saussure sich schon mit einem paarweisen Auftreten von zwei Dritteln der Phoneme begnügen; ein drei Viertel ausmachender Anteil der Paare an den Phonemen eines Verses scheint er schon als Bestätigung seiner Theorie anzusehen: 13 Mais c'est dejä une forte exigence d'attendre que tous les mots soient combines de teile sorte qu'on arrive pour les 2/3 des lettres au nombre pair, et c'est plus des 3/4 qui realisent ä tout moment cette „performance", comme on dirait en langage de turf. Mercure 350 (1964), 248 20
Betrachtet man zwei aufeinanderfolgende Verse zusammen, so will sich Saussure mit einem paarweisen Auftreten für vier Fünftel der vorkommenden Phoneme zufrieden geben: 14 Mais, en supposant meme le contraire, c'est-ä-dire l'absolue independance du distique, j'ose dire que ce n'est pas par hasard, et seulement meme par un effort Signale qu'on forcera 2 vers ä s'astreindre ä la condition de mettre les 4/5 des elements phoniques dans le nombre pair sur cet espace. Ms. fr. 3963
Damit wird nun allerdings die ganze Theorie recht fragwürdig; wenn ein so großes Textstück für die Kompensation notwendig ist, wenn innerhalb eines Verses nur mindestens 2/3, innerhalb von zwei Versen 4/5 der Phoneme paarweise auftreten müssen, dann muß man sich fragen, ob hier nicht eine mehr oder weniger zufällige Erscheinung vorliegt, ein Phänomen, das sich darauf zurückführen ließe, daß die Phoneme einer Sprache eben einem begrenzten Inventar (System) angehören, daß sie die Bausteine des Signifikanten aller höheren hierarchischen Einheiten (Moneme, Syntagmen usw.) darstellen und sich deshalb schon auf kleinem Raum wiederholen können oder gar müssen. Auch Saussure wird sich diese Frage stellen. Vorerst aber versucht er, Erklärungen für die festgestellten Unregelmäßigkeiten zu finden. Neben den bereits in Zitat Nr. 12 erwähnten Schwierigkeiten für die Versifikation, die das Verfahren an sich schon mitbringt, Schemen ihm vor allem drei Faktoren für die Unregelmäßigkeiten verantwortlich zu sein. An erster Stelle wären die bei den älteren Texten sich zeigenden Zählschwierigkeiten zu nennen: enthält z. B. eine Form SVPERASES (= superasses) drei oder vier 5? 22 Dann würden gewisse Sandhi-Erscheinungen die Analyse sehr erschweren,23 und schließlich könnte auch die mangelhafte Textüberlieferung zu Inkonsequenzen fuhren, sei es, daß Inschriften oder Manuskripte Lücken aufweisen, sei es, daß eine Interpolation von Versen vorliegt, die nicht nach dem geforderten Kompositionsprinzip aufgebaut sind?4 Keines dieser Entlastungsargumente vermag jedoch wirklich zu überzeugen. Die ersten beiden Punkte (Zählschwierigkeiten und Unsicherheit in der Beurteilung der Sandhi-Erscheinungen) könnten allenfalls für ältere Überlieferungen herangezogen werden (Veda, altlat. Inschriften, usw.); aber wenn 22 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 110. 23 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 250; Benveniste, CFS 21 (1964), 113. 24 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 110, 113; Starobinski, Mercure 350 (1964), 250. 21
sie wirklich von Bedeutung wären, dann dürfte es für die jüngeren Traditionen, die diese Regeln befolgen, kaum mehr Abweichungen geben: für die lateinische Klassik z. B. können diese Argumente kaum geltend gemacht werden. Was die Interpolationen betrifft, so vermöchten sie wohl zu bewirken, daß einzelne Verse oder Verskomplexe sich dem Prinzip entziehen; wie aber könnten Interpolationen erklären, daß sich Verstöße gegen die Grundregel fast in jedem Vers finden? Und auch ein letztes Argument Saussures vermag nicht zu überzeugen, ein Argument, das eigentlich dazu angetan scheint, den Mangel gerade in eine Tugend zu verwandeln: 15 Mais — au moins en ce qui concerne les consonnes — une autre condition encore devait etre remplie. II y a toujours, dans les inscriptions, un residu consonantique, et selon notre Hypothese.. . ce residu est voulu, et destine ä reproduire les consonnes du THfeME initial, ecrit en abreviation pour les noms propres, et en toutes lettres pour les autres. Tel Quel 37 (1969), 11/12
In einem Vers wie Taurasia Cisauna Samnio cepit soll das Leitwort Scipio sein (S[amnio] + C/[sauna] + [ce]pz[t] + [Samn]/o),25und da der Vers ein überzähliges s enthält, scheint die Theorie vorerst zu stimmen; was aber, wenn man feststellt, daß neben s auch r, m, p und e isoliert sind? Auch das Heranziehen der Nachbarverse kann hier nicht aus der Patsche helfen, denn berücksichtigt man den folgenden Vers, werden nicht nur e und p, sondern auch das s neutralisiert, das gerade isoliert bleiben sollte.26 Saussures Theorie vom paarweisen Auftreten der Phoneme erscheint zuerst bestechend; träfe sie tatsächlich zu, so gäbe sie dem Textphilologen ein ausgezeichnetes Werkzeug in die Hand, um verdorbene Verse zu erkennen und die richtige Emendation zu finden. Beide Implikationen sind von Saussure erkannt worden. So bemerkt er im Rahmen seiner Untersuchungen zum saturnischen Vers zu einer umstrittenen Stelle: 16 A noter, independamment des totaux, que pas une seule des consonnes contenues au vers I (L, H, M, N, R, S, T, C, F) ne s'y trouve en nombre pair, - ce qui indique ä soi seul que ce vers a du subir alteration (par substitution du nom propre), tant la chose est peu [commune] dans un saturnien, meme pris ainsi isolement. Ms. fr. 3962 25 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 245. - Vgl. auch unten, p. 27. 26 Vgl. oben, p. 19. - F. Rastier (Latomus 29 [1970], 3-24) weist zu Recht darauf hin, daß Saussures Theorie aufgrund des vorliegenden Materials nicht verifizierbar sei: der Beispiele seien zu wenige, der Ausnahmen in diesen wenigen
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Und zu einem anderen Text finden wir folgenden Kommentar: 17 (1) D n'y a pas sur le texte present devant nous et reconnu comme une copie ± exacte, de chiffres reguliere ä obtenir. (2) La restitution de l'original montrant regularite des chiffres peut se faire ... Elle sera naturellement toujours entachee, et nous ne pretendons pas entrafner conviction. ... Ms. fr. 3962
Könnte Saussure seine Theorie in ihrer absoluten Formulierung aufrecht erhalten, würde man ihm gerne beipflichten und sich nicht zuletzt über die textphilologischen Möglichkeiten freuen, die sich aus ihr ergäben. Je mehr Abweichungen von der Grundregel er aber in Betracht ziehen muß, je verzweifelter er nach Erklärungen für die sich häufenden Inkonsequenzen sucht, desto zufälliger und damit nichtssagender scheint die untersuchte Erscheinung zu werden. 1.1.2 Die Wiederholung der Diphone Bei der Analyse der beiden Verse aus dem Scipionen-Elogium21 muß aufgefallen sein, daß sich Saussure bei seiner Darstellung nicht streng an die Phoneme hält, sondern auch zweimal die Grenze des Phonems überschreitet und von der Wiederholung von Polyphonen spricht: von einer Gruppe ouc, die in Loucanam und abdoucit auftritt, und einer Gruppe -it, die in subigit und abdoucit enthalten ist. In einem weiteren Dokument wird darauf hingewiesen, daß in der lateinischen Dichtung (und insbesondere im satunüschen Vers) der Entsprechung zweier Diphone mindestens ebenso viel Bedeutung zukomme wie der Alliteration: 18 Pour terminer ces explications preliminaires par un des exemples qui m'ont precl· sement conduit ä la vue que j'expose, je dirai que cette vue peut se resumer a dire que dans un vers comme Ibi manens sedeto donicum videbis (Livius) la correspondance —W— (ibi, videbis) ou la correspondance —de— (sedeto, videbis) ont tout autant d'importance, alors que ni l'une ni l'autre ne porte sur initiale, que tous
Beispielen zu viele. Auch wird - durchaus zu Recht - betont, daß das, was man allgemein mit dem Terminus „saturnischer Vers" bezeichne, ein höchst heterogenes Corpus darstelle. Die p. 24 u. passim ausgesprochene Hoffnung, die Publikation weiterer Analysen Saussures könnte vielleicht doch noch eine Rechtfertigung seiner Theorie bringen, muß ich leider enttäuschen: das handschriftliche Material beweist eindeutig, daß sie in dieser Form nicht haltbar ist. 27 Cf. oben, p. 18/19.
23
les exemples d'alliteration initiale au moyen desquels on a fait du saturnien un vers „alliterant". Mercure 350 (1964), 249
Dieses bisher zweimal in anderem Zusammenhang angeschnittene Thema wird im Brief vom 23.9.1907 an Antoine Meillet für sich wieder aufgenommen.28 Die Entsprechung der Diphone (Triphone, Polyphone) wird hier in den Rang eines eigenen Gesetzes erhoben, das neben dem Gesetz des paarweisen Auftretens der Phoneme (cf. oben) und demjenigen der Anagrammatisierung des Textes als dichterisches Prinzip den Charakter der indogermanischen Poesie bestimmt. Ursprünglich mit dem Gesetz des paarweisen Auftretens der Laute verschmolzen, scheint sich in dieser Phase von Saussures Nachforschungen die Harmonie der Polyphone verselbständigt zu haben: 19 b) ce qui precede serait la loi des differents elements pris comme monophones. AussitOt que ne pousse pas Panalyse jusqu'ä la limite systematique du monophone ... et que s'en tient aux groupes phoniques (diphones, triphones), on est alors en presence d'un phenomene plus immediatement saisissable ... En effet, presque tout passage saturnien n'est qu'un grouillement de syllabes ou de groupes phoniques qui se font echo, comme par exemple, et ne choisissant un exemple relativement pauvre a cet egard, les vers de Livius Ibi manens sedeto donicum videbis Me carpento vehente domum venisse CFS21 (1964), HO29
Es folgt dann die Analyse über die Entsprechung der Diphone und Polyphone, die bei Saussure folgendermaßen aussieht: DE in sedeto, videbis, BI in zbi, videbis; DO in donicum, domum; Vfi in vehente, venisse; Tö in sedetö, carpento; NI in dontcum, vemsse; EN in manens, venisse; SE in siedetö, venis-& (oder SSE ev. ENSSE in mö«ens/sö-, venfijsse); ENT in carpento, vehente; UMV in donicum vid-, domum \en-, Diese von Saussure als auffälliger und deutlicher hervortretend bezeichnete Erscheinung zeigt aber auch gewisse Nachteile: sie erweist sich als „plus difficüe . . . ä reduire ä une formule fixe" (CFS 21 [1964], 110). So spricht Saussure z.B. nirgends davon, daß die Wiederholung innerhalb eines Verses vollständig sein könnte; und wenn er sich beim Zitat von Livius Andronicus auf zwei Verse beschränkt, so heißt dies keineswegs, daß zwei Verse jeweils den polyphonischen Echomechanismus begrenzen würden. Im 28 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 110. 29 Livius 18, 1-2 (vgl. Rossi, Paragone 218 [1968], 117).
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nächsten Text ist vielmehr von einer Kompensation innerhalb eines Textes als Ganzem die Rede, was wohl dahin interpretiert werden muß, daß Saussure nicht an eine Distanzbegrenzung für die Wiederholung der Polyphone denkt. Im gleichen Text weist er dann auch daraufhin, daß es kaum möglich sei, einen Text ohne Rest in sich entsprechende Polyphonenpaare zu zerlegen oder nicht gewisse Phoneme in zwei verschiedenen Polyphonen mitzuberücksichtigen: 20 Je repete que le phenomene b (de la correlation syllabique, ou polyphonique), est plus facile ä rendre sensible, mais que son cote malheureux, c'est qu'il serait difficile de montier que le texte se resoud exactement en X polyphones = X polyphones, sans residu, ou sans reprise du meme element pour 2 polyphones distincts. CFS21 (1964), 111
Das zweite Gesetz, das Saussure entdeckt zu haben glaubt, erweist sich so als noch viel schwerer faßbar als das erste. Wenn es nicht zu der fortschreitenden Aufweichung und Verwässerung der ursprünglichen Formulierung kommt, wie wir sie im Falle der ersten Regel feststellen konnten, so hat dies zwei Gründe. Einmal hat Saussure dieses zweite Gesetz nie derart straff und eng formuliert wie das erste — die Gefahr, daß er viel von seiner ursprünglichen Formulierung zurücknehmen müßte, hat deshalb von allem Anfang an nicht bestanden. Allerdings bleibt noch die Möglichkeit, daß Saussure sich hätte veranlaßt sehen können, dieses zweite Gesetz als Ganzes zurückzunehmen. Ein ausdrücklicher Widerruf ist bis heute nicht bekannt, aber die Seltenheit der Texte zu diesem Punkt scheint doch symptomatisch zu sein. Im bis jetzt bekannten Material handelt Saussure nur im Brief vom 23.9.1907 an Meillet von diesem Punkt, und bereits hier stellt er sich die Frage, ob nicht das Ganze eine zufällige Erscheinung sei: 21 Est-ce un ä-peu-pres, ou est-ce un Systeme exigeant un compte regle, c'est difficile ä demeler surtout devant d'autres textes oü des vers entiers semblent un anagramme d'autres vers precedents, meme a grande distance dans le texte. CFS21 (1964), 111
Selbst wenn sich noch weitere Dokumente zu diesem Punkt finden sollten, dürfte man wohl in der Annahme nicht fehlgehen, daß Saussure seinem Gesetz über die Wiederholung der Polyphone keine zentrale Bedeutung zugewiesen hat. In den meisten Texten spricht er nur vom paarweisen Auftreten 30 Cf. oben z.B. vemsse (
und EN), manens (EN und ENSSE) usw. 25
der Laute und den Anagrammen. Ursprünglich aus dem ersten Gesetz hervorgegangen (cf. oben), scheint das Gesetz über die Polyphone in der Folge vom Anagrammgesetz absorbiert worden zu sein, baut Saussure doch seine Anagrammtheorie vorwiegend auf den Diphonen auf.31 Einen Ansatzpunkt für eine Entwicklung in dieser Richtung bietet schon der zweite Teil des Zitats Nr. 21, das den Schluß des Abschnittes über das Polyphonengesetz im Brief an Meillet bildet. 1.1.3 Die Anagramme Wir haben in den beiden vorhergehenden Kapiteln festgestellt, daß Saussure mit seinen Theorien hinsichtlich der Verifizierung Schwierigkeiten hatte: beim Gesetz über das paarweise Auftreten der Phoneme sieht er sich zu einer immer weitergehenden Abschwächung seiner ursprünglich recht straff formulierten Regel gezwungen; beim Gesetz über die Polyphone kommt es gar nie zu einer präzisen Formulierung — es bleibt von Anfang an alles im Vagen, kaum faßbar. Saussure verheimlicht sich die Schwächen der ersten beiden Teile seiner Theorie nicht; gleichzeitig ist er aber auch überzeugt, daß ihre Bestätigung oder Widerlegung für den Kern seines Anliegens irrelevant sei: selbst wenn es kein Gesetz der Phonempaare und keines über die Polyphonenwiederholung geben sollte, würde nach ihm die Tatsache bestehen bleiben, daß die lateinischen und alten indogermanischen Texte von Anagrammen durchsetzt sind: 22 c) Ce qu'on peut tres heureusement aborder sans resoudre ni le point a ni le point b concernant le decompte des monophones ou des polyphones, c'est ce fait independant - ou pouvant etre considere d'une moniere independante, car je ne voudrais pas aller plus loin -, que les polyphones reproduisent visiblement, des que l'occasion en est donnee, les syllabes d'un mot ou d'un nom important pour le texte, et deviennent alors des polyphones anagrammatiques. CFS21 (1964), 111
Die Theorie über die Polyphone (die Saussure mehr oder weniger mit den Silben gleichsetzt)32 erscheint hier in entscheidend modifizierter Form: es wird nicht mehr eine Wiederholung der Polyphone gefordert, sondern vielmehr, daß gewisse Polyphone ein kohärentes und bekanntes signifiant ergeben müssen, hinter dem entweder ein signifi (beim normalen sprachli31 Cf. unten, p. 35ss. 32 Cf. z.B. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 17: „la syllabe etant entendue comme diphone".
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chen Zeichen) oder eine Person (beim Namen) steht.33 Dieses „Leitelement" kann zwar selbst im Text vorkommen, eine Bedingung ist dies jedoch nicht: 23 L'anagramme peut se derouler soit sur un nom qui figure dans le texte, soit sur un nom qui n'est pas prononce du tout, mais se presente naturellement ä Pesprit par le contexte. CFS21 (1964), 111
Im ersten Falle bleibt das Gesetz über die Wiederholung der Diphone (Polyphone) zumindest teilweise erhalten, nämlich insofern, als Phonemgruppen des Leitwortes in einem relativ begrenzten Kontext ein zweites Mal auftreten. Wie der zweite Typus zeigt, ist dieser Faktor aber nicht als konstitutiv für das Anagramm zu betrachten: er ergibt sich ungewollt aus dem Vorhandensein des Leitwortes im Text, kann aber ebensogut auch fehlen. Einige Beispiele sollen nun zeigen, wie Saussure das literarische Anagramm sieht. So enthält nach ihm der bereits erwähnte Inschriftenvers Taurasia Cisauna Samnio cepit den Namen Scipio', das Anagramm ist zwar nicht ganz vollständig, da eine Gruppe sc(i) fehlt, doch scheint Saussure diesen Mangel durch eine Art Überlagerung und Kondensation von Samnio cepit und Cisauna als behoben zu betrachten: 24 Ceci est un vers anagrammatique, contenant completement le nom de Scipio (dans les syllabes cl + + 8, en outre dans le S de Samnio cepit qui est initial d'un groupe oü presque tout le mot Säpto* revient. — Correction de -cepi- par le -ci- de Cisauna). Mercure 350 (1964), 24534
Schreibt man diese Analyse in die von Saussure normalerweise gebrauchte hierarchische Form um, so ergibt sich folgendes Bfld:35 Taurasia Cisauna Samnio cepit 1 1 1 1
1 1 1 1
a~
1 1
o S
1 1
l 1
!r ' G r 1 1 1 1
l 1 |
1
10 33 Zum Unterschied zwischen dem normalen sprachlichen Zeichen und dem Namen cf. Wunderli,/^ 74 (1969), 293/94. 34 Cf. auch Starobinski, Jakobson III, 1907. 35 Die verschiedenen Zeilen der Analyse sind nacheinander von links nach rechts
27
Bereits an diesem Beispiel lassen sich zwei wichtige Charakteristika von Saussures Anagrammen erkennen. Einmal handelt es sich nicht um ein kohärentes Anagramm, wie bei dessen traditioneller Ausgestaltung, sondern um eine „verstreute" Variante: die Elemente (Polyphone) bilden nicht einen Block, sie können vielmehr durch nicht zum Anagramm gehörende Phoneme und Phonemkomplexe voneinander getrennt sein. In den Anagrammstudien zu Homer ist mehrmals davon die Rede, daß die nicht zum Anagramm gehörenden Phoneme sehr oft paarweise auftreten würden (Ms. fr. 3963); allerdings haben wir hier nicht ein eigentliches Gesetz, sondern nur eine Tendenz: 25 II y aurait lieu un peu partout, et dans les vers que nous venons d'etudier comme ailleurs, de s'arreter aux paiticularites des syllabes inutäes a I'anagramme. Tres souvent on cherche ä les rendre plus ou moins homogenes et symetriques entre elles - en vertu du simple principe qu'un dessin quelconque se detache mieux sur un fond uni que sur un fond «regulier et bariole ... Ms. fr. 3963 26 Un autre detail ne doit pas passer inaperQu. Ici comme en de nombreux autres exemples, il semble que si une lettre etrangere au mot de Fanagramme est mise deux fois, eile equivaut de ce fait ä zero, pour la lecture. ... Ms. fr. 396336
In den späteren Analysen ist dann allerdings von dieser Erscheinung nicht mehr die Rede — wohl gerade deshalb, weil auch in den Augen Saussures hier nur eine wünschenswerte, nie aber eine obligatorische Zusatzkomplikation vorliegt. — Der zweite Punkt betrifft die Reihenfolge der das Anagramm ausmachenden Elemente: sie treten im Trägertext nicht in der Reihenfolge auf, in der sie sich im Leitwort folgen (z. B. S + ci + + ), sie zu lesen. - Für die Disjunktion der Elemente eines Polyphons (S-C) cf. unten, p. 35. 36 Im obigen Inschriftenvers (Taurasia Cisauna Samnio cepit) ließe sich das paarweise Auftreten der nicht zum Anagramm gehörenden Phoneme ebenfalls demonstrieren: wir hätten 2 t, 2 au, 4 a, 2 s sowie ein annähernd gleichwertiges Paar m/ n; ohne Entsprechung blieben hier nur r und /. - Von der erwähnten Tendenz ist in den Heften von Ms. fr. 3963 noch verschiedentlich die Rede, cf. z.B.: „ ... parallelisme des syllabes inutiles a I'anagramme (formant remplissage au point de vue de ranagramme): ... "; „Dans ce qui sert de „remplissage" entre les syllabes anagrammatiques, on peu t noter une fois de plus la recherche de phonemes qui se repetent, de maniere a diminuer le plus possible le nombre des elements etrangers "; usw.
28
sind vielmehr beliebig vertauschbar; in unserem Vers lautet die Reihenfolge z. B. ci'- s — (ce) - pl Dieser Zug stammt vom traditionellen Anagramm. — Im Trinummus von Plautus glaubt Saussure die Anagrammatisie rung des Namens Lesborilcus aufgrund der drei folgenden (distanzierten!) Lexien zu erkennen (v. 1174-7 8):38 SONITU BENEVOLENS AMICUS I I I l l l
l l
M l M I
l l l l l l M
-ONI-
B
LE-S
-ICUS
oder in umgeschriebener Form SONITU BENEVOLENS AMICUS l l l l
l l
LE-S
B-
0
ONI-
ICUS
Das dritte Beispiel stammt nicht aus der alten Literatur, sondern aus einem lateinischen Text von Giovanni Pascoli;39 nach Saussure ist aus dem folgenden Vers der Name Falerni herauszulesen: . . . / facundi calices hausere — a l t e r n i l l l l
l l
FA
-AL
ER
l
/
l l l l
AL-ERNI
An diesem Beispiel fällt auf, daß die Reihenfolge der Polyphone des Leitwortes im Anagramm beibehalten ist: FA—AL—(ER—AL)—ERNI. Diese Erscheinung stellt aber wiederum nur eine fakultative zusätzliche Komplikation des Anagramms dar: 27 Ces unites qui recomposent le mot peuvent etre donnees en-dehors d'un ordre quelconque; U peut arriver au contraiie qu'on s'astreigne ä suivre Pordre resultant du mot. ... Ms. fr. 3963 37 Im argotischen Anagramm hat er nur beschränkt Gültigkeit, cf. oben, p. 12. 38 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118/119. 39 Catullocalvos, p. 16; cf. hierzu Nava, CFS 24 (1968), 80 und Starobinski, 29
Im obigen Fall ist überdies die Linearität durch das zweimalige Auftreten gewisser Polyphone (AL, ER) leicht gestört. Gerade dieser Zug hat wiederum als Charakteristikum von Saussures Anagrammen zu gelten: die Polyphone können rekursiven Charakter haben, d. h. innerhalb einer anagrammatischen Sequenz mehrmals auftreten. Auch in diesem Punkt besteht ein deutlicher Unterschied zum traditionellen Anagramm. Die Möglichkeit eines mehrfachen Auftretens (Rekursivität) besteht nicht nur für die Polyphone als Ganzes, sondern auch für ihre Komponenten, die Phoneme. So findet sich im Falle von Scipio das ? sowohl in pi (cepif) wie in (Samnio), bei Falerni das ainfa (facundi) und in al (calices, alterni), usw. Dies ist darauf zurückzuführen, daß einerseits jedes Polyphon auf Diphone reduziert werden kann (cf. z. B. Lesbonicus: LES = LE + ES, ONI = ON + NI, usw.), andererseits sich jedes Leitwort auf zwei verschiedene Arten in Diphone analysieren läßt, je nachdem, ob man beim ersten Analyseschritt mit einem Diphon oder einem einzelnen Phonem beginnt:40 28 Un nom comme Vergilius, decoupe par diphones, donne 9 diphones possibles: ve — er—rg—gi — il-li — — "u- us, et si 1'anagramme est d'une correction absolue, U executera tous les neuf; - mais les syllabes se trouvent constitutes meme en sautant un diphone sur deux, si l'on veut: ve ou v(e) - er
il -ü
US
- (u)s
Et ainsi chaque anneau de l'analyse diphonique n'est pas indispensable tel qu'il ressort de cette analyse: il suffit que rien ne manque d'un bout ä l'autre du mot. CFS21 (1964), Hl/11241
Die Rekursivität der Phoneme ist somit nicht erforderlich, was Saussure wohl bedauert haben dürfte: eine obligatorische Wiederholung wäre für die Realisierung seines Gesetzes vom paarweisen Auftreten der Phoneme äußerst nützlich gewesen. Immerhin bleibt eine zweimalige Berücksichtigung des gleichen Phonems in zwei verschiedenen Diphonen möglich; daß eine Tel Quel 37 (1969), 30-31. - Für die Anagramme in mittel- und neulateinischen Texten cf. auch unten, p. 57/58. 40 Cf. hierzu unten, p. 35 ss. 41 Cf. ähnlich Tel Quel 37 (1969), 10: „Le poete doit done, dans cette premiere Operation, mettre devant soi, en vue de ses vers, le plus grand nombre de fragments phoniques possibles qu'il peut tirer du theme; par exemple, si le theme ou un des mots du theme, est HSrcolei, il dispose des fragments -lei-, ou -cö-; ou avec une autre coupe des mots, des fragments -01-, ou er;...".
30
solche Redundanzerscheinung die Kohärenz und die Durchsichtigkeit der Anagrammatisierung verbessert, liegt auf der Hand. Das so anagrammatisierte Element ist nur in den wenigsten Fällen ein normales Wort aus dem Lexikon, wie z. B. CAVE, das Saussure in einem Brief Cäsars an Cicero verschiedene Male aufscheinen sieht, u. a.:42 Condemnavisse l I I I M I C AV E Meistens handelt es sich dagegen um einen Namen, eine „imitation phonique, au moyen du vers, des noms qui ont une importance pour chaque passage".43 Nach Saussure wäre der Ursprung dieser Technik in der religiösen Literatur zu suchen: man hätte primär versucht, den Namen des angerufenen Gottes auf diese Art in den Text zu bannen: 29 En effet on comprend l'idee superstitieuse qui a pu suggerer que pour qu'une priere ait son effet, il fallait que les syllabes memes du nom divin y fussent indissolublement melees: on rivait pour ainsi dire le Dieu au texte, ou bien si on introduisait ä la fois le nom du devot et le nom du dieu, on creait un lien entre eux que la divinite n'etait pour ainsi dire plus libre de repousser. CFS21 (1964), 114
So hat Saussure z. B. geglaubt, in der ersten Hymne des Rigveda Anagramme und lautlich-morphologische Variationen über den Namen des Feuergottes Agni Ahgiras feststellen zu können.44 Von hier aus wäre dann die Anagrammtechnik in die weltliche Dichtung übergegangen, und zwar immer in dem Sinne, daß der anagrammatisierte Name in einer wesentlichen Beziehung zum betreffenden Gedicht oder zur betreffenden Stelle steht: Mäzene und Adressaten, Gelehrte und Verstorbene, ja schließlich auch Prot42 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 26. 43 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 109. 44 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 250/51; für die vedische Poesie cf. ferner Benveniste, CFS 21 (1964), 113. — An einer ändern, allerdings nur eine flüchtige Notiz darstellenden Stelle zieht Saussure für das griechische Epos neben dem religiösen Ursprung des Anagramms immerhin auch eine rein poetische Motivation in Betracht: „ ... La raison peut avoir ete dans l'idee religieuse qu'une invocation, une priere, un hymne, n'avait d'effet qu'a condition de meler les syllabes du nom divin au texte. ... La raison peut avoir ete non religieuse, et purement poetique: du meme ordre que celle qui preside ailleurs aux rimes, aux assonances, etc. Ainsi de suite. ..." (Ms. fr. 3962).
31
agonisten würden so mit ihrem Namen die Struktur des Gedichtes prägen45 — ganz gleichgültig, ob dieser nun explizit in Erscheinung tritt oder im Text nur unterschwellig (d. h. unter dem Text) vorhanden ist. Neben dem Anagramm als solchem, neben der Forderung, das Leitwort müsse (im Normalfall) ein Name sein, der in direktem Zusammenhang mit dem Text oder der Stelle stehe, kompliziert sich Saussure seine Aufgabe noch weiter: er fordert, daß es einen locus princeps geben müsse, wo das Anagramm (Hypogramm) in besonders gedrängter Form vorkommt: 30 Toute piece bien composee doit presenter, pour chacun des noms importants qui defraient l'hypogramme, un locus princeps: une suite de mots serree et delimitable que l'on peut designer comme l'endroit specialement consacre a ce nom. Cela sans prejudice de tout hypogramme plus etendu, et par consequent plus disperse, qui peut courir, et qui court en general, ä travers l'ensemble de la piece, parallelement ä l'hypogramme condense. Tel Quel 37 (1969), 17
In älteren Texten wird dieselbe Erscheinung als locus conspicuus, paramorphe oderculmen bezeichnet, cf. z. B.: 31 Le groupe de mots que nous appelons le locus conspicuus par rapport ä la masse generate de la piece, peut s'appeler, par rapport au nom qui est homographie, le PARAMORPHE de ce nom, afin de disposer d'un terme quelconque qui separe cet endroit plus special des homogrammes de longue etendue et de moindre evidence qui ne manqueront presque jamais de courir ä cöte du paramorphe dans l'ensemble du texte. (Par rapport ä ces derrtiers, il n'y aurait pas d'obscurite a designer encore le locus conspicuus du nom de oilmen, indiquant que ce qui court tout le temps ä travers les lignes prend la sä forme eclatante et nettement dessinee). Ms, fr. 3968
Notwendig ist dieser locus conspicuus oder locus princeps für Saussures Theorie, um den Zufall zu eliminieren: er legt sich selbst Rechenschaft darüber ab, daß nur über einen größeren Raum zustande kommende Anagramme kaum mehr etwas aussagen. Die beweiskräftigste Form des locus princeps scheint ihm die Verbindung eines Anagramms (syllabogramme) mit einem mannequin zu sein:46 45 Cf. Benveniste, CFS21 (1964), 113, 114. 46 Cf. auch Benveniste, CFS 21 (1964), 118. - In älteren Texten verwendet Saussure anstelle von mannequin auch die Bezeichnungen complexe anagrammatique, complexe approximateur, complexe imitateur (cf. z. B. Ms. fr. 32
32 La forme la plus parfaite que peut revetir le locus princeps est celle du mannequin uni au syllabogramme, c'est-ä-dire du mannequin renfermant dans ses propres limites, nettement donnees par Pinitiale et la finale, le syllabogramme complet. Tel Quel 37 (1969), 17
Das mannequin ist eine Art Rahmen für das Anagramm, der darin besteht, daß das erste und das letzte Phonem des Leitwortes innerhalb des anagrammatisierten Verses (oder Verskomplexes) ebenfalls und bei richtiger Reihenfolge in An- und Auslautfunktion vorkommen. Im Idealfall sind nun die das Anagramm ausmachenden Diphone zwischen den durch das Anund Auslautphonem gesetzten Grenzen zu finden. Drei Beispiele hierfür aus Saussures Pascoli-Analysen:47 Falerniin:
Ulixes (Ulisses) in:
lugurtha in:
. . . / facundi calices hausere — a l t e r n i / I I M
M I I
FA
AL
I I l l
l l l l
l l l l l l M
ER /AL-ERNI
. . . / Undique pepulit lux umbras . . . resides l
I I I 1 I
U
ULI
I I
I I
I I I I I I
S
S-ES
. . . / Ille viam rivo longam solatur et umbra / I I
I I
I V
l l
I I I M I
l >
(G)
UR T
A
Dieser Idealtypus — wohl am schönsten im Falle von Falerni realisiert — ist jedoch eher selten. Saussure muß deshalb noch verschiedene weniger strenge Formen der Kombination von mannequin und Anagramm annehmen: einen Fall, wo gewisse Diphone außerhalb der durch den Rahmen gesetzten Grenzen liegen, einen solchen, wo das Anagramm in zwei jeweils ein eigenes mannequin aufweisende Teile zerfällt, die in vertauschter Reihenfolge ange3963 [homerische Anagramme], Heft 13). 47 Die Texte stammen (in dieser Reihenfolge) aus Catullocalvos p. 16, 18 und lugurtha, p. 13, cf. Nava, CFS 24 (1969), 80/81 und Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 31. - Für die Tatsache, daß die beiden letzten Anagramme nicht nur auf Polyphonen (Diphonen), sondern auch auf isolierten Phonemen beruhen, cf. unten. 33
ordnet sind, und einen Typ, wo die beiden Teile zwei verschiedenen Versen angehören;48 damit sind die Möglichkeiten wohl noch nicht erschöpft. Für den ersten der weniger strengen Typen hier noch ein Beispiel. In Vergils Aeneis glaubt Saussure in Priamides ein Leitwort für Hektor erkennen zu können, das deshalb gewählt wurde, weil Hektors Name selbst in silbischer Hinsicht zu arm und in bezug auf die Endung (-or) zu banal, d. h. zu leicht zu realisieren gewesen wäre:49 33 ... ä chaque anagramme est donne pour centre un complexe-memnequin imitant „Priamides" et les mots qui s'etendent autour de chaque complexe apportent exactement le complement necessite par les syllabes qui manquent dans le mannequin. Tel Quel 37 (1969), 20
Das erste mit einem mannequin verbundene Anagramm ist wohl das eindrücklichste: tempus erat quo / / PRIMA QUIES / / I I I
I I
IM
|l
Pri
es
d. h., wir haben hier (wie z. T. schon in den Beispielen aus Pascoli) ein „reiches" mannequin, das nicht nur das erste und das letzte Phonem umfaßt, sondern noch weitere mit ihnen direkt in Kontakt stehende Phoneme (Pri, es).50 Mannequins für Priamides sieht Saussure auch in den folgenden Wortgruppen: //PERQVE .PEDES// (p—es), //Puppibus IGNES// (p—es), //PLURIMA MUROS// (p—s), ex-//Promere Voces// (pr- es), usw. Allerdings ist er sich beim letzten Fall einer gewissen Schwäche seiner Analyse bewußt, denn pr steht nicht im eigentlichen Wortanlaut, sondern nach Präfix.51 Wenn sich auch hier eine gewisse Häufung der Verbindung von 48 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 18/19. 49 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 19/20. 50 Für den Rest des Anagramms müssen wohl ma in prima (mit einer Metathese) und te in tempus (t ^d) herangezogen werden. 51 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 20/21. 34
mannequin und Anagramm zu ergeben scheint, so ist doch darauf hinzuweisen, daß Saussure nicht an eine Verallgemeinerung dieser Kombination denkt; sie bleibt im wesentlichen dem locus princeps vorbehalten, d. h. sie ist prinzipiell für jedes Leitwort einmal zu verwirklichen, während bei den (die Mehrzahl der Fälle ausmachenden) Nebenrealisierungen resp. Wiederholungen des Anagramms dieses allein angestrebt wird. Obwohl nur für den locus princeps gültig, scheint die mannequin-Jheo rie aber doch recht weitreichende Konsequenzen hinsichtlich des Anagramms an sich gehabt zu haben. Wenn auch Polyphone für das mannequin nicht ausgeschlossen sind, so basiert es doch primär auf Phonemen (erstes und letztes): 34 Un bon complexe anagrammatique doit repondre aux conditions suivantes en jugeant d'apres la moyenne des exemples: l Commence! par le meme phoneme que le mot-theme, et finir par le meme phoneme que le mot-theme. · - · Ms. fr. 3963
Diese Tatsache scheint nun bei Saussure zu einer Lockerung der Regel geführt zu haben, daß die Anagramme auf Diphonen aufbauen S2 — also auch hier eine Aufweichung und Durchlöcherung der ursprünglich recht straff gefaßten Reglementierung. Eine erste Konsequenz dieser Rückwendung zum Phonem scheint zu sein, daß Saussure ein Diphon auch noch anerkennt, wenn die beiden Konstituenten nicht in direktem Kontakt miteinander stehen, sondern durch andere Phoneme voneinander getrennt sind. In diesem Sinne kann schon der p. 27 zitierte Fall von Scipio (s - c) interpretiert werden; hier noch ein weiteres Beispiel (unter vielen), das einem Vers von Polizian entstammt und auf dem Leitwort pictor aufgebaut sein soll (gemeint ist der Maler Fflippo Lippi):53 Artifices potui digitis animare colores 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1
1 1
1 M I r i l l
A M I
1 1 n \~,
1 1 1 1 1 1
rir./n
f
52 Auch das Diphon wurde gewählt, weil es dem Zufall weniger Raum läßt: „Le principe du diphone, par un premier effet, equivaut a ecarter le monophone, comme element capable d'exprimer une position quelconque." (Rossi, Paragone 218 [1968], 125). 53 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1913; Rossi, Paragons 218 (1968), 119. 35
Sowohl der Nexus PI wie auch der Nexus CT (oder TO) lassen sich in diesem Anagramm nur nachweisen, wenn man davon ausgeht, daß die Elemente auch auf Distanz ein Diphon bilden können. Ein Charakterzug des Diphons bleibt bei diesem Vorgehen allerdings erhalten: die durch das Leitwort vorgegebene Reihenfolge der Komponenten (Phoneme); aus diesem Grunde kann hier noch nicht gesagt werden, Saussure stelle das Phonem gleichberechtigt neben das Diphon. Auch in anderer Hinsicht bestehen einstweilen noch gewisse Schranken gegen eine unbegrenzte Invasion der Anagramme durch isolierte Phoneme. Einmal bleibt das Prinzip, daß Anagramme auf Polyphonen beruhen sollten, an sich bestehen; Saussure greift nur dort zum distanzierten Polyphon, wo kein anderer Ausweg bleibt. Dann versucht er einer allzu willkürlichen Ausweitung dieses Vorgehens auch selbst einen Riegel zu schieben durch seine regies de rattachement.5* Von der Feststellung ausgehend, daß jedes mehr als zwei Phoneme umfassende Polyphon aufgelöst werden kann nach der Formel Diphon + X, gesteht er zu, daß zwischen den beiden (dem gleichen Wort angehörenden) Komponenten auch andere Phoneme liegen können. Auf diese Weise sollen einzelne Phoneme für das Anagramm relevant werden können, wobei sie aber immer nur in bezug auf den diphonischen Kern Geltung haben (nie aber isoliert); Saussure insistiert in diesem Zusammenhang auch immer wieder darauf, daß die Reihenfolge der Elemente derjenigen im Leitwort entsprechen müsse und Abweichungen nicht zulässig seien. Im wesentlichen gibt es für ihn die folgenden 5 Typen: 1. Ein Anlautphonem erscheint als Satellit eines Diphons im Wortinnern (z. B. peritus: P-RI; C-AV [-E] in condemnavisse, p. 31). 2. Ein Auslautphonem erscheint als Satellit eines Diphons im Wortinnern (z. B. peritus: -RI-S; cf. [C-]AV-E in condemnavisse, p. 31). 3. Ein inlautendes Phonem ist Satellit eines anlautenden Diphons (z. B. peritus: PE-T-). 4. Ein inlautendes Phonem ist Satellit eines auslautenden Diphons (z. B. peritus: -R-US; cf. [ULIS-]S-ES in resides, p. 33). 5. Ein inlautendes Phonem ist Satellit eines inlautenden Diphons (z. B. fervidus: -ER-D- oder -R-ID-; cf. [p-] IC-T[OR] in digzt/s [IG*IC],p. 35).
54 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 14 ss. 36
Leider bestehen diese schönen Prinzipien nur in der Theorie; wohl versucht Saussure, sich bei seinen Analysen so weit als möglich an sie zu halten, aber offensichtlich zwingt ihn sein Untersuchungsgegenstand immer wieder dazu, die von ihm selbst aufgestellten Regeln zu verletzen. Dies ist z. B. im p. 35 gegebenen Beispiel für pictor der Fall: P—I von potui erfüllt die Bedingung nicht, weil keine der Komponenten diphonischen Charakter hat; 1C von artifices und P von potui machen deshalb Schwierigkeiten, weil sie einerseits nicht dem gleichen Wort angehören und überdies in vertauschter Reihenfolge angeordnet sind. Ähnliche Probleme ergeben sich bei den Anagrammen vonScipio (p. 27), Lesbonicus (p. 29), Ulixes (p. 33) und bei zahlreichen weiteren Analysen in Saussures Material. Sein Versuch, die Invasion der Monophone dadurch einzuschränken, daß ihre Relevanz im Rahmen des Anagramms nur in einigen genau umschriebenen Fällen zugestanden wird, muß als gescheitert betrachtet werden. Die bereits oben festgestellte Aufweichung der Regel von der diphonischen Basis des Anagramms braucht also nicht zurückgenommen zu werden. Doch auch in anderer Hinsicht wird das Prinzip des Diphons noch durchbrochen. Als wir oben von der Distanzierung der Elemente sprachen, haben wir daraufhingewiesen, daß wenigstens die Reihenfolge der Elemente gewahrt bleiben müsse; ebenso weist Saussure bei seinen regies de rattachement immer wieder daraufhin, daß es sich um eine Distanzierung „sans faculte de changer l'ordre" handle. Diese Grundhaltung wird durch einen weiteren Text bestätigt: 35 ... Un diphone, par sa seule presence devant nos yeux, consacre un ordre. Etant donne P + I, rien n'est determine quant a la suite IP ou PI. Etant donne PI, on possede hors de la donnee de la composition, un element qu'il serait absolument faux de croire banal .. . Rossi, Paragone218 (1968), 125
Aber schon die Fälle von pictor (cf. oben) und Lesbonicus (somtu benevolens amicus; cf. p. 29) lassen Zweifel aufkommen: P—1C und B—ONI erscheinen im anagrammatisierten Text in vertauschter Reihenfolge. Dieser Verdacht wird durch die Analyse gewisser Beispiele verstärkt. Einen Vers von Polizian, in dem Saussure den Namen der (angeblichen) Geliebten Filippo Lippis, Leonora, zu erkennen glaubt, analysiert er folgendermaßen:
37
Artifices potui digitis animare colores III II
!lUe I I I
o-oj I I
n—π
Οι
Unter dem Kommentar „Presque valable vu l'accumulation, et les couples" liest man dann: „ar + ar = RA".55 Saussure nimmt hier ganz eindeutig eine Metathese der Elemente des Diphons an, das im Text einmal in normaler, einmal in distanzierter Form vorkommt. Der gleiche Kommentar findet sich wenig sp ter zu einem weiteren Vers, der ebenfalls auf den Namen Leonora hin untersucht wurde („Meque suis fassa est artibus esse parem"),56 und in den Heften zu Thomas Johnson (Ais. fr. 3968) soll im Vers „Commons in tumulo crabrones indulantes" (Anagramm: Lycambes) das zweimalige Auftreten von ul ein LU ersetzen. Saussure kommentiert berdies: 36 La formule ul + ul = LU, ou lu + lu = -UL, m'a paru la longue un peu douteuse, surtout chez Johnson (Politien semble mettre troisfois le groupe renverse. Ce serait ici un assez bon exemple en s faveur.) Ms. fr. 3968
In den Analysen zu Homer wird die Metathese geradezu institutionalisiert f r die F lle, wo das Diphon als konsonantisches Element eine Liquida enth lt und sich innerhalb des Wortes mehrere Liquidae finden — angeblich wegen den sich daraus ergebenden akustischen Konfusionsm glichkeiten: 37 ... nous diions que toute paitie d'une chaine phonique courant sur des liquides consecutives ... se trouve dans des conditions notablement differentes de celles o serait -μα- dans ' Αντ ίμαχος o U n'y a pas une suite de liquides / m n. Teile interversion comme -με- pour -ey-, inacceptable dans ce dernier cas, prend un caractere absolument different, et presque naturel, si les liquides donnent un reseau par leur repetition consecutive. .. . c'est le principe d'une confusion par l'oreille, ... Ms. fr. 3963
55 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1912; Rossi, Paragone 218 (1968), 120. 56 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1913; Rossi, Paragone 218 (1968), 121. 38
Auch in bezug auf die Reihenfolge der Elemente des Diphons finden sich also Regelverstöße. Was uns dieser Abschnitt gezeigt hat, ist ein mehr oder weniger konstanter Widerspruch zwischen Saussures theoretischen Formulierungen und seinen praktischen Textanalysen. Einerseits lehnt er vom theoretischen Standpunkt aus Metathesen ab; in der Analyse sieht er sich aber verschiedentlich gezwungen, auf sie zurückzugreifen (cf. oben). Hinsichtlich der Distanzierung der Phoneme eines Diphons könnte man sich kaum eine eindeutigere Ablehnung wünschen als die im folgenden Text:57 38 J'ai cru assez longtemps qu'il n'y avait rien de plus commun dans Phypogramme que la figure, ou la licence, permettant de sauter une lettre, c'est-a-dire d'obtenir PO par un mot comme procul, SE par un mot comme sterno; ou au moins UD par mundo. Tout ce genre de figure ou de liberte, apres une plus complete etude, m'apparait au contraire comme inexistant, absolument impossible ä prouver ni comme habitude generate, ni par licence personnelle dans un seul cas qui offrirait clairement ce caractere. Tel Quel 37 (1969), 13
Die Textanalysen sprechen gegen diese Feststellung. Nun könnte man allerdings einwenden, die angeführten Beispiele seien eben der im zitierten Text erwähnten früheren Phase zuzuweisen, was sicher z. T. zutrifft.58 Umgekehrt darf aber nicht übersehen werden, daß sich auch im zweiten Brief Saussures an Pascoli — also in einem Dokument, das ganz eindeutig in die allerletzte Phase seiner Beschäftigung mit den Anagrammen gehört59 — noch Analysen mit distanzierten Diphonen finden, cf. z. B. Cur, scire laboro . . . I
I
l
I I I
l
-E
R
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57 Nicht davon betroffen sind die von Starobinski anschließend behandelten regies de rattachement, wo ein diphonischer Kern bewahrt bleibt (cf. oben, p. 36). 58 Sieht man von den Briefen ab, fehlt eine Chronologie der sich mit den Anagrammen beschäftigenden Dokumente heute noch und wird wohl auch nie mit vollständiger Sicherheit erstellt werden können. 59 Cf. unten, p. 68. 39
ein Anagramm zum Leitwort Cicero, in dem aber CE in jedem Fall nur als Distanzdiphon nachzuweisen ist. Noch ausgeprägter ist in dieser Hinsicht der eine Anagrammatisierung von lugurtha darstellende folgende Vers:60 Ille viam rivo longam solatur et umbra I I
I I
I—V
l l
I I I M I
l !
G
UR-T
-A
Noch bedenklicher ist die folgende Analyse aus den Heften zu Polizian (Ms. fr. 3967), weil hier der Name Politianus nicht nur mehr oder weniger ausschließlich aufgrund von isolierten Phonemen restituiert wird, sondern überdies auch die im Falle von lugurtha noch vorhandene lineare Abfolge der Konstituenten fehlt; auch diese Analyse ist der späteren Phase zuzurechnen: At laqveo en pendet: Estis io superi 1 1
1 1 ¥
1
1 1
LJn I
U
.
1 T
!
: ' — rn -r -N-
-(U8)
Diese letzten Analysen zeigen, daß hier tatsächlich ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis vorliegt und das Problem nicht durch einen Rekurs auf die Chronologie gelöst werden kann. Ragles de rattachement, Distanzierung der Elemente des Diphons, Möglichkeit (wenn auch selten genutzt) zur Metathese der Elemente des Diphons — all dies schwächt Saussures Anagrammtheorie und erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß seine Resultate das zufällige Ergebnis einer unausweichlichen Phonemrepetition sind. Zwar ist er seiner Grundsatzerklärung: 39 Je ne crois pas qu'on puisse trop repeter que le monophone est inexistant pour rhypogramme, ceci etant la loi centrale sans laquelle il n'y avait pas ä parier d'hypogramme... Tel Quel 37 (1969), 13
60 Für beide Fälle cf. Nava, CFS 24 (1968), 80/81. Die erste Stelle stammt aus Pascoli, Catullocalvos, p. 16, die zweite aus lugurtha, p. 7.
40
noch nicht vollkommen untreu geworden, denn in allen drei Abweichungsfällen versucht er, wieder zu einem Diphon zu kommen. Die Tatsache bleibt aber trotzdem bestehen, daß er in gefährliche Nähe einer monophonischen Basis des Anagramms gerückt ist. 1.1.4 Die Prioritätsfrage Saussure hat einerseits das Anagramm zusammengestellt mit dem paarweisen Auftreten der Phoneme und der Wiederholung der Diphone, andererseits aber auch erklärt, die Frage der Anagramme könne unabhängig von der Lösung der beiden anderen Probleme behandelt werden.61 Es fragt sich nun, inwieweit er eine Verbindung zwischen den rein lautlichen Wiederholungen und den Anagrammen als solchen sieht. Wohl erklärt er in dem p. 26 zitierten Text (Nr. 22), bei den Anagrammen handle es sich um ein fait independant (von der Wiederholung der Mono- und Polyphone), fugt dann aber gleich einschränkend bei: „ou pouvant etre considers d'une moniere independante, car je ne voudrais pas aller plus loin". Dies scheint darauf hinzuweisen, daß die beiden Problemkreise nur in ihrer Analyse, d. h. in der Art und Weise, wie sie uns in den einzelnen Texten entgegentreten, voneinander unabhängig sind (Synchronien); in genetischer (diachronischer) Hinsicht dagegen bestünde durchaus die Möglichkeit einer Verflechtung. Diese Interpretation wird denn auch durch gewisse Texte bestätigt. Doch in welcher Richtung geht die Entwicklung? Sind die rein lautlichen Harmonisierungserscheinungen oder die Anagrammtechnik als Ausgangspunkt anzusehen, wobei sich dann jeweils die eine Erscheinung aus der anderen heraus entwickelt hätte? In einem ersten Text faßt Saussure beide Möglichkeiten ins Auge, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden: 40 H est aussi facile de supposer que, si on a commence par 1'ANAGRAMME, les repetitions de syllabes qui en jaillissaient ont donne l'idee d'un ordre ä creer de phoneme ä phoneme, d'une alliteration aboutissant ä Fequilibre des sons, que de supposer l'inverse: ä savoir qu'on fut d'abord attentif ä l'equilibre des sons, puisqu'il parut naturel, etant donne qu'il fallait repeter les memes sons, de choisir surtout ceux qui se trouvaient faire allusion, de meme coup, ä un nom que tout le monde avait dans l'esprit. Selon qu'on choisit la premiere possibilite ou la seconde, c'est un principe ä la fois general et d'ordre esthetique qui donne lieu au fait particulier de l'anagramme; ou bien c'est au contraire l'anagramme (quel qu'en soit le pourquoi, qui pourrait se trouver dans une idee superstitieuse) qui engendre le principe esthetique. Mercure 350 (1964), 257 61 Cf. oben, p. 16 ss., bes. p. 26. 41
Zieht man in Betracht, daß beim Anagramm das Leitwort sehr oft nicht im Text figuriert, fällt es allerdings schwer, zu glauben, dieses hätte das ästhetische Prinzip nach sich ziehen können. Wohl wird das gleiche Anagramm in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Versen wiederholt — aber das paarweise Auftreten der Laute soll sich ja im Rahmen eines Verses (oder wenig mehr) vollziehen! Oder wäre aus der Wiederholung der Anagramme zuerst das weniger strenge Gesetz von der Wiederholung der Diphone entstanden, da dieses (wegen der fehlenden räumlichen Begrenzung) auch ohne Leitwort im Text auf die Anagramme zurückgehen könnte? Und hätte man dann im Rahmen einer strafferen Kunstauffassung diesem Prinzip ein aus ihm abgeleitetes Gesetz der couplaison überlagert? Alle diese Fragen werden in den vorliegenden Texten Saussures nicht beantwortet. Der von ihm angenommene religiöse Ursprung der Anagrammtechnik62 scheint aber doch dazu zu fuhren, daß er das Anagramm als Ausgangspunkt für den ganzen Fragenkomplex bevorzugt und den rein ästhetischen Aspekten seiner Theorie eher sekundären Charakter zuweist. Darauf verweist nicht nur die Tatsache, daß im obigen Zitat dieser Perspektive sowohl Anfang wie Schluß der Ausführungen gewidmet sind; vielmehr muß festgestellt werden, daß Saussure in seinem Brief an Mefllet vom 23.9.1907 nur vom anagrammtischen Ursprung seines Regelgebäudes spricht: 4l 0 est probable que les differents jeux phoniques de la versification sont partis de i'anagramme, qui n'est plus qu'un de ces jeux a la fin. En effet on comprend l'idee superstitieuse qui a pu suggerer que pour qu'une priere ait son effet, ü fallait que les syllabes memes du nom divin y fussent indissolublement melees: . .. CFS21 (1964), 114
Auch hier zeigt sich ein gewisses Schwanken; allerdings handelt es sich nicht mehr um Widersprüche zwischen Theorie und konkreter Analyse wie im vorhergehenden Fall, sondern vielmehr um die zwangsläufigen Folgen der Tatsache, daß die ganze Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex nie über das Stadium des Versuchs, der Skizze und des Entwurfs hinausgelangt ist. l .2
Terminologische Probleme
Die lange Beschäftigung mit dem Anagrammproblem, das Suchen und Tasten nach Lösungen und das Fehlen einer abschließenden Redaktion brin62 Cf. oben, p. 31; cf. aber auch N 44. 42
gen es mit sich, daß sich in den Texten zu den Anagrammen auch terminologische Probleme stellen. Auf einen Punkt haben wir bereits früher hingewiesen: auf die Gleichsetzung von Diphon (Polyphon) und Sübe.63 Für diese Gleichsetzung hier der wichtigste Text: 42 J'admets d'avance que dans une ligne de texte doit se trouver au tnoins une syllabe d'un mot quelconque de moyenne longueur (la syllabe etant entendue comme diphone) rien que par l'effet des chances naturelles et de la limitation des diphones possibles dans la langue; je crois meme que la proportion doit s'approcher plutöt de deux diphones en une ligne que d'un, toujours sur cette base d'un mot moyen de 7 ou 8 diphones et de ce qui doit resulter du Hasard pour les coincidences. Tel Quel 37 (1969), 17
Probleme ergeben sich aus dieser Gleichsetzung kaum; wesentlich ist nur, daß syllabe hier nicht im traditionellen Sinne verwendet wird, daß es nicht um die rhythmische, eine Explosion und eine Implosion umfassende Einheit geht,M sondern daß mit „Silbe" jede als Konstituente eines Anagramms in Frage kommende Folge von zwei (oder mehr) Phonemen gemeint sein kann. Eine weitere Frage, die in diesem Zusammenhang zu stellen wäre, ist die nach der Bedeutung von phon&me; ist phon&ne im modernen Sinne zu verstehen, oder wird damit der konkrete Laut, die Phonie bezeichnet? Die ganze Frage ist ziemlich komplex, und ihre erschöpfende Darstellung würde eine umfangreichere Darstellung erfordern, als sie der hier gegebene Rahmen erlaubt.65 Zudem muß sich eine solche Untersuchung in erster Linie auf Texte aus dem Cours, z. T. auch aus dem Mbmoire stützen. Es möge deshalb hier der Hinweis genügen, daß mit phor&me durchaus das Phonem der modernen Sprachwissenschaft gemeint sein kann, daß Saussure aber den gleichen Terminus auch für das verwendet, was wir heute mit Phonie bezeichnen, ja daß er diese Bedeutung im Cours vorzuziehen scheint.66 Was uns hier in erster Linie beschäftigen soll, sind die verschiedenen Definitionen des Anagramms und der mit ihm konkurrierenden Termini, die sich in Saussures Papieren finden. Schwankend, tastend und unsicher, hat er immer wieder versucht, seinen Untersuchungsgegenstand neu zu definieren, neue Unterscheidungen einzuführen, die einzelnen Spielarten der von 63 Cf. oben, p. 26. 64 Cf. hierzu CLG, p. 77 ss. 65 Es ist vorgesehen, dieses Problem in absehbarer Zeit in einer speziellen Studie zu untersuchen. 66 Cf. hierzu Godel, SM, p. 171; Engler, Lexique, p. 40. 43
ihm beobachteten Erscheinung mit eigenen oder neuen Namen zu versehen. Daraus resultiert nicht nur, daß Termini wie Anagramm, Hypogramm, Paragramm, Paramorph usw. nebeneinander stehen, sondern auch, daß sie oft das Gleiche bezeichnen, wenig später aber auch einen Unterschied markieren können. Es soll im folgenden versucht werden, wenigstens ein Minimum von Ordnung in das scheinbar unauflösbare Gewirr von widersprüchlichen Definitionen und noch widersprüchlicheren oder inkonsequenteren Verwendungen der Termini zu bringen. 1.2.1 „Anagramme" Der ursprüngliche Terminus für die von Saussure untersuchte Erscheinung ist anagramme; er wird auch heute allgemein weiter verwendet, obwohl Saussure im Laufe seiner Beschäftigung mit dem Problem immer deutlicher von dieser Bezeichnung abgerückt ist und hypogramme und paragramme vorgezogen hat. Der Mißerfolg dieser Termini in der modernen Litaratur dürfte darauf zurückzuführen sein, daß Anagramm als bereits bekannter (wenn auch in anderem Sinne gebrauchter) Ausdruck von allem Anfang an bevorteilt war. Mit Anagramm bezeichnet Saussure ursprünglich sämtliche Spielarten von lautlicher Imitation eines Leitwortes aufgrund von Polyphonen; Anagramm ist also der Sammelbegriff für alle speziellen Varianten dieser Erscheinung — und auch dieser Punkt durfte wesentlich zum Erfolg dieses Terminus in der modernen Literatur beigetragen haben: 43 Ce qu'on peut tres heureusement aborder sans resoudre ni le point a ni le point b concernant le decompte des monophones ou des polyphones, c'est „ . . que les polyphones reproduisent visiblement, des que l'occasion en est donnee, les syllabes d'un mot ou d'un nom important pour le texte, et deviennent alors des polyphones anagrammatiques. L'anagiamme peut se derouler soit sur un nom qui figure dans le texte, soit sur un nom qui n'est pas prononce du tout, mais se presente naturellement a l'esprit par le contexte. CFS21 (1964), 111
Das Anagramm beruht also auf Polyphonen (Diphonen) und imitiert ein Leitwort vollständig; sind diese Bedingungen nicht erfüllt, befinden wir uns nicht mehr im Bereich des Anagramms, sondern in demjenigen der Anaphonie.67 Die Anaphonie ist demnach eine weniger perfekte Form des Anagramms: 67 Cf. Starobinski.Mercwre 350 (1964), 244 und unten, p. 53/54. 44
44 Dans la donnee ou il existe un mot a imiter, je distingue done: ranagramme, forme paifaite; 1'anaphonie, forme imparfaite. Mercure 350 (1964), 244
Ob das Leitwort im Text selbst vorhanden ist oder nicht, spielt nach Zitat Nr. 43 keine Rolle; wichtig ist nur, daß ein solches Leitwort überhaupt existiert, denn sonst befinden wir uns im Bereich der harmonies phoniques, einem Bereich, den Saussure mit seinen Gesetzen über das paarweise Auftreten der Phoneme und die Wiederholung der Diphone zu erfassen versucht hat: 45 D'autre part, dans la donnee, egalement ä considerer, oü les syllabes se correspondent sans cependant se rapporter ä un mot, nous pouvons parier d'harmonies phoniques, c& qui comprend toute chose comme alliteration, rime, assonance etc. Mercure 350 (1964), 244
Dies ist allerdings nicht die einzige Bedeutung, die Saussure anagramme zuweist. Wenn er beim hypogramme6* betont, er verwende die Bezeichnung vorwiegend für die Imitation von bekannten, d. h. im Text vorkommenden Leitwörtern, dann muß daraus wahrscheinlich der Schluß gezogen werden, daß Saussure an der betreffenden Stelle daran denkt, anagramme bei nicht im Text figurierendem Leitelement verwenden — also für das Kryptogramm.69 Im folgenden Text haben wir dann eine explizite Spezialisierung des Begriffs ,Anagramm' — allerdings in einem anderen Sinne. Nachdem Saussure erklärt hat, er wolle für die allgemeine und umfassende Erscheinung in Zukunftparagramme verwenden, fährt er fort: 46 Anagramme, par opposition ä paiagramme, sera reserve au cas oü l'auteur se plaft a masser en un petit espace, comme celui d'un mot ou deux, tous les elements du mottheme, apeu pres comme dans „ranagramme" selon la definition; - figure qui n'a qu'une importance absolument restreinte au milieu des phenomenes offerts ä l'etude, et ne represente en general qu'une partie ou un accident du Paragramme.
Mercure 350(1964), 247 Das Anagramm wäre also eine Art konzentriertes Paragramm und in diesem 68 Cf. unten, p. 47. 69 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 254 und Jakobson III, 1915; Rossi, Paragone 218 (1968), 121. - Für den Ausdruck cryptogramme bei Saussure cf. Benveniste, CFS21 (1964), 113. 45
Sinne ein Spezialfall; es läge in Fällen wie den folgenden vor, wo Saussure in condemnavisse CAVE entdeckt, wenn er aus cicuresque CIRCE oder allenfalls noch aus cur, scire, laboro CICERO herausliest, usw.70 Schließlich gibt es noch eine weitere Stelle, wo Saussure zumindest in Betracht zieht, die Bezeichnung Anagramm dort zu verwenden, wo die Imitation nicht auf.Diphonen, sondern auf Monophonen beruht: 47 Je ne crois pas qu'on puisse trop repeter que le monophone est inexistant pour Phypogramme, ceci etant la loi centrale sans laquelle il n'y aurait pas ä parier d'hypogramme, sans laquelle on serait dans I'anagramme, ou dans rien du tout. Tel Quel 37 (1969), 13
Offensichtlich liegt hier eine Anlehnung an die traditionelle Konzeption des Anagramms vor, die auf der Umstellung von Buchstaben, d. h. von isolierten Einheiten beruht; allerdings bleibt der Unterschied bestehen, daß Saussure mit Phonemen-arbeitet und keine Blockbildung der umgestellten Elemente fordert.71 Alle diese Spezialbedeutungen — ,Hypogramm ohne Leitelement im Text'; ,auf kleinstem Raum konzentriertes Paragramm'; ,auf Monophonen beruhendes Hypogramm' — treten jedoch nur sporadisch auf, es handelt sich um Differenzierungsversuche ohne Zukunft; die normale Funktion von Anagramm' ist die allgemeine Bezeichnung der Durchdringung eines Textes mit den Diphonen eines Leitelements, in all ihren Spielarten. Trotzdem scheint aber Saussure mit dieser Bezeichnung nicht zufrieden zu sein; er versucht sie gerade in ihrer allgemeinen Bedeutung zu ersetzen — sei es durch hypogramme, sei es durch paragramme. i.2.2 „Hypogramme" Der erste der Ausdrücke, die an die Stelle von anagramme in seiner allgemeinen Bedeutung treten, ist derjenige des Hypögramms. Saussure kann allerdings keine konkreten Gründe dafür geben, warum seine Wahl auf diesen Ausdruck fällt; es scheint ihm vor allem darum zu gehen, daß auch von der Terminologie her ein deutlicher Unterschied zum traditionellen Anagramm geschaffen wird: 48 Sans avoir de motif pour tenir particulierement au terme d'hypogramme, auquel je 70 Cf. oben, p. 31, 39;Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 31; Nava, CFS24 (1968), 80. 71 Cf. hierzu oben, p. 12-14. 46
me suis arrete, il me semble que le mot ne repond pas trop mal ce qui doit etre designe. II n'est en aucun desaccord trop grave, avec les sens d' υπογράφε ι ν, υπογραφή, ύπόγραμμα, etc., si 1'on excepte le seul sens de signature qui n'est qu'un de ceux qu'il prend. Mercure350( 1964), 246
Da Saussure unter Hypogramm die auf einer euphonischen Basis beruhende Imitation eines Leitelements in ihrer allgemeinsten Form versteht, d rfte aus dem bereits zitierten Text Nr. 47 hervorgehen. Dieser Text enth lt keine Pr zisierung hinsichtlich des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins des Leitelements im Text; man kann deshalb annehmen, Saussure betrachte prim r einmal beide F lle als unter den Begriff des Hypogramms fallend.72 Auch seine im Anschlu an den Text Nr. 48 gegebenen Interpretationen von ύπογράφ ε L v als ,faire allusion' und ,reproduire par ecrit (comme un notaire, uh secretaire)' k nnen als in diese Richtung weisend interpretiert werden: faire allusion bez ge sich dann eher auf das Hypogramm ohne, reproduire dagegen auf dasjenige mit Leitelement im Text. Dann folgt aber noch ein weiterer Absatz: 49 Qu'on le prenne meme au sens repandu, quoique plus special, de souligner au moyen du fard les traits du visage, il n'y aura pas de conflit, entre le terme grec et notre fagon de l'employer; car il s'agit bien encore dans „rhypogramme" de souligner un nom, un mot, en s'evertuant en repeter les syllabes, et en lui donnant ainsi une seconde faqon d'etre, factice, ajoutee pour ainsi dire l'original du mot. Mots, p. 31
Die Wiederholung der Silben, die zweite Existenz des Leitwortes d rften hier doch daf r'sprechen, da Saussure in erster Linie an den Fall mit im Text vorkommenden Basiswort denkt; es scheint zumindest eine Tendenz vorhanden zu sein, das Hypogramm in dieser Richtung festzulegen. Daneben findet sich noch eine Stelle, wo hypogramme ganz ausdr cklich eine Spezialbedeutung — allerdings eine andere als die soeben ins Auge gefa te — erh lt: 50 Depuis le temps o la poesie latine pratiquait le vers saturnien jusqu' la hasse epoque et jusqu'en plein moyen ge, eile n'a cesse aucun moment de courir, dans 72 Cf. hierzu auch Starobinski, Jakobson III, 1915. Starobinski bemerkt, die Hypogramme seien „la plupart du temps TAUTOLOGIQUES: ils nous offrent, a l'etat disperse, des noms qui figurent selon leur elocution normale a Tinterieur meme du poeme". Wenn auch weniger h ufig, so bleibt das Fehlen des Leitelements im Text also doch m glich. 47
le choix des mots qui composent le vers, sur la donnee de l'anagramme, — sous la forme speciale (et double grace aux mannequins) que nous nommons 1'hypogramme. Jakobson III, 1908 Das Hypogramm erscheint hier somit als Spezialfall des Anagramms, speziell deshalb, weil es nicht nur auf Diphonen aufbaut, sondern diese diphonische Imitation auch noch mit einem mannequin verbindet.73 In Saussures Brief an Leopold Gautier vom 21. Oktober 1908 schließlich kommt zu diesen Faktoren noch dazu, daß die Bezeichnung hypogramme nur noch auf den locus princeps (endroit central) bezogen werden soll, also auf die Fälle, wo die auf Diphonen aufbauende und mit einem mannequin verbundene Imitation eines Leitelements auf besonders gedrängtem Raum realisiert wird. Hier der vollständige Text dieses Briefes: 51 Cher Monsieur Je vous prie, encore une fois, avant que vous fassiez l'etude de contröle que vous avez bien voulu me promettre, de considerer que je ne pose pas la question sur les syllabogrammes, mais sur des hypogrammes organises, et que je repudie toute identification de rhypogramme organise avec un syllabogramme, meme vingt fois repete. Parmi les choses qui font qu'on peut parier d'hypogramme organise se trouve, independamment des mannequins, etc., le bagage de mots qui sert ä constituer 1'endroit central, — mots qui doivent presenter une certaine plenitude i significative, comme par exemple dans un hypogramme sur qvatuordecim, un mot redeat (-R-DE-) viator (VAT-VOR). II fest douteux que dans 1'endroit central aucun element puisse etre livre par le simple moyen des initio-finales des mots. Je tenais ä vous recommander 1'attention sur ces points, quoique je croie vous en avoir parle. Je ne saurais trop y insister pour definir mon veritable point de vue. Bien cordialement ä vous F de Saussure 21 oct. 08
Dieser Text, der der letzten Phase von Saussures Nachforschungen angehört, zeigt, daß hypogramme für ihn jetzt eine ganz spezifische Bedeutung angenommen hat, daß es nicht mehr einfach ein anderer Terminus für anagramme oder syllabogramme ist: es ist in die Nähe dessen gerückt, was in seiner konsequentesten Ausgestaltung als paramorphe erscheint.74 73 Cf. hierzu oben, p. 32 ss. 74 Cf. unten, p. 52. - Auch hier ist aber wieder auf die Inkonsequenz Saussures zu verweisen, verwendet er doch gerade bei der Behandlung der verschiedenen Verbindungen von Syllabogramm und mannequin die Bezeichnung hypogramme 48
1.2.3 „Paragramme" Auf der Klappe eines seiner Hefte, das dem Anagramm bei Lukrez gewidmet ist (Ms. fr. 3964), erklärt Saussure, „Anagramm" (wohl im allgemeinen Sinn) durch „Paragramm" ersetzen zu wollen: 52 Le terme d'anagramme est remplace, ä partir de ce cahier, par celui, plus juste, de paragramme. Mercure 350 (1964), 247
Nachdem er beigefügt hat, es gehe bei diesen Erscheinungen nicht um die Schriftzeichen, sondern um die Lautung, fährt er mit dem als Nr. 46 zitierten Text fort, der für den allgemeinen Gebrauch die Verwendung von paragramme fordert und das Anagramm als Spezialfall, als auf besonders engem Raum zusammengedrängtes Paragramm erklärt — eine Definition übrigens, die zumindest teilweise mit der in Nr. S l gegebenen von hypogramme kollidiert. Trotz dieses Entschlusses hat Saussure allerdings die Bezeichnung „Paragramm" in seinen Notizen nur wenige Male verwendet; „Anagramm" und später „Hypogramm" sind die von ihm bevorzugten Termini geblieben. Dies dürfte auch erklären, warum in bezug auf „Paragramm" keine Widersprüche oder Differenzierung festzustellen sind. 1.2.4 Weitere Bezeichnungen für das Anagramm Neben diesen mehr oder weniger zentralen Ausdrücken für das Anagramm verwendet Saussure sporadisch auch noch andere Bezeichnungen. Ganz ephemeren Charakter haben die Termini antigramme und homogramme. Antigramme ist im Zusammenhang mit antiphone zu sehen, das Saussure an einer Stelle seiner frühlateinischen Anagrammstudien verwendet: 53 A remarquer preliminairement que le groupe initial gla ne peut presque pas recevoir d'antiphone par la rarete d'un tel groupe ... Ms. fr. 3966
Antiphone bezeichnet hier den Laut resp. die Lautgruppe, die innerhalb eines kürzeren Textstückes einem vorgegebenen Lautkomplex entspricht, das Echo zu diesem bildet. Ähnlich ist auch das im gleichen Heft verwendete antigramme zu interpretieren: nicht in diesem Sinne (cf. Starobinski, Tel Quel 37 [1969], 17-19).
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54 La 2e utilite de Logogramme ä cote d'antigramme est - outre de marquer l'antigramme pris en lui-meme - de pouvoir s'appliquer ä la somme des antigrammes quand U y en a par exemple dix, douze, qui se succedent, dans un passage, autour d'un meme mot. H y a des Logogrammes qui se decomposent en de multiples antigrammes, et qui ont une raison cependant de pouvoir s'appeler d' l seul mot, parce qu'ils tournent autour d' l seul mot. Ms. fr. 3966
Das antigramme ist hier als die Gesamtheit der ein Leitwort imitierenden Lautgruppen zu verstehen, als die verstreute Entsprechung zu diesem Leitwort. An sich würde diese Bezeichnung (cf. anti-} es nahelegen, ein Vorhandensein des Leitelements im Text zu fordern, doch ergibt sich eine solche Einschränkung nicht aus den Quellen. —Homogramme findet sich in einem der Hefte zu Thomas Johnson; auch diese Bezeichnung spielt auf die Entsprechung, das Echo zu einem vorgegebenen Leitwort an, wobei der Akzent hier allerdings nicht auf der Gegenüberstellung von kompakter und verstreuter Erscheinungsform liegt, sondern auf der ihnen letztlich zugrundeliegenden Identität: 55 L'homogramme comprend deux parties, en principe independantes: le SYLLABO GRAMME qui ne peut manquer, et le MANNEQUIN qui peut manquer. Nous donnons le nom de MANNEQUIN ä la figure phonique, cherchee par tous les homogrammateurs, qui consiste a ce qu'un certain groupe de mots reproduise la lettre initiale et la lettre finale du nom homographie,... Ms. fr. 3968
Wie aus diesem Text hervorgeht, kann homogramme sowohl dann verwendet werden, wenn ein mannequin vorhanden ist, wie auch dort, wo ein solches fehlt. Etwas häufiger tritt die Bezeichnung logogramme auf. Aus dem bereits oben zitierten Text (Nr. 54) wird deutlich, daß Saussure diese Bezeichnung gewissermaßen für eine Summe von Anagrammen (resp. Antigrammen) verwendet, die alle das gleiche Element reproduzieren und durch ihre Häufung einen Textabschnitt charakterisieren. Doch ist der kollektive Aspekt nicht der einzige, der für Saussure bei dieser Bezeichnung wichtig ist. Wie der folgende, die Fortsetzung zu Nr. 54 bildende Text zeigt, geht es ihm auch darum, durch das Formans logo- darauf zu verweisen, daß es für einen bestimmten Abschnitt ein Thema, einen Anlaß gibt — eben das Leitelement: 56 - [Logogramme] indique aussi, simplement, l'unite du sujet, du motif, et, ä ce 50
point de vue, se trouve cesser d'etre choquant dans sä partie Logo- qui n'a plus necessairement ä etre prise au sens de mot phonique, ni.meme de mot: c'est un „gramme" ( ) autour d'un sujet qui inspire l'ensemble du passage et en est plus ou moins le logos, la raison, et l'unite raisonnable, lepropos. Un passage est caracterise par tel ou tel logogramme, ce qui n'empeche pas de parier plutot d'antigramme quand on en vient au detail de la correlation avec le mot a reproduire. Ms. fr. 3966
Für den Einzelfall, das konkrete Anagramm will Saussure hier die Bezeichnung antigramme bevorzugen (cf. letzter Abschnitt), doch wird die Verwendung von logogramme hierfür im ersten Teil des Textes (Nr. 54) ausdrücklich zugelassen. Es fehlen denn auch weitere Belege nicht, wo logogramme nicht die geringste Kollektivbedeutung hat, cf. z. B.: 57 Le principe selon lequel se construit un logogramme, quand ü est execute par syllabes, est d'une grande simplicite. II s'agit de repeter au moyen degroupes de 2 elements semes ä travers un vers ou deux ... le mot qui est pris pour theme. . „ . Ms. fr. 3963
Überdies verwendet Saussure noch die Bezeichnungen syllabogramme und cryptogramme, wenn er auf gewisse Aspekte des Anagramms insistieren will. Syllabogramme ist auf Anhieb durchsichtig: es dient dazu, zu betonen, daß ein Anagramm auf Silben resp. Diphonen (cf. N 32) aufbaut;75 im als Nr. 51 zitierten Brief an LeOpold Gautier dient diese Bezeichnung überdies dazu, die einfachste, nur auf Diphonen beruhende Form des Anagramms von den komplexeren Verbindungen mit mannequin und locus princeps abzuheben. — Die Bezeichnung cryptogramme wird schließlich dort verwendet, wo es darum geht, auf die Tatsache zu insistieren, daß das Leitwort nicht im Text figuriert, daß es vielmehr vom Leser selbst „erraten" werden muß, cf. z. B.: 58 Des que l'anagramme, n'ayant plus le soutien du mot profere dans le texte devient cryptographique, la certitude, evidemment, diminue. Ms. fr. 3964
Daß für Saussure das Kryptogramm bedeutend weniger Aussagekraft besitzt als das Anagramm mit im Text vorhandenem Leitelement, sei hier nur am Rande vermerkt. 75 Cf. z.B. Text Nr. 32 und Staiobinski, Tel Quel 37 (1969), 17 ss., sowie Nr. 55. 51
1.2.5 „Paramorphe" Wir haben oben gesehen, daß ,,Hypogramm" für Saussure u. a. jegliche Verbindung von Syllabogramm und mannequin bezeichnen kann. In ihrer radikalsten und vollkommensten Ausgestaltung — nämlich dort, wo das mannequin innerhalb eines Verses sämtliche für das Anagramm notwendigen Diphone umschließt76 - nennt er diese Erscheinung paramorphe: 59 ... Nous demandons la permission d'appliquer ä cette union du syllabogramme et du mannequin un nom special; nous proposons celui de , ou PARAMORPHE. Tel Quel 37 (1969), 18 60 ... U peut y avoir des ressemblances autres, et plus fortes, que celle de l'initiale et de la finale entre le mot de rhomogramme et le mannequin: mais la condition fondamentale reste simplement dans l'initiale et la Finale. Les autres details prendront l'aspect qui leur convient et qui constitue Pordre dans la theorie du Paramorphe ou des rencontres du syllabogramme avec le mannequin. Ms. fr. 3968
Diese beiden Texte könnten den Eindruck erwecken, mit paramorphe werde jede Verbindung von mannequin und Syllabogramm bezeichnet — paramorphe stehe also in Konkurrenz zur Spezialbedeutung von Hypogramm (cf. oben). Dem ist jedoch in der Regel nicht so. Die Bezeichnung paramorphe hat normalerweise nur für den oben beschriebenen „Idealfall" Gültigkeit, was deutlich wird, wenn Saussure beim Übergang zu den weniger perfekten Formen der Verbindung von mannequin + Syllabogramm (im Anschluß an Nr. 59) bemerkt: 61 La forme qui vient immediatement apres celle du paramorphe pur (c'est-ä-dire du mannequin + syllabogramme complets dans les memes mots) est celle oü il faut, pour le syllabogramme, prendre une syllabe extreme voisine, mais dejä situee hors du mannequin, et.constituant done une addition laterale formelle. Tel Quel 37 (1969), 18
Trotz dieser Grundsatzerklärung verwendet Saussure bei seinen Analysen (v. a. Ms. fr. 3966) die Bezeichnung paramorphe allerdings verschiedentlich für solch weniger vollkommene Verbindungen.
76 Cf. oben, p. 32/33 und Text Nr. 32. 52
1.2.6 „Anaphonie" Wir haben bereits oben gesehen,77 daß sich Saussure einen Moment überlegt hat, Anagramm durch Anaphonie zu ersetzen, um so zu markieren, daß nicht das graphische, sondern das lautliche Element der von ihm untersuchten Erscheinung zugrundeliegt; auf diese Bezeichnungswahl hat er dann aber verzichtet, da ihm Anaphonie vor allem dazu geeignet schien, für das unvollständige Anagramm zu stehen: 62 L'anaphonie est done pour moi la simple assonance ä un mot donne, plus ou moins developpee et plus ou moins repetee, mais ne formant pas anagramme ä la totalite des syllabes. Mercure 350 (1964), 24378
Die Anaphonie ist also eine Assonanz + etwas: eine Assonanz, die sich an einem (im Text vorhandenen oder nicht vorhandenen) Leitelement orientiert. „Assonanz" kann also nicht einfach an die Stelle von „Anaphonie" treten: 63 Ajoutons qu'„assonance" ne remplace pas anaphonie, parce qu'une assonance, par exemple au sens de l'ancienne poesie fransaise, n'implique pas qu'il y ait un mot qu'on imite. Mercure 350 (1964), 243/4478
Eine Vertauschung ist nur im Rahmen der Formel „Assonanz an ein bestimmtes Leitelement" möglich, wie zum Beispiel in „assonances au nom de lugurtha".79 Wie Saussure das Funktionieren der Anaphonie sieht, soll noch anhand von zwei Beispielen gezeigt werden. So ist nach ihm der aus den Carmina
77 Cf. p. 13. 78 Cf. auch Starobinski, Jakobson III, p. 1906. - An einer Stelle in Ms. fr. 3963 verwendet Saussure anstelle von Anaphonie die Bezeichnung Homophonie, wobei er mit dem Gedanken zu spielen scheint, eigentliche Anagramme fänden sich v. a. bei der Imitation von Eigennamen, Homophonien dagegen eher bei normalen Wörtern: „L'Anagramme proprement dit a ordinairement pour objet un nom propre, tandis que Fexemple dTiomophonie que je vais citer roule simplement sur un mot rare . . . ; toutefois U ne faudrait pas mettre trop d'importance ä cette difference, j'ai releve dans ces notes memes plus d'un exemple d'anagramme veritable qui s'adresse a un nom commun . . . , ou qui reproduit tout un fragment de vers conjointement au nom propre." (Ms. fr. 3963). 79 Cf. Nava, CFS 24 (1968), 81. 53
epigraphica stammende Vers Mors perfecit tua ut essent — an dem Namen Cornelius orientiert und reproduziert dessen Vokale in der richtigen Reihenfolge: o - e — i - u ;80 wir hätten eine auf den Vokalen beruhende Anaphonie. Im Vers Ingruit Ipse fugit per inhospita von Pascoli (lugurtha, p. 16) läge eine Assonanz an den Namen lugurtha vor:81 wohl /-//-, -gru- (^gur), — ta; wir hätten eine Anaphonie, die sowohl auf vokalischen wie auf konsonantischen Elementen beruht. Allerdings ist sie viel unvollkommener als die vokalische Anaphonie im ersten Beispiel. Auch die Anaphonie steht aber nur am Rande von Saussures Interessen; es ist deshalb nicht oft von ihr die Rede. Wenn sie erwähnt wird, dann ist es regelmäßig, um das Anagramm (Paragramm, Hypogramm) deutlich gegen diese Erscheinung abzusetzen, um zu sagen, daß nicht ihr sein Hauptinteresse gelte.82 1.3
Die Verbreitung des Anagramms
Saussure war bei seinen Anagrammstudien von saturnischen Vers ausgegangen und hatte die von ihm vermutete Technik in den Sammlungen von Gedichten anonymer Autoren wie den Cannina epigraphica und den Priapea nachzuweisen versucht.83 Es ist nur natürlich, daß er sich anschließend bei den älteren, namentlich bekannten Dichtern der lateinischen Tradition umschaute, die den saturnischen Vers benutzt haben: Livius Andronicus, Ennius, Pacuvius, der etwas jüngere Accius, u. a. m.84 Bei allen fand er seine Anagrammtheorie in mehr oder weniger großem Ausmaß bestätigt: sowohl die ältere lateinische Lyrik wie auch das tragische Theater scheinen sich nach der nirgends explizit faßbaren und doch gegenwärtigen Regel der Imitation eines Leitelements aufgrund von Diphonen zu orientieren. Ein80 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964) 245/46 und Jakobson III, 1907. - Die vollständige Harmonie ist nur durch das eingeschobene von perf- leicht gestört. 81 Cf. Nava, CFS 24 (1968), p. 81. 82 Für die eine Stelle, wo „Anagramme" in der Bedeutung von „Anaphonie" verwendet wird, cf. oben, p. 46. 83 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118; Starobinski, Mercure 350 (1964), 240. 84 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 109, 118; Starobinski, Mercure 350 (1964), 249 und Jakobson III, 1908; ferner die handschriftlichen Quellen.
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mal festgestellt, daß das Anagramm auch in der älteren lateinischen Tragödie eine Rolle spielte, konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß Saussure sich auch der Komödie zuwandte, und vor allem natürlich dem größten der vorklassischen Autoren: Plautus. Auch hier fehlt das Anagramm nicht, wie das bereits p. 29 zitierte Beispiel für Lesbonicus zeigt; allerdings räumt Saussure ein, daß in der Komödie die Anagramme weniger zahlreich und auch weniger eindrücklich sind: 64 ... les comiques ont probablement une situation un peu ä part, soit pour une moins grande frequence des anagrammes soit pour quelques details de „style", mais ils ne songent pas plus que les autres ä se delivrer en principe de l'anagramme. J'ai pu faire un recuefl dejä considerable d'anagrammes plautiniens, qui sans doute, eh eux-memes, ne seraient pas des meilleurs ä donner pour entrainer la conviction; mais qui, du moment que le principe est constant par ailleurs, apparaissent comme evidents. CFS21 (1964), 118
So scheint also die ganze vorklassische Poesie in lateinischer Sprache vom Anagrammprinzip durchdrungen zu sein — ein altes indogermanisches Prinzip, dessen Überlieferung im Dunkeln liegt. Daß die älteren lateinischen Dichter dieses Prinzip befolgten, leuchtet Saussure noch ein: wohl weniger, weil sie zeitlich näher beim „indogermanischen Ursprung" lägen — die hundert oder zweihundert Jahre, die sie von den Dichtern der lateinischen Klassik trennen, dürften in dieser Hinsicht nicht sonderlich ins Gewicht fallen —, als vielmehr wegen der Tatsache, daß sie noch einer einfacheren, weniger raffinierten Zeit angehören, in der auch im Kunstbereich der Bindung an traditionelle Regeln viel mehr Bedeutung zukommt als in den sich stärker an neuen, z. T. auch individuellen Kriterien und Wertmaßstäben orientierenden folgenden Jahrhunderten.85 Und doch — die Tradition des Anagramms scheint auch bei den Autoren der lateinischen Klassik nachzuweisen zu sein, was Saussure vorerst einmal in Erstaunen versetzt: 65 Comment Naevius, Ennius, Päcuvius, Accius conservaient encore une tradition qui pouvait sembler inviolable ä leur epoque, je le comprends encore. Comment un Virgile avec son souffle de poesie original malgre tout, un Lucrece avec sa preoccupation intense de l'idee, un Horace avec son bon sens solide sur toutes les choses 85 Cf. hierzu auch Mercure 350 (1964), 258: „(La poesie) devenant plus personnelle a mesure qu'on avance, dans le temps, je reconnais que la question se relie alors de pres a une intention poetique, ce que j'ai nie ou presente sous d'autres aspects pour la somme des siecles avant cette poesie personnelle." 55
pouvaient-ils s'astreindre en revanche ä garder cette relique incroyable d'un autre age? Cest cela qui m'echappe, je l'avoue, absolument. Jakobson III, 1909
Eine Erklärung für die Übernahme der Anagrammtechnik findet Saussure nicht. Sein Erstaunen legt sich aber nach und nach vor der Tatsache, daß er überall in den Versen aus klassischer und nachklassischer Zeit — sowohl in der Lyrik, der Epik wie auch im Theater — auf Anagramme stößt: bei Vergü, 86 Lukrez,87 Catull,88 Tibull,89 Ovid,90 Horaz,91 Seneca,92 Statius93 usw. Bei einem Dichter wie Horaz, der sich primär nicht sonderlich für den Nachweis von Anagrammen anzubieten scheint, sind sie sogar derart häufig, daß selbst der in bezug auf die Anagrammfrage recht skeptische Meillet gewissermaßen auf Anhieb welche findet. Auf einer Postkarte vom 10.2.1908 teilt er Saussure unter der Überschrift Pindarus etAntoni mit, eine Ode von Horaz (IV,2) enthalte in den Versen Pindarum quisque studet aemulari, lulle, ceratis ope Daedalea Nititur pinnis, vitreo daturus Nomina ponto
offensichtlich die Anagramme für Pindarus undAntoni, wobei das zweite gewissermaßen das erste umschließe (Pindarus: pinnis, aatums',Antoni: ponto [onto « onto], nititur).9* Saussures Theorie scheint hier auch von außen eine Bestätigung zu erhalten. Zieht man ferner in Betracht, daß sich die Anagramme auch in nachklassischer Zeit noch nachweisen lassen, z. B. bei Claudianus95 oder Ausonius,96 müßte man eigentlich annehmen, Saussure hätte sich mit diesen Resultaten zufrieden geben und die Anagrammtechnik in der lateinischen Literatur als gesichert betrachten können. Doch 86 Cf. Benveniste, CFS21 (1964), 116, 118/19; Starobinski;/fl*o*so/i III, 1909 und Tel Quel 37 (1969) 19-32. 87 Cf. Benveniste, CFS21 (1964), 116,118/19. 88 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118. 89 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118. 90 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118. 91 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 32 und Jakobson III, 1909. 92 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 21-25. 93 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118. 94 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 32. 95 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 118. 96 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 260.
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Saussure ist kein Mann der vorschnellen Schlüsse; deshalb suchte er immer wieder nach neuen Bestätigungen, strebte darnach, seine Belegbasis zu erweitern — und konnte die ihn plagenden Zweifel doch nie endgültig überwinden. Schon die Tatsache, daß die Dichter der lateinischen Klassik ihre Verse noch auf dem Anagramm aufbauen sollen, hatte ihn in Erstaunen versetzt und zweifellos Bedenken gegen die Richtigkeit seiner Theorie hervorgerufen. Seine Zweifel mußten auch geweckt werden, als er feststellte, daß sich Anagramme nicht nur in den Versen, sondern auch in den Briefen und Prosastücken von Ausonius nachweisen lassen, ja daß sie selbst die Prosa der beiden Plinius,97 von Cicero,98 Cäsar,99 Valerius Maximus100 ebenso wie die von Livius, Tacitus, Petron und anderen wie ein roter Faden durchziehen. Was haben Anagramme hier zu suchen? Und doch: es bereitet nicht die geringsten Schwierigkeiten, aus condemnwisse ein CAVE, aus civüibus controversüs ein CICERO herauszulesen.101 Je nach der Verfassung, in der sich Saussure gerade befindet, interpretiert er diese Erscheinungen als Bestätigung oder Schwächung seiner Theorie. Doch mit diesen Erscheinungen ist noch nicht alles gesagt zum Anagramm in der lateinischen Dichtung. Saussure macht vielmehr die für ihn einerseits erfreuliche, andererseits aber auch beunruhigende Feststellung, daß sich Anagramme mit Leichtigkeit auch in der nach-römischen lateinischen Dichtung nachweisen lassen. Spricht das nicht eher dafür, daß es sich um zufällige Lautkonstellationen handelt? In seinem Streben nach Verbreiterung der Belegbasis nimmt Saussure die auftretenden Fälle vorerst einmal einfach zur Kenntnis. So findet er in der lateinischen Dichtung Polizians eine Fülle von Anagrammen — im äußerst sorgfaltig untersuchten Epitaph für Fflippo Lippi u. a. solche für den Namen des Autors (Politianus), denjenigen des Malers (Phüippus Lipp[i]us) und dessen Berufsbezeichnung (pictor), die angebliche Geliebte des Malers (Leonora) und die großen florentinischen Kunstmäzene, die Medici (Medices).102 Doch damit nicht genug: auch die neulateinische Dichtung scheint von Anagrammen durchsetzt zu sein. Im 17. Jahrhundert findet er welche bei Savastanus (1657—1717) und Jean Commire (1625-1702), obgleich die Analysen bei weitem nicht so eindrücklich sind wie im Falle von Polizian (cf. Ms. fr. 3967). Anagrammanalysen finden sich dann in großer Zahl auch zu Thomas Johnson 97 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 260. 98 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964) 260 und Tel Quel 37 (1969), 26/27. 99 Cf. Staiobinski, Tel Quel 37 (1969), 25/26. 100 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 27. 101 Beides bei Cäsar; cf. Tel Quel 37 (1969), 26. 102 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1910-1S; Rossi, Paragone 218 (1968), 118-122. 57
(Professor in Cambridge und Eton), der sich Ende des 17. Jahrhunderts damit besch ftigte, griechische Epigramme ins Lateinische zu bersetzen.103 Seine Texte enthalten zum Teil Anagramme von derartiger Komplexit t, sie h ufen und berlagern sich in solch furchterregender Weise,104 da sie die ganze Anagrammtheorie eher in Frage stellen als st tzen. Auch Saussure scheint der Sache nicht getraut zu haben, findet sich doch in seinen Papieren ein vom 1. Oktober 1908 datierter Entwurf zu einem Brief an den Direktor des College von Eton; er scheint gehofft zu haben, von dort einige Ausk nfte ber Johnsons Vorgehen beim Abfassen der Texte, ber die von ihm angewendeten Techniken und die beobachteten Regeln zu erhalten. Wenig sp ter sehen wir Saussure damit besch ftigt, die neulateinischen Gedichte eines anderen — noch lebenden — Autors nach Anagrammen zu untersuchen: Giovanni Pascoli. Und auch hier fehlen sie nicht, ganz im Gegenteil: auch Pascolis Gedichte scheinen von Anagrammen zu wimmeln.105 Hier best nde nun die Gelegenheit, vom Verfasser selbst Auskunft zu erhalten ber den gewollten oder zuf lligen Charakter dieser Erscheinungen; Saussure wird denn auch an Pascoli schreiben.106 Doch die Anagramme bleiben nicht auf die lateinische Literatur beschr nkt. Ausgehend vom saturnischen Vers hat Saussure auch Homer in seine Untersuchungen einbezogen — und prompt auch Anagramme gefunden. So enthielte z. B. der Vers
'Άασεν άργαλέων άνεμων άμέγαρτος ein Anagramm zu Αγαμέμνων ,107 Saussure hat sich sehr intensiv mit den Anagrammen bei Homer besch ftigt, schreibt er doch in einem der Briefe an Meillet, er k nnte ihm leicht 15 bis 20 Hefte mit Studien zu diesem Thema vorlegen.108 Wenig sp ter f gt er dann aber bei, der saturnische Vers liefere viel solidere Unterlagen: 103 Saussure benutzte eine Schulausgabe aus dem Jahre 1813 und scheint Johnson f r einen Autor aus dem fr hen 19. Jh. gehalten zu haben (cf. Novus Graecorum Epigrammatum et Poematon Delectus... (in usum scholae Etonensis). Opera Thomae Johnson A.M. .. . 1813); die 2. Aufl. der Epigramme ist aber bereits 1699 erschienen. - Zu Johnson cf. auch Staiobinski, Mercure 350 (1964), 260 und bes. Jakobson III, 1915; Mots, p. 146-48; Nava, CFS 24 (1968), 76. 104 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1915. 105 Cf. z.B. oben, p.33 und 39/40; vgl. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 30/31 und Nava, CFS 24 (1968), 77-81. 106 Cf. hierzu unten, p. 68. 107 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 258. 108 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 109. - Λ/s. fr. 3963, das die homerischen Anagrammstudien enth lt, umfa t 24 Hefte; obwohl mehrheitlich Homer gewidmet, werden in ihnen allerdings z.T. auch Texte anderer griechischer Autoren unter-
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66 ...: celui-ci (Homere) offre evidemment un champ plus ample, mais le Saturnien latin m'eüt offert, je crois, un champ plus sur, si je l'avais tout de suite fouille sans sortir de ce cercle. CFS21 (1964), 109
Von Homer ausgehend hat Saussure seine Anagrammstudien dann auch auf andere griechische Autoren ausgedehnt: Texte von Heraklit, Pindar, Kallimachos, Anakreon, Alkman, Alkäus, Simonides, Theognis, Plutarch usw. werden untersucht — und überall findet Saussure Anagramme (cf. Ms. fr. 3963). Einzig in der lesbischen Poesie scheinen sie ihm zu fehlen: hier stellt er nur gewisse Lautrepetitionen fest (Ms. fr. 3962). Daneben hat Saussure auch die Sanskritliteratur, Texte wie den Rigveda, Anukramani usw. nach Anagrammen hin durchgesehen;109 auch hier kommt er zu einem durchaus positiven Resultat — positiver noch als im Falle Homers und durchaus mit demjenigen beim saturnischen Vers zu vergleichen: 67 Or, U n'y a pour moi aucun doute - ou pas davantage que pour le Saturnien latin - que la poesie vedique est litteralement tapissee d'anagrammes, et que le poete n'avait presque rien fait quand il s'etait borne a mettre ses syllabes dans une forme metrique, le principal pour lui etant probablement d'inserer le nom des dieux ou le nom des donateurs dans des cryptogrammes du vers. CFS 21 (l 964), 113
Schließlich wendet sich Saussure auch noch der germanischen Poesie zu — allerdings nur in einigen wenigen Analysen — und glaubt, z. B. im Hildebrandslied Anagramme für Hadubrand und Deotrich zu entdecken;110 auf einem Blatt in Ms. fr. 3969 finden sich überdies einige Versuche zu Otfrid. Trotz dieser Ausweitungen bleibt aber der Schwerpunkt von Saussures Anagrammforschung im Bereich der lateinischen Literatur. Allerdings muß sich — v. a. für den Romanisten — hier gleich eine Frage stellen: Wenn die lateinische Literatur von Anagrammen durchsetzt ist, sollte man dann nicht annehmen können, daß sich diese Erscheinung auch in den romanischen Literaturen findet — und zwar nicht in der (künstlichen) Form, wie die iade das Anagramm gepflegt hat, sondern so, wie Saussure es sieht? Jean Starobinski ist der Frage nachgegangen und hat einige Stichproben gesucht (cf. unten). 109 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 109; Starobinski, Mercure 350 (1964), 250/51; cf. auch oben, p. 31. 110 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 113. 59
macht.111 Es ist ihm nicht schwergefallen, entsprechende Beispiele zu finden. So liest er z. B. in Chateaubriands Memoires d'outre-tombe den Namen Lucile aus „Tout hu etant souci, chagrin, blessure" heraus; in „Je sentis ma gorge serree par la main terrible de l'Hysterie" im Vieux Saltimbanque von Baudelaire kann man eine Vorwegnahme des letzten Wortes (hysteric) durch Elemente von sentis, serre und terrible sehen, usw. Aber darf man daraus schließen, die lateinische Literatur habe dieses Gesetz an die romanischen Literaturen weitergegeben? Saussure hätte sich diese Frage sicher gestellt, wenn er auf die Möglichkeiten des Anagramms in der französischen Literatur aufmerksam geworden wäre. Da aber in der ganzen Geschichte der Literatur nirgends von einem „Anagrammgesetz" die Rede ist, da weder Dichter noch Theoretiker sich über das Anagramm (im Sinne Saussures) äußern, kann aus Starobinskis Stichproben sicher keine Stütze für Saussures Theorie abgeleitet werden - ganz im Gegenteil: der Verdacht, es liege hier nur ein Produkt des Zufalls vor, die begrenzte Zahl von Phonemen und zweigliedrigen Phonemkombinationen (Diphonen), über die eine Sprache verfügt, müsse praktisch dazu führen, daß man aus jedem Text von einer gewissen Länge ein gesuchtes Wort herausprojizieren könne, wird hier fast zur Gewißheit. 1.4
Saussures Zweifel
Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen gehört in seine Genfer Jahre, und zwar in die letzte Phase seiner Tätigkeit. Die datierten Dokumente stammen alle aus den Jahren 1906 bis 1909. Zudem wissen wir, daß Saussure am 8. Dezember 1906 die Vertretung der allgemeinen Sprachwissenschaft übernahm; von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Tode (1913) nimmt der Cours de linguistique § ^ eine wichtige Stellung in seiner Tätigkeit ein — wenn er auch andere Pläne daneben weiterverfolgt. Zu diesen gehören auch die Anagrammstudien, die zumindest während eines Teils dieser Zeitspanne neben den allgemein-sprachwissenschaftlichen Arbeiten einhergingen. Wann genau hat Saussure aber begonnen, sich mit den Lautrepetitionen zu beschäftigen? In den von Benveniste publizierten Briefe an Meillet spricht er erstmals in einem Schreiben vom 23. September 1907 von den Anagrammen, und zwar sehr ausführlich.112 Eine Stelle des Briefes zeigt aber, daß Saussure seinem Freund und Schüler schon früher von seiner 111 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 32/33. 112 Cf. Benveniste, CFS21 (1964), 107-115. 60
neuen Beschäftigung Mitteilung gemacht haben muß: 68 En recevant vos lignes, oü vous renouvelez si aimablement l'offre de lire mes feuilles sur ranagramme homerique, j'ai reuni les cahieis que j'avais empörtes, et je vous les enverrai peut-etre, mais voici la circonstance qui me fait hesiter ä vous derober du temps pour cela, et me decide ä vous envoyer plutöt un aperQu des resultats auxquels j'arrive pour le Saturnien latin. CFS21 (1964), 108/109
Aus dieser Stelle und der Tatsache, daß der Brief relativ spät im Jahr (23.9.) geschrieben ist, schließt Nava, der Beginn von Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen liege wohl im Jahre 1907.113 Dieser Schluß scheint logisch, wird aber widerlegt durch einen von Starobinski publizierten Briefentwurf vom 14. Juli 1906. Hier sein Anfang: 69 Merci de vos lignes ä piopos de ce que je vous ecrivais Fautre jour. Avant mSme de repondre aux observations tres justes que vous faites, je puis vous annoncer que je tiens maintenant la victoire sur toute la ligne. J'ai passe deux mois ä interroger le monstre, et ä n'operer qu'ä tatons contre lui, mais depuis trois jours je ne marche plus qu'ä coups de grosse artillerie. Tout ce que j'ecrivais sur le metre dactylique (ou plutöt spondaique) subsiste, mais maintenant c'est par Alliteration que je suis arrive ä tenir la clef du Saturnien, autrement compliquee qu'on ne se le figurait. Tel Quel 37 (1969), 7
Die Alliteration, von der hier die Rede ist, ist nicht eine Alliteration im traditionellen Sinne, sondern „une loi d'allitoration de la premiere syllabe ä la derniöre", ein Gesetz, das zudem jedes Phonem umschließt: also das Gesetz von der „couplaison". Die in diesem Brief auf die zitierte Stelle folgende Auseinandersetzung mit der Wiederholung der Phoneme114 beweist, daß Saussures Beschäftigung mit dem ganzen Problemkreis schon 1906 begonnen haben muß.115 Zu diesem Schluß hätte man aber bereits auch aufgrund des Briefes vom 23.9.1907 kommen können, denn dort spricht Saussure davon, er hätte wohl besser daran getan, „dös l'annoe derniere" die Probleme des saturni-
113 Cf. Nava, CFS 24 (1968), 74. 114 Cf. hierzu die Zitate aus diesem Brief, p. 16 ss. 115 In diesem Brief ist allerdings von den eigentlichen Anagrammen noch nicht die Rede: wir haben erst den Ansatz der Lautentsprechungen, der sich dann zur Anagrammtheorie ausweiten wird.
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sehen Verses vollständig abzuklären, als sich mit Homer zu beschäftigen.116 — Es stellen sich nun einige Fragen im Zusammenhang mit diesem Brief. Zuerst einmal: ist er identisch mit dem Schreiben, das die Voraussetzung zu demjenigen vom 23.9.1907 bildet? Ich glaube nicht, denn dort ist ausdrücklich von homerischen Anagrammen die Rede, während es am 14.7.1906 um den saturnischen Vers geht.117 Zudem zeigt eine Stelle aus dem Text von 1907, daß Saussure vom saturnischen Vers ausgegangen ist und erst später Homer miteinbezogen hat: 70 C'est du Saturnien que j'etais parti... Je laisse la question ouverte provisoirement pour lesdits phenomenes homeriques, et je reviens ä ce que je disais etre mon point de depart - que j'aurais peut-etre mieux fait d'explorer ä fond des l'annee derniere au lieu de partir par la tangente sur Homere: . . . CFS21 (1964), 109
So muß wohl angenommen werden, daß zwischen den beiden erhaltenen Briefen noch mindestens einer liegt, den wir heute noch nicht kennen, und in dem Saussure Meillet die Ausdehnung seiner Nachforschungen auf Homer mitgeteilt hat. Mit dem Text vom 14.7.1906 scheinen wir uns also wirklich am Anfang von Saussures Nachforschungen zu diesem Problemkreis zu befinden. Zwar impliziert auch dieser Brief, daß Saussure in einem früheren Schreiben von seiner Beschäftigung mit dem saturnischen Vers berichtet hat; auch dieser Brief ist bis heute nicht bekannt. Die Angaben vom 14. Juli dürften aber genügen, um die Fakten zu rekonstruieren. Saussures Beschäftigung mit dem saturnischen Vers soll rund zwei Monate vor der Redaktion des Briefes begonnen haben — also in der ersten Hälfte des Monats Mai 1906. Allerdings war sein Ziel zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Feststellung von Lautrepetitionen, er wollte den saturnischen Vers vielmehr in metrischer Hinsicht durchleuchten. Erst drei Tage vor der Niederschrift des Briefes, d. h. um den 10. Juli 1906, scheint sich seine Zielsetzung gewandelt zu haben: dieses Datum darf als approximativer Beginn von Saussures Beschäftigung mit der Wiederholung von Phonemen und Silben gelten, die dann zur Anagrammtheorie geführt hat. Allerdings sind Saussure schon früh Zweifel an der Richtigkeit seiner Theorie gekommen, Zweifel, die jedoch auch mit Momenten wechseln, in 116 Cf. unten, Zitat Nr. 70. 117 Überdies ist in diesem Brief (resp. Briefentwurf) noch nicht von den eigentlichen Anagrammen die Rede, cf. oben, N 115.
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denen er restlos davon überzeugt scheint, ein entscheidendes Gesetz, ja d a s entscheidende Gesetz der indogermanischen Dichtung gefunden zu haben. Von der Zuversicht, dem Vertrauen in seine Entdeckung, die z. B. im folgenden Text aus den Untersuchungen zum saturnischen Vers zum Ausdruck kommen: 71 Ces regies representant au tan t de facultes accumulees semblent tendre ä rendre l'anagramme illusoire. Je reponds avec une certaine confiance en me remettant ä l'avenir: U arrivera un moment, oü en ajoutera bien d'autres et oü celles-ci paraftront le maigre squelette du code dans son etendue reelle. Jakobson III, 1908 gelangt er aufgrund der Bestätigung durch Autoren der lateinischen Klassik zu einem Gefühl der Sicherheit in seinem Brief an Meillet vom 8. Januar
1908: 72 En quelques heures passees sur Catulle et Tibulle, ou sur quelques recueils comme les Priapea, et les Carmina Epigraphica, je me suis forme une certitude qui depasse fort, et qui n'a point d'analogie, avec celle que j'avais retiree de tout le reste pendant des mois. Ce n'est que la que j*ai cesse tout ä fait de douter, non seulement de ranagramme en general, mais sur les principaux points qui en forment l'organisme ... Je ne vois decidement plus la possibilite, pour ce qui me concerne, de garder un doute, et je sens que les representations qui me sentient faites sur telles ou telles obscurites chez Virgfle ou Lucrece n'auraient plus d'effet pour me detourner d'une conclusion que je crois absolument certaine pour tout le monde ... CFS21 (1964), 118/19 Leider ist dieses Gefühl der Sicherheit von geringer Dauer. Sowohl vor wie nach diesem Brief zeigt sich Saussure von Zweifeln geplagt. Vor allem die Häufigkeit der Anagramme macht ihm zu schaffen; so schreibt er an Meil-
let: 73 Comme vous le verrez au bout de peu de pages, ce n'est pas la difficulte de retrouver les noms qu'on attend qui est un ecueil et un sujet de doute, mais c'est au contraire le fait que presque toute piece en offre presque cinq ou six aussi facilement qu'un seul, et qu'on arrive a se demander si ne trouverait pas tous les anagrammes du monde dans trois lignes d'un auteur quelconque. CFS21 (1964), 112 Zu der Unsicherheit, ob die Gesetze von der Wiederholung der Phoneme und Diphone wirklich zutreffen, kommen jetzt also noch die Zweifel am
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Anagramm, das Saussure als viel sicherer angesehen hatte.118 Immer wieder fragt er deshalb Mefllet in seinen Briefen nach dessen Meinung, er sucht krampfhaft nach einer Bestätigung und scheint sie — zumindest teilweise — auch zu bekommen.119 Trotzdem bleibt Saussures Unsicherheit, und er schreibt — acht Monate, nachdem er sich gegenüber Mefllet so sicher gegeben hatte — am 28. August 1908 an seinen Schüler LeOpold Gautier: 74 ... j'ai bien le sentiment que vous resterez finalement perplexe, puisque je ne cache pas que je le suis reste moi-meme -, sur le point le plus important, c'est-adiie de ce qu'fl faut penser de la realite ou de la fantasmagorie de affaire entiere. Jakobson III, 1910
Um der sich immer wieder meldenden Zweifel Herr zu werden, um endlich zu einem sicheren Resultat zu gelangen, dehnt Saussure seine Analysen aus: der Umfang des analysierten Materials zeigt,120 daß die Lücken und Mängel der Theorie im qualitativen Bereich durch quantitative Erfolge kompensiert werden sollen; dabei hofft Saussure natürlich auch immer noch, durch seine breit angelegten Nachforschungen (vielleicht zufällig) zu einem entscheidenden qualitativen Beweis zu gelangen. Zudem versucht er das Problem immer wieder unter neuen Aspekten anzugehen, über die Berücksichtigung von Sonderfällen zu einer exakter faßbaren Gesetzlichkeit zu gelangen — Bemühungen, die ihren Niederschlag u. a. in den terminologischen Versuchen und Unsicherheiten finden.121 Aber all dies führt anscheinend nicht zum Erfolg; die intensivere Beschäftigung mit dem Problem scheint im Gegenteil die Unsicherheit letzten Endes noch zu erhöhen. Hauptursache dieser Zweifel scheint die zu leichte Nachweisbarkeit der Anagramme zu sein (cf. schon oben), zu der dann noch eine Häufung von drei, vier einander überlagerten Anagrammen im gleichen Vers kommen kann.122 Der folgende Text läßt in dieser Hinsicht an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
118 Cf. oben, p. 26. 119 Cf. z.B. Benveniste, CFS 21 (1964), 119; Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 32; usw. - De Mauros Behauptung (Corso, p. 316), Meillets Haltung gegenüber der Anagrammtheorie sei vollkommen (und von Anfang an) negativ gewesen, läßt sich aufgrund der neueren Dokumente nicht mehr aufrecht erhalten. 120 Cf. oben, p. 7-9 und 54-59. 121 Cf. oben, p. 42 ss. 122 Cf. hierzu schon oben das Beispiel von Th. Johnson (p. 57/58) sowie dasjenige von Polizians Epitaph für Filippo Lippi (Jakobson III, 1911-13). 64
75 Quand un Ier anagramme apparait, fl semble que ce soit la lumiere. Puis quand on voit qu'on peut en ajouter un 2e, un 3e, un 4e, c'est alors que, bien loin qu'on se sente soulage de tous les doutes, on commence ä n'avoir plus meme de confiance absolue dans le premier: parce qu'on arrive ä se demander si on ne pourrait pas trouver en definitive tous les mots possibles dans chaque texte, ou ä se demander jusqu'ä quel point ceux qui se sont offerts sans qu'on les cherche, sont vraiment entoures de garanties caracteristiques, et impliquent une plus grand somme de coincidences que celles du premier mot venu, ou de celui auquel on ne faisait pas attention. On est ä deux pas du calcul des probabilites comme ressource finale ... Tel Quel 37 (1969), 29 Ganz ähnlich ist der Ton im zweiten Brief an Pascoli, obwohl Saussure in einem früheren Text einmal versucht hat, aus der Häufigkeit ein positives Argument zu machen;123 im Laufe der Zeit ist aber nur der beunruhigende Charakter geblieben: 76 Comme je le disais, ces exemples suffisent, quoique simplement choisis dans la masse. D y a quelque chose de decevant, dans le probleme qu'ils posent, parce que le nombre des exemples ne peut pas servir ä verifier l'intention qui a pu presider ä la chose. Au contraire, plus le nombre des exemples devient considerable, plus U y a lieu de penser que c'est le jeu naturel sur les 24 lettres de l'alphabet qui doit produire ces coincidences quasi regulierement. CFS24(196S), 81 Daß Saussures Bedenken in dieser Hinsicht nicht unbegründet waren, daß der Zufall sehr wohl in Rechnung gestellt werden muß, beweist die folgende Panne, die ihm von Aldo Rossi bei der Analyse von Polizians Epitaph für Filippo Lippi nachgewiesen wurde. Saussure versucht in diesen Versen u. a. den Vornamen der Geliebten Lippis — angeblich Le(o)nora Butti — nachzuweisen, und dies gelingt ihm auch ohne Schwierigkeiten, cf. z. B.:124 Nulli ignota meae est gratia mira manus 1 1 1 1
M
1 1 ii
TT
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1 1 ..Vi
123 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 259. - Saussure hat schon hier gesehen, daß die hohe Frequenz als Argument gegen seine TTieorie verwendet werden könnte; sein Versuch zur positiven Umwertung stellt eine Art Verzweiflungsakt dar. 124 Cf. Rossi, Paragone 218 (1968), 120/21; Starobinski, Jakobson III, 1912. Vgl. oben, p. 38. 65
Die ganze Geschichte hat nur einen Haken: die Geliebte Lippis hieß nicht Leonora, sondern Lucrezia\ns und auch dieses Anagramm läßt sich ohne Schwierigkeiten in den gleichen Versen nachweisen, z. B.: Nulli ignota meae est gratia mira manus I I M UL·^—Li\J)
TTT /_T T A
l l 1 I I
l
l l l l l l l^fD j—UK. I I
l l l l I I
ll ll l l
II II
E—(E) Wovon soll man hier sprechen, wenn nicht von einer Wirkung des Zufalls? Es kann deshalb nicht erstaunen, daß Saussure verschiedentlich auf den Gedanken einer Kontrolle mit Hufe der Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt; zur Ausführung bringt er diese Idee aber nicht, da ihm die notwendigen mathematischen Kenntnisse fehlen und er sogar daran zweifelt, ob ein Mathematiker dieses Problem zufriedenstellend zu lösen in der Lage wäre.126 Ein weiteres Problem, das Saussure sicher beschäftigt, ist das Problem der Textlänge, die für die Realisierung eines Anagramms zur Verfügung steht. Beim Gesetz vom paarweisen Auftreten der Laute hatte er zuerst gefordert, die Paarungen müßten sich (zumindest bei Versen mit gerader Silbenzahl) innerhalb eines Verses ohne Rest ergeben; anschließend sah er sich dann aber gezwungen, dieses strenge Gesetz weitgehend zu verwässern.127 Beim Gesetz von der Wiederholung der Diphone hatte er sich von Anfang an nicht derart stark festgelegt, und das Gleiche gilt auch in bezug auf die Anagramme. In den Beispielen, die wir gegeben haben, findet sich das Anagramm meist innerhalb eines Verses oder sogar eines Teils des Verses; daneben enthalten Saussures Materialien aber auch Analysen, wo er mehrere Verse benötigt, um zu einem vollständigen Anagramm zu kommen. So braucht er z. B. im Hippolytus von Seneca sechs Verse für ein anagrammatisiertes Physeter, und bei Polizians Epitaph für Fflippo Lippi benötigt er zur Restitution des Namens Politianus immer mindestens zwei Verse.128 Daß er sich der sich daraus ergebenden Problematik durchaus bewußt war, beweist der folgende Text: 125 Cf. Rossi, Paragone 218 (1968), 121/22. 126 Cf. CFS 24 (1968), 81: „Comme le calcul des probabilites a cet egard exigerait le talent d'un mathematicien exerce .. . "; Tel Quel 37 (1969), 29: „ ... mais comme ce calcul, en l'espece, defierait les forces des mathematiciens euxmemes 127 Cf. oben, p. 16 ss. 128 Cf. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 21; Starobinski,/a/toZ>son 111,1911.
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77 Le plus grand reproche qu'on puisse faire est qu'il y a chance de trouver en moyenne en trois lignes (vrai ou non) de quoi faire un hypogramme quelconque. Done la meilleure refutation sera de montrer les nombreux hypogrammes ou on n'arrive au contraire qu'au bout de sept ou huit lignes ä constituer rhypogramme Mercure350 (1964), 259
Nur: was beweist ein Anagramm noch, das nur über sieben oder acht Zeilen oder Verse zustandekommt? Wohl kaum etwas. Saussure sagt dies in den späteren Texten nirgends ausdrücklich, aber es dürfte selbst für ihn klar gewesen sein, daß wir auch bei diesem Problem zum gleichen toten Punkt kommen wie beim vorhergehenden: zu einem Punkt, wo alles nur noch eine Frage des Zufalls, der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist. Um diesen toten Punkt zu überwinden, hat Saussure versucht, bei den antiken Autoren und Dichtungstheoretikern irgendeinen Hinweis auf die Anagrammtechnik zu finden. Zwar erklärt er, die lateinischen Metriker nicht genügend gut zu kennen, um mit Sicherheit sagen zu können, es finde sich nirgends ein Hinweis auf die Anagrammtechnik; gleichzeitig fügt er aber bei, wenn es etwas Entsprechendes gäbe, dann müßte es doch irgendwie bekannt geworden sein in der wissenschaftlichen Literatur: 78 N'ayant pas fait d'etude speciale des ecrits des metriciens latins, il me serait difficile [de dire] personnellement si une allusion quelconque ä la necessite des hypogrammes existe dans leurs ecrits. Comme une teile allusion n'a jamais ete signalee, on doit supposer que les theoriciens antiques de la versification latine se sont abstenus constamment de mentionner une condition elementaire et primaire de cette versification. Pourquoi ils ont observe le silence, c'est un probleme auquel je n'ai point de reponse,... Jakobson III, 1908
Auch dieser Weg führt also zu keinem Resultat. Wohl findet Saussure manchmal Anspielungen bei lateinischen Autoren, die man mit aller Gewalt auf die Anagramme beziehen könnte. So vermerkt er zum Beispiel zu Sueton: 79
Allusions aux hypogrammes? Suetone, De ülustribus Grammaticis, chap. 6; parlant d'Aurelius Opflius: Hujus cognomen in plerisque indicibus et titulis per unam litteram scriptum animadverto: verum ipse id per duas effert in parastichide libelli qui inscribitur Pinax. Suetone (dans Caligula? ou Neron?) parle d'un Hermogenes condamne pour quelquesfigurae que renfermait une histoire qu'il avait composee. Jakobson III, 1909
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Aber wie soll man aus derart vagen Anspielungen, die sich auf alles Mögliche beziehen können, eine Gewißheit gewinnen? Saussure sieht selbst, daß auf einer solchen Basis nichts zu beweisen ist, und kehrt deshalb den klassischen Metrikern und Autoren auf der Suche nach einem direkten Zeugnis den Rücken. Er hofft vielmehr, bei den neulateinischen Autoren verläßlichere Auskunft zu erhalten. Deshalb beschließt er anfangs Oktober 1908, nach Eton zu schreiben, um Hinweise über die Technik und Arbeitsweise von Thomas Johnson zu erbitten.129 Als auch auf diesem Weg nichts zu erfahren ist, wendet er sich an einen noch lebenden neulateinischen Dichter, an den mehrmaligen Sieger des Certamen Hoeufftianum der Amsterdamer Akademie, Giovanni Pascoli.130 Der erste Brief vom 19. März 1909 ist sehr allgemein gehalten und enthält nichts weiter als eine Anfrage, ob Pascoli bereit wäre, einige Fragen über technische Details zu beantworten. Pascoli scheint eingewilligt zu haben, worauf ihm Saussure dann am 6. April 1909 einige aus Pascolis Texten stammende Anagramme vorgelegt hat —131 allerdings ohne ihm'zu sagen, um was es sich eigentlich handelte, daß er hier ein allgemeines indogermanisches und vor allem lateinisches Dichtungsprinzip gefunden zu haben glaubte. Eine Antwort Pascolis ist nicht bekannt, und wie mir LeOpold Gautier versichert, ist eine solche auch nie eingetroffen.132 Man geht wohl nicht fehl, wenn man die beiden Briefe an Pascoli als die letzten Dokumente Saussures zur Anagrammtheorie betrachtet. Nachdem auch dieser Versuch gescheitert war, eine Bestätigung seiner Vermutung zu erhalten, stellte er im Frühjahr 1909 (Ende April? ) seine Nachforschungen endgültig ein. Der Entschluß hierzu dürfte allerdings schon Ende 1908 mehr oder weniger gefaßt gewesen sein, bittet Saussure doch in einem Brief vom 29. Oktober 1908 den an den Studien beteiligten LeOpold Gautier, die Arbeit nicht mehr weiterzuführen. Er begründet diesen Entschluß folgendermaßen: „J'ai trouve" une base toute nouvelle qui, bonne ou mauvaise, permettra en tout cas de faire une contre-ipreuve dans un temps minime, et avec des re"sultats beaucoup plus clairs."133 Zieht man in Betracht, daß Saussure anfangs Oktober des gleichen Jahres beschlossen hatte, nach Eton zu schreiben, gewinnt die Vermutung recht große Wahrscheinlichkeit, er habe es um diesen Zeitpunkt aufgegeben, eine Bestätigung oder einen Beweis für seine Theorie aus den Texten und den Anagrammen 129 Cf. oben, p. 58. - Vgl. Staiobinski, Jakobson III, 1915 und Mercure 350 (1964), 260. 130 Cf. hierzu Nava, CFS 24 (1968), 73-81. 131 Cf. oben, p. 33, 39/40. 132 Cf. auch Nava, CFS 24 (1968), 73. 133 Cf. Starobinski, Jakobson III, 1910 N 8. 68
selbst zu gewinnen, und sehe jetzt die letze Chance für ihre Aufrechterhaltung darin, einem oder mehreren neulateinischen Dichtern eine diesbezügliche metapoetische Aussage entlocken zu können.134 Doch auch in dieser Hinsicht hat Saussure keinen Erfolg gehabt - in einem gewissen Sinne war er auch hier seiner Zeit weit voraus.
134 Cf. auch Nava, CFS 24 (1968), 76/77.
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2. Die Anagrammstudien und der „Cours'
Man kann sich fragen, ob es wirklich nur die Schwierigkeiten mit den Anagrammen an sich und das fehlende Echo waren, die Saussure bewogen, seine Nachforschungen auf diesem Gebiet einzustellen; könnte nicht auch der intensiveren Beschäftigung mit dem Cours eine kausale Funktion zukommen, sei es nun, daß ihn die zeitliche Beanspruchung gehindert hätte, sich weiter den Anagrammen zu widmen, sei es, daß gewisse Widersprüche mit seiner sich immer deutlicher herauskristallisierenden allgemeinen Sprachkonzeption eine Weiterführung der Anagrammstudien verunmöglichten? Wir haben oben gesehen, daß die Anagrammstudien im Mai 1906 begannen und die Ernennung zum Vertreter der allgemeinen Sprachwissenschaft in Genf erst im Dezember dieses Jahres erfolgte.1 Hätten wir in den Anagrammen — obwohl sie zeitlich z.T. neben dem Cours herlaufen — nicht im Prinzip etwas vor der Beschäftigung mit der allgemeinen Sprachwissenschaft Liegendes zu sehen, das dann nach einer gewissen Übergangsphase von dieser verdrängt worden wäre? Dies scheint die Meinung Aldo Rossis zu sein, wenn er Saussures Arbeit am Cours als Reaktion auf das Schweigen Pascolis (und der Dichter und Dichtungstheoretiker im allgemeinen) in bezug auf die Anagramme interpretiert.2 Überdies hätten sich für Saussure Schwierigkeiten in bezug auf die für ihn immer deutlicher zutage tretende Linearität des sprachlichen Zeichens ergeben, über die sich das Anagramm ja gerade hinwegsetzt.3 Bei näherem Zusehen erweist es sich aber als unzulässig, eine eigentliche Sukzession (unter Einbeziehung einer Übergangsphase) zwischen den Anagrammstudien und der Beschäftigung mit allgemeiner Sprachwissenschaft anzunehmen oder in den allgemein-sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen die Ursache für den Verzicht auf die Anagrammtheorie zu 1 Cf. oben, p. 62 und 60. 2 Cf. Paragone 218 (1968), 127: „Saussure interpreto il silenzio come sprezzo e si mise a lavorare a quella cosetta ehe poi si chiamo il Cours, con cui si prese una discreta rivincita postuma sui poeti e sui critici letterari." 3 Cf. Rossi, Paragone 218 (1968), 125/26. 70
sehen. Was z.B. die Frage der (auf die Phonemabfolge bezogenen) Linearität des sprachlichen Zeichens betrifft, so ist sie sowohl für die in normaler Rede wie die im dichterischen discours verwendete Einheit als solche gültig; sie wird auch im zweiten Fall für den Grundtext (pheno-texte), in den das Anagramm eingebettet ist, nicht aufgehoben. Das Anagramm seinerseits stellt eine zusätzliche, in dichterischer Rede dem Grundtext überlagerte Komplikation dar, die die normalen Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Äußerung nicht berührt; umgekehrt ist der überlagerte dichterische Bereich nicht an die Gesetzlichkeiten des normalsprachlichen Bereiches gebunden.4 Es läßt sich also aus der Aufhebung der Linearität beim Anagramm und Saussures Äußerungen im CLG über den linearen Charakter des sprachlichen Zeichens kein Widerspruch konstruieren, der allenfalls für eine Aufgabe der Anagrammstudien verantwortlich sein könnte. Überdies steht keineswegs fest, daß Saussure erst im Laufe der Beschäftigung mit den Anagrammen auf die Linearität des sprachlichen Zeichens gestoßen ist, wie das Rossi annimmt.5 Zwar kann nicht geleugnet werden, daß die ältesten Texte, in denen von der Linearität die Rede ist, im Zusammenhang mit den Anagrammen stehen.6 Dies besagt aber noch lange nicht, daß Saussure nicht schon früher zu dieser Konzeption gekommen wäre. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß Saussures Beschäftigung mit der allgemeinen Sprachwissenschaft lange vor seiner Ernennung zum Nachfolger von Joseph Wertheimer begonnen hat (1906), ja daß die wesentlichen Punkte seiner Sprachauffassung in diesem Moment schon längst festgestanden haben dürften und in den letzten Jahren seiner Tätigkeit nicht mehr allzuviel Neues hinzugekommen ist. Obwohl Notizen und Entwürfe zum CLG spärlich sind, fällt es nicht schwer, diese Behauptung zu beweisen. So erscheint z.B. 1901 ein Buch von Adrien Naville mit dem Titel Nouvelle classification des sciences. Etude philosophique (Paris 1901); Naville ist ein Genfer Kollege und zugleich ein Verwandter Saussures.7 Wichtig ist dieses Werk für uns vor allem deshalb, weil es — unter ausdrücklicher Berufung auf Saussure — das Programm einer (allerdings noch auf den diachronischen Bereich beschränkten) Semiologie entwirft und so beweist, daß Saussure bereits 1901 im Be4 Cf. hierzu unten, p. 78 ss. 5 Cf. Rossi, Paragone 218 (1968), 125/26. 6 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 254/55 und Rossi, Paragone 218 (1968), 125/26. 7 Cf. De Mamo, Corso, p. 318/19 und N 8; Benveniste, CFS 21 (1964), 105 und 128.
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sitz dieser sowohl für den CLG wie für die neuere Forschung zum (sprachlichen und nichtsprachlichen) Zeichen entscheidenden Konzeption war.8 Doch wir können noch weiter zurückgehen. Im ersten der von Benveniste publizierten Briefe an Meillet, der vom 4. Januar 1894 stammen dürfte, beklagt sich Saussure darüber, daß die ganze historische Sprachwissenschaft nicht auf einer soliden Grundlage aufgebaut sei und ihm methodische Bedenken kaum mehr erlaubten, in diesem seinem Lieblingsgebiet etwas zu schreiben oder gar zu publizieren: 80 Sans cesse l'ineptie absolue de la terminologje courante, la necessite de la reforme, et de montrer pour cela quelle espece d'objet est la langue en general, vient gäter mon plaisir historique, quoique je n'aie pas de plus eher voeu que de n'avoir pas a m'occuper de la langue en general. Cela finira malgre moi par un livre oü, sans enthousiasme ni passion, j'expliquerai pourquoi il n'y a pas un seul terme employe en linguistique auquel j'accorde un sens quelconque. Et ce n'est qu'apres cela, je l'avoue, que je pourrai reprendre mon travail au point oü je Pavais laisse. CFS21 (1964),95
Das Buch, von dem Saussure spricht, ist tatsächlich auch skizziert, aber leider nie ausgeführt worden: einige Seiten mit Notizen und Entwürfen beweisen dies.9 Godel nimmt wohl zu Recht an, diese Vorarbeiten hätten schon zu dem Zeitpunkt vorgelegen, wo Saussure Meillet über sein neues Projekt informierte; andernfalls hätte er wohl kaum die ihn sonst kennzeichnende Zurückhaltung in solchen Dingen aufgegeben. Es dürfte somit feststehen, daß Saussure bereits im Jahre 1894 im Besitze wesentlicher Elemente seiner Theorie war — derart wesentlich auf alle Fälle, daß ihm die Publikation eines Buches gerechtfertigt schien. Wie seine aus dem gleichen Jahr stammenden Notizen für einen (nie geschriebenen) Artikel über W .D. Whitney zeigen, gehört zu ihnen unter anderem auch die Scheidung von Synchronie und Diachronie.10 Das Vorliegen dieser Resultate setzt natürlich voraus, daß sich Saussure schon einige Zeit vorher mit Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft auseinandergesetzt hat; wann genau er damit begonnen hat, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, doch ist es nicht ausgeschlossen, daß diese Anfänge in seiner Pariser Zeit liegen,
8 Vgl. P. Wunderli, ,£emantique" und „Semiologie", VRom. 30 (1971), 14-31. 9 Cf. Godel, SM, p. 32. 10 Cf. Godel, SM, p. 32/33.
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ja vielleicht sogar mehr oder weniger mit ihrem Beginn zusammenfallen.11 Daß Saussures Auseinandersetzung mit den allgemein-sprachwissenschaftlichen Problemen in ihrem wesentlichen Teil vor 1900 stattgefunden haben muß, wird auch von anderer Seite her bestätigt. Albert Riedlinger und Leopold Gautier haben z.T. Aufzeichnungen angefertigt von den Unterhaltungen, die sie mit Saussure gehabt haben. So vermerkt Riedlinger zu einem Gespräch vom 19. Januar 1909 über die synchronische Sprachwissenschaft: 81 M. de Saussuie s'en est beaucoup occupe il y a 15 ans, et U lui faudrait au moins deux a trois mois de recueillement, pendant les vacances, avant d'entreprendre un pareil cours ... Godel, SM, p. 29
Die Aussage, Saussure habe sich rund 15 Jahre früher intensiv mit der synchronischen Sprachwissenschaft befaßt, deckt sich ausgezeichnet mit dem durch den Brief an Meillet markierten Zeitpunkt. In die gleiche Richtung verweisen auch die Aufzeichnungen Gautiers vom 6. Mai 1911: 82 ... Je suis toujours ties tiacasse par mon cours de linguistique generate. (Je lui dis qu On serait tres desireux de connaftre au moins un element de son Systeme de philosophic du langage.) Je ne le crois pas. Tout cela n'est pas assez elabore. (Je lui demande si, avant la mort de Wertheimer, il ne s'etaitguere occupe de ces sujets.) — Au contraire, je ne crois pas avoir rien ajoute depuis lors. Ce sont des sujets qui m'ont occupe surtout avant 1900. Godel, SM, p. 30
Diese Texte dürften es unmöglich machen, anzunehmen, Saussure habe aus Arbeitsüberlastung oder aus Widersprüchen zwischen seiner Anagrammtheorie und seiner allgemeinen Sprachkonzeption die Anagrammstudien eingestellt; auch kann nicht mehr von einer Sukzession in bezug auf die beiden Forschungsbereiche gesprochen werden. Vielmehr war Saussure zu Beginn der Anagrammstudien bereits im Besitz seiner Sprachkonzeption. Dies bedeutet, daß die Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft nicht mehr eine vollständige Erarbeitung des Mitzuteilenden verlangten: es konnte höchstens noch um gewisse Detailkorrekturen, v.a. aber um das Suchen nach einer leichtverständlichen Form für die Studen11 Cf. Godel, SM, p. 33.
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ten gehen.12 Die zeitliche Belastung dürfte also nicht derart groß gewesen sein, daß sie Saussure eine Weiterführung der Anagrammstudien verunmöglicht hätte. Das Vorhandensein der allgemeinen Sprachkonzeption seit Beginn der Anagrammstudien schließt aber auch einen Unterbruch aufgrund von plötzlich erkannten Widersprüchen weitgehend aus; Saussure dürfte sich vielmehr von allem Anfang an bewußt gewesen sein, daß in diesem Bereich der poetischen (sekundären) Sprachnutzung andere Gesetzlichkeiten Gültigkeit haben oder haben können als im Normalfall (pheno-texte). Für die Unterbrechung der Nachforschungen bleiben also nur die Schwierigkeiten mit dem Nachweis der Anagramme und der Theorie des Anagramms. Wenn sich so auch kein kausales Verhältnis zwischen dem Cours und der Aufgabe der Anagrammstudien nachweisen läßt, so bleiben die Beziehungen zwischen CLG und Anagrammtheorie doch äußerst interessant. Es soll im folgenden an einigen wichtigen Punkten gezeigt werden, in welchem Lichte die Anagrammtheorie aus der Sicht des Cours erscheint. 2. l
Phonem oder Phonie?
Bis jetzt haben wir ohne weitere Begründung immer davon gesprochen, das Anagramm baue auf Phonemen resp. Phonemgruppen auf. Trifft dies aber wirklich zu, oder besser: ist dies die Meinung Saussures? Der Ausdruck phoneme in bezug auf die Anagramme, das Gesetz der couplaison und dasjenige der Wiederholung der Polyphone fehlt in seinen Texten nicht, cf. z.B.: 83 II arrive ainsi (jue, meme a priori, le rapport d'une baguette (stab ou stabo) avec le PHONEME se presente comme absolument naturel et clair si la poesie comptait les phonemes,... Mercure 350 (1964), 253 84 II est aussi facile de supposer que, si on a commence par l'ANAGRAMME, les repetitions de syllabes qui en jaillissaient ont donnee Pidee d'un ordre a creer de phoneme a phoneme, d'une alliteration aboutissant a l'equilibre des sons, que de supposer Pinverse: .. . Mercure 350 (1964), 257
Beide Texte scheinen vorerst dafür zu sprechen, daß das Anagramm auf dem Phonem begründet sei; doch dann wird „Phonem" mit son gleichge12 Cf. auch Godel, SM, p. 34. 74
setzt, dessen Normalbedeutung eher in der Nähe der Phonie liegt. Überdies haben wir früher festgestellt,13 daß Saussure phoneme sowohl für unser heutiges Phonem wie auch für die Phonie verwendet; seine Terminologie in den obigen Zitaten besagt somit kaum etwas. Auch sein weiterer Sprachgebrauch hilft uns nicht weiter; so spricht Saussure in einem Brief an Meillet von groupes phoniques, an anderer Stelle von einer analyse phonique usw.14 — aber das Adjektiv phonique kann sich bei Saussure sowohl auf das Phonem wie auf die Phonie beziehen.15 Doch phonique kommt auch noch in Verbindung mit substance vor: 85 C'est aussi en paitant de cette donnee d'une poesie indo-europeenne qui analyse la substance phonique des mots (soit pour en faire des series acoustiques, soit pour en faire des series significatives lorsqu'on allude a un certain nom), que j'ai cru comprendre pour la premiere fois le fameux stab des Germains ... Mercure 550(1964), 25 2
Könnte man sicher sein, daß Saussure hier substance im (von ihm selbst geschaffenen) Sinne der modernen Sprachwissenschaft verwendet, müßte dieser Text als auf die Phonie bezogen interpretiert werden. Leider besteht diese Gewißheit nicht: Substance kann auch (und dürfte letztlich gerade in unserem Beispiel) die „suite des sons, consideree abstraitement" bezeichnen 16 — womit wir wieder beim Phonem wären. Weder phoneme, son,11 phonique noch substance lassen sich in Saussures Sprachgebrauch eindeutig auf den Bereich des Phonems oder denjenigen der Phonie beziehen; die von ihm im Zusammenhang mit dem A nagramm verwendeten Termini sind somit nicht in der Lage, uns darüber zu informieren, ob dieses in seiner Sicht auf der Phonie oder dem Phonem beruht. Wir können hier nur aufgrund eigener Reflexion zu einem Schluß kommen und dann rückwirkend den in den obigen Zitaten verwendeten Termini einen bestimmten, nur im Zusammenhang mit den A nagrammen gültigen Nutzwert zuweisen. Ein dichterischer Text gehört zweifellos dem discours an, er ist in 13 Cf. oben, p. 43. 14 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 110; Starobinski, Mercure 350 (1964), 249; usw. 15 Cf. Godel, SM, p. 273, s. phonique: „1. Relatif aux sons de la parole ... 2. Relatif aux sons comme elements d'un Systeme ... 3. Relatif aux suites de sons (mots, sous-unites)"; ebenso Engler, Lexique, p. 40. 16 Cf. Godel, SM, p. 277; Engler, Lexique, p. 48. 17 In Saussures Gebrauch weitgehend mit phoneme austauschbar, vgL Engler, Lexique, p. 47 fur son und Engler, Lexique, p. 40, Godel, SM, p. 272 für phoneme. 75
Saussures Terminologie ein ,fait de parole'; da das Anagramm auf dem dichterischen Text beruht, da es ein sich aus diesem heraus ergebendes zusätzliches Resultat der Lektüre dieses Textes ist, wurzelt es auf alle Fälle im discours. Dies ist auch die Meinung Saussures, wenn er das Anagramm als eine performance bezeichnet.18 Aber ist mit dieser Feststellung schon etwas für die Frage gewonnen, ob das Anagramm letztlich auf Phonemen oder Phonien aufbaut? Ist durch die Zuweisung des dichterischen Textes an den discours der Entscheid zugunsten der Phonie gefallen? Wenn man — wie allgemein üblich — das Phonem einfach dem System, die Phonie der konkreten Nutzung dieses Systems zuweist, müßte man in diesem Sinne argumentieren. Doch die Dinge scheinen mir hier nicht so einfach zu liegen. Ich mag wohl einen Text vorlesen und durch dieses Vorlesen den Restitutionsmechanismus des Anagramms auslösen; Ausgangspunkt ist dann zweifellos die Phonie. Aber ist sie wirklich relevant? Ich kann den Text auf verschiedene Arten vorlesen, die Phonien im Rahmen des durch die Phoneme gesetzten Spielraumes variieren: der gleiche Mechanismus läuft ab. Oder verschiedene Leute mit stark abweichenden Aussprachen können den Text vorlesen und jedesmal das gleiche Anagramm evozieren. Schließlich kann ich den Text auch still lesen (oder aus dem Gedächtnis reaktivieren) und zum selben Resultat kommen. Der Schluß, der sich aus diesen Überlegungen ergibt, kann wohl nur einer sein: das Anagramm kann zwar in der Phonie wurzeln, relevant ist diese aber für unser Phänomen nicht. Alle individuell und okkasionell bedingten Schwankungen sind für das Anagramm an sich unwesentlich,19 für seine Konstitution zählen nur die distinktiven Charakteristika der lautlichen Einheiten. Dies zwingt uns zu einer weiteren Differenzierung. Der dichterische Text ist sicher eine discours- scheinung, aber eine Erscheinung besonderer Art: er hat sich einen Teil seiner Virtualität bewahrt, und zwar in dem Sinne, daß er beliebig oft reproduziert werden kann — wir haben eine Wiedergebrauchsrede.20 Der dichterische Text als solcher ist somit nicht in jeder Hinsicht vollständig aktualisiert: die Aktualisierung besteht zwar in bezug auf die Wahl der Moneme und Lexien sowie die syntagmatische Verbindung dieser Ein18 Cf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 248. 19 Dies soll nicht heißen, daß nicht unter Umständen gewisse Realisierungsvarianten eines Phonems die Einstellung eines Anagramms ehei fördern als andere; für den Aufbau des Anagramms an sich ist dies jedoch irrelevant — wir haben hier vielmehr eine Frage des psychischen Auslösemechanismus. 20 Cf. hierzu Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft l, § 1; Wunderli, VRom. 24 (1965), 44/45. 76
heiten; diese Wahl schließt auch die Phonemabfolge und die semantische Grobstruktur der Aussage mit ein. Doch damit sind noch nicht alle Variationen ausgeschlossen: der Leser oder Sprecher (Hörer) dieses Textes kann die einzelnen Phonemrealisierungen noch in einem bestimmten Rahmen variieren, und Entsprechendes gilt auch für die semantischen Einheiten und das sich aus ihrer Verbindung ergebende Produkt.21 Es scheint mir deshalb ratsam, zwischen den beiden Graden der Textaktualisierung zu scheiden. Dort, wo nur eine syntagmatische Verbindung einer gewissen Zahl von Monemen und Lexien vorliegt und damit die Phonemabfolge und die semantische Grobstruktur festgelegt wird, spreche ich in Anlehnung an Gustave Guillaume von einem discours·?2 der discours hat für mich immer den Charakter einer Wiedergebrauchsrede .23 Was die konkrete Einzelrealisierung eines dwcowrs-Textes betrifft, so bezeichne ich sie als parole, wenn sie gesprochen ist, als lecture, wenn ihr die Lautrealisierung (Überführung der Phoneme in Phonien) abgeht.24 Kehren wir nun zum Anagramm zurück. Seine Einzelrealisierung beruht zwar auf einem parole-Akt oder einer lecture — aber dadurch wird es keineswegs auf die Phonie festgelegt. Schon die Alternative parole/lecture zeigt, daß nicht die konkrete Gestalt, die Substanz der lautlichen Elemente von Bedeutung ist, sondern nur ihre Form: bei der lecture bleibt ja das Phonem in seinem virtuellen Charakter erhalten und wird nicht in eine Phonie übergeführt. Aber auch andere Aspekte weisen in die gleiche Richtung. Steht das Leitelement im Text, so kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß im Rahmen einer parole zwischen der Aussprache des Leitworts und derjenigen der verstreuten Elemente des Anagramms z.T. nicht unerhebliche (phonetische) Unterschiede bestehen; eine Identifikation von Leitwort und Anagramm ist nur möglich, wenn wir nicht auf der Ebene der Phonien, sondern auf derjenigen der Klassen von Phonien, d.h. der Phoneme argumentieren. Das gleiche gilt für den Fall, wo das Leitwort nicht im Text figuriert: es bleibt in seiner Lautgestalt virtuell, weshalb das Anagramm nur mit ihm identifiziert werden kann, wenn ein entsprechender Abstraktionsgrad vorliegt, d.h. wenn man auf der Ebene des discours mit Phonemen operiert. 21 Cf. hierzu unten z.B. zum Asso/iationsmechanismus, p. 99. 22 Cf. z.B. Guillaume, Langage, p. 28, 35/36. 23 Vgl. auch Wunderli, VRom. 24 (1965), 45. 24 Parole umfaßt sowohl den Produktions- wie den Reproduktionsakt, lecture nur den zweiten; für den nichtlautlichen Produktionsakt (der ebenfalls eine Einzelrealisierung [die erste] das betreffenden discours darstellt) verwende ich ecriture.
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Obwohl im Rahmen einer parole nicht ohne Bezug zur Phonie, spielt sich der Mechanismus des Anagramms so doch im wesentlichen auf der Ebene des discours ab; dies bedeutet, daß für den Mechanismus das Phonem relevant ist. Rückblickend können wir somit sagen, daß die von Saussure im Zusammenhang mit dem Anagramm verwendeten Termini phoneme, son, phonique und substance als auf das Phonem im modernen Sinne bezogen zu verstehen sind. 2.2
Das Problem der Linearität
Auf das Problem der Linearität haben wir bereits oben kurz hingewiesen;25 der ganze Fragenkomplex soll hier nun noch etwas ausführlicher beleuchtet werden. Für Saussure ist neben dem arbiträren Charakter des sprachlichen Zeichens der lineare Aufbau des Signifikanten eines seiner wichtigsten Charakteristika; in bezug auf die Sprache ist der zweite Zug noch typischer als der erste, da sich die Arbiträrietät auch bei nichtsprachlichen Zeichen findet.26 Im Cours wird diese Tatsache folgendermaßen umschrieben: 86 Le signifiant, etant de nature auditive, se deroule dans le temps et a les caracteres qu'il emprunte au temps: a) ürepresente une etendue, et b) cette etendue est mesurable dans une seule dimension: c'est une ligne. CLG, p. 10327
Die Linearität ist primär zeitlicher Natur, stellt doch der Signifikant für Saussure in erster Linie eine lautliche Erscheinung dar. Erst wenn ich diesem primären Signifikanten den sekundären Signifikanten der Schrift überlagere, wird die zeitliche Abfolge in eine räumliche Sukzession umgesetzt. Allerdings scheint mir das Linearitätsprinzip nur solange Gültigkeit zu haben, als man allein die Abfolge der Phoneme und Moneme betrachtet; bezieht man auch die zur Phonem- und Monemkette parallel laufenden Gesten, die Mimik, die Intonation und die Akzentsetzung mit ein — sofern sie signifikativen Charakter haben —, muß zumindest in bezug auf diese Faktoren von einer Relativierung des linearen Charakters
25 Cf. p. 70/71. 26 Cf. z.B. Saussure, CLG, p. 103. 27 Zur Konzeption der Linearität des sprachlichen Zeichens vor Saussure cf. auch Gabelentz, Sprachwissenschaft, p. 85;Coseriu, Gabelentz, p. [37].
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der Sprache gesprochen werden. Wenigstens in der Beurteilung des Akzents entferne ich mich hier von Saussure.28 Von der Linearität der Sprache und des sprachlichen Zeichens ist nun nicht nur im CLG die Rede, sondern auch in den Anagrammstudien. Die beiden folgenden Texte sind sich in jeder Hinsicht sehr ähnlich; beide gehen vom Diphon (Polyphon) und der Nichtvertauschbarkeit seiner Elemente (Phoneme) aus, um schließlich zum linearen Charakter des „Wortes" im allgemeinen zu gelangen: 87 . .. Un diphone, par sä seule presence devant nos yeux, consacre un ordre. E tan t donne separement P + I, rien n'est determine quant a la suite IP ou PI. Etant donne PI, on possede hors de la donnee de la composition, un element qu'U serai t absolument faux de croire banal... II est vrai que ne trouverait dans aucun livre sur les [mots] que la condition fundamentale de tout mot est de courir sur une [ligne]... Paragone218 (1969), 125 88 Le principe du diphone revient a dire qu'on represente les syllabes dans la consecutivite de leurs elements. Je ne crains pas ce mot nouveau; vu que s'il existait... c'est pour la linguistique elle-meme qu'il ferait sentir ses effets bienfaisants. Que les elements qui forment un mot se suivent, c'est la une verite qu'il vaudrait mieux ne pas considerer, en linguistique, comme une chose sans interet parce qu'evidente, mais qui donne d'avance au contraire le principe central de toute reflexion utile sur les mots. Mercure 350(1964), 254
Hinsichtlich des normal gebrauchten Wortes hat somit das Linearitätsprinzip nicht nur für das Diphon (Polyphon) Gültigkeit, sondern auch für das Wort als Ganzes. Im Spezialbereich des Anagramms dagegen liegen die Dinge anders: 89 Dans un domaine infiniment special comme celui que nous avons a trailer, c'est toujours en vertu de la loi fundamentale du mot humain en general que peut se poser une question comme celle de la consecutivite ou n on- consecutivite,... Mercure 350 (1964), 254
Eine Aufhebung der Linearität finden wir zuerst einmal hinsichtlich der Abfolge der Diphone (Polyphone). Das Anagramm Saussures ist nicht 28 Cf. CLG, p. 103. - Eine entsprechende Abweichung besteht auch zu Martinet
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kompakt, seine Elemente sind vielmehr „verstreut" in einem Basistext;29 die Linearität ist dadurch insofern beeinträchtigt, als die einzelnen Diphone durch nicht zum Anagramm gehörende Phonempolster voneinander getrennt sind. Julia Kristeva spricht in diesem Zusammenhang von einer dissemination, Jean Starobinski von einer succession asyndete der Elemente des Leitwortes.30 Die Aufhebung der Linearität kann sich unter Umständen auf diesen Punkt beschränken, wie z.B. im Pascoli-Anagramm zu Falerni (FA-AL-ER/AL-ERNI),31 doch haben solche Beispiele Ausnahmecharakter. Zudem kommt selbst im Falle von Falerni noch ein weitererer Störfaktor dazu: nämlich die Rekursivität gewisser Diphone, die Tatsache, daß AL + ER innerhalb des Anagramms wiederholt werden. Damit sind aber die Möglichkeiten der Rekursivität noch nicht erschöpft: diese findet sich nicht nur in bezug auf die Diphone als Ganzes, sondern auch hinsichtlich der die Diphone ausmachenden Phoneme. So ist z. B. im Anagramm für Scipio32 (S-ci-pi-io) das in zwei Diphonen enthalten (pi, id), und Entsprechendes gilt für das R im folgenden Caesar-Anagramm für Cicero:33 . . . civilibus controversiis ?
Die Beispiele hierzu könnten beliebig vermehrt werden, was jedoch überflüssig ist: Saussure hat mit seiner Musteranalyse des Leitwortes Vergilius und dem dazugehörigen Kommentar genügend deutlich gemacht, daß für ihn die Rekursivität von Phonemen innerhalb von verschiedenen Diphonen zwar nicht notwendig ist, aber doch als durchaus normal betrachtet werden kann.34 In der Regel beschränkt sich die Aufhebung der Linearität beim Anagramm nicht auf die Dispersion der Diphone und die Rekursivität gewishinsichtlich der Beurteilung von Akzent und Intonation, cf. Martinet, TLL 7/1 (1969), 23-28 und Wunderli, VRom. 31 (1972). 29 Cf. oben, p. 14, 27/28. 30 Cf. Kristeva, Tel Quel 37 (1969), 44; Starobinski, Jakobson III, 1916. 31 Cf. oben, p. 29. 32 Cf. oben, p. 27. 33 Vgl. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 46. 34 Cf. Benveniste, CFS 21 (1964), 111/12; vgl. oben, p. 30/31. 80
ser Elemente (Diphone oder Phoneme): wir haben vielmehr auch meistens noch eine Umstellung in der Reihenfolge der Diphone. Dies ist z.B. im obigen Anagramm für Cicero der Fall und gilt generell für alle Beispiele, wo die Restitution des Leitwortes über eine mehrzellige Lektüre erfolgt. Die Vertauschung der Diphone stellt ohne Zweifel die entschiedenste Abkehr von Linearitätsprinzip unter den bisher besprochenen Phänomenen dar. Nach Saussures Ausführungen im p. 79 gegebenen Zitat Nr. 87 und nach seinen prinzipiellen theoretischen Erläuterungen zum Diphon (Polyphon) müßte das Linearitätsprinzip wenigstens im Rahmen des Diphons gewahrt bleiben — selbst beim Anagramm. Wir haben aber bereits oben gesehen,35 daß hier Theorie und Analysenpraxis sich nicht decken. Ein erster Schritt auf die Auflösung der Linearität hin stellt die Tatsache dar, daß über die lois de rattachement ein Diphon ein isoliertes Phonem als Satellit an sich binden kann, das durch andere Phoneme von ihm getrennt ist: die Dispersion dringt so auch in die Polyphone ein. Aber auch vor dem Diphon macht sie nicht halt, dessen Elemente entgegen allen theoretischen Erörterungen in zahlreichen Analysen voneinander getrennt auftreten. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Vertauschung der Reihenfolge der das Diphon ausmachenden Elemente — und auch dieser Schritt wird in Saussures Analysen getan. In bezug auf das Anagramm besteht somit die Linearität selbst für das Diphon nicht mehr — oder allerhöchstem als theoretisches Leitbild, das zwar so weit als möglich, aber eben nicht immer eingehalten wird. In anderer Hinsicht ist die Aufhebung des Linearitätsprinzip s bezüglich des Polyphons wahrscheinlich nicht vollzogen worden. Zwar fragt sich Saussure, ob ein Triphon wie TAE z.B. aufgrund einer „achronischen" Lesung aus den Diphonen TA und TE gewonnen werden könne: 90 Peut-on donner TAE par ta + te, c'est-a-diie inviter le lecteui non plus a une juxtaposition dans la consecutivite, mais a une moyenne des impressions acoustiques hois du temps? hors de l'ordre dans le temps qu'ont les elements? hors de l'ordre lineaire qui est observe si je donne TAE par TA-AE ou TA-E, mais ne Test pas si je le donne par ta + te ä amalgamer hors du temps comme je pourrais le fake pour deux couleurs simultanees. Mercure350 (1964), 254/55
An einer anderen Stelle bleibt Saussure jedoch nicht bei der Frage stehen; er weist die Möglichkeit mit aller Entschiedenheit zurück: 35 Cf. p. 35 ss. 81
91 ... Le 2e sens de diphone, c'est que des formes:
ou:
TRA par CLO par PAE par
ne peut pas constituer chronisme
ta + ra co + lo pa + pe
Cas qui reviennent a fake une combinaison anti-chronique ou achronique des formes. Ce n'est pas par un „amalgame" comme pourrait 1'etre celle d'une figure peinte. Paragone 218 (1969), 126
Es fällt allerdings schwer, diese Ablehnung Saussures zu verstehen. Das Anagramm — auch wenn es auf Diphonen aufbaut — ist doch im Normalfall eine achronische Lektüre eines Textes, die Dispersion und Inversion überwinden muß. Wenn nun schon Dispersion und Inversion in bezug auf das Diphon (Polyphon) möglich sind, warum sollte dann das Polyphon nicht auch noch auf einer achronischen Lesung zweier Diphone beruhen können? Was man in bezug auf die Linearität aufgeben kann, das ist ja bereits anderweitig aufgegeben worden! Zumindest eine Konzession in dieser Hinsicht finden wir übrigens in einer Analyse zu Plautus, in der es um ein Anagramm zu Glaphyriane geht (Ms. fr. 3966): 92 A remarquer preliminairement que le groupe initial gla ne peut presque pas recevoir d'antiphone par la rarete d'un tel groupe et que partout oü on le trouve (glanum dans un passage d'Ennius) il se produit quelque solution personnelle de ce gla. Ici eile consiste a donner ga + la, et a ajouter des groupes ± semblables. Ms. fr. 3966
Zusammenfassend kann wohl gesagt werden, für das Anagramm existiere das sonst für das sprachliche Zeichen gültige Linearitätsprinzip nicht: für die Relation der Diphone (Polyphone) untereinander wird es von Saussure nirgends gefordert; in bezug auf die Konstituenten der Diphone (Polyphone) besteht zwar von seiten Saussures die theoretische Prämisse einer Wahrung der Linearität, in der Praxis hält er sich aber dann oft nicht daran. Das Anagramm hebt sich durch diesen Verzicht auf das Kontinuitätsprinzip deutlich vom sprachlichen Normalzeichen in Saussures Konzeption ab: wir haben hier eine besondere Gesetzlichkeit des dichterischen discours, die allerdings nicht als Ersatz, sondern nur als Ergänzung der normalsprachlichen Gegebenheiten zu betrachten ist: ohne den diesen unterworfenen Basistext wäre das sekundär überlagerte Anagramm überhaupt nicht möglich.
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Nun fragt es sich allerdings noch, ob wir mit dieser Opposition von normalem Zeichen und Anagramm hinsichtlich der Linearität Saussures Auffassung wirklich gerecht werden. Es ist nämlich behauptet worden, im Cours bezögen sich die Aussagen über die Linearität gar nicht auf die den Signifikanten ausmachenden Phoneme, sondern auf die Abfolge der Signifikanten resp. Moneme („Wörter") innerhalb einer Aussage.36 Daß das Linearitätsprinzip (mit den oben gemachten Einschränkungen) auch für die Abfolge der Moneme Gültigkeit hat, dürfte auf der Hand liegen; es ist denn auch nicht schwer, diese Sicht im Cours zu belegen, cf. z.B.: 93 D'une part, dans le discours, les mots contractent entre eux, en vertu de leur enchaihement, des rapports fondes sur le caractere lineaire de la langue, qui exclut la possibilite de prononcer deux elements a la fois . .. Ceux-ci se rangen t les uns a la suite des autres sur la chaihe de la parole. Ces combinaisons qui ont pour support Petendue peuvent etre appelees syntagmes. . . . CLG,p. 17037
Es fragt sich nur, ob dies die einzige Sicht der Linearität im Cours ist. Wenn man wie Rossi die folgende Aussage von Godel isoliert zitiert, könnte man zu diesem Schluß kommen: 94 Saussure n'a done retenu, du caractere lineaire, que l'aspect qui seul l'interessait: l'aspect grammatical. Dans un signe simple, quel qu'il soit (mot indecomposable, prefixe, desinence, etc.), Pordre des unites irreductibles n'est pas libre; mais il ne joue aucun röle dans le mecanisme de la langue. Godel, SM, p. 204
Aber dieses Zitat ist aus dem Zusammenhang herausgelöst; es geht zwar Godel darum, zu betonen, daß hinsichtlich der Linearität im Cours das Zeichen und nicht das Phonem im Vordergrund stehe. Die Absolutheit der obigen Aussage wird im folgenden aber weitgehend zurückgenommen, denn Godel führt auch ein Beispiel aus dem CLG an, wo die Phonemfolge eine Rolle spielt:38 Saussures Analyse der Opposition Nacht lvl Nächte: 95 On pourrait parier de differences plutöt que de rapports: les differences sont 36 Cf. z.B. De Mauro, Corso, p. 419 N 145; Rossi, Paragone 218 (1968), 123/24. 37 Der Vulgatatext wird durch die Quellen vollumfänglich bestätigt, die allerdings viel extensiver formulieren (cf. Engler, Ed. crit., p. 277-279 [Einheiten 18831888]). - Für ähnliche Texte cf. Saussure, CLG, p. 103, 145. 38 Cf. Godel, SM, p. 204/05.
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utilisees comme oppositions, lesquelles donnent les valeurs. II y a des differences qu'on peut appelei phenomenes: [Nacht/Nächte (R)]. Mais si on en vient aux unites, ce sont toujours des differences. Bien plus: les caracteres des unites ne se distinguent pas clairement des unites eux-memes. Soit Nächte une unite, et ä un caractere de cette unite, id est une decoupure dans la ligne (la masse parlee en soi informe). G 2.21b/22a [1963/2734] (Engler, Ed.crit., p.274/412)
Godel kommentiert durchaus richtig: „La difference a/a n'est pas moins ressentie comme significative par les sujets parlants. Comment peut-elle 1'etre, sinon parce que ä occupe, dans l'une des chaines acoustiques, la meme position que a dans 1'autre? Done, le principe de linearite", qui regit l'assemblage des unites, permet egalement, entre des signes ou des series de signes opposables, un jeu de differences ä l'interieur des signifiants. Dans ce cas, et la seulement, l'ordre linoaire des „phonemes" entre en consideration pour 1'analyse linguistique."39 Somit spielt auch die Folge der Phoneme im Cours eine Rolle, Saussure ist sich ihrer linearen Anordnung durchaus bewußt. Aber — und dies ist die wichtige Bedeutung von Godels Schlußsatz — er zieht sie nur dort in Betracht, wo sie für die analyse linguistique von Bedeutung ist; linguistische Analyse heißt für ihn aber immer „Analyse von signes", nicht von .figures": nur die Zeichen (Moneme, Wörter) sind für Saussure Gegenstand der Linguistik, die Phoneme dagegen nicht. Damit löst sich der Widerspruch zwischen dem Cours und den obigen Anagrammzitaten (Nrn. 87—91) auf. Für Saussure besteht die lineare Abfolge sowohl für die Phoneme wie für die Moneme. Im Cours stehen aber im Prinzip nur die Moneme zur Diskussion — nur sie sind für Saussure Gegenstand der Linguistik; die Phoneme kommen nur dort in Betracht, wo sie eine einem Bedeutungsträger ähnliche Funktion ausüben. Ganz anders bei den Anagrammen. Hier geht es nicht um Linguistik, sondern um Dichtung; die Phoneme sind also nicht praktisch a priori ausgeschlossen. Dann geht es nicht um die Abfolge von Monemen, sondern um die Dispersion resp. Restitution eines Signifikanten aufgrund seiner Bauelemente:40 die Phoneme und ihre lineare Abfolge müssen also im Vordergrund stehen. Mit unserer Gegenüberstellung von normalen und anagrammatisierten Zeichen hinsichtlich des linearen Charakters seines Signifikanten haben wir zwar gewisse Akzente anders gesetzt, aber Saussure nichts ihm Fremdes unterstellt. 39 Cf. Godel, SM, p. 205. 40 Cf. hierzu auch unten, p. 94 s.
84
2.3
Die Beziehung zwischen „signifio" und „signifiant"
In seiner Anagrammtheorie verzichtet Saussure nicht nur auf das für den Normalgebrauch des sprachlichen Zeichens gültige Linearitätsprinzip, auch die Frage der Beziehung zwischen signifie und signifiant, zwischen der inhaltlichen und der expressiven Seite des Zeichens, erscheint in einem ganz anderen Licht. Sowohl signifie (concept) wie signifiant (image acoustique) sind rein psychischer Natur;41 sie sind weder mit dem physikalischen Lautkontinuum noch mit der bezeichneten „Sache" identisch, sondern haben als Klasse oder „Verdichtung" von Erinnerungsspuren in den beiden Bereichen zu gelten,42 wobei diese Klassierungen auf sprachimmanenten Kriterien beruhen. Die Beziehung zwischen den beiden Teilen des Zeichens wird von Saussure als eine äußerst enge gesehen: 96 Ces deux elements sont intimement unis et s'appellent Tun l'autre. Que nous cherchions le sens du mot latin arbor ou le mot par lequel le latin designe le concept „arbre", il est claii que seuls les rapprochements consacres par la langue nous apparaissent conformes a la realite, et nous ecartons n'importe quel autre qu'on pourrait imaginer. CLG, p. 99
An anderer Stelle wird Saussure noch deutlicher: das Band zwischen signifie und signifiant erscheint ihm nicht nur als sehr eng, sondern als absolut notwendig für die Existenz der sprachlichen Einheit: 97 L'entite linguistique n'existe que par Fassociation du signifiant et du signifie... ; des qu'on ne retient qu'un de ces elements, eile s'evanouit; au lieu d'un objet concret, on n'a plus devant soi qu'une pure abstraction. A tout moment on risque de ne saisir qu'une partie de Pentite en croyant 1'embrasser dans sa totalite; c'est ce qui arriverait par exemple, si divisait la chaihe parlee en syllabes; la syllabe n'a de valeur qu'en phonologic. Une suite de sons n'est linguistique que si eile est le support d'une idee;. .. CLG, p. 14443
Fehlt das Band zwischen signifie und signifiant, betrachte ich die beiden Komponenten des Zeichens für sich, dann zerstöre ich das sprachliche Zeichen als solches; mein Untersuchungsgegenstand ist dann — in Saussures 41 Cf. Saussure, CLG, p. 98. 42 Cf. Gauger, Wort, p. 65 ss.; vgl. ferner Gabelentz, Sprachwissenschaft, p.63/64,210. 43 Vgl. auch CLG, p. 162.
85
Sicht - nicht mehr linguistischer Natur, sondern gehört je nachdem in den Bereich der Psychologie oder der Phonetik bzw. Phonologie.44 Das Band zwischen signifle und signifiant erweist sich somit als absolut notwendig, als necessaire, wie Pichon und Benveniste sagen;45 die beiden Komponenten sind — nach Hjelmslevs Terminologie — solidarisch. 4 6 Dieser notwendige Charakter des Bandes zwischen signifiö und signifiant widerspricht nun der berühmten Definition Saussures keineswegs, nach der das Zeichen arbiträren Charakter hat, obwohl dies verschiedentlich behauptet worden ist. Wenn es im Cours heißt: 98 Le lien unissant le signifiant au signifie est arbitraire, ou encore, puisque nous entendons par signe le total resultant de l'association d'un signifiant a un signifie, nous pouvons dire plus simplement: le signe linguistique est arbitraire. CLG, p. 10047
dann hebt der erste Teil dieses Zitats die Notwendigkeit des Bandes keineswegs auf; wie die Fortsetzung zeigt, sieht Saussure den arbiträren Charakter des Zeichens vielmehr in der Tatsache, daß einem bestimmten signiein bestimmtes signifiant zugeordnet ist (oder umgekehrt) und nicht irgend ein anderes: es gibt keine „natürliche", „logische" o.a. Beziehung zwischen den beiden Teilen des Zeichens als eben das notwendige Band, das sie verbindet. Der arbiträre Charakter dieser Zuordnung besteht nun sowohl in bezug auf die Entstehung; des Zeichens als auch in bezug auf sein Sein innerhalb eines bestimmten Sprachzustandes — und gerade dieser Punkt ist es, der das sprachliche Zeichen dem willentlichen Zugriff sowohl des Individuums wie der Masse entzieht: 99 Non seulement un individu serait incapable, s'il le voulait, de modifier en quoi que ce soit le choix qui a ete fait, mais la masse elle-meme ne peut exercer sä souverainete sur un seul mot; eile est liee a la langue teile qu'elle est.
CLG, p. 104
44 Cf. auch oben, p. 84. Vgl. ferner Godel, SM, p. 190, Malmberg, Tendances, p.67. 45 Cf. Pichon, JPs. 34 (1937), 25-48, bes. 25-30; Benveniste, A L l (1939), 23-29; vgl. auch Engler, CFS19 (1962), 22-24 und De Mauro, Corso, p. 414-16 (N 138). 46 Cf. Hjelmslev, Prolegomenes, p. 71 ss. - Der Solidarität von Hjelmslev entspricht in etwa die coalescence bei Pichon, cf. loc. dt. (N 45). 47 Der Wortlaut dieser umstrittenen Stelle ist durch die Quellen ausreichend gesichert (cf. Engler, Ed. crit., p. 152 [1122/23]. - Zur Geschichte des Arbiträrietätsbegriffs cf. Coseriu, ASNS 204 (1967), 81-112. 86
Das sprachliche Zeichen ist in Saussures Sicht somit nicht nur arbiträr, sondern gleichzeitig auch konventionell und imperativ.48 Alle drei hier besprochenen Züge der Beziehung zwischen signifie und signifiant werden nun hinsichtlich der Anagramme im einen oder anderen Sinne relevant. Die Auflösung des signifiant, seine Zerlegung in Bausteine und deren Dispersion in einem aus anderen Zeichen bestehenden Text setzt voraus, daß auf das notwendige Band zwischen signifie und signifiant zumindest vorübergehend verzichtet wird.49 Bei der Analyse des signifiant in Diphone (Polyphone) und Phoneme unterschreite ich die Grenze der Moneme und verlasse damit den Bereich der im Sinne Saussures sprachlichen Zeichen: das Ergebnis dieser Zerlegung sind keine signes mehr, nicht mehr Einheiten, deren expressivem Teil ein inhaltlicher Teil entspricht, sondern Bruchstücke eines signifiant, die allein distinktive Funktion haben (figures). Wenn aber kein Signifikat mehr da ist, dann gibt es auch kein Band mehr zwischen den beiden Teilen des Zeichens: es ist im Moment der Zerlegung des Signifikanten gelöst worden. Nimmt man an, der Dichter sei so vorgegangen,wie Saussure es sich vorstellt (d.h. daß er sein Leitwort zuerst „zerlegt" und dann die Elemente durch entsprechende Wortwahl in seinem Text untergebracht hat50), stellt diese Sicht allerdings insofern eine Abstraktion dar, als der Verlust des signifie nur dann eintritt, wenn ich vom Bewußtsein des Dichters abstrahiere und das (zerlegte) Zeichen isoliert betrachte; für den Dichter selbst dagegen ist das signifie, ja sogar das Zeichen als Ganzes auch bei einem zerstreuten Signifikanten präsent. Anders liegen dagegen die Dinge für den Leser, der sich u.U. den Signifikanten zuerst aus den Bruchstücken und ohne Kenntnis des Signifikats zusammensetzen muß.51 Daß das Band zwischen signifie und signifiant überhaupt gelöst werden kann resp. der Leser die Möglichkeit hat, es wieder zu knüpfen, dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß die Zuordnung der beiden Teile des Zeichens arbiträr ist52 und gleichzeitig konventionellen Charakter hat; wäre dem nicht so, könnte der von Saussures Theorie voraus48 Zur Diskussion um den arbiträren Charakter des Zeichens cf. Godel, SM, 193196, 235, 242/43, 254/55; Englei, CFS 19 (1962), 5-66; CFS 21 (1964), 25 ss. undLexique, p. 13/14; Gauger, Wort, p. 90 ss.; Greimas, Sens, p. 49, 50, 72. 49 Ich bezeichne hier mit signifie sowohl die inhaltliche Seite des normalen Zeichens, das bedeutet, wie auch die des Namens, der bezeichnet. - Für die Lösung des Bandes cf. auch Bachmann, NZZ 99/1970, p. 51. 50 Cf. oben, p. 12/13, und unten, p. 88/89. 51 Cf. unten, p. 94/95. 52 Cf. auch Nava, CFS 24 (1968), 74.
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gesetzte Mechanismus nicht ablaufen. Ohne Arbiträrietät, beim Vorhandensein einer kausalen oder wesentlichen Beziehung zwischen den beiden Teilen des Zeichens,wäre es nicht möglich, Signifikanten in von jeder inhaltlichen Komponente befreite Bruchstücke zu zerlegen und diese in Einheiten von vollkommen verschiedener Gesamtbedeutung unterzubringen. Ohne Konventionalität würde es sich als unmöglich erweisen, dem aus Bruchstücken restituierten Signifikanten seine inhaltliche Seite in allgemeinverbindlicher Weise wieder zurückzugeben. Die drei in Saussures Konzeption für das Zeichen entscheidenden Faktoren — Notwendigkeit des Bandes, Arbiträrietät und Konventionalität — erfahren beim Anagramm somit ein ganz verschiedenes Schicksal: die Notwendigkeit des Bandes wird aufgehoben, um überhaupt zu einem „zerstreuten" Anagramm gelangen zu können, Arbiträrietät und Konventionalität sind dagegen weiterhin von entscheidender Bedeutung, denn nur dank ihnen sind die von Saussures Theorie bei der ecriture und lecture vorausgesetzten Mechanismen möglich. Mit den Hinweisen auf die ecriture und lecture haben wir aber etwas vorgegriffen. Wir haben uns bis jetzt mit dem ausschließlich auf das Zeichen bezogenen Mechanismus des Anagramms befaßt, unter Ausschluß des Bewußtseins von Dichter oder Leser. Wenn wir nun auch diese Faktoren in Rechnung stellen, dann können wir die ganze Anagrammtechnik mit Levi-Strauss und Starobinski als bricolage bezeichnen,53 und zwar in dem Sinne, als sowohl der Dichter wie der Leser von einem einen „Text" bildenden, vorgegebenen Inventar von Bauelementen ausgehend versuchen müssen, diese Elemente in einem veränderten Kontext einzusetzen, einen neuen „Text" aus ihnen zu schaffen. Sowohl die Tätigkeit des Dichters wie auch die des Lesers erinnern in der Tat an ein Basteln; trotz dieser Gemeinsamkeit ist aber die Bastelei bei der ecriture nicht vollkommen identisch mit derjenigen bei der lecture. Befassen wir uns zuerst mit dem Dichter, dessen Tätigkeit bei der Anagrammatisierung eines Textes von Saussure folgendermaßen umschrieben wird: 100 1. Avant tout, se penetrer des syllabes, et combinaisons phoniques de toute espece, qui se trouvaient constituer son THfeME .. . Le poete doit done, dans cette premiere operation, mettre devant soi, en vue de ses vers, le plus grand nombre de fragments phoniques possibles qu'il peut tirer du theme; par exemple, si le theme, ou un des mots du theme, est Hercolei, U dispose des fragments
53 Cf. Levi-Strauss, Pensee sauvage, p. 28 und Starobinski, Jakobson III, 1915/16. 88
-lei-, ou -co-; ou avec une autre coupe des mots, des fragments -öl—, ou er; d'autre part de rc ou de cl, etc. 2. II doit alors composer son morceau en faisant entrer le plus grand nombre possible de ces fragments dans ses vers, p. ex. afleicta pour rappeler Herco-lei; ainsi de suite. Tel Quel 37 (1969), 10
Da es sich hier um den Dichter handelt, der sein Leitwort kennt, der mit ihm arbeitet, ist auch sein Bewußtsein in Rechnung zu stellen. In seinem bricolage, bei seiner Analysiertätigkeit bleibt das signifie seines Leitwortes immer bewußtseinspräsent, und damit auch das signifiant als Ganzes. Das „signifiant als Ganzes" bedeutet aber das signifiant als Form, als distinktive Einheit, die sich von allen anderen Signifikanten des Systems unterscheidet. Doch das signifiant ist nicht nur Form, es ist gleichzeitig auch Substanz,54 und in dieser Hinsicht geht seine Einheit nun verloren. Als substanzhafte Elemente aus der Sicht des signifiant als Ganzen sind die Diphone (Polyphone) resp. die Phoneme anzusehen, und diese werden nun isoliert in eine Sequenz anderer signes eingebaut oder besser in diese hineinprojiziert. Unter seinem substantiellen Aspekt wird so das signifiant diskontinuierlich. Der Dichter setzt also neben sein ganzheitliches, eine formale Einheit bildendes (und mit dem zugehörigen signifie verbundenes) signifiant ein zweites, das in seiner Substanz gesehen wird, aufgelöst ist und nicht direkt mit dem signife in Bezug steht, sondern nur über die Vermittlung des ersten, formalen Signifikanten. In einem gewissen Sinne ist diese Erscheinung der Überlagerung der Schrift über den lautlichen Signifikanten vergleichbar — wenigstens was den Bezug zum Signifikat angeht; daneben gibt es aber auch entscheidende Unterschiede: bei der Schrift haben wir zwei verschiedene Medien (lautlich/schriftlich), hier nur eines (lautlich); bei der Schrift bleibt die Kontinuität bewahrt, hier nicht; usw. Wesentlich am ganzen Prozeß der ecriture, den man als onomasiologisch bezeichnen könnte, ist die Tatsache, daß sein Resultat einen diskontinuierlichen, hinsichtlich seiner Gesamtheit substantiell gesehenen Signifikanten darstellt, der keinen direkten Bezug zum Signifikat hat. Hinter oder unter diesem Oberflächenresultat liegt aber für den Dichter und sein Bewußtsein immer das anagrammatisierte Zeichen in seiner Ganzheit. Anders stellen sich die Dinge aus der Sicht des Lesers dar, dessen lecture als semasiologischer bricolage bezeichnet werden könnte. Der Leser befindet sich vor der Ermittlung des in seinem Text enthaltenen Ana54 Zu Form und Substanz hinsichtlich des Anagramms cf. unten, Kapitel 2.4.
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gramms in einer Situation, in der das Leitwort als Ganzes (und damit auch das signifie des in seinen Text eingestreuten Anagramms) unbekannt ist; dies trifft nicht nur für das Anagramm ohne im Text figurierendes Leitwort zu, sondern auch dann, wenn wir (im strengen Sinn) ein Hypogramm haben: selbst bei im Text vorhandenem Leitelement „weiß" der Leser zu Beginn seiner Lektüre noch nicht, ob ein solches überhaupt vorhanden ist und — wenn ja — um welche der Einheiten es sich handelt. Alle diese Fragen kann er erst nach dem Identifikationsakt beantworten. Der Leser geht also von einer Situation aus, in der er nichts als Lautbilder (images acoustiques) und Bruchstücke von Lautbildern vor sich hat; welche von ihnen für seinen Zweck brauchbar und welche unbrauchbar sind, weiß er noch nicht. Aufgrund von Vergleichen und Versuchen, und geleitet durch das Thema des Textes sowie das Lautbewußtsein und die darauf gründenden Assoziationsmechanismen wird dann eine gewisse Zahl von Lautelementen selektioniert und richtig geordnet, der Rest dagegen eliminiert. Aus diesem auf den substantiellen Einheiten des signiflant aufbauenden Prozeß ergibt sich dann das gesuchte signiflant als Ganzes, als Form, und damit stellt sich auch automatisch das assoziierte signifie ein; das Zeichen ist in seiner Ganzheit auch in seinem sprachlichen Normalcharakter zurückgewonnen. Lecture und ecriture, semasiologischer und onomasiologischer Prozeß erweisen sich so als eng miteinander verwandt, aber der eine stellt nicht einfach die Umkehrung des anderen dar. Wohl geht bei der ecriture der Blick vom Zeichen als Ganzem (Leitelement) zum verstreuten Signifikanten, bei der lecture vom verstreuten Signifikanten zum Zeichen als Ganzem, aber die beiden Prozesse unterscheiden sich ganz erheblich hinsichtlich der Präsenz des Leitelements im Bewußtsein des Operators (Dichter, Leser): für den Autor ist dieses immer vorhanden, also auch nach der Dispersion des signiflant in einem Text, für den Leser dagegen existiert es erst im Moment des Abschlusses des kryptologischen Prozesses. Eine weitere Unterscheidung der Prozesse ergibt sich für die Fälle, wo dem anagrammatisierten Signifikanten nicht e i n mit dem Signifikat identisches Semem entspricht, sondern das signifie verschiedene Sememe umschließt — also die Fälle, wo Homonymie oder Polysemie vorliegt.55 Für den Autor ist in diesem Falle von vornherein klar, um welches Semem aus dem Gesamtsignifikat es für ihn geht, er kann das Semem unter Umgehung des Signifikats direkt mit dem Signifikanten in Beziehung setzen. So braucht es ihn z.B. bei einem Anagramm für Scipio nicht zu kümmern, 55 Für die Scheidung von Homonymie und Polysemie cf. Heger, ZRPh. 85 (1969), 176 ss. 90
daß es mehrere berühmte Träger dieses Namens gegeben hat (z.B. Scipio Barbatus, Africanus, Aemilianus, Nasica): für ihn baut das Anagramm direkt auf dem Namen des Gemeinten (» Semem) auf. Anders für den Leser: für ihn werden bei der Entzifferung des Anagramms zuerst einmal alle ihm bekannten Scipionen in den Blick treten (« Signifikat), und erst ein Rückgriff auf den Kontext (und allenfalls auch auf die äußere Situation des Textes) wird ihm (vielleicht) erlauben, den Gemeinten (* Semem) zu identifizieren.56 Ein weiterer Unterschied zwischen ecriture und lecture besteht darin, daß wir es hinsichtlich des signifiant des anagrammatisierten Zeichens im ersten Fall mit einem analysierenden, im zweiten mit einem synthetisierenden Prozeß zu tun haben: der Dichter zerlegt den Signifikanten in Bauelemente und „verteilt" diese in einem Text; der Leser dagegen sucht sich diese Bauelemente im Text zusammen und verschmilzt sie wieder zu einem homogenen Signifikanten. Hinsichtlich der Art des Prozesses läßt sich so die anagrammatische Lesung eines Textes mit dem vergleichen, was Saussure im Cours Agglutination nennt57 (z.B. vertjus > verjus, des ja > dejä, usw.). Sie wird im Skript von Riedlinger folgendermaßen definiert: 101 [L'agglutination est] la tendance mecanique de la langue, si un concept compose lui est donne dans un signe determine, de le rendre simple, indecomposable, la tendance de prendre le chemin de traverse, la simplification de l'idee: de deux ou trois donnees on finit par ne plus apercevoir que celle < qui est > entendue. I R 2.83 [2684] (Engler, Ed.crit., p. 404)
Wenn auch der Mechanismus ähnlich ist, so besteht aber doch ein entscheidender Unterschied hinsichtlich des Gegenstandes: bei der Agglutination gehen wir von Syntagmen aus, wir haben eine Verschmelzung von Zeichen, während bei der anagrammatischen Lesung Bruchstücke eines Signifikanten wieder zu einem einheitlichen Signifikanten verschmolzen werden. Weitere Unterschiede ergeben sich daraus, daß bei der Agglutination die Elemente eine Sequenz bilden, während sie bei der lecture verstreut sind, und daß die Agglutination eine in den Bereich der Diachronie gehörende Erscheinung ist, während die lecture anagrammatique eine auf einem dichterischen discours beruhende Aktualisierung innerhalb einer bestimmten Synchronie darstellt. 56 Für diesen Unterschied zwischen semasiologischem und onomasiologischem Prozeß cf. Heger, ZRPh. 80 (1964), 486-516. 57 Cf. CLG, p. 242/43. 91
2.4
Das Wechselspiel zwischen Form und Substanz
Wir haben bereits oben kurz darauf hingewiesen, daß die Anagrammtechnik sowohl bei der ecriture wie bei der lecture einen Wechsel zwischen formaler und substantieller Betrachtung des Zeichens voraussetzt;58 dieser Punkt soll nun hier noch etwas weiter ausgeführt werden. Auszugehen ist ohne jeden Zweifel von einem der berühmtesten Sätze des Cours, der besagt, daß die Sprache nicht Substanz, sondern Form sei: 102 . . . la langue etant ce qu'elle est, de quelque cote qu'on l'aborde, on n'y trouvera rien de simple; partout et toujours ce meme equilibre complexe de termes qui se conditionnent reciproquement. Autrement dit, la langue est une forme et non une substance . .. CLG, p. 168/69
Weniger prägnant formuliert, aber inhaltlich identisch, ist die einzige in Frage kommende Quelle: 103 ...lelangage n'offre aucun de ses manifestations une
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Vor allem das zweite Anagramm ist eindrücklich, weil hier eine der kompliziertesten Formen in Saussures Konzeption realisiert wird: wir haben zum Anagramm ein Mannequin, das zudem noch alle übrigen Elemente des Anagramms umschließt — als ein Fall von Paiamorphie; zudem finden sich sämtliche Elemente in der richtigen Reihenfolge hinsichtlich des Leitwortes. Saussures Beschränkung auf gewisse Kulturkreise und Teilgebiete der Literatur (im weitesten Sinne) läßt sich also ebenfalls nicht aufrechterhalten. Und noch in einem weiteren Punkt ist Saussure zu weit gegangen: hinsichtlich der Annahme, daß jede Entsprechung, jede Struktur auf ein bewußtes Wollen des Autors zurückgehe. Sicher kann ein Wollen nicht einfach ausgeschlossen werden. Wenn z.B. Baudelaire in einem Spleen-Gedicht im Vers L 'ennui, fils de la morne incuriosite seinen Verleger bittet, fils durch fruit zu ersetzen und beifügt: „Cette correction a une valeur pour moi",2 dann haben wir hier die bewußte Schaffung einer lautlichen Entsprechung (Jwi/-/wi/). Daneben dürfen und können aber auch die Intuition, der Zufall nicht ausgeschlossen werden. Bei den obigen Werbetexten ist sicher nicht anzunehmen, daß sie im Hinblick auf eine exakte Anagrammatisierung des Namens der Zigarette konstruiert wurden; aber eine intuitive Anlehnung an seine Lautgestalt, neben einigen bewußt geschaffenen Anklängen, hat dann eben zum festgestellten Resultat geführt. Starobinski faßt diese Sachlage in bezug auf Saussure ausgezeichnet zusammen: 174 Mais peut-etre la seule erreur de Saussure est-elle d'avoir si nettement pose Falternative entre „effet du hasard" et „precede conscient". Pourquoi ne pas, en l'occurrence, congedier aussi bien le hasard que la conscience? Pourquoi ne verrait-on pas dans Fanagramme un aspect de processus de la parole, processus ni purement fortuit ni pleinement conscient? Pourquoi n'existeraitil pas une iteration, une palilalie normales, qui projetteraient et redoubleraient dansle discoursles materiaux d'une premiere parole a la fois non prononcee et non tue? Faute d'etre une regie consciente, I'anagramme peut neanmoins etre consideree comme une regularite (ou une loi) quasi naturelle ... Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 31/32
Sicher: das Anagramm kann als eine natürliche, im Unbewußten ablaufende Gesetzmäßigkeit angesehen werden, ein System von Anklängen, das im Einzelfall aber auch teilweise (oder gar ganz) bewußt gemacht werden kann. Über die vom beschränkten Inventar der Phoneme und 2 Baudelaire, Correspondence II, 41; cf. Frey, NZZ 460/1970, p. 49. 154
Phonemgruppen gegebene Wahrscheinlichkeit von Anklängen und Entsprechungen hinaus erfährt so das Anagramm eine zusätzliche Aktivierung und Kondensierung im literarischen Text. Der Autor erscheint so als derjenige, der bewußt und unbewußt dem Zufall nachhilft. Wir dürfen wohl feststellen, daß Saussure bei seiner Suche nach dem Gesetz, nach dem Mechanismus der Poesie und der Literatur im allgemeinen nicht prinzipiell in die Irre gegangen ist; er hat nur eine allzu exakt formulierte Gesetzlichkeit gesucht, er ist zu absolut vorgegangen und hat seine Thesen zu eng gefaßt. Eliminiert man diese Exzesse, so kommt man zu einem Resultat, das von Starobinski folgendermaßen umschrieben wird: 175 On vient ainsi a constater que tout discours est un ensemble qui se prete au prelevement d*un sous-ensemble: celui-ci peut etre interpreter a) comme le contenu latent ou l'infrastructure de Fensemble; b) comme l'antecedent de Fensemble. Starobinski, Tel Quel 37 (1969), 33
Saussure ist zweifellos einer wichtigen Gesetzlichkeit auf die Spur gekommen, wenn er auch über das Ziel hinausgeschossen hat. Von seinen Nachforschungen bleibt als gültiges Resultat, daß er die paradigmatischen und syntagmatischen Verflechtungen des Textes und seiner Einheiten erkannt hat, daß es für ihn diese Beziehungen sind, die den Sinn eines Textes ausmachen, ihn produzieren, wobei der „Sinn" allerdings nicht auf ein Leitwort beschränkt werden darf, sondern — im Anschluß an die modernen Strömungen - als die Meinung des Textes an sich verstanden werden muß. Saussure hat auch erkannt, daß gewisse Gesetzlichkeiten der Normalsprache für*den dichterischen discours zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt werden: das Linearitätsprinzip, die Untrennbarkeit von signifiant und signi/ , der formale Charakter des Zeichens usw. haben wohl vor und nach Ablauf der sinnproduktiven Mechanismen ihre Gültigkeit; während diese aber ablaufen und von den ihnen zugrundeliegenden Strukturen her können sie (müssen jedoch nicht in jedem Fall) aufgehoben werden. Saussures Erkenntnisse und Resultate sind in diesem Bereich immerhin derart bedeutend, daß Roman Jakobson bereits eine Publikation des gesamten Materials gefordert hat.3 Die obige Darstellung hat auch gezeigt, daß Saussures Bestrebungen in dieser Richtung nicht allein dastehen. Schon vor ihm finden sich gewisse Ansätze bei Lautroamont, die — allerdings sehr vage — in eine ähnliche 3 Cf. De Mauro, Corso, p. 316. 155
Richtung zielen, und bei Mallarme* sind die Entsprechungen schon recht zahlreich und auffällig, wobei allerdings unwahrscheinlich ist, daß Saussure diese Ansätze gekannt hat. Das Gleiche gilt - wenigstens für den Anfang - für ähnliche Bestrebungen bei Johann Sebastian Bach im musikalischen Bereich; Meillet macht dann aber in einem Brief vom 7. Februar (1908) Saussure auf diese Tatsache aufmerksam, und dies dürfte ihn zumindest vorübergehend in seinem Vorhaben bestärkt haben.4 Nach Saussure finden wir sehr viele der von ihm erarbeiteten Elemente wieder bei Francis Ponge, der Saussures Versuche bei der Entstehung seiner eigenen Dichtungskonzeption nicht gekannt hat. Auch die Tel-Quel-Leute und die moderne Semiotik (Semiologie) stimmen in zahlreichen Punkten mit Saussure überein, wobei es hier nicht immer einfach ist, zu entscheiden, ob ein direkter Anschluß an Saussure vorliegt, oder ob es sich einfach um folgerichtige Entwicklungen in der Linie Saussure > Hjelmslev > Tel Quel handelt. Auf alle Fälle ist es für die moderne Avantgarde immer möglich, sich auf Saussure zu berufen; daß sie es oft tut, beweist, daß man auch in neuester Zeit zu in verschiedener Hinsicht entsprechenden Resultaten gekommen ist. Dies darf allerdings nicht zu simplizistischen und globalen Gleichsetzungen führen. Wir haben uns immer bemüht, auch auf gewisse Unterschiede hinzuweisen, die die verschiedenen Konzeptionen voneinander trennen; daß mit den angeführten Punkten der Abweichungskatalog noch keineswegs erschöpft ist, versteht sich von selbst: es ging uns nur um ein Abstecken der Positionen im Kontaktbereich mit Saussure, nicht aber um eine exhaustive Darstellung der Literatur- und Dichtungskonzeption bei den erwähnten Vorläufern und Nachfolgern. Wir haben eingangs Saussures Ruhm als eine Art Triptychon dargestellt, das sich mit den Stichwörtern Memoire (Indogermanistik) — Cours (allgemeine Sprachwissenschaft) — Anagramme (allgemeine Literaturwissenschaft) resümieren läßt. Zweifellos ist der letzte der schwächste und unvollkommenste der drei Teile — v.a. auch deshalb, weil er in den Anfängen steckengeblieben ist und nicht einmal das Reifestadium einer Vorlesung erreicht hat. Ich hoffe aber gezeigt zu haben, daß man Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen nicht einfach als Spinnerei abCf. Starobinski, Mercure 350 (1964), 261; Rossi,Paragone 218 (1968), 127: „ .. . Je ne sais si une these d'ici sur YEsthetique de Bach, par Andre Pirro, vous est tombee sous les yeux. On y voit bien comment des preoccupations tout aussi pueriles en apparence que celle de ranagramme obsedent Sebastien Bach, et ne l'empechent pas d'ecrire une musique fortement expressive, mais bien plutot le guident dans le travail de la forme expressive." 156
tun darf: seine hier erbrachte Leistung erweist sich der in den beiden anderen Gebieten erbrachten als durchaus würdig, wenn auch nicht als ebenbürtig. Saussures Anagrammkonzeption kann zwar in ihrer Gesamtheit nicht als gültiges Resultat angesprochen werden; aber gewisse Teile und v. a. ihre sprachtheoretischen Voraussetzungen5 dürfen als entscheidende Fortschritte in Richtung auf eine moderne Literaturkonzeption gelten.
5 Cf. Kapitell.
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165
Index
Accius 16, 54 Achronie 81 Agglutination 91 Akzent 78s. Alkäus 59 AIkman59 Alliteration 23, 61 Anagramm 44ss., 48, 53, 54, lOSss., 108, 109, 110,112,138, 141, 150, 151, 154 u. passim Anakieon 59 Anakrumani 59 Analyse 91 anaphone 13 Anaphonie 13,44ss., 53s., 130,138, 141,150 antigramme 49s., 51 antiphone 59 Arbiträrietät 78, 86, 87, 88, 106,107, 142,150 Argot 12, 13,15, Assonanz 53 Assoziation 90, 95ss., 102,103, 111, 112, 118, 119, 122,124, 125,127, 129, 130,134, 137, - , externe 96 - , interne 96 Assoziationsmechanismus 112, 118, 127,144,145 Ausonius 56s. Bach 156 Bally Ch. 3, 97 BarthesR. 113,120,132 Baudelake 60, 152,154 BaudryJ.-L. 113 Benveniste E. 7, 60, 72
Bewußtsein 87, 88, 89, 90, 104, 138 Bleuler E. 100s. Breal M. 3 bricolage 88, 89 Brugmann K. 4 N 5,5 Buyssens E. 94 N 64 calembour 143 N 74 carmina epigraphies 54 Cäsar 31, 57, 80 Catull 56 Chateaubriand 60,152 Chomsky N. 126 Cicero 31,57, 80 Claudianus 56 Commire J. 57 concept cf. Konzept Constantin E. 100,105 couplaison 42, 61, 63, 66, 74, 111 cryptogramme cf. Kryptogramm culmen 32 Deguy M. 8, 11 Denotation 118 DerridaJ. 113,130, 131, 133 Diachronie 41, 91, 104, 107ss., 111, 127 diaphasisch 116 diastratisch 116 Diasystem 115ss., 150 dia topisch 116 Diphon 23ss., 27, 30, 33, 35-37, 39, 41^4, 47, 48, 51, 79-82, 87, 89, 94-96, 100-102, 111, 112, 129, 151 discows 71, 75-78, 82, 94-96, 107, 112,115,119,122, 133,142,143,155
167
Dispersion 80ss., 84, 87, 90, 128 Dissemination 80 Distanzierung 35, 37,40 Durchsichtigkeit 14ss., 31 ecriture (Schrift) 77 N 24, 78, 88-90, 92,94-96,101,110,113,118, 130ss., 138 Emendation 22 engendrement 120 Engler R. 6 Ennius 16, 54 Etymologie 126 etymologische Assoziation 103, 126 Evolution 108 figure 84, 87, 99 Form 4, 89, 90, 92ss., 111, 138, 155 Formalismus 111, 115 formule 120s., 136 Frei H. 94 N 64, 98 N 72 Freud S. 15 N 14, 100-02 Funktion 4 Gautier L. 9, 15,48, 51, 64, 68, 73 Genotext (geno-texte) 125,134, 145-48, 150 Gestik 78 Godel R. 6, 72, 83s. Grammatologie 133s. GreimasA. J. 115,119 Grundwert 142 GuUlaume G. 77 Harmonie phonique 45,103 Heraklit 59 Hierarchie 120s., 124s. Hildebrandsüed 9, 59 HjelmslevL. 86, 115, 156 Homer 28, 58s., 62 homogramme 49s. Homographie 133, Homonymie 90, 98-100, 133 N 53, 143,143 N 71 Homophonie 53 N 78 Horaz 56 Hypogramm (hypogramme) 44, 45, 46ss., 49, 52, 54, 90
168
image acoustique 85, 90 imperativ 87 Impressionismus 114 indogermanisches a 4 Insistenz 121 Interpolation 21 Intertextualität 117, 119, 139, 146 Intonation 78 Inversion 81 Isotopie 116 Jakobson R. 130, 155 Johnson Th. 57s., 68 Kallimachos 59 kollektiv 140 Kommunikation 110 Komplementarität 115s., 118 Konnotation 115ss., 118s. Konsonant 16s., 19s. Konsum 114,124 Konträrenassoziation 102 konventionell 87 Konzept (concept) 85 KKsteva Julia 114, 117, 128s. Kryptogramm (cryptogramme) 45, 51 Iangue94,99, 104, 115, 126 Laut cf. son Lautbild cf. image acoustique Lautharmonie cf. Harmonie phonique Lautkontinuum 92s. Lautreamont 117 N 17, 139ss., 155 lecture 77, 88, 90, 92, 95, 96, 101, 113,118,136,137,147 Legende 105s. Leitwort 12,14, 27, 32, 42,44s., 47, 50, 77, 90, 95, 96, 102, 107, 112, 129,138,151 Levi-Strauss C. 88 Lexie 98,100,101, 103, 141, 152, Linearität 30,40, 70s., 78ss., 85,111, 117,120s., 124s., 127, 135, 137, 155 Lippi F. 35 Livius 57 Livius Andronicus 16, 24, 54 locus conspicuus 32
locusprinceps 32, 35,48, 51 logogramme 50s. lois de rattachement cf. regies de rattachement Lukrez 56 Malherbe 135 Mallanne 139, 141ss., 155 mannequin 32ss., 48, 50-52, 154 MeUlet A. 3, 7, 8,16, 17, 20, 24, 25, 26, 42, 56, 60, 62, 63, 64, 72, 73, 156 Metathese 38s., 40, 81, 151 Mimik 78 Monem 12, 14, 21, 78, 83, 84, 87, 98, 99, 101, 103,104, 127 Monophon 37,41,46 Naevius 16 Name 152 NavaG. 8, 61, 112 NavilleA. 71 necessaire 86 Nibelungen 9 nombrant 121 Nutzwert 142
Phem 94 N 63, 103 Phonem 12, 14, 16, 23-26, 28, 30, 34, 35, 39, 43s., 74ss., 78, 80, 81, 83, 84, 87, 89, 93, 94, 94 N 63, 95,96,100,101-103, 111,112, 129,138,151,154 Phonetik 86 Phonic 74ss., Ill phonique 75, 78 Phonologic 5, 13, 86 Pindar 59 Plagiat 117,139, 141 Plato 130s. Plautus 29, 55,82 Pleiadell,59 Plinius 57 Plutarch 59 Polizianl5,35,40,57,65s. Polygraphie 133 Polymorphic 100,133 Polyphon 23, 26-30, 36, 43, 44, 79, 82, 87,89, 94s., 96, 129, 138, 151 Polysemie 90, 143 N 71 Ponge F. 103, 113, 120, 125, 134ss., 139,147, 156 Prager Schule 126 Priapea 54
Objektivität HOss., 127 onomasiologisch 89s. Osthoff H. 5 Otfrid 59 Ovid 56
Prieto L. J. 107 N 98
Pacuvius 16, 54 Paradigmatik 102, 115,117, 122, 125-128,137,147,148 Paragramm (paragramme) 44-46, 49, 54, 130 paramorphe 32, 48, 52, 54 paraphone 13 parole 76-78, 126 Pascoü G. 9, 29, 33, 34, 39, 58, 65, 68, 70, 80 Pause 149 performance 76 Petron 57 Phanotext (pheno-texte) 71, 74, 95, 121, 125,134, 145-148, 150
Qualität 16 Quantität 16
Produktion 114, 129 Programm 127,129 Psychologie 86 Psychopathologie 100
Rastier F. 22 N 26 Redebedeutung 142 Redundanz 31, 102 regies de rattachement 36, 37, 39 N 57, 40, 81 Rekursivität 30, 80 Reminiszenz 117 Revolution 108 RicardouJ. 113 RiedlingerA. 3, 73, 91, 100 Rigveda31,59 Robbe-Grillet A. 113,134
169
Rossi A. 8, 65s., 70, 71, 83 Rousseau J.-J. 130s. Sandhi21 Sanskrit 13, 59 Sappho 59 saturnischer Vers 16, 23, 23 N 26, 58, 61s. Savastanus 57 Schrift cf. ecriture Sechehaye A. 3, 97 Sem 94 N 64, 99, 101, 103 Semanalyse 112, 114, 117, 128 Semantik 77 semasiologisch 89s. Semem 90s., 99s. Semiologie71, 106s., 109, 110, 111, 114, 133,134 Semiotik 107,111, 112, 114ss., 118, 119,156 Seneca 56, 66 signe (Zeichen) 84, 87, 89, 92, 99, 106, 117, 128 signifiant (Signifikant) 14, 15s., 21, 26, 85ss., 93ss., 95, 96, 98, 99, 100, 101,103,107, 111, llSss., 121, 123, 126, 128, 130,135, 138, 142, 146,155 signifiant du signifiant 14, 15,132 signifie (Signifikat) 26, 85ss., 93ss., 94 N 64, 96, 98-101, 103,111, 115ss., 128, 130, 135, 142, 146, 155 Silbe 43, 51 Simonides 59 Sinnproduktion 123s., 125, 133, 144 solidarisch 86 Sollers Ph. 113,125,134 son 74s., 78 Sonant 4 sonantisches on 4 sozialer Charakter des Anagramms 104ss., 111,127,140 Stamm 100 Starobinski J. 7s., 59, 60, 61, 88, 114,152,154,155 Statius 56 Streitberg W. 3
170
Strukturalismus 111, 116,117,126 Subjektivismus lllss. Substanz 4, 75,78, 89, 92ss., 111, 138 succession asyndetique 80 Sueton 67 Suppletion 100 sva 5 Syllabogramm (syllabogramme) 32, 48,51,52 Symbol 105-110 Synchronie 41, 91,103s., 127 Synonymic 98s., 133 N 53 Syntagma 21, 91 Syntagmatik 102,103, 115,117,119, 122, 126-28, 130, 135,136, 137s., 147s. Syntax 5 Synthese 91 Tacitus 57 TelQuel 10, 113ss., 134-36, 139, 140, 144, 145, 147,152, 156 Textüberlieferung 21 Theognis 59 ThibaudeauJ. 113 Tibull 56 Triphon 24 Unbewußtes 101 Ursprung (religiöser) des Anagramms 42 Valerius Maximus 57 valeur (Wert) 141, 142, 144
Veda21,31 Vergil 34, 56 Vers 148ss. Versprechen 15 N 14,100s. Virtualität 142, 150 Vokal 16ss. Voltaire 11 Vorbewußtsein 104, 137s. Wahrscheinlichkeitsrechnung 67,151 Weinrich H. 133 Werbetext 152 Wert cf. valeur
Wertheimer J. 71 Whitney W. D. 72 Wiedergebrauchsrede 76s. Witz 15 N 14,143 N 74 Wort 79, 83, 84, 127,128 Wortfamilie 100 Wurzel 4 Zeichen cf. signe Zitat 117
171