Exterritoriale Selbstverteidigung im unwilligen oder unfähigen Staat [1 ed.] 9783428580514, 9783428180516

Die Unterbindung privater Gewaltakte stellt Staaten vor allem dann vor besondere rechtliche Herausforderungen, wenn sie

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German Pages 378 [379] Year 2021

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Exterritoriale Selbstverteidigung im unwilligen oder unfähigen Staat [1 ed.]
 9783428580514, 9783428180516

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Schriften zum Völkerrecht Band 242

Exterritoriale Selbstverteidigung im unwilligen oder unfähigen Staat Von

Paul D. Lorenz

Duncker & Humblot · Berlin

PAUL D. LORENZ

Exterritoriale Selbstverteidigung im unwilligen oder unfähigen Staat

Schriften zum Völkerrecht Band 242

Exterritoriale Selbstverteidigung im unwilligen oder unfähigen Staat Von

Paul D. Lorenz

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D30 Alle Rechte vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-18051-6 (Print) ISBN 978-3-428-58051-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation angenommen und am 24. Februar 2020 verteidigt. Einschlägige literarische Neuerscheinungen und staatenpraktische Entwicklungen wurden bis zum Ende dieses Semesters, soweit dies möglich war, für die Drucklegung berücksichtigt.1 Mein tiefempfundener Dank gebührt zuallererst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Stefan Kadelbach, nicht nur für die jahrelange Förderung, sondern auch für die bei der Ausarbeitung gewährten Freiheiten und die für das Gelingen des Promotionsvorhabens so wesentlichen Ratschläge. Nicht genug bedanken kann ich mich daneben bei Herrn Prof. Dr. Uwe Volkmann, sowohl für die keinesfalls selbstverständlich zügige Erstellung des Zweitgutachtens als auch für die einzigartige Lehrstuhlatmosphäre, in deren Genuss ich kommen durfte. Zu bedanken habe ich mich schließlich bei all denjenigen, die mich über die Jahre mit ihrer Unterstützung, Zuwendung und Geduld bedacht haben: darunter zuallererst meine Mutter, Prof. Dr. Anne Lorenz, der diese Arbeit zugeeignet ist, mein Vater, Frank Erne, meine Großmutter, Gisela Lorenz, mein Großvater, Prof. Dr. Dieter Lorenz, sowie Nina Noodt. Für hilfreiche und kritische Anregungen, von denen die Arbeit nur gewinnen konnte, bin ich schließlich meinen Institutskolleginnen und -kollegen Malte Feldmann, Samira Akbarian, Dr. Christian Lutsch, Christopher Scheid und Clara Liebmann verbunden. Freilich konnte auch durch ihre Berücksichtigung nicht verhindert werden, dass mancherlei ungeklärt geblieben ist: alle verbleibenden Unzulänglichkeiten sind insofern als die meinigen anzusehen. In gewisser Weise mag hierin jedoch auch eine unumgängliche Notwendigkeit liegen: „Ehe ich richtig mit dem Hobel hantieren lernte, war das Haus fertig: das ist immer so (aber dem Schuppen kams dann zu gut!).“2 Frankfurt a. M., im Juli 2020

1  Sämtliche

Paul D. Lorenz

Onlinequellen wurden dabei zuletzt am 15.6.2020 eingesehen. Schmidt, Schwarze Spiegel. In: Bargfelder Ausgabe I/1. Zürich: Haffmans 1987, hier S. 220). 2  Arno

Inhaltsverzeichnis

Einführung 

25

A. Typisches Grundszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Annäherung an den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . I. Die Formalisierung staatlicher Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staatliche Souveränität, Gewalt und völkerrechtliches Gewaltverbot . . . . . III. Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität in Grenzsituationen . . . . . . . .

30 32 36 39

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Kapitel

Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards 

45

A. Abgrenzung anderer Sachbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Militärischer Menschenrechtsschutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Militärische humanitäre Intervention und responsibility to protect  . 46 a) Begriffliche Annäherung und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Rahmen völkerrechtlicher Konformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 aa) Ausdrückliche regionale Vorkehrungen als Ausnahme . . . . . 48 bb) Alleinige Verantwortung des UN-Sicherheitsrats auf universeller Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Konzeptionelle Rolle unwilliger und unfähiger Staaten . . . . . . . . . . . 54 a) Intervention der USA und UNO in Somalia . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Eingriff der ECOWAS-Staaten in Liberia und die Lage Sierra Leones  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland . . . . . . 62 1. Mögliche Völkerrechtmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Umstände der Rettungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Intervention auf Einladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Zur Relevanz von Unwillen oder Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

10 Inhaltsverzeichnis IV. Aufnahme neuer UN-Mitglieder gem. Art. 4 UNCh . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Komplementaritätsprinzip gem. Art. 17 Römisches Statut . . . . . . . 1. Staatlicher Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Fall Bemba – Zentralafrikanische Republik . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Gaddafi – Libyen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatlicher Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 77 79 82 83 84 85 85 86 86

B. Relevante Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 I. Prä-Charta-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Der Caroline-Fall (1837): Vereinigtes Königreich – USA . . . . . . . . . 88 2. Rekurs auf staatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Erster Seminolenkrieg (1817–1818): USA – Spanisch-Florida . . 89 b) Texanischer Unabhängigkeitskrieg (1835–1836): USA – ­Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Grenzkonflikte zwischen den USA und Mexiko (1850er- bis 1880er-Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) „Pancho Villa“ (1916): USA – Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Eine Randbemerkung zum Leticia-Vorfall (1932–1933): ­Kolumbien – Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Geltungsbereich der UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Territorialstaatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Dekolonisation des nördlichen Afrikas: Frankreich – Tunesien (ab 1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Libanon . . . . . . 100 aa) Bekämpfung der PLO zwischen den 1960er- und 1980erJahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Militärische Maßnahmen gegen die Hisbollah: 1993–1996 . 104 cc) Der „Julikrieg“ (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Militärische Maßnahmen der Türkei im Irak . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) 1980er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) 1990er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 cc) Von 2007–2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 dd) Von 2015–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 d) Militärische Maßnahmen in Syrien ab 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 bb) Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 cc) Kanada  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 dd) Australien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Inhaltsverzeichnis11 ee) Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Militärische Maßnahmen gegen den ISIL . . . . . . . . . . . . (2) Militärische Maßnahmen gegen kurdische Gruppen . . . . ff) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . kk) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Territorialstaatlicher Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Israelischer Militärschlag in Tunesien: 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Militärische Maßnahmen der USA gegen al-Qaida . . . . . . . . . . . aa) Sudan und Afghanistan: 1998  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Post 9/11: Operation Enduring Freedom . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anmerkung zur Tötung von Osama bin Laden: 2011 . . . . . . c) Russische Interventionen in Georgien (ab 1999) . . . . . . . . . . . . . d) Militärische Aktivitäten Kolumbiens in Ecuador: 2008 . . . . . . . . 3. Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatlicher Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 120 121 123 124 125 126 127 127 128 128 129 130 131 135 137 141 143 150 150 152

2. Kapitel

Völkerrechtsdogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards 

155

A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts . . . . . . . . . . . I. Der unwilling or unable-Standard als völkerrechtliche Zurechnungs­ regel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Plausibilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Resolutionen der UN-Generalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Friendly Relations Declaration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aggressionsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Judikatur des IGH und ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatliche Verantwortlichkeit nach den ILC-Artikeln . . . . . . . . . . aa) Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Art. 8 ILC-Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Staatliche Unfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Staatlicher Unwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 156 156 157 158 158 159 165 171 171 175 176 176 177

12 Inhaltsverzeichnis

II.

(2) Art. 9 ILC-Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (3) Der vorläufige ILC-Entwurfsartikel 11 . . . . . . . . . . . . . . 180 (a) Vorschlag durch den Sonderberichterstatter R. Ago . 181 (b) Kontroverse in der UN-Völkerrechtskommission . . 185 (c) Schlussendliche Verwerfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Territorialstaatliche Duldungspflicht im Sinne des unwilling or unable-Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Plausibilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Art. 51 UNCh als dogmatische Hürde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 aa) Zum Wesen bewaffneter Angriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (1) Intensitätsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (2) Accumulation of events-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (3) Zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Urheberschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (1) Auslegungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (2) IGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (a) Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (b) Limitierte Entwicklungsoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . 203 cc) Der Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Begründungsrahmen einer territorialstaatlichen Duldungspflicht . 206 aa) Neutralitätsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (1) Begründung gewöhnlicher und dauernder Neutralität . . 210 (2) Pflichten nach den Haager Abkommen (1907) und die Folgen ihrer Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (3) Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 bb) Diplomaten- und Konsularrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 cc) Völkerrechtlicher Regelungsbestand zur Terrorismusbekämpfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 (1) Vertragsrechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 (a) Universales Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 220 (b) Regionales Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (aa) Europäischer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (bb) Amerikanischer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (cc) Süd- und südostasiatischer Raum . . . . . . . . . . . 226 (dd) Arabischer Raum; überregionale islamische Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 (ee) Afrikanischer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (ff) Nordosteurasischer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 (gg) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhaltsverzeichnis13 (2) UN-Generalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) UN-Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vorbemerkung zu Art. 25 UNCh  . . . . . . . . . . . . . . . (b) Überblick zur Resolutionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Implikationen einer Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232 235 236 237 241 243

C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts . . . . . 244 I. Der völkerrechtliche Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Plausibilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 a) Notstand im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 aa) Funktion des Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 bb) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Notstand, Selbstverteidigung und Gewaltanwendung . . . . . . . . . . 250 aa) Abgrenzung vom Selbstverteidigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 251 bb) Notstand als Rechtfertigungsgrund für die Anwendung von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (1) Militärische humanitäre Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . 257 (2) Militärische Antiterrormaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 II. Das Recht der Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 III. Modifizierungen des völkerrechtlichen Gewaltverbots . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Plausibilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Methodische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Souveränitätsrhetorische und -theoretische Implikationen . . . . . . 266 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Kapitel

Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards? 

271

A. Methodologischer Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegung im Sinne nachfolgender praktischer Übereinstimmung . . . . III. Zusammenführende Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272 272 275 278

B. Reaktionen der Staatengemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Späte 1950er-Jahre: Frankreichs Interventionen in Tunesien . . . . . . . . . II. Ende der 1960er- bis frühe 1980er-Jahre: Israels Interventionen im Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsdogmatische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorsichtige Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts . . .

280 280 281 281 285 286

14 Inhaltsverzeichnis 4. Moderierend-kritische Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 III. Mitte der 1980er-Jahre: Israelische Militärschläge in Tunesien . . . . . . . 291 IV. Entwicklungen zum Ende der 1990er-Jahre hin: Interventionen Israels im Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Zum Jahr 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Weitere (das Jahr 1996 einschließende) Entwicklungen . . . . . . . . . . 296 a) Annahme einer Aggression oder eines Verstoßes gegen Art. 2 Nr. 4 UNCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Vorwiegende Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 c) Moderierende Stellungnahmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 V. Jahrtausendwende: Russische Antiterror-Maßnahmen in Georgien . . . . 302 VI. Mitte der 2000er-Jahre: Abermalige Interventionen Israels im Libanon . 303 1. Aggression und Völkerrechtsverstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Vermittelnde Stellungnahmen im Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3. Vorwiegende Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts . . 309 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 VII. Militärische Maßnahmen der Türkei im Irak (vom Ende der 2000erJahre an) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 VIII. 2010er-Jahre: Globale Anstrengungen zur Bekämpfung des ISIL . . . . . 315 1. Einheitliche Verurteilung des ISIL in der Staatengemeinschaft . . . . . 315 2. Behandlung im UN-Sicherheitsrat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Skepsis und Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Befürwortung militärischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 c) Zurückhaltende Begrüßung militärischer Maßnahmen . . . . . . . . . 321 d) Rechtsansichten im arabischen Raum und weiteren Nahen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 e) Randbemerkung zu militärischen Maßnahmen gegen kurdische Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 a) Einheitlich wahrgenommene Gefahrenlage: Erfordernis militärischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 b) Vorherrschen unbestimmter Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 c) Anmerkung zu den zentralen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung: Zunehmender Gebrauch und rückläufige Kritik . . . . . . . . II. Konstante: Unbestimmtheit und Unklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schlussfolgerung 

330 330 331 332 336

Inhaltsverzeichnis15 Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Verzeichnis ausgewählter Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort ABl. EG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ABl. EU Amtsblatt der Europäischen Union Abs. Absatz Abschn. Abschnitt Add. Addendum ADF Allied Democratic Forces a. E. am Ende AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AFL Armed Forces of Liberia AHRLJ African Human Rights Law Journal AJIL The American Journal of International Law allg. allgemein ALN Armée de liberation nationale (Algérie); siehe FLN Amer. Hist. Rev. The American Historical Review AMIS African Union Mission in Sudan AMRK Amerikanische Menschenrechtskonvention ANF al-Nusra Front Anm. Anmerkung AöR Archiv des öffentlichen Rechts APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Art. Artikel ASEAN Association of Southeast Asian Nations (Verband Südostasiatischer Nationen) ASIL American Society of International Law AU Afrikanische Union AU-Constitutive Act Constitutive Act of the African Union Aufl. Auflage AUILR The American University International Law Review Ausg. Ausgabe AVR Archiv des Völkerrechts

Abkürzungsverzeichnis17 Bd. Band BDGV Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht ber. berichtigt Beschl. Beschluss BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt Boston Coll. ICLR Boston College International and Comparative Law Review Bsp./bspw. Beispiel/beispielsweise BT-Drs. Bundestagsdrucksache BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bzw. beziehungsweise ca. circa Can. YB Int. L. Canadian Yearbook of International Law Car. JICL Cardozo Journal of International and Comparative Law Case W. Res. JIL Case Western Reserve Journal of International Law CELAC Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten) Ch. Chapter Chicago JIL Chicago Journal of International Law CIS Commonwealth of Independent States (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) Col. J. Transnatʼl L. Columbia Journal of Transnational Law Concl. Conclusion dass. dasselbe dems. demselben Dept. of State Bull. Department of State Bulletin ders. derselbe d. h. das heißt d. i. das ist dies. dieselbe, dieselben Dok. Dokument DÖV Die Öffentliche Verwaltung DR Kongo (DRC) Demokratische Republik Kongo dt. deutsch Duke JCIL Duke Journal of Comparative & International Law DVBl Deutsches Verwaltungsblatt EA Europa-Archiv (Zeitschrift für internationale Politik) ebd. ebenda

18 Abkürzungsverzeichnis ECOMOG ECOWAS Cease-Fire Monitoring Group ECOWAS Economic Community of West African States EG Europäische Gemeinschaft EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einl. Einleitung EJIL European Journal of International Law Emory ILR Emory International Law Review EMRK Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entsch. Entscheidung erstm. erstmals ESIL European Society of International Law ETA Euskadi Ta Askatasuna et al. et alii; et aliae (und andere) ETS (CETS) European Treaty Series (Council of Europe Treaty Series) EU Europäische Union EuGRZ Europäische Grundrechte Zeitschrift Eur. J. Crime, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal JusCrim. L. & Crim. J. tice EUV Vertrag über die Europäische Union ex-FAR siehe „FAR“ f./ff. folgende/fortfolgende FAR Forces armées rwandaises FARC Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia FAS Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung FDN Fuerza Democrática Nicaragüense (Nicaraguan Democratic Force) FFP The Fund for Peace FIU L. Rev. Florida International University Law Review Fl. F. World Aff. The Fletcher Forum of World Affairs FLN Front de libération nationale (Algérie); siehe ALN Fn. Fußnote fragl. fraglich FS Festschrift GA General Assembly (UN-Generalversammlung) GAOR General Assembly Official Records gem. gemäß Geo., Hist. & Int. Rel. Geopolitics, History, and International Relations Geo. Wash. ILR

The George Washington International Law Review

Abkürzungsverzeichnis19 GG Grundgesetz GLJ

The Georgetown Law Journal

GoJIL

Goettingen Journal of International Law

GYIL

German Yearbook of International Law

Haager Abk.

Abkommen der Haager Friedenskonferenz

Harv. ILJ

Harvard International Law Journal

Harv. L. Rev.

Harvard Law Review

Hervorh. Hervorhebung histor. historisch Hou. JIL

Houston Journal of International Law

Hrsg.

Herausgeber, Herausgeberin

hrsgg. herausgegeben Hs. Halbsatz HStR

Handbuch des Staatsrechts

HuV-I

Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften. Journal of International Law of Peace and Armed Conflict

HYIL

Hague Yearbook of International Law

IA

International Affairs (Royal Institute of International Affairs)

IAGMR

Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte

ICCT

International Centre for Counter-Terrorism – The Hague

ICG

International Crisis Group

ICISS

International Commission on Intervention and State Sovereignty

ICJ Rep.

International Court of Justice – Report of Judgments, Advisory Opinions and Orders

ICLQ

The International and Comparative Law Quarterly

ICTY

International Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of the Former Yugoslavia since 1991 (Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien)

IDF

Israel Defence Forces

i. E.

im Ergebnis

IGH (ICJ)

Internationaler Gerichtshof (International Court of Justice)

IGHSt

Statut des Internationalen Gerichtshofs

IICK

The Independent International Commission on Kosovo

ILA

International Law Association

ILC

International Law Commission (UN-Völkerrechtskommission)

ILM

International Legal Materials

20 Abkürzungsverzeichnis Indian JIL Indian Journal of International Law INPFL Independent National Patriotic Front of Liberia insb. insbesondere Int. L. Stud. International Law Studies IO International Organization IPbürgR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte i. R.d. im Rahmen der; im Rahmen des i. R. v. im Rahmen von ISIL (Daesh), ISIS Islamischer Staat in der Levante, Islamischer Staat im Irak und in Syrien Isr. L. Rev. Israel Law Review Iss. Issue IStGH (ICC) Internationaler Strafgerichtshof (International Criminal Court) i. S. v. im Sinne von i. Ü. im Übrigen IUSCT Iran-United States Claims Tribunal i. V. m. in Verbindung mit IWF (IMF) Internationaler Währungsfonds (International Monetary Fund) IYIL Italian Yearbook of International Law JA Juristische Arbeitsblätter JCSL Journal of Conflict & Security Law (vorm. als Journal of ­Armed Conflict Law [J. Arm. Confl. L.]) JEM Justice and Equality Movement JeM Jaish-e-Mohammed Jhdt. Jahrhundert JIA Journal of International Affairs J. Int. L. & Int. R. Journal of International Law and International Relations JsoH The Journal of Southern History JTLP Journal of Transnational Law & Policy JuS Juristische Schulung JZ JuristenZeitung Kap. Kapitel KCK Koma Civakên Kurdistan (Union der Gemeinschaften Kurdistans) KJ Kritische Justiz KLA Kosovo Liberation Army krit. kritisch LAS Liga der Arabischen Staaten (League of Arab States) Law & Contemp. P.

Law and Contemporary Problems

Abkürzungsverzeichnis21 Lit. Literatur lit. littera (Buchstabe) Maine L. Rev. Maine Law Review m. a. W. mit anderen Worten Max Planck UNYB Max Planck Yearbook of United Nations Law Melb. JIL Melbourne Journal of International Law Mich. JIL Michigan Journal of International Law mind. mindestens Miss. Vall. Hist. Rev. The Mississippi Valley Historical Review MLC Mouvement de Libération du Congo MLR Military Law Review MPEPIL Max Planck Encyclopedia of Public International Law m. w. N. mit weiterem Nachweis; mit weiteren Nachweisen Nachdr. Nachdruck NAM Non-Aligned Movement NATO North Atlantic Treaty Organization Neudr. Neudruck NILR Netherlands International Law Review NJW Neue Juristische Wochenschrift NPFL National Patriotic Front of Liberia Nr. Nummer, Nummern NYT The New York Times NZWehrr Neue Zeitschrift für Wehrrecht NZZ Neue Zürcher Zeitung o. ä. oder ähnliche OAS Organisation Amerikanischer Staaten OASTS Organization of American States Treaty Series OAU Organisation für Afrikanische Einheit OIC Organisation für Islamische Zusammenarbeit (Organisation of Islamic Cooperation) ÖstZöffR Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht (ursprünglich und aktuell als: Zeitschrift für öffentliches Recht, ZöR) OSZE (OSCE) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Organization for Security and Co-operation in Europe) PAIGC Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde Para. Paragraph PCA Permanent Court of Arbitration PCIJ Permanent Court of International Justice

22 Abkürzungsverzeichnis PIJ

Islamic Jihad Movement in Palestine

PKK

Partiya Karkerên Kurdistanê (Arbeiterpartei Kurdistans)

PLO

Palestine Liberation Organization (Palästinensische Befreiungsorganisation)

Proc. ASIL Ann. M. Proceedings of the American Society of International Law at its Annual Meeting PYD

Partiya Yekîtiya Demokrat (Partei der Demokratischen Union)

QIL

Questions of International Law

Rep. Reports Res. Resolution resp. respektive Resum. Resumption RGBl. Reichsgesetzblatt RLJ

Russian Law Journal

Rn.

Randnummer, Randnummern

RPF

Rwanda Patriotic Front

Rspr. Rechtsprechung RSt

Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs

RUF

Revolutionary United Front

S.

Seite, Seiten

s. siehe SAARC

South Asian Association for Regional Cooperation (Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation)

SCOR

Security Council Official Records

SDILJ

San Diego International Law Journal

Sect.

Section, Sections

Sing. L. Rev.

Singapore Law Review

SNM

Somali National Movement

sog. sogenannte Southwestern HQ

The Southwestern Historical Quarterly

Southwestern SSQ

The Southwestern Social Science Quarterly

SPLM/A

Sudan People’s Liberation Movement/Army

staatl. staatlich Stanford J. Int’l Rel. Stanford Journal of International Relations StGB Strafgesetzbuch StIGH (PCIJ)

Ständiger Internationaler Gerichtshof (Permanent Court of International Justice)

STL

Sondertribunal für den Libanon (Special Tribunal for Lebanon)

Abkürzungsverzeichnis23 str. strittig SWAPO

South-West Africa People’s Organisation

Teilbd. Teilband Temple ICLJ

Temple International and Comparative Law Journal

Transn. L. & Cont. P. Transnational Law & Contemporary Problems TWAIL

Third World Approaches to International Law

u. a.

unter anderem

UAbs. Unterabsatz übers. übersetzt U. Chi. L. Rev.

University of Chicago Law Review

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UK

United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland (Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland)

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

UNAMID

United Nations-African Union Mission in Darfur

UNAMIR

United Nations Assistance Mission for Rwanda

UNCh

Charta der Vereinten Nationen

UNCIO

United Nations Conference on International Organization

UNIFIL

United Nations Interim Force in Lebanon

UNITAF

United Task Force

Univ. Pa. JIL

University of Pennsylvania Journal of International Law

UNMIS

United Nations Mission in Sudan

UNOMIG

United Nations Observer Mission in Georgia

UNOSOM

United Nations Operation in Somalia

UNPO

Unrepresented Nations & Peoples Organization

UNSW Law J.

University of New South Wales Law Journal

UNTS

United Nations Treaty Series

UNYB

Yearbook of the United Nations

UPDF

Uganda People’s Defence Force

Urt. Urteil USA

United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika)

USC

United Somali Congress

usw.

und so weiter

u. U.

unter Umständen

v.

vom; von; versus

v. a.

vor allem

Vand. JTL

Vanderbilt Journal of Transnational Law

Var. Variante

24 Abkürzungsverzeichnis VG Verwaltungsgericht vgl. vergleiche vglb. vergleichbar vglw. vergleichsweise VJIL Virginia Journal of International Law VN Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen Vol. Volume vorm. vormalig, vormals WÜD Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen WÜK Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen WÜV Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge YILC Yearbook of the International Law Commission YJIL Yale Journal of International Law YPG Yekîneyên Parastina Gel (Volksverteidigungseinheiten) ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht z. B. zum Beispiel ZfP Zeitschrift für Politik Ziff. Ziffer zit. zitiert ZP Zusatzprotokoll ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZRph Zeitschrift für Rechtsphilosophie. Neue Folge z. T. zum Teil zul. zuletzt zw. zwischen

Einführung Die Gefährdung eines Staates durch Privatpersonen, die sich nicht auf seinem Territorium aufhalten, ist ein Problem, das die Völkerrechtswissenschaft seit längerem beschäftigt. Akut wird es spätestens, wenn sich ein durch nicht-staatliche Akteure gefährdet wähnender Staat dazu entschließt, gegen diese nicht nur auf seinem eigenen Territorium mit den Mitteln des Gefahrenabwehr- oder Strafrechts vorzugehen, sondern militärische Maßnahmen an ihrem exterritorialen Aufenthaltsort ergreift.1 Dabei stößt die Bewertung der Völkerrechtsmäßigkeit entsprechender Maßnahmen auf umso größere Schwierigkeiten, je weniger ein mit der Gefährdung im Zusammenhang stehendes Verhältnis zwischen dem nicht-staatlichen Akteur und dem Staat, auf dessen Territorium er sich aufhält, ausgeprägt ist. Zur Bewältigung dieses Problems hat – spätestens mit dem militärischen Eintritt diverser Staaten in den Syrien-Konflikt2 – ein normatives Konzept Konjunktur erlangt, das auf die Rechtfertigung solcher militärischen Unternehmungen vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UNCh) verweist: der sog. unwilling or unable-Standard.

A. Typisches Grundszenario Dem unwilling or unable-Standard3 liegt – in aller Vereinfachung – regelmäßig folgende Situation zu Grunde: Ein nicht-staatlicher Akteur bereitet, aus welchem Grund und auf welche Art auch immer, eine Bedrohungslage für einen Staat, in dem sich der nicht-staatliche Akteur nicht aufhält (der „gefährdete Staat“). Der gefährdete Staat sieht sich in Ansehung dessen nun veranlasst, (gegebenenfalls vorbeugend4) militärisch gegen den nicht-staat­ schon Curtis, AJIL 8 (1914), S. 224 (236). die USA z. B. UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the Secretary-General, 23.9.2014, UN-Dok. S/2014/695. Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme in dieser Hinsicht wurden auch von BVerfG, Beschl. v. 17.9.2019 – 2 BvE 2/16 behandelt. 3  Unwilling soll im Weiteren durch „unwillig“ übersetzt werden, unable hingegen durch „unfähig“ oder „außer Stande“; zusammenfassend wird von einem Konzept, Standard oder Test gesprochen. 4  Siehe zu dieser Tendenz in der jüngeren US-Außenpolitik Bradley/Goldsmith, AJIL 110 (2016), S. 628 (643 f.); Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (284 f.); all1  Siehe 2  Für

26 Einführung

lichen Akteur in einem Raum vorzugehen, der nicht Teil seines eigenen Staatsgebiets ist. Mit Abnahme staatsfreier Räume5 rückt dabei das Territorium eines anderen Staats in den Fokus (der „Aufenthalts-“ oder „Territo­ rialstaat“).6 Der Territorialstaat stimmt seinerseits dem militärischen Tätigwerden des gefährdeten Staats auf seinem Staatsgebiet nicht zu, auch wenn dieses nur gegen den nicht-staatlichen Akteur gerichtet sein mag. Der gefährdete Staat erklärt bzw. rechtfertigt sein militärisches Tätigwerden im Territorialstaat hingegen mit dem Unwillen und/oder der Unfähigkeit der dortigen Staatsgewalt, auf die vom nicht-staatlichen Akteur ausgehenden Gefahren angemessen zu reagieren; auf eine Zustimmung für sein militärisches Tätigwerden sei er daher nicht mehr angewiesen.7 Damit kommt es im konkreten Fall zu einer Interessenkollision zwischen dem Anliegen des gefährdeten Staates einerseits, eine sich u. U. als bewaffneten Angriff darstellende Gefahr abzuwehren, und dem Interesse des Territorialstaats andererseits, seine territoriale Integrität gewahrt und unverletzt zu wissen.

B. Annäherung an den Untersuchungsgegenstand Im Rückblick auf tradierte – sich v. a. zwischen Staaten abspielende – Selbstverteidigungslagen bedeutet dieser Standard eine deutliche Erweiterung des Spektrums militärischer Möglichkeiten, auf die vom internationalen Terrorismus gefährdete Staaten zurückgreifen könnten. Hierauf reagierten Teile der Völkerrechtswissenschaft mit recht emphatischer Ablehnung.8 Dagegen gemeiner Krugmann, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht (2004), S.  22 und ff. 5  Siehe Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume (1984), S. 4, der in diesem Sinne Antarktis, Weltraum, Hohe See und Tiefseeboden in Bezug nimmt, Räume also, denen für die vorliegende Untersuchung keine Bedeutung zukommt; siehe ferner Isensee, ZRPh 1 (2017), S. 17 (22). 6  Zu Szenario und Terminologie z. B. Sjöstedt, ZaöRV 77 (2017), S. 39; Keinan, ZaöRV 77 (2017), S. 57 oder Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (486); vgl. auch Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (86). 7  Leiden Policy Recommendations, NILR 57 (2010), S. 531 ff. (Ziff. 32, 51). 8  Siehe etwa die von 306 Wissenschaftler:innen, darunter 243 Professor:innen, unterzeichnete „Plea against the abusive invocation of self-defence as a response to terrorism“, abrufbar unter: http://cdi.ulb.ac.be/contre-invocation-abusive-de-legitimedefense-faire-face-defi-terrorisme/. Dabei wird auf S. 2 des Plädoyers bspw. ausdrücklich der Rekurs auf staatliche Unfähigkeit kritisiert: „However, the mere fact that, despite its efforts, a State is unable to put an end to terrorist activities on its territory is insufficient to justify bombing that State’s territory without its consent. […] Accepting this argument entails a risk of grave abuse in that military action may henceforth be conducted against the will of a great number of States under the sole pretext that, in the intervening State’s view, they were not sufficiently effective in fighting terrorism.“ [Hervorh. P. L.]



B. Annäherung an den Untersuchungsgegenstand27

wurde von nicht wenigen betont, dass spätestens der neuerliche „Kampf gegen den Terrorismus“ im 21. Jahrhundert zu einem Wandel des Völkerrechts geführt habe.9 Zugleich wurde mit ganz ähnlicher Stoßrichtung auf eine über ein Jahrhundert umfassende Staatenpraxis verwiesen, die den unwilling or unable-Standard als bestehendes Völkerrecht ausweisen soll und eilig der Versuch unternommen, Faktoren und Parameter sich künftig hierauf stützender militärischer Interventionen zu konturieren.10 Und in der Tat scheinen sich – in der Rezeption von bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden Fällen – zunächst gewichtige Stimmen der völkerrechtlichen Literatur hierfür in Anspruch nehmen zu lassen.11 So ist bei H. Lauterpacht etwa zu lesen: „It is the result of the well-established customary rule that the territory of a state must not be allowed to serve as a base for military or naval operations against another state.“12

Und auch in der von H. Lauterpacht herausgegebenen achten Auflage der Völkerrechtsabhandlung von L. Oppenheim wird das Verbot formuliert, auf eigenem Staatsgebiet die Vorbereitung feindlicher Expeditionen gegen andere Staaten zu erlauben: 9  Scharf, Case W. Res. JIL 48 (2016), S. 15 ff., insb. S. 64–66, 43 ff., 52 und passim. Omnipräsent in diesem Sinne sind auch die Anschläge vom 11. September und die hieran anknüpfenden Kontroversen, siehe Tomuschat, Leviathan 2003, S. 450 (458); Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 15. Zurecht wurde auch darauf hingewiesen, dass sich die nach dem 11. September diskutierten Fragen auch schon zuvor gestellt haben, Tams, ZaöRV 77 (2017), S. 61 (61). 10  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (486, 506 ff.), die als Rahmen verstandenen Faktoren des Tests werden a. a. O. auf S. 519–533 beschrieben. Genannt werden: Priorisierung territorialstaatlicher Zustimmung oder Kooperation; Evaluation der vom nicht-staatlichen Akteur ausgehenden Gefahr; Anfrage des gefährdeten Staats an den Territorialstaat, die Gefahr in angemessener Zeit zu beseitigen; Evaluation der tatsächlichen territorialstaatlichen Kontrollausübung und Kapazitäten; Evaluation etwaiger territorialstaatlicher Vorschläge zur Gefahrenbeseitigung; Sichtung vergangener Interaktionen mit dem Territorialstaat zu Prognosezwecken. Vglb. auch Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 768 zum Rahmen sog. „extraterritorialer Rechtsdurchsetzung“ (siehe S. 251 ff.) sowie Henriksen, JCSL 19 (2014), S. 211 (230). Vgl. im Allg. zu dieser Tendenz van Steenberghe, LJIL 29 (2016), S. 43 (48). 11  Entsprechende Hinweise geben in der Staatenpraxis Erklärungen Israels, UNSicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2149th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2149, Ziff. 49 oder SCOR 34th Year, 2146th Meeting: 31.5.1979, UN-Dok. S/PV.2146, Ziff. 51. In der Lit. die Verweise bei Feinstein, Isr. L. Rev. 20 (1985), S. 362 (375 f.). 12  Lauterpacht, AJIL 22 (1928), S. 105 (127), oder auch a. a. O. zuvor auf S. 126: „International law imposes upon the state the duty of restraining persons resident within its territory from engaging in such revolutionary activities against friendly states as amount to organized acts of force in the form of hostile expeditions against the territory of those states.“

28 Einführung „[…] States are under a duty to prevent and suppress such subversive activity against foreign Governments as assumes the form of armed hostile expeditions or attempts to commit common crimes against life or property.“13

Dieses Pflichtenprogramm findet sich schließlich auch in den im gleichen Zeitraum veröffentlichten Principles of International Law von H. Kelsen. Hiernach sei ein Staat nach allgemeinem Völkerrecht dazu verpflichtet, „to prevent certain acts of private persons injurious to other states, and, if it is not possible to prevent them, to punish the delinquents and to force them to repair the material damage caused by the injurious act.“14

Als eine solche verletzende und zugleich einen Verstoß gegen das Völkerrecht bedeutende Handlung exemplifizierte H. Kelsen sodann „attempts directed against the territorial integrity of a foreign state or intended to overthrow the legitimate government of another state.“15

Die Formulierung dieser im Prinzip so abstrakten wie intuitiv zugänglichen Pflicht fand zu dieser Zeit nicht zuletzt im Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Corfu Channel Case Halt. Hier wurde die Verpflichtung der albanischen Behörden, die Existenz eines Minenfelds in den eigenen Territorialgewässern anzuzeigen und nähernde Schiffe hiervor zu warnen, aus gewissen allgemein anerkannten Prinzipien hergeleitet, wozu nun u. a. auch „every State’s obligation not to allow knowingly its territory to be used for acts contrary to the rights of other States“

gezählt wurde.16 Doch was gilt, um den Bogen zu der hier interessierenden Konstellation zurückzuspannen, wenn ein Staat dieser Pflicht nicht gerecht werden sollte? Hierzu ist bei H. Kelsen nur die Verpflichtung des Territorialstaats zu Schadensersatz und zur Ergreifung von Strafverfolgungsmaßnahmen bei Un-

13  Oppenheim, International Law, Bd. 1, 8. Aufl. (1955), S. 292 f., zum zuvor in Bezug Genommenen S. 291 (insg. § 127 f.). 14  Kelsen, Principles of International Law (1952 [2012]), S. 120 f. 15  Kelsen, ebd., S. 126. 16  IGH (Corfu Channel Case), ICJ Rep. 1949, S. 4 (22). In dieser Hinsicht hat Feinstein, Isr. L. Rev. 20 (1985), S. 362 (375) auf einen Passus der abweichende Meinung von J. B. Moore zur Entscheidung StIGH, The Case of the S.S. „Lotus“, Ser. A – No. 10, 7.9.1927, S. 65 ff. hingewiesen, worin sich auf S. 88 f. die Annahme findet: „It is well settled that a State is bound to use due diligence to prevent the commission within its dominions of criminal acts against another nation or its people […].“ Siehe McDonald, ICLQ 68 (2019), S. 1041 (1045, Fn. 15) mit dem Hinweis, dass sich due diligence-Verpflichtungen dabei aus dem Prinzip staatlicher Souveränität ergäben.



B. Annäherung an den Untersuchungsgegenstand29

möglichkeit entsprechender Präventionsleistungen zu finden.17 Andere verorteten in diesem Kontext wiederum früh die einem gefährdeten Staat zukommende Möglichkeit, zu seinem Schutz militärische Maßnahmen zu ergreifen: So sprach R. E. Curtis von einer Notwendigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen, welche „from the unwillingness or inability of the responsible state to perform its duty“

stamme und den gefährdeten Staat zur Ersatzvornahme der erforderlichen Maßnahmen zur Prävention des antizipierten Angriffs berechtige.18 Für I. Brownlie bestand daneben – auf den ersten Blick – wenig Anlass die Annahme zu bezweifeln, dass sich Staaten bei Unternehmung aggressiver Aktivitäten einer Personengruppe, die nicht der Souveränität eines anderen Staates untersteht, prinzipiell auf das Recht zur Selbstverteidigung berufen könnten.19 D. Bowett betonte hingegen, dass der seine due diligence wahrnehmende, aber zur Prävention feindseliger Expeditionen oder sonstiger, die politische Unabhängigkeit anderer Staaten unmittelbar bedrohender Aktivitäten unfähige Staat zwar mangels Pflichtverletzung nicht Adressat des Selbstverteidigungsrechts sein könne.20 Der gefährdete Staat könne aber gleichwohl militärische Maßnahmen ergreifen, was D. Bowett zu der Feststellung führte, „that this extended jurisdiction over aliens committing abroad acts detrimental to a state’s independence and security is not only reflected in the actual practice of States, but also based on the principle of self-defence.“21

Hält man an dieser Stelle inne, mögen sich diverse Fragen aufdrängen: Auf welcher Grundlage sollen etwa überhaupt das zuvor skizzierte Pflichtenprogramm und die rechtsfolgenhalber anknüpfende Möglichkeit militärischer Maßnahmen bestehen? Wodurch würde sich dieses Pflichtenprogramm genau auszeichnen bzw. welche Maßnahmen müsste ein Staat ergreifen, um seine due diligence umfassend wahrzunehmen, und wer entscheidet schließlich wieder Kelsen, Principles of International Law (1952 [2012]), S. 120 f. AJIL 8 (1914), S. 224 (236), wobei etwa auf den Caroline-Fall (1838) und US-amerikanische Interventionen in Spanisch-Florida (1818) verwiesen wurde, siehe a. a. O. S.  236–238. 19  Brownlie, International Law and the Use of Force by States (1963), S. 375. Doch schon a. a. O. zeigen sich dems. erste Brüche in der zuvor gewonnenen Klarheit: Etwa die eigentliche Ausübung von Selbstverteidigung nur gegen einen anderen Staat; und auch der auf den ersten Blick so passend scheinende Vergleich zur Bekämpfung der Piraterie wird letztlich bezweifelt, da die hierbei ergriffenen Maßnahmen weniger an Selbstverteidigung als an Sanktionen oder die Ausübung von Hoheitsgewalt erinnerten. 20  Bowett, Self-Defence in International Law (1958), S. 56. 21  Bowett, ebd., S. 64; zur vorangehenden Argumentation a. a. O. S. 56, 58, 60, zum über den Caroline-Fall vermittelten Zusammenhang des right of necessity und dem Selbstverteidigungsrecht S. 59 f. 17  Siehe

18  Curtis,

30 Einführung

darüber, ob dies im Einzelfall geschehen ist? Können auf dieser Grundlage nun, wenn ein Staat das supponierte Pflichtenprogramm verletzt, spezifisch militärische Maßnahmen ergriffen werden und, bejahendenfalls, von wem und in welchem Umfang? Hindert schließlich umgekehrt ein pflichtgemäßes Verhalten des Territorialstaats einen trotz allem gefährdeten Staat daran, exterrito­ riale militärische Maßnahmen zu ergreifen, oder ist hierfür nicht einzig der Umstand seiner tatsächlichen Gefährdung ausschlaggebend? Mit zunehmendem Gegenwartsbezug könnte sodann gefragt werden, ob der unwilling or unable-Standard mit dieser angedeuteten Regel übereinstimmt – also seit jeher oder immerhin seit Kurzem wieder Geltung beansprucht – oder ob es sich nicht doch eher um ein neues normatives Konstrukt der jüngeren Vergangenheit handelt.22 All diese Fragen betreffen letztlich das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 UNCh) und entfalten sich damit im hiervon ausgehenden Verhältnis von Regel und Ausnahmen. Insofern ist Gegenstand der Untersuchung, ob sich der unwilling or unable-Standard in diesem Anwendungsbereich normativ verfestigt hat. Hierzu sind einführungshalber (sogleich unter C.) noch einige prägende Vorannahmen zu den Begriffen der Staatlichkeit und Souveränität kenntlich zu machen. Auf dieser Grundlage wird sich die Untersuchung dann in drei Schritten vollziehen: Zuerst wird es darum gehen, die hier zentralen Begriffe des Unwillens und der Unfähigkeit abgrenzend zu erläutern (1. Kap.). Dies wird den Rahmen für die Frage vorgeben, welche dogmatische Funktion der unwilling or unable-Standard einnehmen könnte (2. Kap.), welche „Konsequenz“ m. a. W. die Bejahung des Unwillens oder der Unfähigkeit haben soll und kann. Erst danach kann schließlich der entscheidenden Frage nachgegangen werden, ob der unwilling or unable-Standard tatsächlich als Teil des universell geltenden Völkerrechts anzusehen ist (3. Kap.).

C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung Im Grundszenario des unwilling or unable-Standards kollidieren mit dem Interesse des gefährdeten Staats auf Selbstverteidigung und dem aufenthaltsstaatlichen Interesse auf Beachtung seiner territorialen Integrität zwei ganz grundlegende staatliche Interessen, die sich in gewisser Weise wohl als „Sou22  Letzteres findet sich im Ansatz z. B. im Hinblick auf die Formulierung der Chatham House Principles im Jahr 2006 (siehe ICLQ 55 (2006), S. 963 ff.) bei O’Connell, AJIL 107 (2013), S. 380 (384).



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 31

veränitätsrechte“ beschreiben lassen.23 Diese in einen Ausgleich zu bringen, bereitet jedoch, versetzt man sich wechselseitig in die Position der jeweiligen Staaten, durchaus größere Schwierigkeiten; treffend hat dies U. Haltern zusammengefasst: „[Die völkerrechtlichen Begrenzungen des Gewalteinsatzes] waren und sind der Versuch, ‚vernünftige‘ Grenzen zu ziehen. Dies setzt voraus, dass der souveräne Staat in der Lage und willens ist, die Angemessenheit von Gewalt deliberativ zu klären. Im Bereich der innerstaatlichen Verrechtlichung ist dies der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach ein Mittel zur Erreichung des Zwecks immer geeignet, erforderlich und angemessen zu sein hat. Im zwischenstaatlichen Bereich ist die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes prekär. Im Kern der Idee des modernen Staates liegt die Idee unendlichen Wertes. Diese schließt eine Abwägung aus: Nichts kann das Überleben des Staates aufwiegen.“24

Inwiefern das Völkerrecht nun in diesem Sinne „vernünftige Grenzen“ zieht oder die Wertschätzung des Staates zum Ausdruck bringt, kann ein Blick auf die Entwicklung des Souveränitätsbegriffs auf dieser Ebene zeigen. Dieser hat sich – so die hier zugrunde gelegte Annahme – in der UN-ChartaÄra stark formalisiert (I.), fordert nach Art. 2 Nr. 4 UNCh einen grundsätz­ lichen und umfassenden Verzicht auf Gewalt (II.) und wird zuletzt in gewissen Grenzsituationen kontrafaktisch aufrechterhalten, um Staatlichkeit umfassend gewährleisten zu können (III.). Auf diese, in ihren einzelnen Ausprägungen vielleicht nicht unbedingt zwingenden, Grundannahmen wird immer wieder zurückzukommen sein. Überdies soll damit nicht nur die besondere Bedeutung des völkerrechtlichen Gewaltverbots hervorgehoben, sondern zugleich betont werden, dass der Souveränitätsbegriff viel zu allgemein, grobmaschig und semantisch flexibel 23  Es sei angemerkt, dass diese Interessenkollision auch in „klassischen“ Selbstverteidigungslagen (d. h. ohne nicht-staatliche Akteure) besteht. Solange der Territorialstaat seine Zustimmung für ein militärisches Tätigwerden nicht erteilt, bedingt auch eine im Ursprung „private“ Gefährdung eines anderen Staats keine Änderung. 24  Haltern, Was bedeutet Souveränität? (2007), S. 81. Gleichwohl soll auch nach Haltern, ebd., unter Fn. 130 nicht auf Verhältnismäßigkeit verzichtet werden. Problematisch ist jedoch die Einstellung außerrechtlicher Beweggründe in die Abwägung. So spricht Haltern, ebd., unter Fn. 130 auch von einem „juristische[n] Nachklang zu einer Situation, die durch ganz andere Parameter geleitet wurde“. Allg. zur Verge­ genwärtigung des hier wirkenden Vorverständnisses die Aufrufe bei Peters/Marxsen, ZaöRV 77 (2017), S. 3 (13) und Marxsen, ZaöRV 77 (2017), S. 91 (93). Für einen Überblick zu verschiedenen Implikationen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Krugmann, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht (2004), passim. In der Sache wird davon auszugehen sein, dass die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts die Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Sinne einer Proportionalität der zum Verteidigungszweck ergriffenen Gewalt im Verhältnis zu der sie provozierten Gewalt voraussetzt, Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 657, 745, 779.

32 Einführung

beschaffen ist, als dass er Antworten für ganz konkrete Rechtsfragen bereithalten könnte.

I. Die Formalisierung staatlicher Souveränität Der Begriff der staatlichen Souveränität lässt sich bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen.25 Gleichwohl setzt seine historische Auseinandersetzung in aller Regel bei J. Bodin und den Six Livres de la République an.26 Dort heißt es im achten Kapitel des ersten Buchs: „Der Begriff Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates […]. Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt.“27 Im zehnten Kapitel findet sich näheres zu den Attributen der Souveränität, wobei J. Bodin die Gewalt, Gesetze zu machen, in Ansehung der materiellen Allumfassung des Gesetzes als das eigentliche Merkmal der Souveränität bestimmt.28 Wichtig ist dabei, dass die Gesetzgebungsgewalt über die Untertanen für sich genommen noch kein Ausweis der Souveränität ist; Fürst und Herzog dürfen auch nicht dem Gesetz eines Höheren oder Gleichgestellten unterworfen sein29 – wohlgemerkt erstreckt sich dies auch auf die vom Herrscher erlassenen Gesetze.30 Damit wird eine abstrakte und absolute Herrschaftsmacht ausgewiesen, die sich gegen den kompetenziellen Dualismus des Mittelalters von Staat und Kirche richtet und modernen Herrschaftsformen den Weg bereitet.31 Eine bestimmte Staatsform ist damit aber, wenn auch die ursprünglichen Anlagen auf eine 25  Siehe Grimm, Souveränität (2009), S. 16 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität (1970), S. 249 (ff.); mit dem Verweis auf eine in diesem Sinne eher relativ-regionale begriffliche Konnotation von Herrschaft zu dieser Zeit, Vesting, Staatstheorie (2018), S. 69, 81. Siehe auch Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964), S. 851 f. Siehe auch den Überblick von Steinberger, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV (2000): „Sovereignty“, S. 500 (501 ff.). 26  Bodin, Les six livres de la République, 1583, dt.: Sechs Bücher über den Staat. Die nachfolgende Inbezugnahme folgt Bodin, Über den Staat (1583 [1976]). 27  Bodin, Über den Staat (1583 [1976]), S. 19. 28  Bodin, ebd., S. 43. Daraufhin heißt es a. a. O.: „Alle anderen Souveränitätsrechte sind darunter subsumierbar: die Entscheidung über Krieg und Frieden, das Recht der letzten Instanz, das Ernennungs- und Absetzungsrecht für die obersten Beamten, das Besteuerungsrecht, das Begnadigungsrecht, das Münzrecht und die Festsetzung des Geldwerts, das Recht auf Treueide der Untertanen und Vasallen.“ 29  Bodin, ebd., S. 44; Quaritsch, Staat und Souveränität (1970), S. 235. 30  Bodin, ebd., S. 25; Loick, Kritik der Souveränität (2012), S. 37. 31  Grimm, Souveränität (2009), S. 24; Loick, ebd., S. 42 f. In einem anderen Sinne sollte die Souveränität staatstheoretische Bedeutung etwa im Verhältnis zwischen dem 1871 gegründeten Deutschen Reich und seinen weiterhin staatlichen Gliedstaaten erlangen: Insofern spricht Möllers, Der vermisste Leviathan, 3. Aufl. 2016, S. 19 zur Differenzierung von Staatlichkeit und Souveränität von einem juristischen Kunstgriff, „von dem das Verfassungsrecht bis heute zehrt und unter dem es bis heute leidet.“



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 33

monarchische Herrschaft hinausliefen,32 nicht vorgegeben:33 So erscheint im Zuge weiterer staatsphilosophischer Überlegungen bei T. Hobbes die gesellschaftsvertraglich begründete unbeschränkte Macht des Herrschers, welche ein un(ge)rechtes Handeln seinerseits verunmöglicht,34 bei J­.-J. Rousseau hingegen die mit der volonté générale zugespitzte Volkssouveränität.35 Den Blick vom Inneren zum Äußeren wendend sind schließlich weniger im Hinblick auf die Souveränität der Staaten denn auf die Mächte die Westfälischen Friedensverträge von Münster und Osnabrück des Jahres 1648 bedeutsam, konkret etwa Art. VIII § 1 Osnabrücker Friedensvertrag.36 Auch wenn es fraglich sein mag, ob die europäische Staatengemeinschaft der nächsten drei Jahrhunderte tatsächlich als Westphalian Order erscheint37 und der Westfälische Friede als Epochengrenze den Grundstein des modernen Völkerrechts legte,38 ist seit diesem Datum die rechtliche Gleichberechtigung (christlich-europäischer) Staaten ohne Über- und Unterordnung in ihrem Verhältnis anerkannt und das Prinzip der Souveränität konkretisiert.39 Diese Entwicklung umfasst die Entstehung neuer Staaten, reicht vom Wiener Kongress (1815), dem Dritten Pariser Frieden (1856) und der 32  Vesting, Staatstheorie (2018), S. 30. Siehe zum Bodin, Rousseau und Schmitt mitumfassenden ideengeschichtlichen Hintergrund auch Derrida, Die „Welt“ der kommenden Aufklärung, in: Schurken (2006), S. 159 (189 f.). 33  Loick, Kritik der Souveränität (2012), S. 43. 34  Hobbes, Leviathan (1651 [1996]), S. 136–144, hierbei die vierte Ausprägung souveräner Herrschaftsmacht, S. 139; Oeter, in: FS Steinberger (2002), S. 259 (263); siehe auch Grimm, Souveränität (2009), S. 32. 35  Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762 [2013]), S. 16–19; vgl. auch Loick, Kritik der Souveränität (2012), S. 107–109; ferner Volkmann, Rechtsphilosophie (2018), S.  56 ff. 36  Quaritsch, AVR 17 (1978), S. 257 (272); Pieper, JA 1995, S. 988 (992); dt. Übersetzung des besagten Abschnitts: „Zur Vorsorge gegen neue Kontroversen über die Verfassung [des Reichs] sollen alle Kurfürsten, Fürsten und Stände des Römischen Reichs in ihrer Gesamtheit und jeder einzelne von ihnen in ihren alten Rechten, Vorrechten, Freiheit, Privilegien, der freien Ausübung der Landeshoheit sowohl in geistlichen wie in weltlichen Sachen, Herrschaften, Regalien, und deren ganzem Besitz, kraft dieses Vertrages so bestätigt und befestigt werden, da[ss] sie von keinem jemals unter irgendeinem Vorwand tatsächlich gestört werden können und dürfen“, Originalfassung und Übersetzung zit. nach Schröder (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede (1999), S. 139 (178). 37  In diesem Sinne Oeter, in: FS Steinberger (2002), S. 259 (264); terminologisch dafür hingegen Pieper, JA 1995, S. 988 (995); Hobe/Fuhrmann, Die Friedens-Warte 82 (2007), S. 97 (99). 38  Insofern krit. Pieper, ebd., S. 992; krit. differenzierend auch Schröder, in: ders. (Hrsg.), 350 Jahre Westfälischer Friede (1999), S. 119, passim; vgl. Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), S. 51 (51). 39  Rudolf, AVR 17 (1976), S. 1 (1); Quaritsch, AVR 17 (1978), S. 257 (272); Pieper, ebd., S. 995.

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Anerkennung der Vereinigten und lateinamerikanischer Staaten hin zu den nationalen Einigungsprozessen in Italien und Deutschland im allmählich ausgehenden 19. Jahrhundert, erfasst Unabhängigkeitsprozesse in Nord- und Ostmitteleuropa spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bevor es zur Dekolonisation v.  a. auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent kommt.40 Im Laufe dieser Zeit führte der erste Weltkrieg zur Gründung des 1946 aufgelösten Völkerbundes, der zweite Weltkrieg zur Gründung der Vereinten Nationen. In ihrer Charta heißt es in Art. 2 Nr. 1 seitdem:41 „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“ Vor allem ist darunter die formale Gleichstellung aller Mitglieder der Staatenwelt zu verstehen.42 In gewisser Weise mag dies noch an den Westfälischen Frieden erinnern, das damit verbundene Verständnis von Souveränität hat sich seitdem jedoch gewandelt, was nicht zuletzt der im 20. Jahrhundert deutlich zunehmende Schutz von Menschenrechten und Umweltbelangen indizieren mag.43 So unterliegt der Souveränitätsbegriff seit jeher zahlreichen Diskussionen und Differenzierungen: Was sich dahinter verbirgt, was Souveränität tatsächlich ist und was dieser Begriff impliziert, bereitet häufig größere Schwierigkeiten, steht jedoch letztlich im Zeichen der jeweiligen Zeit.44 So steigerte sich im klassischen Völkerrecht mitunter die nicht abgeleitete und unabhängige Staatsgewalt zu einer absoluten Ausformung staatlicher Souveränität, einer vollkommenen Handlungsfreiheit, die etwa das Recht freier Kriegsführung selbstverständlich erscheinen ließ.45 Dieser Absolutheitsanspruch verträgt sich indes schwerlich mit der Existenz anderer souveräner Staaten, die durch das Völkerrecht miteinander verbunden sind.46 Souveränität im heutigen Völkerrecht läuft in Ansehung der Anerkennung dieser Ordnung folglich 40  Rudolf,

ebd., S. 2 f.; Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), S. 51 (51). der Vereinten Nationen v. 26.6.1945, BGBl. 1973 II S. 430; 1974 II S. 769; 1980 II S. 1252 (UNCIO Bd. 15 S. 335). 42  Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 33 Rn. 1. 43  Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (56). 44  Siehe nur die Ausdifferenzierungen bei Müller-Wewel, Souveränitätskonzepte (2003), S. 172 ff.: absolute/relative, positive/negative, politische/rechtliche sowie innere/äußere Souveränität. Oder etwa Schwarzenberger, Current Legal Problems 10 (1957), S. 264 (268 ff.); ferner Oeter, in: FS Steinberger (2002), S. 259 (276); Fassbender, in: FS Jayme (2004), S. 1089 (1095). Anders hingegen Blumenwitz, Politische Studien 50 (1999), S. 19 (20): „Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Prinzip der Souveränität, die ‚summa potestas‘, also die höchste, nach außen wie im Inneren selbständige, von keinem Höheren abhängige Herrschaftsmacht, nicht gewandelt; allenfalls haben sich Art, Umfang und Begründung der der souveränen Staatlichkeit immanenten Schranken geändert.“ 45  Oeter, ebd., S. 272; vgl. Müller-Wewel, Souveränitätskonzepte (2003), S. 172 ff. 46  Kelsen, Das Problem der Souveränität (1928 [1981]), S. 102. 41  Charta



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 35

auf die Völkerrechtsunmittelbarkeit eines Staates hinaus.47 Damit einher geht eine gewisse inhaltliche Reduktion, was staatliche Souveränität als rein formales Prinzip ausweist;48 sie mag auf dieser Grundlage als semantisch entleerter Begriff, als bloße Fiktion oder schlicht „tû-tû“ und die ihr gewürdigte Aufmerksamkeit unangebracht erscheinen.49 Doch gleichwohl läge hierin nicht das Gebot, nicht mehr über Souveränität zu sprechen.50 Vielmehr deutet dieser Umstand darauf hin, dass Souveränität als eine Art Abbreviatur oder sprachliche Vereinfachung schlicht auf „dahinter stehende“ Regeln und Institutionen verweist51 und zur Lösung „alltäglicher“ Probleme und konkreter Rechtsfragen nur von geringem Nutzen ist: „The institutional fact of being sovereign is not something that can be counted and measured; its reality consists in its being used and accepted. As long as states claim a sovereign status and as long as this claim is accepted and acted upon, it is not very fruitful to discuss whether states, apart from the claims to sovereignty and their acceptance, are still really sovereign.“52

47  Steinberger, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV (2000): „Sovereignty“, S. 500 (511 f., 515); Oeter, in: FS Steinberger (2002), S. 259 (276); Fassbender, in: FS Jayme (2004), S. 1098 (1095); vgl. auch Kelsen, GLJ 48 (1960), S. 627 (634); ebenso ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 2.7: „Sovereignty has come to signify, in the Westphalian concept, the legal identity of a state in international law.“ Zugeneigt, i. E. aber auf „Unabhängigkeit“ abstellend, Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1975, S. 123–127. 48  Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat (2005), S. 218. Nach M. Koskenniemi der sog. „legal approach“, gegenüber dem sog. „pure fact approach“, Koskenniemi, From Apology to Utopia (2005), S. 228 ff. 49  Vgl. insb. Werner, in: HYIL 14 (2001), S. 73 (74 f. m. w. N.; 77); Ross, Harv. L. Rev. 70 (1957), S. 812, passim; siehe auch Koskenniemi, ebd., S. 242: „[A]ssuming that sovereignty had a fixed content would entail accepting that there is an antecedent material rule which determines the boundaries of State liberty regardless of the subjective will or interest of any particular State. But this is incompatible with the liberal doctrine of politics“, in diesem Sinne und zur Kontextgebundenheit auch S. 245, 255; Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (56) hält Souveränität für nach wie vor wichtig, „[h]owever, it is on the decline“. Siehe dagegen aber Bleckmann, AVR 23 (1985), S. 450 (450–453); ferner Oeter, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 29 (33), der die Vorstellung von Souveränität als „leere Hülle“ insofern kritisiert, als Souveränität für die Institutionalisierung kollektiver Selbstbestimmung politisch verfasster Gemeinschaften wichtig sei. 50  Vgl. Ross, ebd., S. 814 f., 818, 820–822, 825. 51  Vgl. Ross, ebd., S. 821; siehe überdies auch Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), S. 51 (64, mitsamt Verweis auf J. Kokott in Fn. 66). 52  Werner, in: HYIL 14 (2001), S. 73 (82).

36 Einführung

II. Staatliche Souveränität, Gewalt und völkerrechtliches Gewaltverbot Die Auseinandersetzung mit Souveränität bedarf daher bei Vergegenwärtigung des jeweiligen zeitgeschichtlichen Zusammenhangs der Rückanbindung an einen konkreten Sachbereich.53 Dieser liegt hier im staatlichen Rückgriff auf Gewalt in den internationalen Beziehungen. Wie schon angedeutet wurde, kam es dabei zu einer Wandlung des Souve­ ränitätsverständnisses: So meinte J. Bodin, dass das Recht über Krieg und Frieden zu entscheiden eines der bedeutendsten Souveränitätsrechte darstellt, „da es Untergang oder Sicherung des Staates nach sich zieht“54 und T. Hobbes leitete aus dem gesellschaftsvertraglich verfolgten Friedenszustand das präventive Recht des Souveräns ab, „alles […] zur Erhaltung von Frieden und Sicherheit […] vorbeugend zu tun“55. Wenn sich auch nach dem 30-jährigen Krieg allmählich die Ansicht festigte, dass dabei ein gewisser humanitärer Mindeststandard zu wahren sei, lässt sich für die Zeit vom Westfälischen Friede bis zu den Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907) doch sagen, dass sich der souveräne Staat durch sein Recht zur Entscheidung über das „Ob“ des Einsatzes militärischer Mittel auswies, was den Krieg zum legitimen Konfliktlösungsmittel (oder Naturereignis) machte.56 Von diesem Recht zum Krieg, dem ius ad bellum, entfernten sich die Staaten im 20. Jahrhundert: In der Satzung des 1920 gegründeten Völkerbundes finden sich nur Koskenniemi, From Apology to Utopia (2005), S. 255. Über den Staat (1583 [1976]), S. 44. 55  Hobbes, Leviathan (1651 [1996]), S. 139. 56  Tomuschat, Leviathan 2003, S. 450 (451 f.); ein weiterer Überblick auch bei dems., ZaöRV 79 (2019), S. 579 (589 ff.); Hobe/Fuhrmann, Die Friedens-Warte 82 (2007), S. 97 (99); Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rn. 2, relativierend jedoch Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 55 Rn. 1. Vgl. auch Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (22, 83 f.); de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (19 f.); Fassbender, in: FS Jayme (2004), S. 1089 (1092); siehe etwa das I. Haager Abkommen von 1907 (Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle) vom 18.10.1907, RGBl. 1910 S. 5. Relativierend Simon, EJIL 29 (2018), S. 113 (134, 136), der dem Narrativ eines vermeintlich im 19. Jhdt. vorherrschenden liberum ius ad bellum Clausewitz’scher Prägung eine durchaus verbreitete Tendenz zur Rechtfertigung des Krieges unter Gesichtspunkten der Moral und des natürlichen Rechts nebst Stimmen zu einem Verbot des Krieges gegenüberstellt und auf dieser Grundlage ein gänzlich freies Kriegsführungsrecht als Mythos der Völkerrechtsgeschichte qualifiziert. Siehe weiterhin Bernstorff, EJIL 29 (2018), S. 233 (239–241, 260), indes mit dem Verweis darauf, dass die Vorkehrung gewisser Rechtfertigungsgründe einem tatsächlich freien Kriegsführungsrecht durchaus nahe sein kann (vgl. ebd., S. 244), daneben ein Hinweis auf die Implikationen eines zur Zeit des Imperialismus differenzierenden Status nationaler Zivilisiertheit (ebd., S. 245 ff.). 53  Siehe

54  Bodin,



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 37

erste (eher programmatische) Einschränkungen;57 1928 wurde der BriandKellogg-Pakt abgeschlossen, dessen Art. I erklärte, „daß [die Vertragsparteien] den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verur­ teilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“58; 1945 kam es dann zur Gründung der Vereinten Nationen.59 Nun bringt nicht nur die Präambel ihrer Charta das Übel des Kriegs zum Ausdruck,60 vielmehr heißt es mit sachlich umfassenden Anspruch in Art. 2 Nr. 4 UNCh61: „All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations.“

Dieses völkerrechtliche Gewaltverbot gilt neben der UN-Charta völkergewohnheitsrechtlich und hat zudem den Rang von ius cogens eingenommen, verleiht also dem Grundverständnis einer Rechtsordnung Ausdruck, die sich vom freien Kriegsführungsrecht der Staaten62 verabschiedet und ein Recht gegen den Krieg statuiert hat: das ius contra bellum.63 In diesem Sinne sind 57  Fassbender, ebd., S. 1095; Blumenwitz, Politische Studien 50 (1999), S. 19 (21); Völkerbundsatzung (im Rahmen der Pariser Vorortverträge) v. 28.4.1919, siehe RGBl. 1919 S. 716: In der Präambel heißt es etwa vorsichtig, dass die Vertragsparteien die zugrundeliegende Satzung in der Erwägung annehmen, dass „es zur Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit wesentlich ist, bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten“. Siehe (ebd.) ferner auch Art. 10 S. 1, wonach sich die Mitglieder dazu verpflichten, „die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren.“ Siehe ferner die Streitschlichtungsmechanismen in Art. 13 und 15 und die Konsequenzen gleichwohl eingeleiteter kriegerischer Maßnahmen in Art. 16. 58  Briand-Kellogg-Pakt (Vertrag über die Ächtung des Krieges) v. 27.8.1928, RGBl. 1929 II S. 97. 59  Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 2 Rn. 51; im Überblick zu den Entwicklungen nach dem ersten Weltkrieg Tomuschat, ZaöRV 79 (2019), S. 579 (592–595). 60  Hierfür steht die Formulierung a. a. O. Pate: „We the peoples of the United Nations – determined to save succeeding generations from the scourge of war, […] and for these ends […] to unite our strength to maintain international peace and security, […] have resolved to combine our efforts to accomplish these aims.“ 61  Zur umfassenden Geltung siehe Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 ff., passim; zum histor. Kontext O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against NonState Actors (2019), S. 174 (183 f.). 62  Siehe jedoch wieder Simon, EJIL 29 (2018), S. 113 ff. und zuvor unter Fn. 56 sowie Bernstorff, EJIL 29 (2018), S. 233 ff. und ebenfalls zuvor unter Fn. 56. 63  Hobe/Fuhrmann, Die Friedens-Warte 82 (2007), S. 97 (111  f.); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 228; diesen Paradigmenwechsel hat Tomuschat, ZaöRV 79 (2019), S. 579 (595) als Kopernikanische Wende beschrieben; zur Ent-

38 Einführung

die Staaten jedoch nicht weniger souverän als sie es vor Anbeginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein mögen. Das Recht zur freien Kriegsführung weist nicht mehr den souveränen Staat aus, sondern das allgemeine Gewaltverbot „[wird] als eine Grundbedingung der Unabhängigkeit und Gleichheit der Staaten angesehen“.64 Allgemeiner gesprochen ist damit die Anerkennung der Abwesenheit eines früheren Merkmals staatlicher Souveränität nun Bedingung dieser selbst. Daher kann auch Souveränität von sich aus nicht Aufschluss über ihren Inhalt geben. Diesen bringt nur das Verhalten der völkerrechtlichen Akteure zum Ausdruck, das der Souveränität erst nach seiner normativen Verfestigung ihre Prägung verleihen kann. wicklung Krugmann, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht (2004), S. 16 f. Zur Frage, ob entweder das Gewaltverbot oder das Recht über das Gewaltverbot gesamtheitlich als ius cogens einzustufen ist, Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (25 ff.). 64  Fassbender, in: FS Jayme (2004), S. 1089 (1095); in diesem Sinne wohl auch Tomuschat, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 65 (73), der aufbauend auf der Frage nach einem militärischen Eingreifen des Sicherheitsrates in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen von einer neuen Sichtweise spricht, „welche staatliche Souveränität nur noch als eine von der internationalen Gemeinschaft kontrollierte Funktion, aber nicht mehr als einen rocher de bronce staatlicher Unberührbarkeit versteht“ und schließlich ebd. auf S. 83 festhält, dass „[die] Sicherung staatlicher Souveränität […] erst mit der Einführung des umfassenden Gewaltverbots durch die UN-Charta ihre Vollendung erfahren [hat].“ Ferner ­Oeter, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 29 (32): „Friedenssicherung dient der Souveränität, indem sie die Autonomie der Staaten gegenüber Zwang und Einmischung der Stärkeren schützt“. Siehe weiterhin auch noch Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (325), der hier das Prinzip der souveränen Gleichheit erstmals durch Art. 2 Nr. 4 UNCh als fest konturiert ansieht. Ferner auch Rawls, Das Recht der Völker (1999 [2002]), S. 114. Im wohl gänzlich entgegengesetzten Sinne Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964), S. 852 f. So wird auch in früheren Überlegungen zum Souveränitätsbegriff bei dems., BDGV 1 (1957), S. 1 ff. äußere Souveränität als „Prinzip ungebundenster Freiheit“ beschrieben (ebd., S. 3) und eine ihrer Funktionen für die Ordnung der Staatengemeinschaft in dem Recht eines Staates gesehen, „sich selbst zu beurteilen“ (ebd., S. 22). Ein Übermaß an Staatsgewalt wird zwar als Gefahr erkannt, Supranationalisierung und Institutionalisierung dagegen jedoch nicht als Lösung akzeptiert, da dies lediglich zu einer Umbenennung führe, wie Art. 51 UNCh zeige. So kommt H. Krüger zu dem doch zweifelhaften Satz: „Da die Geschichte im Grunde genommen nur Verteidigungskriege verzeichnet, dürfte es praktisch wenig bedeuten, ob man ein Recht zum Kriege oder ein Recht zur Selbstverteidigung, und zwar zu kollektiver Selbstverteidigung, gewährt.“ (ebd., S. 19) Das Absehen von einer dogmatischen Betrachtung (ebd., S. 2) mag diese Vereinfachung erklären. Grundlegender ist jedoch ein materielles Souveränitätsverständnis, welches sich über das zuvor Gesagte hinaus auch zeigt, wenn Souveränität (nach wie vor) als das Recht zum Krieg, zu seinem Verzicht und zu seiner Unterlassung beschrieben wird, wobei noch nicht dargetan sei, „inwiefern eine Zentralisierung der Zwangsvollstreckung eine Rationalisierung des Gewalteinsatzes bewirken werde.“ (ebd., S. 25) Entscheidend erscheint jedoch, dass diese Zentralisierung mit Art. 2 Nr. 4, 39 ff. und 51 UNCh schlichtweg erfolgt ist.



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 39

Entsprechend fußt die nun durch die UN-Charta konstituierte Friedensordnung – neben souveräner Staatengleichheit und daraus abgeleitetem Interventionsverbot65 – auf Art. 2 Nr. 4 UNCh, wovon nur wenige Ausnahmen anerkannt sind: Als solche gelten Zwangsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrats im Anwendungsbereich von Kap. VII UNCh (Art. 39, 42 f. UNCh) sowie das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UNCh).66 So können sich Staaten im Ausnahmefall zur Wehr setzen, auch wenn sie sich unter dem UN-Charta-Regime nicht mehr behaupten müssen sollen.

III. Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität in Grenzsituationen Wenn Souveränität zuvor als völkerrechtsunmittelbare Staatlichkeit bestimmt wurde, wird sie stets vorzufinden sein, wenn man es mit einem Staat zu tun hat. Der Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 UNCh) erstreckt sich wiederum gleichermaßen auf UN-Mitglieder, Nichtmitglieder und alle stabilisierten de facto-Herrschaften.67 Um die Reichweite des Gewaltverbots zu veranschaulichen, kann also Orientierung im – hier nicht erschöpfend erfassbaren – Begriff des Staats und dem Fall seiner existenziellen Bedrohung gefunden werden. Der völkerrechtstypische Zugriff verläuft dabei über die Drei-ElementenLehre G. Jellineks, wonach sich ein Staat durch ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt auszeichnet.68 Die geringsten Probleme bereitet 65  Athen, Der Tatbestand des völkerrechtlichen Interventionsverbots (2017), S. 111 (m. w. N.), 162. 66  Siehe auch Blumenwitz, Politische Studien 50 (1999), S. 19 (29); Steinberger, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV (2000): „Sovereignty“, S. 500 (513 f.); im Überblick auch Simon, AVR 54 (2016), S. 1 (2, 4 f.). Dass sich dieses Regelungsregime durch die Koexistenz eines „institutionellen“ und eines „staatlichen Codes“ auszeichnen soll, wie Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 ff. (258 f., 260 ff., 290 f. z. B.) vorgeschlagen haben, scheint ein etwas künstlicher und kaum konsequent durchhaltbarer Ansatz zu sein: Man denke mit Blick auf den IGH im Allg. nur an Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt, im Speziellen hingegen an die doch in weiten Teilen der Staatengemeinschaft befürwortete Rspr. zu Art. 51 UNCh (siehe NAM, 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document, Ziff. 25.2; Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (897)). Insofern dürfte der supponierte Nutzen dieses Ansatzes (siehe ebd., S. 291) auch nicht über das ohnehin bestehende Erfordernis empirischer Untersuchungen ­hinausgehen. 67  Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 468, 406 f. 68  Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1914 [1959]), S. 394 ff., 406 ff., 427 ff. Um ein viertes Kriterium erweitert, Art. 1 Konvention von Montevideo über Rechte und ­Pflichten der Staaten vom 26.12.1933: „The state as a person of international law

40 Einführung

das Staatsvolk: ein dauerhaft angelegter Verbund von Menschen, der dem Staat mithilfe der Staatsangehörigkeit vermittelt wird, die sich (alternativ oder ergänzend) nach dem Personalitäts- oder Territorialitätsprinzip richtet.69 Auf eine Mindestzahl kommt es nicht an;70 entscheidend ist eher ein die Bevölkerungsmehrheit auf einem bestimmten Gebiet verbindendes Zugehörigkeitsgefühl, ein „staatstragendes Bewusstsein“.71 Mit seinem Schwund „beginnt auch die effektive Staatsgewalt wegzubrechen“.72 So ist eine allein über das Volk vermittelte staatsexistenzielle Bedrohung kaum vorstellbar. Ähnliches gilt für das Staatsgebiet73: Die Ausübung fremder Hoheitsgewalt auf dem Staatsgebiet bedeutet keinen Verlust des Staatsgebiets, da Gebietshoheit und territoriale Souveränität auseinanderfallen können.74 In diesem Sinne ist auch eine Omnipräsenz der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet, etwa in unwegsamen Arealen, für die Aufrechterhaltung territorialer Souveränität nicht vonnöten.75 Als mit dem Staatsgebiet assoziierbare Störungen, die sich auf das Vorhandensein der Staatlichkeit auswirken, sind v. a. Sezessionen76 und Dismembrationen zu nennen.77 Doch auch hier spielt die should possess the following quailfications: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) capacity to enter into relations with the other states.“ 69  Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 76; Kau, in: Vitzthum/ Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 3 Rn. 76 f. 70  Kau, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), ebd., Rn. 76 f. 71  So Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 8 Rn. 6. 72  Herdegen, ebd., § 8 Rn. 6. 73  Ein auf natürliche Art gewachsener, von anderen Rechtsordnungen mittels einer Grenze getrennter Erdoberflächenausschnitt mitsamt darunter liegendem Erdreich, einem sich darüber bis zum staatsfreien Weltraum erhebenden Luftraum und einem etwaigen Küstenstreifen von bis zu zwölf Seemeilen, siehe Kau, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 3 Rn. 78; Herdegen, ebd., § 8 Rn. 5; Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 5, 7; Horn, in: Gornig/Horn, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit (2016), S. 21 (24 f.); i. Ü. VG Köln, DVBl 1978, S. 510 (511). Ähnlich wie beim Staatsvolk sind zur Abgrenzung von Rechtsordnungen exakte Grenzziehungen nicht nötig, stattdessen kommt es auf die Existenz eines unbestrittenen Kerngebiets an, Epping, in: Ipsen, ebd., § 7 Rn. 7, näher dazu im Ff. a. a. O.; Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (23 und f.). 74  Gornig, in: Gornig/Horn, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit (2016), S. 35 (36); territoriale Souveränität kann jedoch (vornehmlich zessionarisch) erworben werden, siehe Gornig, in Gornig/Horn, ebd., S. 40 ff. 75  Vgl. Urs, ZaöRV 77 (2017), S. 31 (33); vgl. nur zum Rahmen staatlicher Schutzpflichten Fohr, ZaöRV 73 (2013), S. 37 (52 f.). 76  Bei Sezessionen spaltet sich zur Gründung eines neuen Staats oder zum Anschluss an einen anderen ein Teil des Staatsgebiets gegen den Willen desjenigen Staates ab, der das fragliche Gebiet eigentlich umfasste, Gornig, in: Gornig/Horn, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit (2016), S. 35 (60); siehe im Hinblick auf



C. Zur Relevanz staatlicher Souveränität in der Untersuchung 41

Staatsgewalt eine maßgebliche Rolle für das weitere Vorliegen eines Staats:78 Denn bei Sezessionen tritt der Gebietsverlust erst ein, wenn sich die neue Staatsgewalt durchgesetzt hat – ein Resultat, das sich ohne „Zurücktreten“ der alten Staatsgewalt kaum denken lässt,79 während es im Fall der Dismembration keine Gewalt mehr gibt, die den Staat zusammenhalten, seinen Zerfall verhindern könnte. Staatsexistenzielle Bedrohungen werden damit im Schwerpunkt stets auf Störungen der effektiven Staatsgewalt beruhen.80 Ausdruck äußerster Störungen in diesem Sinne ist der failed state: Hier kommt es zu einem umfassenden, sich v. a. innerstaatlich verzeichnenden Wegfall effektiver Staatsgewalt: Das staatliche Gewaltmonopol bricht zusammen und macht anarchischen Zuständen privatisierter Gewalt Platz, grundlegendste staatliche Funktionen wie Rechtsprechung und Rechtsetzung, mitsamt ihrer verwaltungstechnischen Umsetzung, können nicht mehr erfüllt und dezidiert gesellschaftliche Aufgabenbereiche wie ein funktionierendes Schul- und Gesundheitswesen, die Bereithaltung lebenswichtiger Güter oder die Unterhaltung der Infradas Selbstbestimmungsrecht der Völker auch Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 36 Rn. 6. 77  Hier zerfällt ein Staatsgebiet in mehrere (nicht mit seinem Vorgänger identische) Staaten, Gornig, in: Gornig/Horn, ebd., S. 61; siehe auch Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (24). Weitere, hier irrelevante Verlustgründe sind Fusion, Inkorporation, Verzicht und Dereliktion, mit kurzem Überblick Gornig, in: Gornig/Horn, ebd., S. 60–62. 78  In der Grundausrichtung ähnlich Brownlie, Principles of Public International Law (1998), S. 71: „The shortest definition of a state for present purposes is perhaps a stable political community, supporting a legal order, in a certain area. The existence of effective government, with centralized administrative and legislative organs, is the best evidence of a stable political community.“ 79  Gornig, in: Gornig/Horn, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit (2016), S. 35 (60). 80  Entsprechend, wird Souveränität häufig als eine Eigenschaft der Staatsgewalt eingestuft, etwa Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 138; nuanciert anders Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 8 Rn. 7: Hier erscheint zwar Souveränität unter dem Aspekt der Staatsgewalt, wird dagegen „gewissermaßen [als] rechtliche Konsequenz der Staatsqualität eines Personenverbandes“ angesehen, von welchem die Staatsgewalt wiederum nur ein Teil sein kann. Diese strukturelle Festlegung rechtfertigt sich auch aus soziologischer Sichtweise, wenngleich diese die Fiktion wohl nicht in vergleichbarer Weise tragen würde, siehe Weber, Staatssoziologie (1966 [2011]), S. 30: „Man kann vielmehr den modernen Staat soziologisch letztlich nur definieren aus einem spezifischen Mittel, das ihm, wie jedem politischen Verband, eignet: das der physischen Gewaltsamkeit. […] Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates […], wohl aber: das ihm spezifische. […] Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ Weiterhin Vesting, Staatstheorie (2018), S. 30 f., 69.

42 Einführung

struktur nicht mehr zureichend gewährleistet werden, sodass humanitäre Krisen und Menschenrechtsverletzungen eine soziale Fragmentierung befürchten lassen.81 An dieser Stelle lässt sich nun eine Tendenz zur Aufrechterhaltung von Staatlichkeit – also auch von staatlicher Souveränität – verzeichnen, welche M. Herdegen folgendermaßen zusammengefasst hat: „Bei bestehenden, in der Völkergemeinschaft anerkannten Staaten nimmt das Völkerrecht die Erosion effektiver Staatsgewalt bis an die Grenze der bloßen Fiktion hin. Erst mit dem endgültigen Schwund der Aussicht auf Wiederherstellung der Staatsgewalt in absehbarer Zeit geht der Staat als Völkerrechtssubjekt unter. Bis dahin wird der moribunde Staatsverband voll als Mitglied der Staatengemeinschaft behandelt.“82

Ihm mag also die Handlungsfähigkeit fehlen, rechtsfähig bleibt er dennoch so lange, bis sich auf dem fraglichen Territorium ein neuer Staat konstituiert hat.83 Darin manifestiert sich „[e]ine die Souveränität betonende Entwicklungslinie“, die im Einklang mit den bisherigen Ausführungen zum Verhältnis von Souveränität und Gewalt den Zweck verfolgt, dem völkerrechtlichen Gewalt- und Interventionsverbot umfassend Rechnung zu tragen, sich also als Ausdruck des skizzierten Souveränitätsverständnisses der Charta-Ära erweist.84 Dieser Hang zu größtmöglicher Staatenkontinuität beruht weniger 81  Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 24, 26–29, 36–39; zu weiteren Indikatoren, Übersichten und aktualisiertem Anschauungsmaterial siehe den Fragile States Index (vorm. Failed States Index) des Fund for Peace, zur Methodik und aktuellen Entwicklung FFP, Fragile States Index 2018, S. 6 f., 30 ff. Auf diesen greift für die vorliegend interessierenden Fälle zum Selbstverteidigungsrecht ausdrücklich Henriksen, JCSL 19 (2014), S. 211 (245 unter Fn. 198) zurück; dies dürfte eine Ausnahme darstellen. Abgesehen davon ist die Vorstufe des failed state der sog. failing state, der zerfallende Staat, in dem sich der bezeichnete Zusammenbruch schon abzeichnet, ein Minimum an effektiven staatlichen Strukturen aber noch besteht, Liebach, ebd., S. 24. 82  Herdegen, BDGV 34 (1996), S. 49 (50) [Hervorh. P. L.], dies freilich nicht ohne Polemik (siehe S. 51 zum „fast obsessiven Beharren auf dem Gewaltverbot“) und eher als Wiedergabe eines kritisierten traditionellen Völkerrechtsverständnisses; M. Herdegen schlägt daher eine Relativierung des Gewaltverbots, dem ein absoluter Rechtswert abgesprochen wird, für den sich beim failed state im tatsächlichen Sinne offenbarenden Fall „des Staatstorsos und der bloßen Souveränitätshülse“ durch eine zweckorientierte Rückanbindung des Gewaltverbots an die Möglichkeit staatlicher Willensbildungsprozesse sowie politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnungsentscheidungen vor, ebd., S. 49, 60 (und f.), 81. Das Vorliegen einer „staatskonservativen Grundeinstellung“ bestätigt positiv konnotiert Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (25); ferner Doehring, ZaöRV 67 (2007), S. 385 (386). 83  Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 142; siehe ferner auch Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S. 258. 84  Thürer, BDGV 34 (1996), S. 9 (16 f.); Geiß, „Failed States“ (2005), S. 123; vgl. Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (18); vgl. in diesem Lichte auch verschiedene Sicherheitsratsresolutionen im Zusammenhang mit Staatskrisen: kurz nach Ende des Dritten



D. Zusammenfassung43

auf einer schematischen Prüfung der Staatsmerkmale, sondern dient dem staatengemeinschaftlichen Rechtssicherheitsinteresse.85 Selbstverständlich ist die den failed state bloß formal als Staat ausweisende Fiktion daher nicht.86 Sie zeigt aber, dass auch im Völkerrecht der bloße Rekurs auf die Drei-Elementen-Lehre nicht ausreicht, um Staatlichkeit abschließend zu erfassen.87 Für die weitere Untersuchung kann aber immerhin davon ausgegangen werden, dass völkerrechtlich betrachtet Staat und Souveränität zusammenfallen, mithin jeder Staat in derselben Weise als souverän anzusehen ist.88

D. Zusammenfassung Auf dieser Grundlage wird davon ausgegangen, dass staatlicher Souveränität im Völkerrecht kein wirklich eigenständiger, feststehender, von bestimmten normativen Kontexten losgelöster Bedeutungsgehalt zukommt. Sie erweist sich als formales Prinzip, beansprucht absolute Geltung, korreliert mit Staatlichkeit und mag als „Meta-Norm“ elementare, den Staaten per se zukommende, „angeborene“ Rechte und Pflichten bündeln.89 Souveränität und Staatlichkeit gehen damit Hand in Hand, sodass ein Zwischenstadium rechtlicher Unsicherheit ebenso wenig wie ein Nebeneinander von sich in ihren Souveränitäten unterscheidenden Staaten existieren kann.90 Grund hierfür ist Golfkriegs UN-Sicherheitsrat, Res. 1483 (2003), 22.5.2003, UN-Dok. S/RES/1483 (2003), S. 1; zur Verhängung verschiedener Embargos über das von der Taliban regierte Afghanistan Res. 1333 (2000), 19.12.2000, UN-Dok. S/RES/1333 (2000), S. 1; Res. 1267 (1999), 15.10.1999, UN-Dok. S/RES/1267 (1999), S. 1; Res. 1214 (1998), 8.12.1998, UN-Dok. S/RES/1214 (1998), S. 1; zum Lotterieaufstand in Albanien Res. 1101 (1997), 28.3.1997, UN-Dok. S/RES/1101 (1997), S. 1; a. A. Delaney, Stanford J. Intʼl Rel. 10 (2008), S. 10 (14 ff.), der mit dem Konzept sog. „De-Recognition“ gewissermaßen die Auswirkungen staatlicher Unfähigkeit zu kompensieren sucht: „[O]ther regions could be dealt with by international forces for what they in fact are: lawless territories with bandits and ‚land pirates‘ “ (ebd., S. 16). 85  Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 54; Geiß, ebd., S. 121. 86  Liebach, ebd., S. 59, dabei mit Rekurs auf Holsti, The State, War, and the State of War (1996), S. 120, der a. a. O. von einer „hollow shell“ spricht, einem Zustand, in welchem Rechtspersönlichkeit und politische Realität voneinander getrennt seien. 87  Einen Überblick über die sich hierbei stellenden Schwierigkeiten gibt bspw. Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 39–48. Andeutungshalber hierzu auch unter Fn. 68. 88  Vgl. Kelsen, Das Problem der Souveränität (1928 [1981]), S. 319 f. 89  Nach Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), S. 51 (62 f., 64). Starski, in: Jäger/Heinz (Hrsg.), Frieden durch Recht (2020), S. 67 (82 ff.) mit einem Überblick zum entgegenstehenden Konzept „konditionierter Souveränität“. 90  Im Fallmaterial wird dabei, wie zu sehen sein wird, i. d. R. kein Zweifel am Vorliegen von Staatlichkeit bestehen.

44 Einführung

die mit der UN-Charta geschaffenen Friedensordnung, was zugleich auf einen umfassenden Geltungsanspruch des sie abstützenden Gewaltverbots ­ hindeutet. Das sich hierin artikulierende Verständnis von Souveränität ist jedoch betontermaßen zeitgenössisch, im historischen Kontext zu verorten, übergreifend betrachtet also keinesfalls natürlich oder fixiert, sondern prinzipiell entwicklungsoffen.91 Insofern bietet der Souveränitätsbegriff zugleich das Potential, dezidiert völkerrechtliche Entwicklungen zu beschreiben, die – wenn auch nur konzeptionell92 – einen Wandel der den Staaten elementar zukommenden Rechte und Pflichten anzeigen mögen.93 Inwiefern dies der Fall ist, entscheidet letztlich aber – sozusagen: bottom-up94 – das Verhalten der Völkerrechtsakteure, also v. a. das der Staaten. Allseits ist der Souveränitätsbegriff mithin, wenn überhaupt, nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. In diesem Sinne verschreibt sich die Untersuchung zum völkerrechtlichen Stellenwert des unwilling or unable-Standards einem eher rechtspositivistisch-dogmatischen und zugleich weniger staats­ theoretischen Ansatz. Denn es sind letztlich erst etwaige auf dieser niedrigschwelligen Ebene vorzufindende Gewissheiten, die dazu im Stande sind, der latenten Vorstellung eines aktuellen Souveränitätsverständnisses Ausdruck zu verleihen.

Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft (2019), S. 235–262. Konnotationen oder Konzepte von Souveränität im Völkerrecht etwa ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 2.14: „sovereignty as control“ und „sovereignty as responsibility“, zuvor (Ziff. 2.13): „The Secretary-General has discussed the dilemma in the conceptual language of two notions of sovereignty, one vesting in the state, the second in the people and in individuals.“ Oder der bei Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 133 konstatierte Wandel: „Während die Rechtsfigur der humanitären Intervention zum Schutz fundamentaler Menschenrechte einen Souveränitätswandel von der ‚sovereignty as control‘ hin zu einer ‚sovereignty as responsibility‘ einleitete, gewinnt nun der Aspekt der ‚sovereignty as responsibility to control‘ an Bedeutung.“ 93  Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), S. 51 (63–64), dabei auch unter Einbeziehung von Stoll, in: Hilpold (Hrsg.), Die Schutzverantwortung (2013), S. 143 (149). 94  Arnauld, ebd., S. 64. 91  Siehe 92  Für

1. Kapitel

Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards Die Klärung des völkerrechtlichen Stellenwerts des unwilling or unableStandards bedarf einer Vorstellung darüber, was mit dem Unwillen oder der Unfähigkeit eines Staates gemeint ist. Das Begriffspaar ist nämlich nicht allein auf das Feld der Selbstverteidigung gemünzt, sondern findet auch in anderen völkerrechtlichen Zusammenhängen Verwendung, die zunächst ausgewiesen und von dem für die Untersuchung maßgeblichen Sachbereich abgegrenzt werden sollen (A.). Dieser wird schließlich durch eine bestimmte Staatenpraxis markiert, die in einem zweiten Schritt – gleichsam zum Zweck größerer terminologischer Klarheit – skizziert werden soll (B.).

A. Abgrenzung anderer Sachbereiche In verschiedenen Bereichen des Völkerrechts ist das Begriffspaar des Unwillens und der Unfähigkeit in mehr oder minder ausgeprägter Form präsent. Insofern sind abgrenzungshalber – zunächst mit Bezug zum völkerrecht­lichen Gewaltverbot – (I.) der militärische Menschenrechtsschutz, (II.) Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland sowie (III.) die sog. Intervention auf Einladung zu behandeln. Unabhängig von Art. 2 Nr. 4 UNCh stehen hingegen (IV.) die Voraussetzungen der Vereinten Nationen zur Aufnahme neuer Mitglieder gem. Art. 4 Nr. 1 UNCh und (V.) das in Art. 17 Römisches Statut niedergelegte Komplementaritätsprinzip.

I. Militärischer Menschenrechtsschutz Die Relevanz des militärischen Menschenrechtsschutzes soll zunächst mit einem von den Problemen der humanitären Intervention ausgehenden Blick auf die konzeptionellen Eckpunkte der responsibility to protect verdeutlicht werden (1.). Daraufhin werden zwei Beispielsfälle aufgegriffen, die als Versuch verstanden werden können, den Schutz der Menschenrechte gegen einen zu ihrer Gewährleistung dezidiert unwilligen oder unfähigen Staat durchzusetzen (2.).

46

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

1. Militärische humanitäre Intervention und responsibility to protect Zunächst ist der Begriff der militärischen humanitären Intervention zu skizzieren und der damit postulierte Interventionstatbestand, unabhängig von seiner Geltung, abgrenzend einzuordnen. a) Begriffliche Annäherung und Abgrenzung Schon 1625 findet sich bei H. Grotius die Annahme, dass der Schutz fremder Untertanen vor absolut evidentem und unbilligem Unrecht zum Krieg im Namen der menschlichen Gesellschaft gegen die dieses Unrecht verübende Obrigkeit berechtigen soll.1 Ein erster Präzedenzfall in diesem Sinne kann 1827 in den Interventionen Großbritanniens, Frankreichs und Russlands im griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich gesehen werden; als besonders vieldiskutierter Fall der jüngeren Vergangenheit gilt die 1999 erfolgte Intervention der NATO-Staaten im Kosovo.2 Ob Staaten jedoch im Geltungsbereich der UN-Charta zu derartigen Interventionen berechtigt sind, ist problematisch. Idealtypisch wird die humanitäre Intervention mit einer altruistisch-individualbegünstigenden Motivation des intervenierenden Staates verbunden.3 1  Siehe Grotius, De jure belli ac pacis (1625 [1950]), 2. Buch: Kap. 25, VIII (S. 407–409); Kadelbach, Recht, Krieg und Frieden bei Hugo Grotius (2017), S. 16; Hillgruber, Der Staat 40 (2001), S. 165 (165). 2  Hillgruber, ebd., S. 169; Swatek-Evenstein, Geschichte der Humanitären Intervention (2008), S. 51; DʼAmato, AJIL 84 (1990), S. 516 (519). Als rein humanitär motiviert kann die Intervention des Jahres 1827 gleichwohl nur schwerlich gelten, Franck/Rodley, AJIL 67 (1973), S. 275 (279–283). Siehe zu letzterem nur Habermas, Bestialität und Humanität, DIE ZEIT v. 29.4.1999, passim. 3  Vgl. Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 1 Rn. 24, § 34 Rn. 35 ff.; ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 4.33. Praktisch ist dabei freilich denkbar, dass sich ein von einem intervenierenden Staat als humanitär erklärtes Motiv nicht mit seinen wirklichen Beweggründen deckt. Siehe insofern Tomuschat, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2018), S. 65 (67), der v. a. auf christliche Militär­ operationen zum Schutz christlicher Gemeinschaften und die Entsendung französischer Truppen nach Syrien in den Jahren 1860–1861 verweist. Daneben Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), der in einer Differenzierung zwischen humanitärer Intervention im funktionsfähigen (S. 173 ff.) und im zerfallenen Staat (S. 197 ff.) nur drei Fälle „echter“ humanitärer Interventionen erkennt, die m. a. W. frei von ideologischen oder machtpolitischen Beweggründen sein sollen: die 1991 beginnende US-amerikanische Intervention im Irak, die 1991 stattfindende NATO-Intervention im Kosovo und die ECOWAS-Intervention in Liberia zwischen 1990 und 1999, ebd., S. 192, 212. Krit. hierzu Tomuschat, ebd., S. 79. Zumindest lassen sich hierunter nicht der Schutz bzw. die Durchsetzung demokratischer Verhältnisse fassen, vgl. Brunner, AVR 56 (2018), S. 34 (49 ff.).



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche47

Gemeint sind i. d. R. Fälle, in welchen dieser Staat grundlegende und „elementare Lebensrechte“ einer Bevölkerungsgruppe gegen ihre Regierung zu schützen sucht,4 es zu schweren bzw. massiven Menschenrechtsverletzungen5 kommt oder die Sicherung eines humanitären Mindeststandards6 erforderlich wird. Dabei rückt der menschenrechtliche Schutz des Lebens7 in den Fokus, der umfangreich missachtet werden müsste: Gesprochen wird dabei etwa von hunderten bis tausenden Vorfällen im Mindestmaß.8 In erster Linie geht es dabei um den Schutz fremder Staatsangehöriger und Staatenloser, nicht jedoch um den Schutz der eigenen Staatsangehörigen:9 Denn während die humanitäre Intervention im Prinzip auf altruistischen Gründen beruht, verfolgt ein Staat mit der Rettung eigener Staatsangehöriger – auch als humanitäre Rettung bezeichnet – letztlich ein eigenes Interesse, indem er seine Personalhoheit gegen die Territorialhoheit eines anderen Staats durchzusetzen sucht.10 Das Mittel der humanitären Intervention liegt schließlich in der Anwendung oder Androhung von über niedrigschwelligen Zwang – z. B. in Gestalt von wirtschaftlichen oder politischen Pressionen – hinausgehender bewaffneter Gewalt,11 die, wie häufig angenommen wird, 4  Tomuschat,

ebd., S. 66. in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 22; Heselhaus, JA 1999, S. 984 (989); Pape, Humanitäre Intervention (1997), S. 26; Randelzhofer/Dörr, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 2 (4) Rn. 52. 6  Swatek-Evenstein, Geschichte der Humanitären Intervention (2008), S.  54; siehe auch Wellhausen, Humanitäre Intervention (2002), S. 48. 7  Siehe bspw. Art. 3 AEMR (v. 10.12.1948, angenommen durch GA-Res. 217 (III)-A, UN-Dok. A/RES/217(III), Art. 6 IPbürgR (v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II S. 1534, UNTS Bd. 999 S. 171), Art. 2 EMRK (v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II S. 685, 953; BGBl. 2010 II S. 1198; ETS Nr. 5). 8  Siehe nur Cassse, EJIL 10 (1999), S. 23 (27); ferner ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 4.19. 9  Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 65 f.; Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 34 Rn. 35; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 56 Rn. 50, 46 ff.; Randelzhofer/Dörr, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 2 (4), Rn. 52; SwatekEvenstein, Geschichte der Humanitären Intervention (2008), S. 54; Tomuschat, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 65 (66); Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (357). A. A. Blumenwitz, Politische Studien 50 (1999), S. 19 (31); ders., APuZ, B47 1994, S. 3 (7), mit Hinweis auf die territoriale Limitierung von Art. 51 UNCh; überblickshalber zum Vorschlag der Unanwendbarkeit von Art. 2 Nr. 4 UNCh Reicherter, Rechtsgrundlagen der humanitären Intervention (2005), S. 34 f. Zur Rettung eigener Staatsangehöriger S. 62 ff. sogleich. 10  Beyerlin, Die humanitäre Aktion (1975), S. 35 f. 11  Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 61 f.; Deise­ roth, NJW 1999, S. 3084 (3084); erweiternd aber Blanke, AVR 36 (1998), S. 257 (258). 5  Bothe,

48

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

einer Sicherheitsratsautorisierung nicht bedarf.12 Dieses willensbrechende Element bedingt, dass eine wirksame Zustimmung des Territorialstaats die humanitäre Intervention ausschließt.13 b) Rahmen völkerrechtlicher Konformität Fraglich ist jedoch, ob bzw. in welchem Rahmen der Rückgriff auf militärische Mittel zur Gewährleistung des Menschenrechtsschutzes völkerrechtskonform ist. aa) Ausdrückliche regionale Vorkehrungen als Ausnahme Hierfür sind zumindest im regionalen Völkerrecht ausdrückliche Vorkehrungen vorzufinden. So sieht Art. 4 lit. h AU-Constitutive Act14 vor: „The Union shall function in accordance with the following principles: […] (h) the right of the Union to intervene in a Member State pursuant to a decision of the Assembly in respect of grave circumstances, namely: war crimes, genocide and crimes against humanity […].“

Ähnliches findet sich auch auf subregionaler Ebene. Ausweislich Art. 25 lit. d des ECOWAS-Protokolls zur Konfliktverhinderung (1999) soll bspw. das hiermit begründete System kollektiver Sicherheit „[i]n event of serious and massive violation of human rights and the rule of law“ angewendet werden können.15 Entsprechend wurde auch die ECOMOG (Art. 17 lit. c, 21 f. 12  Etwa O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (441); de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 (496, unter Fn. 114). 13  Vgl. Nolte, Eingreifen auf Einladung (1999), S. 12; ders., ZaöRV 53 (1993), S.  603 (620 f., 621 ff.); Berger, Bewaffnete Konflikte in Afrika (2017), S. 396. Zumindest stellt dies die i. d. R. zu erwartende Interventionsform dar, die sich begrifflich im deutschen und anglo-amerikanischen Raum durchgesetzt hat, Corten, The Law Against War (2010), S. 496; Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 63. 14  Constitutive Act of the African Union v. 11.7.2000, UNTS Bd. 2158 S. 3, in Kraft getreten am 26.5.2001. Art. 4 lit. h soll nach dem Protocol on the Amendments to the Constitutive Act of the African Union v. 11.7.2003 folgendermaßen erweitert werden: „as well as a serious threat to legitimate order to restore peace and stability to the member State of the Union upon the recommendation of the Peace and Security Council“. Vgl. i. Ü. zu regional-völkerrechtlichen Vorkehrungen S. 224 ff. 15  Siehe ECOWAS-Protocol Relating to the Mechanism for Conflict Prevention, Management, Resolution, Peacekeeping and Security (v. 10.12.1999, ECOWAS-Dok. A/P.1/12/99), abrufbar unter: https://documentation.ecowas.int/legal-documents/proto cols/). Weitere für die Anwendung des Friedenssicherungsmechanismus maßgebliche Szenarien beschreibt Art. 25, etwa unter (c): „In case of internal conflict: (i) that



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche49

des Protokolls) u. a. nach Art. 22 lit. c mit der Durchführung von „[h]umanitarian intervention in support of humanitarian disaster“ betraut. Und auch in der Folgezeit bekannte sich die ECOWAS zur Legitimität solcher der menschlichen Sicherheit dienenden Interventionen.16 Ein Recht, solche Maßnahmen unilateral durchzuführen wurde damit aber nicht formuliert, setzt doch Art. 4 lit. h AU-Constitutive Act eine Entscheidung der Unionsversammlung voraus (Art. 6 ff. AU-Constitutive Act), während Maßnahmen der ECOWAS an Willensbildungsprozesse innerhalb des konstituierten Systems kollektiver Sicherheit rückangebunden wurden.17 bb) Alleinige Verantwortung des UN-Sicherheitsrats auf universeller Ebene Auf universeller Ebene wird die humanitäre Intervention vertraglich nicht erwähnt (Art. 38 Abs. 1 lit. a IGHSt18).19 Völkergewohnheitsrechtlich (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt) ist problematisch, dass ein solcher Ausnahmefall auch nur über eine quantitativ gering ausgeprägte Praxis verfügen kann.20 Da nun threatens to trigger a humanitarian disaster, or (ii) that poses a serious threat to peace and security in the sub-region“ oder unter (e): „In the event of an overthrow or attempted overthrow of a democratically elected government“. Hierzu Kaboré, AVR 56 (2018), S. 71 (77). 16  Siehe insofern den ECOWAS Conflict Prevention Framework (v. 16.1.2008, Regulation MSC/REG.1/01/08), abrufbar unter: https://documentation.ecowas.int/ legal-documents/regulationsacts/), Ziff. 41, was a. a. O. durch einen Verweis auf eine „responsibility to prevent“, eine „responsibility to react“ sowie eine „responsibility to rebuild“ spezifiziert wurde. Insofern folgt dieser Ansatz dem Vorschlag der ICISS aus dem Jahr 2001, hierzu auch sogleich. Vgl. ferner Kaboré, ebd., S. 77 f., 80. 17  Mit Art. 1 wird innerhalb der ECOWAS ein Mechanismus kollektiver Sicherheit festgelegt, der als „Mechanism for Conflict Prevention, Management, Resolution, Peace-keeping and Security“ beschrieben wird. Art. 26 enumeriert Zuständigkeiten zur Einleitung dieses Mechanismus, während Art. 27 Vorkehrungen zum weiteren Verfahren trifft. 2001 folgte das Protocol on Democracy and Good Governance Supplementary to the Protocol Relating to the Mechanism for Conflict Prevention, Management, Resolution, Peacekeeping and Security (v. 21.12.2001, ECOWAS-Dok. A/SP1/12/01), abrufbar unter: https://documentation.ecowas.int/legal-documents/pro tocols/. 2008 wurde der ECOWAS Conflict Prevention Framework angenommen (ebd.). 18  Statut des Internationalen Gerichtshofs v. 26.6.1945, BGBl. 1973 II S. 505 (UNCIO Bd. 15 S. 355). 19  Tomuschat, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S.  65 (77 f.); Corten, The Law Against War (2010), S. 497. 20  Diese wird aber teils als kaum oder nicht hauptsächlich humanitär motiviert eingestuft, siehe Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S.  192; a. A. Tomuschat, ebd., S. 78 f. Zur Feststellung von Völkergewohnheitsrecht

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

empirische Beobachtungen unterschiedlich gedeutet werden können, wird die Frage nach der Rechtsüberzeugung zentral.21 Hier ist jedoch einerseits zu beobachten, dass innerhalb der relevanten Praxis die beteiligten Akteure nicht eindeutig auf ein Recht zur humanitären Intervention rekurrierten,22 andererseits in der internationalen Gemeinschaft eine entsprechende Rechtsüberzeugung zu nicht-autorisierten Interventionen wohl nicht besteht.23 Nun wurde von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) 2001 der Versuch unternommen, das Konzept der sog. responsibility to protect – auch als R2P bezeichnet – einzuführen.24 In ihrem Abschlussbericht heißt es dazu: „While the state whose people are directly affected has the default responsibility to protect, a residual responsibility also lies with the broader community of states. This fallback responsibility is activated when a particular state is clearly either unwilling or unable to fulfill its responsibility to protect or is itself the actual perpetrator of crimes or atrocities; or where people living outside a particular state are directly threatened by actions taking place there.“25

In Ausnahmefällen soll jedoch die originäre staatliche Schutzverantwortung in die staatengemeinschaftliche responsibility to react umschlagen, in IGH (North Sea Continental Shelf Cases; Federal Republic of Germany v. Netherlands), ICJ Rep. 1969, S. 3 (v. a. Ziff. 71 ff., 77) sowie später auf S. 272 ff. 21  Tomuschat, ebd., S. 79. 22  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 22. 23  Siehe wohl Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (275  ff.); vgl. Murray/ O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (308 f., 315 ff.); Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-state Actors (2019), S. 14 (15); siehe den Überblick bei Henderson, ICLQ 64 (2015), S. 179 (188 ff., 194 f.); Focarelli, in: Hilpold (Hrsg.), The Responsibility to Protect (2015), S. 417 (427); vgl. auch Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (31). Optimistisch zu einer staatengemeinschaftlich steigenden Akzeptanz der nicht vom Sicherheitsrat autorisierten humanitären Intervention de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 (496–498). 24  Die ICISS war bemüht, nicht das Konzept der humanitären Intervention, sondern das der responsibility to protect vorzuschlagen. Diese Differenzierung soll den Fokus der Diskussion weniger auf den intervenierenden Staat als auf die durch entsprechende Handlungen begünstigten Individuen legen, das Erfordernis vorbeugender Maßnahmen und nachträglicher Unterstützungen sprachlich untermalen und einer Interventionen begünstigenden Voreingenommenheit durch den Bezug auf „humanitär“ begegnen, ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 2.4 f., 2.28 f., ferner Ziff. 1.39–1.41. Umfangreich hierzu Simon, AVR 54 (2016), S. 1 (5 ff.), der i. E. die völkerrechtliche Geltung einer sich auf andere Staaten ausweitenden Schutzverantwortung ablehnt, ebd., S. 15–29; Peters, in: Starck (Hrsg.), Recht und Willkür (2012), S. 91 (125 f.) zur fraglichen Verfestigung der responsibility to protect. Vgl. zur Missbrauchsanfälligkeit der responsibility to protect Martineau, LJIL 29 (2016), S. 95 (96, 98, 111 f.). 25  ICISS, ebd., Ziff. 2.31 [Hervorh. P. L.].



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche51

deren Anwendungsbereich u. U. auch militärische Maßnahmen in Betracht gezogen werden könnten: „[T]hese exceptional circumstances must be cases of violence which so genuinely ‚shock the conscience of mankind‘, or which present such a clear and present danger to international security, that they require coercive military intervention.“26

Damit soll der Rekurs auf militärischen Zwang nur in außerordentlich erheblichen Ausnahmesituationen in Betracht kommen. Hierfür konkretisierte der ICISS-Bericht zwei Fallgruppen: „[M]ilitary intervention for human protection purposes is justified […] to halt or avert: large scale loss of life, actual or apprehended, with genocidal intent or not, which is the product either of deliberate state action, or state neglect or inability to act, or a failed state situation; or large scale ‚ethnic cleansing‘, actual or apprehended, whether carried out by killing, forced expulsion, acts of terror or rape.“27

Letztlich lässt sich dies – neben dem Verbot ethnischer Säuberungen28 – auf drei völkerstrafrechtliche Tatbestände zuspitzen, die sich in der Völkermord-Konvention29 und im Römischen Statut30 niedergeschlagen haben: das Verbot des Völkermords,31 von Kriegsverbrechen32 und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit33.34 Zur Durchführung insofern u. U. erforder­licher Militärmaßnahmen erklärte der ICISS-Bericht in erster Linie den UN-Sicherheitsrat für verantwortlich.35 Sollte sich dieser aber zur Ausfüllung seiner Rolle unfähig oder unwillig zeigen,36 läge es an der UN-Generalversamm26  ICISS,

ebd., Ziff. 4.13 und 6.1. ebd., Ziff. 4.19 (unter Auslassung der beiden Stichpunkte). 28  Nach Peters, in: Starck (Hrsg.), Recht und Willkür (2012), S. 91 (124) als Teil des Verbots von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Siehe etwa Art. 7 Abs. 1 lit. b und h Römisches Statut. 29  Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes v. 9.12.1948, BGBl. 1954 II S. 730 (UNTS Bd. 78 S. 277). 30  Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs v. 17.7.1998, BGBl. 2000 II S. 1394 (UNTS Bd. 2187 S. 90). 31  Siehe Art. II und III Völkermord-Konvention; Art. 6 Römisches Statut. 32  Siehe Art. 8 Abs. 2 Römisches Statut. 33  Siehe Art. 7 Römisches Statut. 34  In Anknüpfung dann UN-Generalversammlung, Res. 60/1, 16.9.2005 (2005 World Summit Outcome), UN-Dok. A/RES/60/1, Ziff. 138–140; vgl. ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 4.19 f.; Berger, Bewaffnete Konflikte in Afrika (2017), S. 472. Siehe auch Peters, in: Starck (Hrsg.), Recht und Willkür (2012), S. 91 (124 und f.). 35  ICISS, ebd., Ziff. 6.7, 6.13 ff., 6.28. 36  Zur Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrats Tomuschat, in: Münkler/ Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 65 (80, 82 ff.), wobei auf Grundprämissen der Völkerrechtsordnung rekurriert und eine Güterabwägung zwischen dem etwaig nicht der domaine réservé vorbehaltenen Menschenrechtsschutz 27  ICISS,

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

lung37 oder an regionalen Organisationen, hilfsweise entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.38 Wenn auch der Abschlussbericht der ICISS für sich genommen nicht als Teil des verbindlichen Völkerrechts anzusehen ist,39 wurden gewisse hierin geforderte Grundlinien 2005 von der UN-Generalversammlung angenommen.40 Auch hier wurde festgehalten, dass jedem Staat die „responsibility to protect its populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity“ zukomme.41 Zugleich zeigten sich die Staats- und Regierungsvertreter bereit, „to take collective action […] through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities are manifestly failing to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity.“42

Insofern wurde aber, anders als es noch im ICISS-Bericht anklang, eine in Ausnahmefällen hilfsweise zu erwägende Autorisierung militärischer Maßnahmen durch die Generalversammlung oder durch regionale Organisationen nicht mehr erwähnt.43 Auch unter diesem Eindruck kann daher festgehalten werden, dass die maßgebliche Verantwortung für militärische Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte allenfalls beim UN-Sicherheitsrat zu verorten sein wird.44 Damit verlagert sich die Frage nach ihrer völkerrechtlichen und der territorialen Integrität des betreffenden Staates erwogen wird (allg. dazu Kokott, ZaöRV 64 (2004), S. 517 ff., passim). 37  ICISS, Responsibility to Protect, Ziff. 6.7, 6.29 f., in Bezug auf die Uniting for Peace-Resolution der UN-Generalversammlung, Res. 377-A (V), 3.11.1950, UNDok. A/RES/377(V), insb. A und der Anhang zu den diesbezüglichen Verfahrens­ regeln. 38  ICISS, ebd., Ziff. 6.31 ff., indes nur eng umgrenzt für den jeweiligen regionalen Raum empfohlen (Ziff. 6.31, 6.34 f.); insg. auch O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (446). Jüngst wurde diese hilfsweise Rolle der Generalversammlung (und von regionalen Organisationen) von de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 (509 ff.) mit Blick auf den Einsatz von Chemie-Waffen im Syrien-Konflikt ins Spiel gebracht. 39  O’Meara, ebd., S. 446. 40  UN-Generalversammlung, Res. 60/1, 16.9.2005, UN-Dok. A/RES/60/1, Ziff. 138– 140; Ziff. 138 f. dabei von UN-Sicherheitsrat, Res. 1674 (2006), 28.4.2006, UN-Dok. S/RES/1674 (2006), Ziff. 4 bekräftigt. 41  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/1, Ziff. 138. 42  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/1, Ziff. 139. 43  O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (446); vgl. Simon, AVR 54 (2016), S. 1 (9). 44  Vgl. Tomuschat, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 66 (80); siehe zur institutionellen Rückanbindung des Konzepts der responsibility to protect auch O’Meara, ebd., S. 441; Henderson, ICLQ 64 (2015), S. 179 (192); Murray/O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (319, 330); ICISS, Responsibility to



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche53

Konformität auf das Vorliegen einer Bedrohung bzw. eines Bruchs des Friedens i. S. v. Art. 39 UNCh, bewegt sich m. a. W. also im Rahmen der vom Sicherheitsrat autorisierten Zwangsmaßnahmen (Art. 39 ff. UNCh), die als anerkannte Ausnahmen vom Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 UNCh) fungieren.45 Unabhängig davon ist der militärische Menschenrechtsschutz nicht als völkerrechtskonform anzusehen.46 Humanitäre Interventionen mögen idea­ liter zwar dilemmatischen Situationen Rechnung tragen,47 „Rechtfertigung“ können sie insofern allerdings nur unter moralischen oder politischen Gesichtspunkten erfahren.48

Protect, Abschn. 6; vgl. auch Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (542 f.). In diesem Sinne wohl auch ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 22 ff. 45  Hier stellt sich dann noch die Frage, ob das für die humanitäre Intervention maßgebliche Szenario unter Art. 39 UNCh subsumierbar ist, befürwortend und m. w. N. Oeter, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 29 (34–36); vgl. Simon, AVR 54 (2016), S. 1 (5, 13 ff., 33 f., 37); siehe auch Tomuschat, ZaöRV 79 (2019), S. 579 (596, und f.) mit dem Hinweis, dass durch die Praxis des Sicherheitsrats die für Kap. VII UNCh maßgebliche Tatbestandsvariante „breach of the peace“ an Konturenschärfe verloren habe. 46  Siehe Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (31); O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (442 f. und passim). 47  Treffend insofern die Feststellung von B. Simma: „The lesson which can be drawn from this is that unfortunately there do occur ‚hard cases‘ in which terrible dilemmas must be faced and imperative political and moral considerations may appear to leave no choice but to act outside the law.“, ders., EJIL 10 (1999), S. 1 (22). 48  In diesem Sinne, wenngleich krit. formuliert, Isensee, ZRph 1 (2017), S. 17 (31); vgl. Simon, AVR 54 (2016), S. 1 (29 ff.). Eine Zuspitzung des Problems findet sich (in einer Auseinandersetzung mit K. Doehring) bspw. bei Steinkamm, in: Gustenau (Hrsg.), Humanitäre militärische Intervention (2000), S. 109 (128  f.): „Die Gleichsetzung von ‚Unrecht‘ durch Menschenrechtsverletzung mit dem Verbot, gegen sie einzuschreiten, weil das auch ‚Unrecht‘ sei, führt zur Absurdität.“ Darin äußert sich ein Dilemma bzw. ein Fall sog. tragic choice: Wie man es macht, macht man es letztlich falsch, siehe Luhmann, Unverzichtbare Normen?, in: Die Moral der Gesellschaft, 4. Aufl. 2016, S. 229, 245 f. Nicht zu Unrecht erinnert die Diskussion um die humanitäre Intervention an die bundesrepublikanischen Auseinandersetzungen um die Möglichkeit der Rettungsfolter oder des Verhaltens in Renegade-Fällen, dazu Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes (2004), S. 209–214 (zur humanitären Intervention auf S. 569 ff.). Insofern mag das Vorverständnis in die eine oder andere Richtung weisen, wichtig scheint aber v. a. seine Reflexion, Peters/Marxsen, ZaöRV 77 (2017), S. 3 (13); Marxsen, ZaöRV 77 (2017), S. 91 (93). Grundlegender, wenngleich in anderem Zusammenhang geäußert, Wallrabenstein, KJ 49 (2016), S. 407 (416): Denn „[w]ie bei jedem echten Dilemma, bestehen [die] Antworten nicht in Lösungen. Sie sind daher notwendig unzulänglich. Das muss aber weder rat- noch mutlos machen, vielmehr aufmerksam und hellhörig für die besseren und schlechteren Möglichkeiten, die eine Rechtsordnung, die sich um das Leben mit Dilemmata bemüht, bereithält.“ Siehe schließlich auch die Konzeption sog. „Schurkenstaaten“ bei Rawls, Das Recht der Völker (1999 [2002]), S. 98 f., 3.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

2. Konzeptionelle Rolle unwilliger und unfähiger Staaten Unabhängig davon ließe sich aber konzeptionell fragen, was einen unwilligen oder unfähigen Staat im Rahmen des militärischen Menschenrechtsschutzes eigentlich ausmachen würde. Mit Blick auf den ICISS-Bericht kann dabei einerseits zwischen Situationen unterschieden werden, in denen ein Staat einen der maßgeblichen völkerstrafrechtlichen Tatbestände „begeht“, sowie Fällen auf der anderen Seite, in denen ein Staat unwillig oder unfähig erscheint, seiner menschenrechtlichen Schutzverantwortung gerecht zu werden.49 Auf letztere wird nachfolgend der Fokus gelegt, hebt sich doch ein aktiv geplantes, mit krimineller Energie ausgeführtes und einem Staat zurechenbares Verbrechen vom bloßen Unwillen ab, einen menschenrechtlichen Mindeststandard einzuhalten; für den Fall staatlicher Unfähigkeit ist dies augenfällig. Außer Acht gelassen werden können daher die Intervention Indiens in Ostpakistan (1971),50 die Invasion Vietnams in Kambodscha (1978–1979),51 die Intervention Tansanias in Uganda (1979),52 die Intervention der unter US-amerikanischer Führung stehenden Allianz westlicher Staaten im Irak (ab 1991)53 sowie das Eingreifen der NATO im Kosovo-Konflikt (1999).54 Fer49  ICISS,

Responsibility to Protect, Ziff. 2.31. erfolgte im Zusammenhang mit der bangladeschischen Unabhängigkeitsbewegung, wobei es zu Tötungen in genozidalem Ausmaß kam; hieran war zwar auch die Partei Jamaat-e-Islami beteiligt, v. a. aber wurden sie durch das pakistanische Militär durchgeführt, Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 173; Franck/Rodley, AJIL 67 (1973), S. 275 (275); Marwah, Modern Asian Studies 13 (1979) S. 549 (560); Salzberg, IO 27 (1973), S. 115 (115); UN, Introduction to the Report of the Secretary-General on the Work of the Organization (S. U Thant), Sept. 1971; GAOR, 26th Session, Supplement No. 1A, UN-Dok. A/8401/Add.1. 51  Den Genozid in Kambodscha (1975–1979) verübten die Roten Khmer, die zu dieser Zeit als Staatspartei von Demokratisch Kampuchea fungierten. I. Ü. gilt auch die Intervention Vietnams nur als vordergründig humanitär motiviert. Zu alldem Franck, Recourse to Force (2002), S. 145 ff.; Liebach, ebd., S. 176 ff. 52  Hier wurden dem ugandischen Regime die Verantwortung für den Tod Hunderttausender zugeschrieben; i. Ü. erscheint die humanitäre Motivation Tansanias zweifelhaft, Gromes/Dembinski, Bestandsaufnahme humanitärer Interventionen, S.  10 f.; Franck, ebd., S. 144; Liebach, ebd., S. 178; Umozurike, AVR 20 (1982), S. 301 (302). 53  Dem Zweiten Golfkrieg gingen Aufstände im Norden Iraks voraus, die das irakische Militär niederschlug; der UN-Sicherheitsrat forderte, nachdem er die Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung verurteilte, „that Iraq, as a contribution to removing the threat to international peace and security in the region, immediately end this repression“, UN-Sicherheitsrat, Res. 688 (1991), 5.4.1991, UN-Dok. S/RES/688 (1991); Liebach, ebd., S. 184 ff. 50  Diese



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche55

ner bleiben Interventionen unberücksichtigt, die als humanitär verbrämt gelten,55 sowie solche, in denen zwar eine humanitär prekäre Lage vorherrschte, jedoch auf einen anderen Interventionstatbestand zurückgegriffen wurde (wie z. B. die UN-gestützten Hilfen in Albanien 199756 oder die 2004 einsetzenden Tätigkeiten der AMIS im Darfur-Konflikt57). Schließlich wird 54  Diskriminierungen der albanischen Bevölkerung im Kosovo bedingten eine Eskalation des Konflikts zw. der sich zwischenzeitlich formierten KLA und der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. der serbischen Regierung. Zwar waren von 1997–1999 Gewaltakte der KLA zu verzeichnen; überstiegen wurden diese aber durch das Vor­ gehen der jugoslawischen Armee und der serbischen Polizei, die auch gezielt die Zivilbevölkerung attackierten. Der Sicherheitsrat verurteilte mit Res. 1160 (1998), ­ 31.3.1998, UN-Dok. S/RES/1160 (1998), S. 1: „the use of excessive force by Serbian police forces against civilians and peaceful demonstrators in Kosovo, as well as all acts of terrorism by the [KLA] or any other group or individual and all external support for terrorist activity in Kosovo […]“. Der Eingriff der NATO setzte nach der Nichtannahme des Rambouillet-Abkommens ein. Siehe IICK, The Kosovo Report, S. 67–75; Seybolt, Humanitarian Military Intervention (2007), S. 78–82; Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 184 ff.; Franck, Recourse to Force (2002), S. 163 ff. 55  Z. B. die mit der Absetzung Jean-Baptiste de la Salle Bokassas einhergehende Intervention Frankreichs in Zentralafrika (1979); Interventionen der USA in der Dominikanischen Republik (1965), Nicaragua (1979), Grenada (1983) und Panama (1989) oder das Eingreifen Syriens im Libanon (1976): Liebach, ebd., S. 179–184, 198–204. 56  Zum Lotterieaufstand in Albanien kam es als ein erheblicher Verlust von Privatvermögen in der albanischen Bevölkerung zu Protesten führte, die die öffentliche Ordnung teilweise zusammenbrechen ließen. Angesichts einer Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region wurden die an der Mission partizipierenden Staaten i. R. v. Kap. VII UNCh zur Gewährleistung humanitärer Hilfe ermächtigt, dem ging aber eine Anfrage Albaniens voraus, UN-Sicherheitsrat, Res. 1101 (1997), 28.3.1997, UN-Dok. S/RES 1101 (1997); ders., Pressemitteilung v. 28.3.1997, UNDok. SC/6347; im Anschluss Res. 1114 (1997), 19.6.1997, UN-Dok. S/RES 1114 (1997). 57  Im Zusammenhang mit dem südsudanesischen Sezessionskrieg entwickelte sich der Darfur-Konflikt, der 2003 nach Attacken der SPLM/A und dem JEM auf Regierungsinstitutionen eskalierte: Die Regierung in Khartum reagierte mit äußerer Härte und griff neben den Streitkräften auf lokale Milizen zurück; eine direkte Verbindung zu diesen bestritt die Regierung. 2004 wurde die AMIS eingerichtet. Insb. in der Folgezeit wurde diskutiert, ob von einem Völkermord zu sprechen sei, kostete der Konflikt doch von 2004–2006 das Leben von ca. 200.000 Menschen, wobei ca. 2 Millionen Menschen vertrieben wurden. Hierzu Berger, Bewaffnete Konflikte in Afrika (2017), S. 383 f., 389; UN, The United Nations and Darfur: Fact Sheet, Aug. 2007, abrufbar unter: http://www.un.org/News/dh/infocus/sudan/fact_sheet.pdf; International Commission of Inquiry on Darfur, Abschlussbericht, Section 1 Ziff.  117 ff.; Sloan, Militarisation of Peacekeeping, S. 262 f., 275; anschaulich Lévy, FAS v. 25.3.2007, S. 25 f. Die durch UN-Sicherheitsrat, Res. 1564 (2004), 18.9.2004, UN-Dok. S/RES/1564 (2004), Ziff. 12 mandatierte International Commission of Inquiry on Darfur ging davon aus, dass die sudanesische Zentralregierung Absicht

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

nicht auf Fälle eingegangen, in denen eine Intervention konzeptionell vielleicht indiziert oder wünschenswert gewesen wäre, letztlich aber unterblieb.58 Als taugliche Beispiele sollen nachfolgend vielmehr [a)] die Intervention der USA und UNO in Somalia sowie [b)] der Eingriff der ECOWAS-Staaten in Liberia hervorgehoben werden. Vornehmlich werden dabei die lokalen Um­ stände akzentuiert, welche die Interventionen provozierten. a) Intervention der USA und UNO in Somalia Im Jahr 1992 begannen Aktivitäten der USA und Vereinten Nationen in Somalia, die zum ersten Fall einer humanitär legitimierten, friedensschaffenden Mission im Rahmen von Kap. VII UNCh führten.59 Hier erschwerte der Bürgerkrieg die effektive Aufgabenwahrnehmung der zwischenzeitlich eingerichteten UNOSOM,60 sodass nach einer Reihe von Beratungen auf Ebene i. S. v. Art. II Völkermord-Konvention nicht erkennen ließe, dies., ebd., Executive Summary S. 4; Berger, ebd., S. 390 f. m. w. N. Die sudanesische Regierung erteilte der AMIS-Mission ihre Zustimmung und auch der Sicherheitsrat war in der Folge bedacht, die Zustimmung der Regierung einzuholen, siehe Gray, International Law and the Use of Force (2008), S. 380–382; zur Auslegung von UN-Sicherheitsrat, Res. 1706 (2006), 31.8.2006, UN-Dok. S/RES 1706 (2006) Sloan, ebd., S. 265–268; zu Res. 1590 (2005) und Res. 1769 (2007) ders., ebd., S. 271 ff. Auch griff die AU nicht auf Art. 4 lit. h AU-Constitutive Act zurück, Berger, ebd., S. 396. 58  In Ruanda spitzten sich Spannungen zwischen Tutsi und Hutu in der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit (1962) zu, wobei es schon vor dem 1990 ausgebrochenen Bürgerkrieg zw. Regierungstruppen und der unter Tutsi-Führung stehenden RPF zu Übergriffen kam. Zur Umsetzung des Arusha-Friedensabkommens (4.8.1993) wurde die UNAMIR eingerichtet. Nachdem am 6.4.1994 die Präsidenten von Ruanda und Burundi bei einem Flugzeugabsturz starben, stellten sich anarchische Zustände ein, die zum Völkermord an Tutsi und moderaten Hutu führten: In kurzer Zeit wurde mind. eine halbe Million Menschen getötet, ca. drei Millionen Menschen verloren ihr Obdach, Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (61 f.); Mutharika, Mich. JIL 17 (1996), S. 537 (546–548); Kuperman, The Limits of Humanitarian Intervention (2001), S. 15–19, 19 f. zur demografischen Entwicklung der Tutsi; UN-Sicherheitsrat, Res. 872 (1993), 5.10.1993, UN-Dok. S/RES/872 (1993), S. 2; Res. 912 (1994), 21.4.1994, UN-Dok. S/RES/912 (1994), S. 2 f.; Res. 918 (1994), 17.5.1994, UN-Dok. S/RES/918 (1994), S. 3; Res. 925 (1994), 6.6.1994, UN-Dok. S/RES/925 (1994), S. 2 f.; Res. 929 (1994), 22.6.1994, UN-Dok. S/RES/929 (1994), S. 2 (mit der Ermächtigung von Zwangsmaßnahmen nach Art. 39 ff. UNCh, „to conduct the operation […] using all necessary means to achieve the humanitarian objectives set out in […] resolution 925 (1994)“, insofern mit Bezug auf die Mission der UNAMIR). Krit. zur Reduzierung des Konflikts auf Hutu und Tutsi Mehler, in: Imbusch/Zoll (Hrsg.), Friedens- und Konfliktforschung (2010), S. 249 (259 ff.). 59  Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 85. 60  Die UNOSOM wurde eingerichtet durch UN-Sicherheitsrat, Res. 751 (1992), 24.4.1992, UN-Dok. S/RES 751 (1992), Ziff. 2. Ihr Zweck war v. a. das Waffenstill-



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche57

der Vereinten Nationen61 die US-amerikanisch geführte UNITAF errichtet und ermächtigt wurde, „to use all necessary means to establish as soon as possible a secure environment for humanitarian relief operations in Soma­ lia“.62 Abgelöst wurde die UNITAF im darauffolgenden Jahr durch die UNOSOM II, deren Mission im März 1995 endete, ohne dass Frieden und Sicherheit nachhaltig gesichert werden konnten.63 Die Ursachen des Bürgerkriegs in Somalia lassen sich auf den Einfluss Äthiopiens, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens auf die stark tribalistisch geprägten Somali während der Kolonialzeit und die damit einhergehenden – wenig humangeographisch orientierten – Grenzziehungen am Horn von Afrika zurückführen.64 Später bedingte im Zuge der Entkolonialisierung die Vereinigung von Britisch- und Italienisch-Somaliland zur Republik Somalia am 1.7.1960 wegen der höheren Prosperität der zweitgenannten Region Integrationsprobleme.65 Nicht zuletzt stand die neue Verfassung stark unter italienischem Einfluss, der konstituierte Zentralstaat im latenten Gegensatz zu traditionellen gesellschaftlichen Gesellschaftsformen und eine Elite süd­ licher Clans im Vordergrund der verteilten Regierungs- und Parlaments­sitze.66 Nationalistische Bestrebungen belasteten in den Folgejah-

standsabkommen (v. 3.3.1992 in Mogadischu) zu überwachen. Ausgeweitet wurde ihr Einsatzgebiet durch Res. 767, 27.7.1992, UN-Dok. S/RES/767 (1992), S. 3; Res. 775 (1992), 28.8.1992, UN-Dok. S/RES/775 (1992), S. 2. Siehe Wolf, ebd., S. 49, 86 f. 61  Siehe UN-Sicherheitsrat, Res.  733 (1992), 23.1.1992, UN-Dok. S/RES/733 (1992), worin sich dieser angesichts der humanitären Lage alarmiert zeigte und i. R. v. Art. 39 ff. UNCh ein ganz Somalia betreffendes Embargo über Waffen und Militär­ equipment verhängte (Ziff. 5); ferner Res. 746 (1992), 17.3.1992, UN-Dok. S/RES 746 (1992). 62  UN-Sicherheitsrat, Res. 794 (1992), 3.12.1992, UN-Dok. S/RES/794 (1992). Von US-amerikanischer Seite wurde von „Operation Restore Hope“ gesprochen, bei der US-amerikanischen Beteiligung im Rahmen der UNOSOM II hingegen von „Operation Continue Hope“, unter der Administration W. J. Clintons, die auf H. W. Bush folgte, siehe Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 39, 51 ff., 74. 63  Zu UNOSOM II v. a. UN-Sicherheitsrat, Res. 814 (1993), 26.3.1993, UN-Dok. S/RES/814 (1993), S. 4; Res. 878 (1993), 29.10.1993, UN-Dok. S/RES/878 (1993); Res. 886 (1993), 18.11.1993, UN-Dok. S/RES/886 (1993) S. 2; Res. 923 (1994), 31.5.1994, UN-Dok. S/RES/923 (1994), S. 2; Res. 946 (1994), 30.11.1994, UN-Dok. S/RES/946 (1994), S. 1; Res. 953 (1994), 31.10.1994, UN-Dok. S/RES/953 (1994); schließlich mit einer finalen Mandatierung bis zum 31.5.1995 Res. 954 (1994), 4.11.1994, UN-Dok. S/RES/954 (1994), S. 3. I. Ü. UNYB, Special Edition: UN Fiftieth Anniversary, Den Haag 1995, S. 52; Mutharika, Mich. JIL 17 (1996), S. 537 (548); Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (61). 64  Herrmann, Der kriegerische Konflikt in Somalia (1997), S. 36 f. 65  Weber, Der UNO-Einsatz in Somalia (1997), S. 51; Herrmann, ebd., S. 43 f. 66  Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 43; Herrmann, ebd., S. 45.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

ren v. a. die Beziehungen zu Kenia und Äthiopien.67 Nachdem M. Siad Barre 1969 durch einen Militärputsch die Macht ergriff, sollte ein als Staatsdoktrin ausgerufener Wissenschaftlicher Sozialismus tribalistische Strukturen beseitigen, Korruption und Nepotismus beenden und für soziale Gleichheit sorgen. Barre gerierte sich indessen als allmächtiger Führer und stützte sich nun doch verstärkt auf verschiedene Clans, was vorhandene Konflikte nur verschärfte.68 Die innenpolitischen Spannungen spitzten sich nach der Niederlage im Ogaden-Krieg (1977–1978 gegen Äthiopien) zu, was eine v. a. clanbasierte Oppositionsbildung bedingte, die sich im Laufe der 1980er-Jahre vermehrt dem Guerilla-Kampf gegen die Regierung bediente.69 Systematische Menschenrechtsverletzungen lassen sich von 1982 an mit der Verhängung des Ausnahmezustands verzeichnen.70 Der 1988 ausgebrochene Bürgerkrieg ließ im militärischen Vorgehen der Regierung Clanzugehörigkeiten deutlich zu Tage treten: Offensiven des oppositionellen SNM wurden z. B. mit der Zerstörung ganzer Städte vergolten, die zum Tod von ca. 100.000 Menschen führten; gezielt wurde dabei die Ishaq-Bevölkerung angegriffen, an welcher auch in der Folgezeit mehrere Massaker verübt wurden.71 Nachdem Barre 1991 aus Mogadischu floh und sich Ali Mahdi Mohamed zum Interimspräsidenten ernennen ließ, brachen innerhalb der Oppositionskräfte Machtkämpfe aus – dies betraf selbst den USC, dem Mahdi Mohamed angehörte.72 Am 18.5.1991 rief schließlich das SNM auf dem Gebiet der vormaligen britischen Kolonie die Republik Somaliland73 aus; und der USC-interne Machtkampf zwischen Ali Mahdi Mohamed und General Mohamed Farah Aidid weitete sich im November des Jahres 1991 trotz zwischenzeitlicher Versöhnungsversuche zu einem erneuten Bürgerkrieg und einer Spaltung des Landes unter Zusammenbruch aller verbliebenen staatlichen Strukturen aus.74

Herrmann, ebd., S. 47 ff. ebd., S. 54–60; Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 43 f. 69  Weber, Der UNO-Einsatz in Somalia (1997), S.  52–54; Herrmann, ebd., S.  64 f., 67. 70  Weber, ebd., S. 54; Herrmann, ebd., S. 66. 71  Weber, ebd., S. 55–57; Herrmann, ebd., S. 68 ff. 72  Weber, ebd., S. 59; Herrmann, ebd., S. 81 f. 73  Somaliland, auf dessen Gebiet ca. 3,5 Millionen Menschen leben, ist seit seiner Unabhängigkeitserklärung am 18.5.1991 von der Republik Somalia faktisch unabhängig, jedoch nicht als Staat anerkannt. Der Clan der Ishaq macht einen Großteil der Bevölkerung aus, hierzu in Umrissen das Profil der UNPO, abrufbar unter: http:// unpo.org/downloads/2343.pdf. 74  Weber, Der UNO-Einsatz in Somalia (1997), S. 61 f.; Herrmann, Der kriegerische Konflikt in Somalia (1997), S. 83 f. 67  Siehe

68  Herrmann,



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche59

Die Auseinandersetzungen bis zum Eingreifen der UNITAF Ende 1992 verunmöglichte die organisierte Landwirtschaft und löste mit einsetzender Dürre und zunehmendem Viehsterben eine Hungersnot für ca. 4,5 Millionen Somali aus, an deren Folgen ca. 300.000 Menschen starben. In Folge der Kampfhandlungen wurden schon bis März 1992 über 30.000 Menschen getötet und 27.000 verletzt. Die Bevölkerung musste weitestgehend auf eine Grundversorgung verzichten und wurde in Teilen weiterhin Massakern durch verschiedene Bürgerkriegsakteure ausgesetzt. In der Folge waren bereits zur Mitte des Jahres 1992 zwischen 500.000 und einer Million Somali zur Flucht gezwungen.75 b) Eingriff der ECOWAS-Staaten in Liberia und die Lage Sierra Leones Die Intervention der ECOWAS in Liberia gilt als im obigen Sinne hinreichend humanitär motiviert und wurde durch die am 7.8.1990 (als Reaktion auf gescheiterte Mediationsversuche der ECOWAS und der OAU) eingerichtete ECOMOG im Zeitraum von 1990 bis 1999 durchgeführt.76 Dem ersten liberianischen Bürgerkrieg, der zu dieser Intervention führte, ging eine ethnische Spaltung der Gesellschaft voraus, die sich nach der Machtergreifung von Samuel K. Doe im Jahr 1980 zuspitzte. So wurde z. B. in dem zunächst weiterhin unter Kriegsrecht stehenden Liberia das Versprechen frustriert, die schon unter den vorigen Präsidenten William V. S. Tubman und William Tolbert umgreifende Korruption zugunsten der ameriko-­ liberianischen Elite zu beenden: An ihre Stelle traten Bevorzugungen der Volksgruppen Krahn und Mandinka.77 Als gegen Ende 1989 die aufständische NPFL unter Charles Taylor in den Nordosten Liberias eindrang, eskalierte die Situation zum Bürgerkrieg.78 Die liberianische Armee (AFL) unter 75  Weber, ebd., S. 62–64; Herrmann, ebd., S. 86, 97; Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 48. 76  So Levitt, Temple ICLJ 12 (1998), S. 333 (334, 341, 343, 350 f.); Franck, Recourse to Force (2002), S. 162; Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 211. Anders Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (72). Ferner Nolte, ZaöRV 53 (1993), S. 603 (621 f., 625 f.) sowie ders., Eingreifen auf Einladung (1999), S. 12, der auf den die Intervention begrüßenden Willen Does und den der nach wie vor als solcher behandelten Regierung abstellt, mithin die humanitäre Intervention unabhängig von ihrer Geltung ausschließen kann. Mit Hinweis auf eine insofern bestehende Ambivalenz des Falls de Wet, EJIL 26 (2015), S. 979 (989 f.). 77  Wippman, in: Damrosch (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 157 (161 f.); Levitt, ebd., S. 342. 78  Wippman, ebd., S. 157; U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 1990; Submitted to the Committee on Foreign Relations U.S. Senate and the Committee on Foreign Affairs House of Representatives; in Accordance

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Doe attackierte die als den Aufständischen nahe stehend vermuteten Volksgruppen der Mano und Gio, die sich als Reaktion der NPFL anschlossen und gegen die Krahn und Mandinka richteten.79 Als schließlich aus der NPFL die INPFL unter Yormie Johnson hervorging, standen sich drei hauptsächliche Konfliktparteien gegenüber, die de facto (neben anderen Akteuren) – gleichsam den Zusammenbruch jeglicher Staatsgewalt versinnbildlichend – im von ihnen kontrollierten Raum exekutive und judikative Hoheitsgewalt ausübten.80 Entsprechend erklärten sich zwischen August und September 1990 drei Personen zum Staatsoberhaupt: Samuel K. Doe, Charles Taylor sowie der zwischenzeitlich gewählte Interimspräsident Amos Sawyer.81 Schätzungsweise verloren über 200.000 Menschen ihr Leben, zwischen 600.000 und 700.000 Menschen verließen das Land und ca. 2,6 Millionen Menschen wurden obdachlos.82 Willkürliche und politisch motivierte Tötungen (einschließlich zahlreicher Massaker), das Verschwindenlassen von Personen, Vergewaltigungen, Folterungen und sonstige unmenschliche Behandlungen lassen sich auf Seiten der AFL, NPFL und INPFL verzeichnen.83 Selbst ECOMOG-Einheiten sollen an Folterungen und Plünderungen beteiligt gewesen sein.84 In ökonomischer Hinsicht bedingte der Bürgerkrieg ein zwischenzeitliches Ausbleiben jeglicher Exporte und v. a. – auch in Folge der erheblichen Fluchtbewegungen – das weitgehende Erliegen der Landwirtschaft, eine damalige Grundlage der liberianischen Volkswirtschaft.85 Entsprechend negativ wirkte sich diese Lage auf das Nachbarland Sierra Leone aus: Dort kam es ab März 1991 zu einem langjährigen Bürgerkrieg mit der – von Charles Taylor und der NPFL unterstützten – RUF sowie zu Militärputschen.86 Nachdem am 25.5.1997 die Regierung Ahmad T. Kabbahs with Sect. 116(d) and 502B(b) Foreign Assistance Act (1961), as Amended, Washington 1991, S. 192, abrufbar unter: https://archive.org/details/countryreportson1990unit. 79  U.S. Department of State, ebd., S. 192. 80  U.S. Department of State, ebd., S. 192; Wippman, in: Damrosch (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 157 (163 f.); Levitt, Temple ICLJ 12 (1998), S. 333 (343). 81  Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (62 f.). 82  Nach Wippman, in: Damrosch (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 157 (163) und Levitt, Temple ICLJ 12 (1998), S. 333 (342, Fn. 40), nach letzterem ist für 1996 von 750.000 Menschen, die das Land verließen, und 1,2 Millionen Obdachlosen zu sprechen. 83  Mit einer Übersicht U.S. Department of State (soeben unter Fn. 78), S. 193 ff. Matrialisch zugespitzt etwa in verbreiteten Aufnahmen der Folterung von Samuel K. Doe durch Yormie Johnson und seine Anhänger. 84  Siehe U.S. Department of State, ebd., S. 193, 195. 85  U.S. Department of State, ebd., S. 192. 86  Berger, Bewaffnete Konflikte in Afrika (2017), S. 297; Goldmann, Max Planck UNYB 9 (2005), S. 457 (460).



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche61

gestürzt wurde und sich der zwischenzeitlich befreite RUF-Anführer Johnny P. Koroma zum Regierungschef erklärte und die Verfassung außer Kraft setzte, intervenierten nigerianische Truppen der ECOMOG.87 Freilich war auch die humanitäre Lage Sierra Leones zu dieser Zeit äußerst angespannt. Doch diese Intervention – ebenso wie der Verbleib britischer Truppen nach der Rettung eigener Staatsangehöriger im Jahr 2000 in Sierra Leone – wird weniger als humanitäre Intervention, sondern ausgehend vom Ziel der Wiederherstellung der Regierung Kabbahs unter dem Topos der Intervention auf Einladung88 oder einer etwaigen Intervention zur (Wieder-)Herstellung demokratischer Verhältnisse89 besprochen.90 3. Zwischenfazit Für den Bereich der militärischen Menschenrechtsschutzes ist auffallend, dass das zuvor als eigenständig verstandene Kriterium des Unwillens bzw. der Unfähigkeit eines Staates generell selten, in funktionsfähigen Staaten hingegen nicht gebraucht wird.91 Dies legt einen Zusammenhang zwischen 87  Berger,

ebd., S. 297 f.; Goldmann, ebd., S. 462, 468. S.  72 ff. 89  Eine äußerst streitbare Interventionsgrundlage, siehe auch S. 67 f. 90  Siehe Nowrot/Schabacker, AUILR 14 (1998), S. 321 (376 f.); Wallace-Bruce, NILR 47 (2000), S. 53 (72); Berger, Bewaffnete Konflikte in Afrika (2017), S. 305, 309, 310 f.; Goldmann, Max Planck UNYB 9 (2005), S. 457 (470, 472 ff., 482 f.). Ausdrücklich zeigte sich der UN-Sicherheitsrat, Res. 1132 (1997), 8.10.1997, UN-Dok. S/ RES/1132 (1997), S. 2: „[g]ravely concerned at the continued violence and loss of life in Sierra Leone following the military coup of 25 May 1997, the deteriorating humanitarian conditions in that country, and the consequences for neighbouring countries“ und entschied, „that all States shall prevent the sale or supply to Sierra Leone“. Mit Res. 1156 (1998), 16.3.1998, UN-Dok. S/RES/1156 (1998), Ziff. 1 begrüßt wurde „the return of Sierra Leone of its democratically elected President on 10 March 1998“ infolge der ursprünglich nicht UN-mandatierten Intervention Nigerias. Nowrot/Schabacker, ebd., S. 377 messen insofern dem bloßen Rückgriff auf wirtschaftliche Sanktionen eine entsprechend indizielle Bedeutung zu. Entsprechende Schlüsse können aus dem Sechsmonatsplan der ECOWAS, Schedule of Implementation, 23.10.1997– 22.4.1998, abrufbar unter: http://www.sierra-leone.org/conakryaccord.html, gezogen werden. Insb. sieht dieser unter Ziff. 5 vor: „The restoration of constitutional order to Sierra Leone is at the heart of the ECOWAS peace plan. Consequently, it is considered necessary that the Government of Tejan Kabbah should be enabled to exercise effective control once he is restored to office on 22 May 1998.“ Ferner UN-Sicherheitsrat, Final Communiqué of the Meeting of the Foreign Ministers of ECOWAS in the situation in Sierra Leone (Conakry, 26.6.1997), 27.6.1997, UN-Dok. S/1997/499, Ziff. 9 lit. iii, worin auch gewaltsame Maßnahmen zur Wiedereinsetzung der Regierung vorgesehen sind. Nuancierter zur Einordnung Franck, Recourse to Force (2002), S. 162. 91  Vgl. auch Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S.  173 ff., 197 ff. 88  Hierzu

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

der von der ICISS beschriebenen „unwilling or unable-Regel“92 und dem Vorliegen eines zerfallenen bzw. zerfallenden Staates nahe. Entsprechend konnte ein maßgeblich durch einen territorialstaatlichen Unwillen provozierter Fall nicht nachvollzogen werden.93 Die an dieser Stelle also im Vordergrund stehende staatliche Unfähigkeit zeigt sich in Gewaltausbrüchen, die sich zum Bürgerkrieg zuspitzen oder einem solchen vergleichbare Züge annehmen. Dabei können die Staatsgewalten ihren Funktionen, wenn überhaupt, nur eingeschränkt gerecht werden. Ist der Staat aber nicht mehr im Stande, seine Schutzpflichten den Bürgern gegenüber auszuüben, was im modernen Staat der Ausgleich für die bürgerliche Friedenspflicht ist,94 steht eine Fragmentierung und Privatisierung von Gewalt zu erwarten: U. U. werden Sezessionsbestrebungen vorangetrieben, gerieren sich verschiedene Personen als Staatsoberhaupt und üben Zusammenschlüsse von Privatpersonen eigentliche Judikativ- und Exekutivfunktionen aus, wobei Gewalt zum alltäglich legitimen, weitgehend unkontrollierten Streitschlichtungsmittel wird.95 Zugleich wird der Wert von Rechtsgütern – teils in einer an die völkerstrafrechtlichen Kerntatbestände96 heranreichenden Art und Weise – missachtet: Zahlreiche Todesfälle, Verletzungen der körperlichen Integrität, verunmöglichte erwerbswirtschaftliche Betätigungen, weitreichende Fluchtbewegungen usw. sind die Folge.97 Staatliche Unfähigkeit liegt hiernach in diesem durch den Rückzug der effektiven Staatsgewalt eröffneten Raum, der von Privatpersonen in missbräuchlicher Weise ausgefüllt wird.

II. Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland Außerhalb ihres Heimatstaates sind Staatsangehörige nicht schutzlos gestellt. Sie müssen, unabhängig von besonderen vertraglichen Abkommen, 92  Hierzu

S.  48 ff. mag dies für den Darfur-Konflikt (hierzu Fn. 57) diskutabel sein, insofern sich die sudanesische Regierung wohl auf Milizen wie die Janjaweed verließ, deren Vergehen ihr nicht zugerechnet werden konnten; hierin mag eine Art „Unwille“ liegen. Fraglich wäre aber schon, ob die Regierung noch fähig war, den Tätigkeiten der Milizen Einhalt zu gebieten. Jedenfalls wurde festgestellt, dass die Interventionen wohl auf entsprechenden Zustimmungen des Sudans beruhten. 94  Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II (2004), § 15 Rn. 93. 95  Gern wird hierzu der Hobbes’sche Naturzustand bemüht, etwa Wolf, Die Somaliaintervention (2010), S. 48. 96  Siehe S.  46 ff. 97  Ähnlich auch die Beschreibungen bei Holsti, The State, War, and the State of War (1996), S. 119. 93  Hypothetisch



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche63

fremdenrechtlichen Mindestbedingungen entsprechend behandelt werden, deren Inhalt zunehmend durch fundamentale, gewohnheitsrechtlich etablierte Menschenrechte geprägt wird.98 Die sich im Ausland aufhaltenden Staatsangehörigen unterstehen nach wie vor der Personalhoheit ihres Heimatstaates, der daher auch berechtigt ist, sie im Aufenthaltsstaat zu schützen.99 Dies wird hauptsächlich auf diplomatischem und konsularischem Wege unter dem Regelungsregime der Wiener Diplomaten- und Wiener Konsularrechtskonvention100 gewährleistet, seltener durch Retorsionen oder Repressalien.101 Dagegen stellt der nachfolgend im Fokus stehende Rückgriff auf militärische Maßnahmen, sog. non-combatant evacuation operations,102 einen problematischen Sonderfall dar.103 Die vorliegende Relevanz solcher unilateral verfolgter exterritorialer Maßnahmen veranschaulicht eine an den Kongress der Vereinigten Staaten gerichtete Stellungnahme des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter anlässlich des 1980 erfolgten Versuchs, in Teheran in Geiselhaft genommenes diplomatisches Personal zu befreien: „In carrying out this operation, the United States was acting wholly within its right, in accordance with Article 51 of the United Nations Charter, to protect and rescue its citizens where the government of the territory in which they are located is unable or unwilling to protect them.“104

98  Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), § 96 S. 115, 117, 123 ff.; etwas verhaltener zu diesem Zusammenhang Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 1214, grds. aus Zweckmäßigkeitserwägungen aber den Rekurs auf den Schutz der Menschenrechte empfehlend. Zum Mindeststandard zählen Verdross/Simma, ebd., § 1213 m. w. N. die Verpflichtung des Aufenthaltsstaates, „Aus­ länder gegen Angriffe auf Leben, Freiheit, Eigentum und Würde zu schützen.“ Siehe daneben auch Fohr, ZaöRV 73 (2013), S. 37 (43 f.). 99  Verdross/Simma, ebd., § 1225 f. 100  Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen v. 18.4.1961, BGBl. 1964 II S. 959; BGBl. 1965 II S. 147 (UNTS Bd. 500 S. 95); Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen v. 24.4.1963, BGBl. 1969 II S. 1583; BGBl. 1971 II S. 1285 (UNTS Bd. 596 S. 261). 101  Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), § 98 S. 132; siehe auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 1226–1228, § 1343 zu den Grenzen von Repressalien. 102  Der Begriff bei Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (198); zuvor ders., JCSL 13 (2008), S. 233 (234 und passim). 103  Zur Einordnung vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), § 98 S. 133; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 1227. 104  Message to the Congress, 26.4.1980, Dept. of State Bull.  80, Nr. 2039, Juni 1980, S. 43 [Hervorh. P. L.].

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Ferner wurde angenommen, dass das Begriffspaar „unwilling or unable“ seinen Ursprung in eben diesem Sachbereich finde.105 Daher wird nachfolgend zunächst die allgemeine Völkerrechtmäßigkeit dieser Schutzmaßnahmen eruiert (1.); darauf folgt eine fallorientierte Veranschaulichung der durch Unwillen oder Unfähigkeit vermittelten Rettungsbedürftigkeit (2.). 1. Mögliche Völkerrechtmäßigkeit Ob der Schutz eigener Staatsangehöriger als Rechtfertigungsgrund für Art. 2 Nr. 4 UNCh betreffende exterritoriale Maßnahmen in Frage kommt, was mit Blick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand teils als „Entebbe-Prinzip“ zusammengefasst wurde,106 ist strittig.107 Dies kann auf das vom Gewaltverbot ausgehende restriktive Regel-Ausnahme-Verhältnis zurückgeführt werden,108 was einen Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UNCh) nahelegt. Dies wiederum läuft auf die Frage hinaus, ob die Bedrohung von Staatsangehörigen im Aufenthaltsstaat einen bewaffneten Angriff auf den Heimatstaat darstellt. Dies ließe sich auf die Annahme stützen, dass – im Bild der Drei-Elementen-Lehre – vermittels des Staatsvolks reflexartig der Staat selbst angegriffen werde.109 Voraussetzung dafür ist aber, dass Art. 51 UNCh weder einen bewaffneten Angriff gegen das Territorium eines fremden Staates voraussetzen würde noch grenzüberschreitend geführt werden müsse.110 Problematisch erscheint auch, dass 105  O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (225, m. w. N.). 106  Henkin, Col. J. Transnatʼl L. 29 (1991), S. 293 (296 f.): „According to this principle, a state may enter another country with force to the extent strictly necessary to defend, and to extricate, individuals whose lives are endangered, if the territorial government is unwilling or unable to safeguard their lives.“, Henkin, in: ders. et al., Right v. Might (1989), S. 37 (41 f.). Krit. zur Verortung i. R.d. humanitären Intervention Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 733 (Fn. 1655). 107  U. a. wird der Anwendungsbereich von Art. 2 Nr. 4 UNCh nicht für gegeben erachtet, z. B. Franzke, ÖstZöffR 16 (1966), S. 128 (148 f.) mit der Differenzierung zw. territorialer Integrität und Inviolabilität und der Ablehnung einer Beeinträchtigung politischer Unabhängigkeit des Aufenthaltsstaates; ferner D’Angelo, VJIL 21 (1981), S. 485 (494 f.). Siehe auch Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 473. 108  Hierzu S.  36 ff. 109  Schröder, JZ 32 (1977), S. 420 (424); so auch Dinstein, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 915 (918), aber nur unter der Voraussetzung, dass die Personen nicht nur zufällig, sondern gerade wegen ihrer Staatsangehörigkeit angegriffen werden. Im Allg. auch Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (238). Siehe hierzu ferner ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 18. 110  Franzke, ÖstZöffR 16 (1966), S. 128 (146). Dem schließt sich Schröder, ebd. auch mit Blick auf das nicht vorauszusetzende Element grenzüberschreitender Gewalt



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche65

die Annahme eines bewaffneten Angriffs implizieren würde, dass der Auslandsaufenthalt von Staatsangehörigen die Hoheitsgewalt ihres Heimatstaates dort fortsetzen würde.111 Teleologisch wird ferner davon ausgegangen, dass es dem Heimatstaat nicht zugemutet werden könne, zuzusehen, wie seine Staatsangehörigen geschädigt werden, und systematisch der durch die UN-Charta bezweckte Schutz von Humanität und Menschenrechten bemüht.112 Auch wurde angenommen, dass es wegen weiterbestehenden Völkergewohnheitsrechts nicht auf einen bewaffneten Angriff i. S. v. Art. 51 UNCh ankomme.113 Selbstverteidigung erschiene dann nicht als Ausnahme vom Gewaltverbot, sondern als spezieller Fall eines allgemeineren Grundsatzes, der den Rekurs auf Gewalt in notstandsartigen Situationen zur Verhinderung völkerrechtlichen Unrechts zuließe, sobald das UN-Charta-System versage.114 Fraglich wäre also, ob ein solches ursprüngliches, naturrechtliches, gewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht115 neben der UN-Charta fortbesteht oder diese ein solches –

an; dem selbst formulierten Einwand des Verlusts an Konturenschärfe begegnet M. Schröder mit der Notwendigkeit, „dem Wandel der zwischenstaatlichen Kampfstrategien“ Rechnung zu tragen. Ein gänzlich neues Problem tritt hier (untersucht wird die Operation Entebbe) aber nur bedingt auf, wie es sich auch nur bedingt um tatsächlich zwischenstaatliche Kampfstrategien handelt. 111  Epping, AöR 124 (1999), S. 423 (459); ähnlich (bezogen auf den TeheranerGeiselfall) Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (329) mit einem Verweis auf die ­Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung und die Abwesenheit eines bewaffneten Angriffs in diesem Fall; vgl. auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 28. Mit der Ab­ lehnung eines bewaffneten Angriffs Ronzitti, Rescuing Nationals Abroad (1985), S. 69. Siehe jedoch, wenngleich überwiegend skeptisch, die Erwägung bei Higgins, The Development of International Law (1963 [1969]), S. 220 f., entsprechende Maßnahmen könnten sich vor dem Hintergrund von Art. 2 Nr. 4 UNCh als legal erweisen. 112  So Kipp, in: Conrad et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift H. Peters (1967), S. 393 (427 f.). In dieser Hinsicht verweist etwa D’Angelo, VJIL 21 (1981), S. 485 (493) auf die Präambel sowie Art. 1, 55, 56 UNCh. Dass sich die Charta zu den Menschenrechten bekennt, reicht indes nicht aus, um z. B. die humanitäre Intervention als geltendes Völkerrecht einzustufen; nichts anderes kann daher hier gelten. 113  Franzke, ÖstZöffR 16 (1966), S. 128 (146). 114  Vgl. Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot (1967), S. 24 f.; D’Angelo, VJIL 21 (1981), S. 485 (492 f.); ein etwas allgemeinerer (und vorsichtiger) Rückgriff auf das Selbstverteidigungsrecht findet sich bei Schachter, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), S. 113 (139); siehe auch McDonnell, Geo. Wash. ILR 44 (2012), S. 243 (267 f.). 115  Dies mag der Wortlaut von Art. 51 S. 1 UNCh indizieren: „Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective self-defence […].“, Franzke, ÖstZöffR 16 (1966), S. 128 (146) m. w. N.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

ausgehend vom umfassend verstandenen Gewaltverbot, das anderweitig ausgehöhlt zu werden drohe – eingeengt hat.116 Prinzipiell berechtigt ist hier die Befürchtung eines Rückfalls in prä-Charta Zeiten, dass m. a. W. das „Rad der Völkerrechtsgeschichte wieder ganz zurückgedreht“ werde.117 Etwas anderes scheint vor dem Hintergrund des ius contra bellum letztlich auch kaum plausibel zu sein:118 korrespondieren doch die ihm zugrundeliegenden, in Vertrags- und Gewohnheitsrecht nebeneinander stehenden und sich wechselseitig beeinflussenden Regeln inhaltlich weitgehend.119 Im Rahmen der Friedensordnung der UN-Charta kann aber freilich auf bestehendes Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden, das praktisch auch an frühere Rechtfertigungsgründe für die Anwendung von Gewalt anknüpfen kann.120 Insofern wird eine gewohnheitsrechtliche Einschränkung des Gewaltverbots teilweise abgelehnt,121 überwiegend jedoch wohl unter restrik­ tiven Voraussetzungen bejaht, was ein aufenthaltsstaatliches Zustimmungserfordernis entfallen ließe.122 Vorausgesetzt wird hierfür eine gravierende und 116  Siehe insofern und letzteres vertretend Beyerlin, ZaöRV 37 (1977), S. 213 (222 f.); weiterhin Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 ff., passim. 117  Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot (1967), S. 26; bestätigend Beyerlin, ebd., S. 224; i. Ü. nimmt etwa auch Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (10), unter Berücksichtigung von Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV, eine Parallelität von Art. 51 UNCh und dem auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage stehenden Selbstverteidigungsrecht an, entsprechend Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (460). Vgl. zu Zweifeln im obigen Sinne auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 11 f. 118  Siehe auch S. 36 ff. 119  Vgl. IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 175–177, 181, 187–190). 120  Kewenig, in: Schaumann (Hrsg.), Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung (1971), S. 175 (203 f.), insg. zu diesem Problem S. 201 ff. a. a. O. Siehe dazu auch Beyerlin, ZaöRV 37 (1977), S. 213 (225); ferner Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (813). O’Connell, The Art of Law in the International Community (2019), S. 194–197 bezieht sich in diesem Kontext auch auf Gegenmaßnahmen. 121  So Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 21; Epping, AöR 124 (1999), S. 423 (463); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 473; weniger eindeutig O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (459), der aber annimmt, dass Staaten zumindest ein eindeutiges Recht nicht zustehe. 122  So Randelzhofer/Dörr, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 2 (4) Rn. 60; mit dem Verweis auf die mögliche Entstehung eines solchen spezifischen Rechtfertigungsgrundes im Völkergewohnheitsrecht auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 28. Ferner Wiefelspütz, HuV-I 25 (2012), S. 56 (59); zugleich Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (198–201) mit der Betonung, dass sich diese Fälle nicht außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 2 Nr. 4 UNCh abspielten; ferner auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 232 f. mit der Anerkennung einer ter-



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche67

evidente Bedrohung, ein Mangel an Alternativen zur gewaltsamen Rettung und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit.123 2. Umstände der Rettungsbedürftigkeit Inwiefern Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger durch einen Unwillen oder eine Unfähigkeit des Aufenthaltsstaats provoziert werden, lässt sich nun anhand der – ausgeprägten – Praxis in diesem Bereich illus­ trieren. Nach einer Vorbemerkung [a)] wird daher für den Fall des Unwillens auf Israels Befreiungsaktion in Entebbe und die Operation Eagle Claw der USA im Iran eingegangen, bevor mit von der Bundeswehr durchgeführten Evakuierungsoperationen (Libelle und Pegasus) Unfähigkeitskonstellationen umrissen werden [b)].124 a) Vorbemerkung Da militärische Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger i. d. R. unilateral erfolgen, bergen sie die Gefahr, dass der intervenierende Heimatstaat tatsächlich von anderen Motiven geleitet wird und die Sorge um seine Staatsangehörigen nur vorschiebt. Entsprechende Zweifel begegnen etwa den US-amerikanischen Interventionen in Grenada125 und Panama126.127 ritorialstaatlichen Einwilligung unter engen Voraussetzungen, diese nach Ronzitti, Rescuing Nationals Abroad, S. 66, 69–72. Zum Zustimmungserfordernis im Rahmen der Intervention auf Einladung S. 72 ff. sogleich. Gewissermaßen mögen Verdross/ Simma, ebd., §§ 473, 1338 vermittelnd eingeordnet werden: Solche Maßnahmen werden, den obigen Einordnungen entsprechend, unter Art. 51 UNCh und als humanitäre Intervention nicht für möglich befunden (§ 473). Dafür wird im Rahmen des unbedingt Erforderlichen und in Abwesenheit anderweitiger Hilfe eine politische Toleranz in der Staatenpraxis nachvollzogen (§ 1338). 123  Wiefelspütz, ebd., S. 59. 124  Siehe nur Dau, NZWehrr 40 (1998), S. 89 (89 f.). Zu völkerstrafrechtlichen Implikationen des libyschen Konflikts S. 84 f. sogleich. Zu den Konsequenzen der Operation Pegasus im Rahmen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts siehe BVerfGE 140, 160. 125  In Grenada intervenierten die USA mit mehreren karibischen Staaten am 25.10.1983, nachdem Premierminister Maurice Bishop entmachtet und hingerichtet wurde und ein Militärrat unter unsicheren Umständen die Macht übernahm (Liebach, Humanitäre Intervention im zerfallenen Staat (2004), S. 181  ff.; Doswald-Beck, NILR 31 (1984), S. 355 (357 f.)). Dies begründeten die USA u. a. damit, dass ca. 1.000 US-Bürger bedroht gewesen seien (siehe v. a. die Stellungnahme des damaligen US-Vizeaußenministers Kenneth W. Dam, in: Contemporary Practice of the United States Relating to International Law, AJIL 78 (1984), S. 200 (201–204)). Diese Befürchtung schien jedoch übertrieben und wurde durch Ortsberichte relativiert, die auch vor dem UN-Sicherheitsrat unterlegt wurden (Doswald-Beck, ebd., S. 362;

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Dieses Problem begleitet auch den militärischen Menschenrechtsschutz, soll jedoch zum Zweck der Begriffsorientierung hier nicht weiter vertieft werden.

Green, AVR 24 (1986), S.  173 (188); UN-Sicherheitsrat, SCOR, 38th Year, 2487th Meeting: 25.10.1983, UN-Dok. S/PV.2487, Ziff. 88). Prägender erscheint die Ambition der USA, kommunistische Tendenzen in Grenada zu unterbinden: Dies bringt auch die Stellungnahme von Kenneth W. Dam zum Ausdruck, wenn auch als ausschlaggebender Grund die Situation der US-Bürger vor Ort angeführt wurde. Gleichwohl heißt es: „As is well known, the growing Cuban/Soviet presence on Grenada had led the United States to have serious disagreements with the Bishop regime. Nonetheless, Bishop’s visit to the United States in June 1983 … had led us to hope that Grenada would adopt a more moderate course“, AJIL 78 (1984), S. 200 (202). Ferner Liebach, ebd., S. 182; Doswald-Beck, ebd., S. 374; Green, ebd., S. 190. Die UN-Generalversammlung verurteilte die Intervention mit Res. 38/7, 2.11.1983, UN-Dok. A/RES/38/7. 126  Die Intervention in Panama erfolgte am 20.12.1989 und führte zur Absetzung und Verhaftung von General Manuel Antonio Noriega. Unter einer Reihe von Beweggründen findet sich auch der Schutz von 35.000 US-Bürgern, der nach Drohungen Noriegas nicht mehr gewährleistet gewesen sein soll (Miller, Harv. ILJ 31 (1990) S. 633 (633); Liebach, ebd., S. 183). Bekannt sind indes nur ein bis zwei wohl eher zufällige Ereignisse, in deren Verlauf wenige Personen verletzt wurden und ein USSoldat starb (Henkin, Col. J. Transnatʼl L. 29 (1991), S. 293 (296); Miller, ebd., S. 641; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), § 98, S. 133 (unter Fn. 14); Nanda, AJIL 84 (1990) S. 494 (497); Farer, AJIL 84 (1990), S. 503 (513)). Der Einsatz einer Truppenstärke von 24.000 Soldaten deutet insofern auf andere Beweggründe hin, sodass es kaum um den Schutz eigener Staatsangehöriger gegangen sein dürfte, sondern um die Integrität der Torrijos-Carter-Verträge (Panama Canal Treaty (with annex, agreed minute, related letter, and reservations and understandings made by the United States) v. 7.9.1977, UNTS Bd. 1280 S. 3; Treaty concerning the permanent neutrality and operation of the Panama Canal (with annexes) v. 7.9.1977, UNTS Bd. 1161 S. 177), den Schutz der panamaischen Demokratie oder die Bekämpfung des Drogenhandels (siehe Miller, ebd., S. 635; Nanda, ebd., S. 502). Mit einem kurzen Überblick über die verschiedenen vorgebrachten Rechtfertigungsgründe und i. Ü. m. w. N. Kritsiotis, ZaöRV 79 (2019), S. 691 ff., passim. Auch dieses Vorgehen verurteilte die UN-Generalversammlung: Res. 44/240, 29.12.1989, UN-Dok. A/RES/44/ 240. Siehe aber D’Amato, AJIL 84 (1990), S. 516 ff., der schon den Anwendungsbereich von Art. 2 Nr. 4 UNCh für nicht betroffen hält (S. 520) und maßgeblich das Beenden tyrannischer Verhältnisse bemüht (S. 519 f. und passim). 127  Siehe Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 21; Randelzhofer/Dörr, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 2 (4) Rn. 59. Zur Einordnung dieser Fälle im Rahmen der humanitären Intervention siehe Fn. 55. Ausgerechnet diese weist DʼAmato, AJIL 84 (1990), S. 516 (523) als „major customary law development since 1948“ aus, was die Legalität der humanitären Intervention (hier eigene Staatsangehörige umfassend) bekräftigen solle. Die opinio iuris wird dabei jedoch nicht vertieft.



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche69

b) Beispielsfälle Der Operation Entebbe ging eine Flugzeugentführung am 27.6.1976 durch eine Splittergruppe der PLO voraus: Dabei wurde ein für Paris vorgesehener Flug über Bengasi nach Entebbe umgeleitet. Die Entführer forderten für die Verschonung der festgehaltenen Geiseln die Freilassung von 53 „Friedenskämpfern“, von denen sich 40 in israelischer Haft befanden. Im Zuge der Verhandlungen wurden 148 Personen freigelassen, nicht jedoch israelische Staatsangehörige, Personen mutmaßlich jüdischen Glaubens und das Bordpersonal. Diese wurden in der Nacht zum 4.7.1976 befreit, wobei israelische Soldaten die Entführer und 20 ugandische Soldaten töteten und ugandische Kampfflugzeuge zerstörten.128 Israel ging dabei von einem kollusiven Verhalten der Entführer und Ugandas zu seinen Lasten aus:129 Idi Amin habe die Entführer, die vor Ort in der Lage gewesen sein sollen, sich frei fortzubewegen, herzlich begrüßt und mit Waffen und Sprengstoff versorgt. Ugandische Soldaten sollen ferner die Sondierung jüdischer Passagiere überwacht haben.130 Uganda verwehrte sich diesen Vorwürfen.131 Doch zumindest das ugandische Einverständnis zum Einflug des entführten Flugzeugs und die nachfolgende Untätigkeit der lokalen Behörden weisen in eine andere Richtung.132

128  Der Sachverhalt nach Schröder, JZ 32 (1977), S. 420 (421); Boyle, NILR 29 (1982), S. 32 (33, Fn. 1). 129  UN-Sicherheitsrat, SCOR, 31st Year, 1939th Meeting: 9.7.1976, UN-Dok. S/ PV.1939, worin der damalige Botschafter Israels bei der UN erklärte: „President Idi Amin of Uganda arrived at the airport shortly before the hijacked plane landed and embraced the hijackers in a gesture of welcome and with a promise of support and assistance. […] [The released hostages] described […] how Ugandan soldiers, under the direct orders of President Amin, supervised the separation of Jewish passengers from non-Jewish passengers. […] And so […] it became apparent to the Government of Israel that there was no alternative but to conduct a rescue operation to save the lives of its citizens. The Government of Israel’s apprehension was heightened by a knowledge of President Amin’s attitude towards the Jewish people“, Ziff. 78, 81, 83. Der damalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim hielt dagegen: „Indeed, in a reply to a specific question, I said: ‚I haven’t got all the details, but it seems to be clear that Israeli aircraft have landed in Entebbe and this constitutes a serious violation of the sovereignty of a Member State of the United Nations‘ “, ebd., Ziff. 13. Dagegen sieht Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 21 hierin einen der seltenen reinen Fälle des Schutzes eigener Staatsangehöriger. 130  DER SPIEGEL v. 5.7.1976, S. 84 (85); ferner Beyerlin, ZaöRV 37 (1977), S. 213 (214, Fn. 2); UN-Sicherheitrat, ebd., UN-Dok. S/PV.1939, Ziff. 81 (die Stellungnahme des israelischen Botschafters Chaim Herzog). 131  Siehe NYT v. 6.7.1976, S. 1; Beyerlin, ebd., S. 214; Schröder, JZ 32 (1977), S. 420 (421). 132  Beyerlin, ebd., S. 214 f.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Die Operation Eagle Claw wurde durch den Teheraner Geiselfall veranlasst. Dabei wurde am 4.11.1979 (während der islamischen Revolution) die US-amerikanische Botschaft von bewaffneten Personen gestürmt und das diplomatische Personal mit zwei weiteren US-Bürgern von einer Gruppe vermeintlicher Studenten, den Muslim Students Followers of the Imamʼs Policy, in Geiselhaft genommen. Die iranischen Behörden verhinderten und beendeten die Erstürmung nicht und blieben auf Hilferufe untätig. Vielmehr solidarisierte sich die iranische Revolutionsregierung letztlich mit den Geiselnehmern.133 Der IGH wertete dies später als eine „total inaction of the Iranian authorities […] in face of urgent and repeated requests“ und stellte insb. eine Pflichtverletzung aus Wiener Diplomaten-134 und Wiener Konsularrechtskonvention135 auf Seiten des Iran fest.136 Die einen Monat vor der IGH-Entscheidung am 24.4.1980 unternommene Rettungsaktion der in Teheran festgehaltenen Geiseln scheiterte jedoch, bevor das US-Militär Teheran erreichte. Die Geiseln kamen erst 1981 frei.137 Von diesen beiden Fällen unterscheiden sich schließlich die Bundeswehreinsätze Libelle und Pegasus.138 Operation Libelle erfolgte anlässlich des Lotterieaufstandes, der im März 1997 zu einem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Albaniens führte. Wegen Plünderungen von Waffen­ 133  Der Sachverhalt nach Wolf, ZaöRV 43 (1983), S. 481 (484); Seibert-Fohr, ­ aöRV 73 (2013), S. 37 (44); Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, S. 638 f. (Anhang); Z IGH (Diplomatic and Consular Staff in Tehran), ICJ Rep. 1980, S. 3 (Ziff. 17 ff.). 134  Siehe Art. 22 Abs. 2, 24–27 und 29. 135  Siehe Art. 5 und 36. 136  IGH (Diplomatic and Consular Staff in Tehran), ICJ Rep. 1980, S. 3 (Ziff. 64, 67; Ziff. 62 zur völkergewohnheitsrechtlichen Dimension der Pflichten aus WÜD und WÜK). Weiterhin bedeutete die Inaktivität angesichts der Geiselnahme zweier Staatsangehöriger neben der Missachtung gewohnheitsrechtlicher Schutzpflichten zugunsten fremder Staatsangehöriger eine bilaterale Vertragsverletzung, IGH, ebd., Ziff. 67. Zu positiven Schutzpflichten im Fremdenrecht Seibert-Fohr, ZaöRV 73 (2013), S. 37 (43 f.) und zuvor. In bilateraler Hinsicht: Treaty of Amity, Economic Relations, and Consular Rights v. 15.8.1955, UNTS Bd. 284 S. 93, deren Art. 2 Nr. 4 lautet: „[n] ationals of either High Contracting Party shall receive the most constant protection and security within the territories of the other High Contracting Party. When any such national is in custody, he shall in every respect receive reasonable and humane treatment; and, on his demand, the diplomatic or consular representative of his country shall without unnecessary delay be notified and accorded full opportunity to safeguard his interests. […]“ 137  DER SPIEGEL v. 27.3.2008: Botschaftsbesetzung in Teheran. Kampf um „Operation Adlerkralle“ (Klaus Wiegrefe), abrufbar unter: http://www.spiegel.de/eines tages/botschaftsbesetzung-in-teheran-a-946787.html. 138  Siehe zur Gewährleistung humanitärer Hilfen unter Kap. VII UNCh im Rahmen des die Operation Libelle provozierenden Lotterieaufstandes bereits Fn. 56. Der libysche Bürgerkrieg des Jahres 2011 rief wiederum eine Situation hervor, die völkerstrafrechtliche Konsequenzen zeitigte, siehe S. 84 f.



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche71

lagern und einem sich in Auflösung begriffenen Sicherheitsapparat war in dieser von der Bundesregierung als „anarchisch“ wahrgenommenen Situation das Leben der sich in Albanien aufhaltenden Ausländer gefährdet. Daher evakuierte die Bundeswehr am 14.3.1997 unter Einsatz von Waffengewalt 116 Personen aus Tirana, darunter 21 Staatsangehörige der Bundesrepublik. Albanien stimmte diesem nicht UN- oder NATO-mandatierten Einsatz zu, jedoch erst im Nachhinein.139 Unter ähnlichen Umständen erfolgte die Operation Pegasus, ihrerseits eine Reaktion auf die 2011 zum libyschen Bürgerkrieg führenden Unruhen. Der am 26.2.2011 durchgeführte Einsatz fand im ostlibyschen Wüstenort Nafurah statt. Diese Region befand sich in weiten Teilen in der Hand von Gegnern des Gaddafi-Regimes und war nach dem Zerfall staatlicher Strukturen zunehmender Kriminalität ausgesetzt. Dabei wurden auch Camps westlicher Unternehmen von marodierenden Banden überfallen. Dies und beginnende Auseinandersetzungen über Lebensmittel vor Ort begründeten auf Seiten der Bundesregierung die Annahme einer „humanitären Notlage“. Ohne Zwischenfall wurden schließlich 132 Personen, darunter 22 Deutsche, militärisch abgesichert evakuiert. Eine ausdrückliche Zustimmung Libyens lag hierfür nicht vor, die Bundesregierung ging lediglich, gestützt auf diplomatische Kontakte, von einer konkludenten Zustimmung Libyens aus.140 3. Zwischenfazit Die zuletzt skizzierten Fälle Albaniens und Libyens zeigen, dass der Fall aufenthaltsstaatlicher Unfähigkeit von einem weitgehenden Zusammenbruch der effektiven Staatsgewalt geprägt ist: Das Wohlergehen fremder Staatsangehöriger wird zunehmend vom Verhalten von – teils bewaffneten oder marodierenden – Privatpersonen abhängig, nachdem der Aufenthaltsstaat nicht mehr über die nötigen Strukturen verfügt, um seinen Schutzpflichten gerecht zu werden.141 Alternativ mögen fremde Staatsangehörige auch schlicht in die Mitte eines offen ausgetragenen Konflikts zwischen Regierungsangehörigen und Regierungsgegnern gelangen. Für den Fall des aufenthaltsstaatlichen Unwillens ist prägend, dass es weder der Staat noch Privatpersonen alleine sind, die eine Gefährdung fremder Staatsangehöriger herbeiführen. Vielmehr geht es um ein privates Handeln, 139  Der Sachverhalt nach BT-Drs. 13/7233 v. 18.3.1997; Epping, AöR 124 (1999), S.  423 (424 f.). 140  Der Sachverhalt nach BVerfGE 140, 160 (161–163, 165, 167); BT-Drs. 17/6564 v. 11.7.2011, S. 2. 141  Ronzitti, Rescuing Nationals Abroad (1985), S. 70 spricht an dieser Stelle etwa von einer kompletten Lähmung der staatlichen Strukturen.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

das der Aufenthaltsstaat (wie im Fall von Uganda) entweder aktiv unterstützt oder (wie im Fall des Iran) durch ein Unterlassen passiv duldet. Insofern manifestiert sich der fragliche „Unwille“ in einem kollusiven Verhalten zwischen Aufenthaltsstaat und Privatpersonen zu Lasten fremder Staatsangehöriger. An sich vorstellbar sind von hier aus nun auch Fälle deutlich zugespitzter aufenthaltsstaatlicher Aktivitäten, bis hin zur gezielten Verfolgung fremder Staatsangehörige – dies dürfte jedoch die Ausnahme sein.

III. Intervention auf Einladung Mit Blick auf das völkerrechtliche Gewaltverbot ist letztlich noch auf die Intervention auf Einladung einzugehen.142 Hiernach soll die Durchführung von militärischen Maßnahmen auf dem Gebiet eines anderen Staates gerechtfertigt sein, wenn dieser hierfür seine Zustimmung erteilt, die Anwendung militärischer Gewalt also konsentiert ist.143 Provoziert werden solche Einladungen üblicherweise durch Situationen, in denen die anfordernde Regierung in einen internen Konflikt verwickelt ist.144 Insofern wird nachfolgend zunächst (1.) auf die dabei bestehenden Grundlagen und Problemkreise eingegangen, bevor (2.) nach der Relevanz eines etwaigen Unwillens bzw. einer Unfähigkeit des einladenden Staates in diesem Kontext gefragt wird. 1. Grundlagen Völkervertragliche Resonanz hat die Intervention auf Einladung auf regionaler Ebene gefunden. So heißt es in Art. 4 lit. j AU-Constitutive Act: „The Union shall function in accordance with the following principles: […] (j) the right of Member States to request intervention from the Union in order to restore peace and security […].“

142  Umfangreich hierzu jüngst ZaöRV 79 (2019), S. 633 ff.: Intervention by Invitation: Impulses from the Max Planck Trialogues on the Law of Peace and War. Krit. zum Begriff „Intervention auf Einladung“ Kleczkowska, ebd., S. 647 ff., u. a. angesichts divergierender staatenpraktischer Terminologien. Krit. Visser, ebd., S. 651 (652 und passim), wonach es treffender sei, von „use of force by invitation“ zu sprechen. 143  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 23; Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (541); siehe auch IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 246). Ferner IGH (Certain Expenses of the UN), ICJ Rep. 1962, S. 151 (177); hier konnte nur eine Zustimmung des Kongo zu einem Mangel an Gewaltanwendung von Seiten der UN-Truppen geführt haben, Nolte, Eingreifen auf Einladung (1999), S. 210 (f.). 144  Nolte, ebd., S. 18; siehe zu einigen jüngeren Grenzfällen etwa Hartwig, ZaöRV 79 (2019), S. 703 ff.



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche73

Gleichwohl ist sie immer wieder Zweifeln ausgesetzt: Diese rühren etwa daher, dass das völkerrechtliche Gewaltverbot Bestandteil des ius cogens ist, sodass hierüber auch nicht disponiert werden könne.145 Ferner wird auf die Gefahr einer Ausweitung oder Internationalisierung eines ursprünglich internen Konflikts durch die militärischen Maßnahmen des eingeladenen Staates verwiesen.146 Zweifelhaft erscheint schließlich, ob derartige Interventionen zugunsten einer sich im internen Konflikt befindenden Regierung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 Nr. 2 UNCh) vereinbar sind.147 Entsprechend hat sich M. E. O’Connell für die Orientierung an der belli­ gerency rule ausgesprochen, wonach es zur Einladung externer militärischer Unterstützung gegen Oppositionskräfte nur in Situationen kommen dürfe, die noch nicht die Schwelle eines internen bewaffneten Konflikts erreicht haben.148 Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass es im Fall einer Zustimmung schwerfalle, von Gewalt gegenüber einem anderen Staat zu sprechen, sodass schon tatbestandlich ein Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 UNCh nicht angenommen werden könne.149 In diesem Sinne kann auch Art. 20 ILC-Artikel angeführt werden:150 „Valid consent by a State to the commission of a given act by another State precludes the wrongfulness of that act in relation to the former State to the extent that the act remains within the limits of that consent.“151 145  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 23; siehe i. Ü. auch weitergehend O’Connell, The Art of Law in the International Community (2019), S. 229 ff., 257 f.; zur Einordnung des völkerrechtlichen Gewaltverbots als ius cogens siehe Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 226 ff. 146  Siehe Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (541); O’Connell, ebd., S. 257. 147  Bautze, ebd., S. 541; hierzu auch Corten, ZaöRV 79 (2019), S. 677–679. 148  O’Connell, The Art of Law in the International Community (2019), S. 216– 218, 230, 234, 257 f. 149  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 23; Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (541); Rezac, Militärische Intervention (2002), S. 22; vgl. auch Ruys/Ferro, ICLQ 65 (2016), S. 61 (79 f.); Brunner, AVR 56 (2018), S. 34 (52). Differenzierend und mit der Annahme, dass „Einladungen“ neben Kap. VII und Art. 51 UNCh einen dritten Rechtfertigungsgrund für den Rekurs auf Gewalt darstellten, Kriener, ZaöRV 79 (2019), S. 643–646. 150  Die völkergewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit widerspiegelnden ILC-Artikel wurden der Generalversammlung 2001 vorgelegt, siehe UN-Völkerrechtskommission, YILC 2001, Vol. 2 Part 2: Report of the Commission to the General Assembly on the work of its 53rd session, S. 20 ff., insb. S. 26 ff.; UN-Generalversammlung, Res. 56/83: Responsibility of States for internationally wrongful acts, 12.12.2001, UN-Dok. A/ RES/56/83; Weber, Extraterritoriale Staatenpflichten (2009), S. 14. 151  Siehe auch Art. 26 ILC-Artikel: „Nothing in this chapter precludes the wrongfulness of any act of a State which is not in conformity with an obligation arising under a peremptory norm of general international law.“

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Dies lenkt den Fokus auf den Akt der Zustimmung und die Frage, wann von einer wirksamen Zustimmung gesprochen werden kann, ob also genauer die einladende Regierung noch dazu berechtigt ist, den Staat zu repräsentieren.152 Ist dies der Fall, wird die Intervention auf Einladung nämlich überwiegend für zulässig befunden.153 Als abstrakter Orientierungspunkt für die so vorausgesetzte allgemeine Anerkennung der Regierung154 mag die Frage dienen, ob „sie als Machtfaktor […] endgültig ausgeschaltet ist“, sodass z. B. bloß regierungsseitige ­Effektivitätsschwächen noch nicht geeignet erscheinen, ihr ihre Repräsentativität zu nehmen.155 Vielmehr müssten sonstige Umstände hinzutreten, etwa ein Verstoß gegen grundlegende völkerrechtliche Normen oder das ungehinderte Fortdauern von Kämpfen nach Errichtung einer Übergangs­ ­ regierung.156 Da­ raus kann jedoch kein Automatismus folgen, etwa für zerfallen(d)e Staaten.157 Maßgeblich bleibt eine am Einzelfall orientierte 152  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 23; Corten, The Law Against War (2010), S. 249, mit dem Hinweis, dass sich die Unklarheiten zur Intervention auf Einladung v. a. um die Bedingungen einer wirksamen Zustimmung drehen: „in principle, no one denies that validly given consent can make a military operation lawful.“; de Wet, EJIL 26 (2015), S. 979 (989 f.) geht unter diesem Gesichtspunkt davon aus, dass sich das Erfordernis einer demokratischen Legitimierung noch nicht durchgesetzt habe. 153  Bothe, ebd., Abschn. 8 Rn. 23; Rezac, Militärische Intervention (2002), S. 44; im Grunde auch Schindler, BDGV 26 (1986), S. 11 (14 f.). Zum fragl. Potential eines (an Art. 51 S. 2 UNCh orientierten) Berichtserfordernisses für die konsentierte Anwendung von Gewalt siehe van den Herik, ZaöRV 79 (2019), S. 707 ff., passim. 154  Bannelier-Christakis, LJIL 29 (2016), S. 743 (745, 747) geht dagegen von der grundsätzlichen Unzulässigkeit externer Interventionen auf Einladung aus, um einen ausschließlich internen politischen Streit zugunsten der etablierten Regierung zu lösen; die Legalität der Intervention hinge insofern von der Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ab (sog. purpose-based approach). 155  Nolte, Eingreifen auf Einladung (1999), S. 162, 145 f., ferner S. 156 auch mit Blick auf „dauerhafte Effektivitätsschwächen“; Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 23. Auch in diesem Sinne, mit einer Vermutung von effektiver Kontrolle zugunsten international anerkannter Regierungen, Ruys/Ferro, ICLQ 65 (2016), S. 61 (81 f.) sowie de Wet, EJIL 26 (2016), S. 979 (992 und 998); dabei räumt E. de Wet a. a. O. ein, dass die Annahme effektiver Kontrolle im Einzelfall durchaus auf eine Fiktion hinauslaufen könne. Der Zweck dieser Fiktion korreliert wiederum mit dem Grundsatz souveräner Staatengleichheit (hierzu S. 39 ff. zuvor). Vgl. auch Brunner, AVR 56 (2018), S. 34 (55 f.). 156  Nolte, ebd., S. 158. Zum Zusammenspiel effektiver Kontrollausübung des Staates und der (demokratischen) Legitimierung seiner Regierung Marxsen, ZaöRV 74 (2014), S. 367 (378); ferner Brunner, ebd., S. 56–63. 157  Siehe die Analyse der Anerkennungspraxis bei Nolte, ebd., S. 150 ff.: Aufgezeigt wird, dass es recht wenige Fälle einer Nichtanerkennung gibt (ebd., S. 156 ff.). Verwiesen wird auf das 1979 in Kambodscha von Vietnam installierte Regime (ebd., S. 156), ferner auf die afghanische Übergangsregierung nach dem Sturz des Najibul-



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche75

Prüfung und die internationale Anerkennungspraxis.158 Entsprechende Anhaltspunkte lassen sich insofern auch den Kommentierungen zu Art. 20 ILC-Artikel entnehmen: „Consent must be freely given and clearly established. It must be actually expressed by the State rather than merely presumed on the basis that the State would have consented if it had been asked. Consent may be vitiated by error, fraud, corruption or coercion. In this respect, the principles concerning the validity of consent to treaties provide relevant guidance.“159

2. Zur Relevanz von Unwillen oder Unfähigkeit Zu Interventionen auf Einladung kommt es recht häufig:160 Während in dieser Hinsicht die russische Intervention im Rahmen der Krim-Krise (2014) berechtigterweise kritisiert wurde,161 können als repräsentative Fälle die Vereinbarung zwischen Afghanistan und den USA, US-amerikanische Truppen lah-Regimes 1992 (ebd., S. 156 f.; UN-Sicherheitsrat, Statement by the President of the SC, 16.4.1997, UN-Dok. S/PRST/1997/20, S. 1; Statement by the President of the SC, 24.1.1994, UN-Dok. S/PRST/1994/4, S. 1), auf die Übergangsregierung Liberias nach dem Tod von Samuel K. Doe (ebd., S. 157), auf die ruandische Hutu-Regierung von 1994 (ebd., S. 157) sowie auf die gescheiterte Übergangsregierung in Somalia nach dem Sturz M. Siad Barres (ebd., S. 157); UN-Sicherheitsrat, Res. 794 (1992), 3.12.1992, UN-Dok. S/RES/794 (1992), S. 1 und 2); de Wet, EJIL 26 (2016), S. 979 (991) weist für die jüngere Vergangenheit das Gaddafi-Regime aus. 158  Umfangreich Tzimas, ZaöRV 78 (2018), S. 147 (156 ff., insb. 170 f., 186 f.), wobei zur Bewertung der Legitimität einer zustimmenden Regierung auf ein ad hoc zu bewertendes Zusammenspiel zwischen personaler und territorialer Kontrolle, innenpolitisch-konstitutioneller Repräsentativität sowie Ausrichtung des Verhaltens am Völkerrecht hingewiesen wird. Lo Giacco, ZaöRV 79 (2019), S. 663–666 hat in ihrem Kurzüberblick zum Ursprung des in diesem Zusammenhang i. d. R. angelegten effective control-Tests auf das Erfordernis hingewiesen, die Staatenpraxis als validierendes Moment zu berücksichtigen. 159  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 20 Ziff. 6. 160  Rezac, Militärische Intervention (2002), S. 22; de Wet, EJIL 26 (2016), S. 979 (980). 161  The Guardian v. 2.4.2014: Ukraine’s Ousted President Yanukovych Says Loss of Crimea is ‚Major Tragedy‘, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/ world/2014/apr/02/ukraine-ousted-president-yanukovych-crimea-tragedy. Von einer nicht wirksamen Zustimmung geht Marxsen, ZaöRV 74 (2014), S. 367 (374–380) aus. Hierzu auch Michel, in: Gornig/Horn, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit (2016), S. 111 (140, 146 f.); ferner O’Connell, The Art of Law in the Interna­ tional Community (2019), S. 228. Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Implikationen der Krim-Krise findet sich in ZaöRV 75 (2015), S. 1 ff.: Symposium: The Incorporation of Crimea by the Russian Federation in the Light of International Law.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

zur Unterstützung afghanischer Streitkräfte einzusetzen (2014),162 oder die Präsenz des russischen Militärs im Syrien-Konflikt ab 2015 erwähnt werden.163 Es liegt nahe, dass solche Einladungen von der Unfähigkeit des einladenden Staates geprägt werden, interne Konflikte durch den Rückgriff auf eigene Ressourcen zu bewältigen, obgleich dies auch nicht absolut zwingend ist.164 Zugleich können u. U. äußerste Formen staatlicher Unfähigkeit die Unwirksamkeit einer Zustimmung indizieren. Unfähigkeit ist damit je nach Ausprägung und einzelfallabhängiger Wertung sowohl Motiv als auch Grenze der Intervention auf Einladung, hier m. a. W. also sachbereichsspezifisch kaum eigenständig handhabbar. Ein etwaiger Unwille des einladenden Staates ist daneben schon nicht vordergründig relevant.

IV. Aufnahme neuer UN-Mitglieder gem. Art. 4 UNCh Das vorliegend interessierende Begriffspaar klingt ferner, nun jedoch unabhängig vom völkerrechtlichen Gewaltverbot, auch in der UN-Charta selbst an. So heißt es in Art. 4 Nr. 1: „Membership in the United Nations is open to all other peace-loving states which accept the obligations contained in the present Charter and, in the judgment of the Organization, are able and willing to carry out these obligations.“165

Formuliert werden hier fünf Voraussetzungen, die im Rahmen von Art. 4 Nr. 2 UNCh zur Aufnahme eines Staates als Mitglied der Vereinten Nationen führen können.166 Es handelt sich dabei um abschließende Kriterien, sodass eine Entscheidung eines Mitglieds der Vereinten Nationen i. S. v. Art. 4 UNCh prinzipiell nicht auf andere Gründe als die hier enumerierten gestützt werden können soll.167 Gleichwohl besteht für eine etwaige Art. 4 UNCh betreffende

162  U.S. Department of Defense, Statement by Secretary of Defense Chuck Hagel on the Signing of the Bilateral Security Agreement, 30.9.2014, abrufbar unter: https:// dod.defense.gov/News/News-Releases/News-Release-View/Article/605204/. 163  Reuters v. 30.9.2015: Syriaʼs Assad Wrote to Putin over Military Support, abrufbar unter: https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-putin-idUSKCN 0RU17Y20150930. Die Zustimmung Syriens wird überwiegend für wirksam erachtet, vgl. Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (541); auch, aber vor dem Hintergrund von Art. 26 ILC-Artikel krit., Choquette, Col. J. Transnatʼl L. 55 (2016), S. 138 (150–152). Siehe später noch S. 114 ff. 164  Einladungen eines in seiner Staatsgewalt unbeschränkten Staats sind vorstellbar, jedoch praktisch unrealistisch und politisch inopportun, vgl. O’Connell, The Art of Law in the International Community (2019), S. 258. 165  Hervorh. P. L. 166  Klarstellend auch Grant, Col. J. Transnat’l L. 39 (2000), S. 177 (184 f., auch unter Fn.  22 f.).



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche77

Entscheidung im Sicherheitsrat oder in der Generalversammlung weder eine Begründungspflicht noch eine justiziable Kontrolle, sodass es dazu kommen kann, dass sich die Mitgliedstaaten bei solchen Entscheidungen faktisch sehr wohl von anderen, v. a. politischen Beweggründen leiten lassen.168 Entsprechend kann vor dem Hintergrund einer mit der Zeit liberalisierten – und dabei auch Mikrostaaten erfassenden – Aufnahmepolitik der Vereinten Nationen davon gesprochen werden, dass das Aufnahmeverfahren, das einst vielleicht als objektive Evaluation der Fähigkeiten und des Willens von Staaten zur Ausübung der UN-Charta-Verpflichtungen gedacht war, zunehmend flexibilisiert wurde.169 In Konkretisierung der in Art. 4 UNCh enthaltenen Anforderungen hat die Generalversammlung zwar auf entscheidungsleitende Faktoren hingewiesen, „such as: the maintenance of friendly relations with other States, the fulfilment of international obligations and the record of a State’s willingness and present disposition to submit international claims or controversies to pacific means of settlement established by international law“170.

Doch sind diese Kriterien nicht nur reichlich weit und interpretationsoffen gefasst. Vielmehr kann schon beim derzeitigen Mitgliederumfang der Vereinten Nationen von 193 Staaten ein vom Tatbestand des Art. 4 Nr. 1 UNCh ausgehender abgrenzungsfähiger Aussagegehalt über die Bedeutung der erwarteten Fähigkeiten und voluntativen Anlagen nicht erwartet werden.

V. Das Komplementaritätsprinzip gem. Art. 17 Römisches Statut Schließlich ist auch im Internationalen Strafrecht das fragliche Begriffspaar vorzufinden.171 Konkret geht es dabei um das Prinzip der Komplementarität, wonach bei konkurrierender Jurisdiktion grundsätzlich nationale

167  IGH (Admission of a State to Membership), ICJ Rep. 1948, S. 57 (62 f., 65). Zur Anforderung des Gutachtens UN-Generalversammlung, Res.  113 (II)-B, 17.11.1947, UN-Dok. A/RES/113(II). 168  Thomas M. Franck, MPEPIL: „Admission of a State to Membership in the United Nations“ (Nov. 2006), Rn. 7. 169  So Fastenrath, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 4 Rn. 24. Oppermann, BDGV 17 (1975), S. 53 (71 f.) spricht in diesem Zusammenhang in Abgrenzung von strengrechtlichen Teilnahmeberechtigungen von „ ‚wohlfundierte[n] Anrechte[n]‘ williger und fähiger Kandidaten“. Der Begriff des Willens bzw. der Fähigkeit bleibt aber auch hier nur schwer greifbar. 170  UN-Generalversammlung, Res. 506 (VI)-A, 1.2.1952, UN-Dok. A/RES/50/67; siehe auch Fastenrath, in: Simma et al. (Hrsg.), ebd., Art. 4 Rn. 25. 171  Hier knüpft etwa auch Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (638 f.) an.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Strafverfahren Vorrang vor denen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) genießen.172 So heißt es in Art. 17 Abs. 1 lit. a und b RSt: „Having regard to paragraph 10 of the Preamble and article 1, the Court shall determine that a case is inadmissible where: a)  The case is being investigated or prosecuted by a State which has jurisdiction over it, unless the State is unwilling or unable genuinely to carry out the investigation or prosecution; b)  The case has been investigated by a State which has jurisdiction over it and the State has decided not to prosecute the person concerned, unless the decision resulted from the unwillingness or inability of the State genuinely to prosecute; […].“173

Über das Kriterium des Unwillens oder der Unfähigkeit eines strafverfolgenden Staats wird also von der grundsätzlichen nationalen Jurisdiktion – bzw. der Unzulässigkeit der Rechtssache vor dem IStGH – eine Ausnahme zugunsten des IStGH begründet. Dies setzt jedoch voraus, dass der zugrundeliegende Fall zumindest durch den jeweiligen Staat ermittelt wird, dieser also nicht nur inaktiv ist:174 Hintergrund ist die uncontested admissibilityTheorie bzw. der complementarity-Test, wonach – anknüpfend an Art. 17 Abs. 1 lit. a Hs. 1 RSt – Staaten nicht als unwillig oder unfähig bezeichnet werden sollen, wenn sie eine Strafverfolgung vor dem IStGH ermöglichen möchten; die Zulässigkeit aus Art. 17 RSt folgt dann aus der Abwesenheit von Ermittlungen oder Strafverfolgungen: „In the types of situations described here, to decline to exercise jurisdiction in favour of prosecution before the ICC is a step taken to enhance the delivery of effective justice, and is thus consistent with both the letter and the spirit of the Rome Statute and other international obligations with respect to core crimes. This is distinguishable from a failure to prosecute out of apathy or a desire to protect perpetrators, which may properly be criticized as inconsistent with the fight against impunity.“175 172  Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Der Internationale Strafgerichtshof. Implikationen des Rücktritts vom Römischen Statut (Aktueller Begriff), 10.11.2016, Nr. 25/16, S. 1; Krings, GoJIL 4 (2012), S. 737 (745 f.) mit dem Hinweis auf die Rückverfolgbarkeit der dem Komplementaritätsprinzip zugrundeliegenden Ideen auf den Versailler Vertrag (1919) und die späteren Leipziger Prozesse; hierzu näher El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 172 ff. Ferner ICC, Paper on Some Policy Issues Before the Office of the Prosecutor, S. 4; Schabas, The ICC (2010), Art. 17, S. 336, 340; ferner Art. 1 S. 2 RSt: „[The ICC] […] shall be complementary to national criminal jurisdictions.“ 173  Hervorh. P. L. 174  Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 23, 30, 38; El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 160. 175  Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice, S. 19 unter Fn. 24 sowie S. 19 f. i. Ü.; Schabas/El Zeidy, ebd., Art. 17 Rn. 24 f. Inaktivität



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche79

Dieselbe Überlegung gilt nun auch mit Blick auf Art. 17 Abs. 1 lit. b RSt unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Entscheidung, die betreffende Person nicht strafrechtlich zu verfolgen. Insofern erklärte der IStGH: „If the decision of a State to close an investigation because of the suspect’s surrender to the Court were considered to be a ‚decision not to prosecute‘, the peculiar […] result would be that […] the case would become inadmissible. In such scenario, neither the State nor the ICC would exercise jurisdiction over the alleged crimes, defeating the purpose of the Rome Statute.“176

In der Sache stellt Art. 17 RSt damit sicher, dass nur solche Staaten ihr Recht zur Strafverfolgung an den IStGH verlieren, die erhebliche Defizite in ihrem Justizsystem oder ein hohes Maß an Korruption aufweisen.177 Zwar konkretisiert das Römische Statut diesen „unwilling or unable-Test“ noch näher. Doch seine tatsächliche Bejahung durch den insofern beweisbelasteten Chefankläger des IStGH birgt mitunter durchaus Schwierigkeiten.178 Die insofern zu identifizierenden staatlichen Defizite werden nachfolgend – sowohl für Fälle staatlichen Unwillens (1.) als auch staatlicher Unfähigkeit (2.) – näher beschrieben. 1. Staatlicher Unwille In Art. 17 Abs. 2 RSt findet sich nun eine erste Konkretisierung davon, was unter staatlichem Unwillen i. S. v. Art. 17 Abs. 1 RSt zu verstehen ist:

noch als Fall fehlenden Willens ansehend, IStGH, The Prosecutor v. Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui, Reasons for the Oral Decision on the Motion Challenging the Admissibility of the Case (Art. 19), 16.6.2009, ICC-01/04-01/07, Ziff. 77. Dagegen wieder The Prosecutor v. Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui, Judgment on the Appeal of Mr. Germain Katanga against the Oral Decision of Trial Chamber II of 12 June 2009 on the Admissibility of the Case, 25.9.2009, ICC01/04-01/07 OA 8, Ziff. 79. 176  IStGH, The Prosecutor v. Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui, Judgement on the Appeal of Mr. Germain Katanga against the Oral Decision of Trial Chamber II of 12 June 2009 on the Admissibility of the Case, ebd., Ziff. 83. Vgl. auch zu dieser Einordnung und m. w. N. Schabas/El Zeidy, ebd., Art. 17 Rn. 46. 177  Garcia, Sing. L. Rev. 31 (2013), S. 57 (62). 178  Siehe nur Bergsmo, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. J., S. 345 (359): „The burden of proof rests on the Prosecutor. The nature of the ‚unwillingness‘ and ‚inabil­ ity‘ tests will in many cases make the preparation of the admissibility argument more resource demanding for the Prosecutor than proving the guilt of the alleged perpetrator.“ Nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 RSt vergewissert sich der Gerichtshof, dass er in jeder bei ihm anhängig gemachten Sache Gerichtsbarkeit hat; nach S. 2 kann der Gerichtshof schließlich aus eigener Initiative über die Zulässigkeit einer Sache nach Art. 17 entscheiden.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

„In order to determine unwillingness in a particular case, the Court shall consider, having regard to the principles of due process recognized by international law, whether one or more of the following exist, as applicable: a) The proceedings were or are being undertaken or the national decision was made for the purpose of shielding the person concerned from criminal responsibility for crimes within the jurisdiction of the Court referred to in article 5; b) There has been an unjustified delay in the proceedings which in the circumstances is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice; c)  The proceedings were not or are not being conducted independently or impartially, and they were or are being conducted in a manner which, in the circumstances, is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice.“

Die Schwierigkeit der Anwendung von Art. 17 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 RSt liegt darin, dass sie sich nicht nur auf objektive Umstände verlassen kann, sondern auch subjektive Wertungen einbeziehen muss. Gleichwohl geht mit der in Art. 17 Abs. 1 lit. a und b RSt vorgesehenen Vorkehrung von „genuinely“, unabhängig von ihrer genauen Auslegung,179 bereits eine gewisse Verobjektivierung des Prüfungsmaßstabs einher.180 Fraglich erscheint weiterhin, ob die in den Absätzen 2 und 3 genannten Kriterien abschließend zu verstehen sind oder nicht. Letzteres würde zu einer weiteren Unübersichtlichkeit des ohnehin schon komplizierten Tests führen. Dabei wird v. a. darauf verwiesen, dass die je absatzeinleitende Formulierung auf „the Court shall consider“ lautet, insofern also offen formuliert sei.181 Dagegen wurde jedoch durchaus naheliegend eingewandt, dass Art. 17 Abs. 2 RSt daraufhin die auf die Konkretisierungen hinweisende Formulierung vorsieht, „whether one or more of the following exist“. Zieht man hinzu, dass dieser „unwilling-Test“ als Ausnahmeregel fungiert, ist letztlich wohl eine enge Auslegung angebracht, die Art. 17 Abs. 2 RSt als abschließende Regel ausweist.182 Nicht zuletzt mag darauf hingewiesen werden, dass die in Ab179  Einerseits könnte „genuinely“ staatlichen Unwillen oder Unfähigkeit qualifizieren, der Staat also als wirklich unwillig oder unfähig erscheinen, andererseits aber auch die etwaig aufrichtige Motivlage des jeweiligen Staates in Frage ziehen, siehe Sadat/Carden, GLJ 88 (2000), S. 381 (418). Ferner könnten hierdurch die nachfolgenden Elemente in Art. 17 Abs. 1 RSt modifiziert werden, nämlich „to carry out the investigation or prosecution“ (lit. a) bzw. „to prosecute“ (lit. b), siehe Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice, S. 8 Ziff. 21; Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 43. Ein­ ordnend El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 165. 180  El Zeidy, ebd., S. 165, 222; zum Hintergrund auch Schabas/El Zeidy, ebd., Art. 17 Rn. 41. 181  So Robinson, EJIL 14 (2003), S. 481 (500). 182  El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 167 f.; Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 61.



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche81

satz 2 vorgesehene Fassung der lit. a–c abstrakt genug gefasst ist, um verschiedenen Einzelfällen in hinreichender Weise Rechnung zu tragen. Schon insofern sind die vorstellbaren Variationen staatlichen Unwillens an dieser Stelle schier unüberschaubar, kann doch etwa schon das Ausmaß des staat­ lichen Unwillens innerstaatlichen Differenzen ausgesetzt sein und insofern variieren.183 Gleichwohl können gewisse Indizien das Vorliegen eines staatlichen Unwillens nahelegen. Als solche wurden bspw. in Betracht gezogen: erst mit der Aktivität des IStGH einsetzende nationale Maßnahmen; eine ungewöhnliche Zahl angestrengter Verfahren; ein hastiger Abschluss dieser oder ein ungewöhnliches Maß aufgebrachter Ressourcen; eine spezifische Fokussierung der Ermittlungen auf bestimmte Personengruppen oder die Außerachtlassung anderer; ein auffälliger Ausschluss von Personen im Verfahren; die Anstrengung spezieller Verfahren, die Einrichtung spezieller Spruchkörper oder eine offenkundige Abweichung von etablierten Praktiken und vorhandenen Regeln; i. Ü. auffällige Amnestien, Begnadigungen und Strafzumessungen.184 Rein praktisch ist aber festzuhalten, dass dieser staatliche Unwille in der Rechtsprechung des IStGH nicht sehr präsent ist, berufen sich der Chef­ ankläger oder die Kammern doch stärker auf eine fehlende Aktivität des jeweiligen Staates oder vermeiden eine Auseinandersetzung in dieser Hinsicht nach einer Bejahung staatlicher Unfähigkeit185.186 So wird gerade zur Auslegung von Art. 17 Abs. 2 RSt immer häufiger vergleichend auf die Praxis anderer internationaler Spruchkörper, z. B. des EGMR, IAGMR oder ICTY, 183  Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice, S. 14 Ziff. 45. Nach El Zeidy, ebd., S. 175 und ff. lassen sich z. B. schon die Fälle nicht allumfänglich antizipieren, in denen die staatliche Entscheidung getroffen wurde, um die betreffende Person vor strafrechtlicher Verantwortung zu schützen (Abs. 2 lit. a); vorgeschlagen wird a. a. O. deshalb eine vergleichende Gesamtschau der Praxis anderer internationaler Spruchkörper. So auch Schabas/El Zeidy, ebd., Art. 17 Rn. 65 ff., die a. E. von Rn. 66 die Szenarien der vergleichsweise herangezogenen Rspr. internationaler Spruchkörper (hier v. a. des EGMR und IAGMR) dem IStGH als guidelines empfehlen. 184  Nach Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice, S. 30 f. (Annex 4). 185  Siehe IStGH, The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision on the Admissibility of the Case against Saif Al-Islam Gaddafi, PreTrial Chamber I, 31.5.2013, ICC-01/11-01/11, Ziff. 216 und ff. 186  So Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 40; zu fehlender staatlicher Aktivität in dieser Hinsicht S. 77 ff. zuvor. Siehe jedoch Schabas, The ICC (2010), Art. 17, S. 344 mit dem Hinweis, dass die Prüfung der Komplementarität vom Gesichtspunkt der Inaktivität aus zu einem Bedeutungsverlust des Unfähigkeitskriteriums führen müsse, da ein unfähiger Staat i. d. R. auch inaktiv sein werde.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

zurückgegriffen und die Zurückhaltung des IStGH kritisiert, hier einen eigenen Maßstab zu entwickeln.187 2. Staatliche Unfähigkeit Für den Fall staatlicher Unfähigkeit sieht Art. 17 Abs. 3 RSt eine eigene Konkretisierung vor: „In order to determine inability in a particular case, the Court shall consider ­whether, due to a total or substantial collapse or unavailability of its national judicial system, the State is unable to obtain the accused or the necessary evidence and testimony or otherwise unable to carry out its proceedings.“

Anders als der staatliche Unwille ist das Kriterium staatlicher Unfähigkeit von eher objektiv zugänglichen Kriterien geprägt.188 Ferner unterscheidet es sich in rechtstechnischer Hinsicht auch darin, dass sich die Frage nach dem abschließenden Charakter von Art. 17 Abs. 3 RSt nicht stellt, ist doch mit dem Kriterium „otherwise unable to carry out its proceedings“ ein Auffangtatbestand zur ausnahmsweisen Zuständigkeitsbegründung des IStGH vorgesehen.189 Hierdurch wird den vielfältigen Ursachen staatlicher Unfähigkeit Rechnung getragen.190 Ausdrücklich verweist Art. 17 Abs. 3 RSt auf einen vollkommenen oder zumindest substantiellen Zusammenbruch des nationalen Justizsystems oder seine mangelnde Verfügbarkeit, ein Umstand, der sich typischerweise im zerfallen(d)en Staat zeigen wird.191 Es kann daher auch nicht überraschen, dass insofern exemplarisch – neben dem zwischenzeitlichen Unvermögen Kolumbiens, seine nationale Drogenkriminalität zu bekämpfen, oder der Lage Ruandas in den 1990er-Jahren192 – gerade auch auf den zuvor besprochenen Fall Somalias verwiesen wurde.193

187  Siehe Schabas/El Zeidy, ebd., Rn. 65 f. zu Art. 17 Abs. 2 lit. a, Rn. 68 f. zu Art. 17 Abs. 2 lit. b, Rn. 72 f. zu Art. 17 Abs. 2 lit. c. Maßstabsbildend ist hier einzig der besagte Vergleich. Als verpasste Chance sehen Schabas/El Zeidy, ebd., Rn. 67, 71 v. a. IStGH, The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision on the Admissibility of the Case against Abdullah Al-Senussi, Pre-Trial Chamber I, 11.10.2013, ICC-01/11-01/11 an. Ferner El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 175 ff.; Schabas, ebd., Art. 17, S. 345 f. 188  El Zeidy, ebd., S. 222; Schabas/El Zeidy, ebd., Art. 17 Rn. 76. 189  El Zeidy, ebd., S. 223 f. 190  Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 76. 191  Zum failed state und damit assoziierten Gesichtspunkten S. 39 ff., 61 f. 192  Hierzu bereits unter Fn. 58.



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche83

Gleichwohl wurden auch für den Fall staatlicher Unfähigkeit gewisse Art. 17 Abs. 3 RSt konkretisierende Indizien vorgeschlagen, wie z. B.: ein Mangel an für die Strafverfolgung erforderlichem Personal; fehlende justi­ zielle Infrastruktur und eine damit verbundene Hürde, an juristischen Verfahren zu partizipieren; das Fehlen von Strafgesetzgebung und entsprechenden Verfahrensordnungen; ferner sonstige nicht unerhebliche Behinderungen, verursacht durch unkontrollierte Elemente bzw. Personengruppen.194 Wie bereits angedeutet wurde, ist der Fall staatlicher Unfähigkeit in Zulässigkeitsfragen der jüngeren IStGH-Rechtsprechung vergleichsweise präsenter.195 Veranschaulichend wird daher näher auf die Fälle Bemba [a)] und Gaddafi [b)] eingegangen. Im Vordergrund sollen dabei die Beweggründe des IStGH stehen, einen Staat i. S. v. Art. 17 RSt für unfähig zu befinden. a) Der Fall Bemba – Zentralafrikanische Republik Jean-Pierre Bemba Gombo wurde vor dem IStGH wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt, die auf Ereignisse des Konflikts von 2002 bis 2003 in der Zentralafrikanischen Republik zurückgehen; Bemba agierte hier als Anführer des am Konflikt beteiligten MLC und wurde letztlich freigesprochen.196 Während zur Zulässigkeit der Rechtssache Art. 17 Abs. 1 lit. a RSt nur kurz erörtert wurde, befasste sich der IStGH ausführlicher mit Art. 17 Abs. 1 lit. b unter dem Gesichtspunkt staatlicher Unfähigkeit.197 Zu dieser letztlich bejahten Unfähigkeit trug bei, dass der Zentralafrikanischen Republik das erforderliche Ermittlungs- und Richterpersonal in Ansehung einer Vielzahl von Fällen fehlte und das Budget des Justizministeriums einem solchen Fall 193  Arsanjani, in: Hebel et al. (Hrsg.), Reflections on the ICC (1999), S. 57 (70); El Zeidy, The Principle of Complementarity (2008), S. 222; Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 74. 194  Listung nach Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice, S. 31 (Annex 4). 195  Schabas/El Zeidy, in: Triffterer/Ambos (Hrsg), Rome Statute of the ICC (2016), Art. 17 Rn. 40. 196  Siehe IStGH, The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Warrant of Arrest for Jean-Pierre Bemba Gombo Replacing the Warrant of Arrest Issued on 23 May 2008, Pre-Trial Chamber III, 10.6.2008, ICC-01/05-01/08; IStGH, The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Judgment on the Appeal of Mr Jean-Pierre Bemba Gombo against Trial Chamber IIIʼs ‚Judgment pursuant to Article 74 of the Statute‘, The Appeals Chamber, 8.6.2018, ICC-01/05-01/08 A, Ziff. 194. 197  IStGH, The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Decision on the Admissibility and Abuse of Process Challenges, Trial Chamber III, 24.6.2010, ICC-01/0501/08, Ziff. 243, 245 ff.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

nicht gewachsen schien.198 Ferner wurde auf die regionale Instabilität und fortlaufende Operationen der zuvor konfliktbeteiligten Milizen der MLC auf zentralafrikanischem Boden verwiesen, wobei betontermaßen „the alleged power of the accused [Jean-Pierre Bemba Gombo, Anm. P. L.] has been seen by the authorities of the CAR as a major obstacle to his appearance before its courts.“199 So schien schon aus Sicherheitsgründen ein Verfahren in der Zentralafrikanischen Republik ausgeschlossen.200 Ferner hielt sich Bemba in der Demokratischen Republik Kongo auf, weshalb sich die Justiz der Zen­ tralafrikanischen Republik außer Stande sah, den Kongo zur Auslieferung Bembas zu verpflichten.201 b) Der Fall Gaddafi – Libyen Als Gaddafi Case firmiert im Anschluss an den libyschen Bürgerkrieg (2011) nur noch die Rechtssache The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi, nachdem die Fälle gegen Muammar M. A. M. Gaddafi und Abdullah Al-­ Senussi beendet202 bzw. für unzulässig befunden203 wurden. Die Zulässigkeit der Rechtssache gegen Saif Al-Islam Gaddafi vor dem IStGH konzentrierte sich auf die Frage, ob Libyen nach Art. 17 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 RSt außer Stande war, die Ermittlungen oder Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen. Dies bejahte die Kammer. Dabei wurde angesichts der zu dieser Zeit nur begrenzt effektiv tätigen Judikative darauf verwiesen, dass Gaddafi trotz entsprechender Bemühungen nicht in libyschen Gewahrsam genommen werden konnte (Art. 17 Abs. 3 Var. 1 RSt), sondern sich nach wie vor in den Händen der sog. Zintan-Milizen befand.204 Hinzu traten Zweifel, ob die erforderlichen Beweismittel und Zeugenaussagen erlangt werden konnten (Art. 17 Abs. 3 Var. 2 RSt), ihrerseits durch Berichte über Folterungen, auch mit Todesfolgen, in gewissen Haftanstalten provoziert, die einer 198  IStGH,

ebd., Ziff. 134, 245 f. ebd., Ziff. 134, 245 f., das Zitat bei Ziff. 246. 200  IStGH, ebd., Ziff. 134. 201  IStGH, ebd., Ziff. 134. 202  IStGH, The Prosecutor v. Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi, Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision to Terminate the Case Against Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi, Pre-Trial Chamber I, 22.11.2011, ICC01/11-01/11, S. 5. 203  IStGH, The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision on the Admissibility of the Case against Abdullah Al-Senussi, Pre-Trial Chamber I, 11.10.2013, ICC-01/11-01/11, Ziff. 311. 204  IStGH, The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision on the Admissibility of the Case against Saif Al-Islam Gaddafi, Pre-Trial Chamber I, 31.5.2013, ICC-01/11-01/11, Ziff. 206 ff. 199  IStGH,



A. Abgrenzung anderer Sachbereiche85

staatlichen Kontrolle entzogen schienen.205 Auffangtatbestandlich (Art. 17 Abs. 3 Var. 3 RSt) wurde noch auf die fehlende Aussicht eines Rechtsbeistandes für Gaddafi hingewiesen.206 Dies stellte sich im Fall Abdullah Al-Senussis anders dar, was insb. daran lag, dass sich dieser zur besagten Zeit in libyschem Gewahrsam befand und Beweismaterial gesammelt werden konnte.207 Der fehlende Rechtsbeistand wurde hier nicht für ausschlaggebend erachtet, da eine Bereitschaft zu Vertretung Al-Senussis nachvollziehbar gewesen sei; explizit wurde dabei aber auch wieder auf die Inhaftierung Al-Senussis in Tripolis hingewiesen.208 3. Zwischenfazit Den sich im Rahmen von Art. 17 RSt vollziehenden „unwilling or unableTest“ zeichnet angesichts seiner vertraglichen Fixierung und Konkretisierung eine vergleichsweise größere begriffliche Klarheit aus. Gleichwohl verbleiben Schwierigkeiten, da z. B. für die Feststellung staatlichen Unwillens nur bedingt auf objektive Kriterien zurückgegriffen werden kann. Dagegen ist der Fall staatlicher Unfähigkeit nicht nur leichter zugänglich, vielmehr scheint er eine praktisch übergeordnete Rolle zu spielen: In der Sache ist dabei – in aller Allgemeinheit – ein wenigstens substantieller Zusammenbruch des Justizsystems oder seine anderweitig mangelnde Verfügbarkeit zu erwarten, was Überschneidungen mit Unfähigkeitskonstellationen aus dem Bereich des militärischen Menschenrechtsschutzes vorstellbar macht.

VI. Zusammenfassung Im Durchgang „anderer“ Völkerrechtsbereiche finden sich nennenswerte Implikationen des unwilling or unable-Begriffspaars im militärischen Menschenrechtsschutz, bei Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger sowie im Komplementaritätsprinzip des Art. 17 RSt.

205  IStGH,

ebd., Ziff. 209 f. ebd., Ziff. 214. 207  IStGH, The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi, Decision on the Admissibility of the Case against Abdullah Al-Senussi, Pre-Trial Chamber I, 11.10.2013, ICC-01/11-01/11, Ziff. 294 f., 298. 208  IStGH, ebd., Ziff. 304–308 (zur Inhaftierung Al-Senussis in diesem Zusammenhang Ziff. 308). 206  IStGH,

86

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

1. Staatlicher Unwille Prägend für die skizzierten Konstellationen staatlichen Unwillens ist v. a. die Maßgeblichkeit verbleibender staatlicher Möglichkeiten zur Einflussnahme: So muss etwa für die Zulässigkeit einer Rechtssache nach Art. 17 Abs. 2 RSt deutlich zu Tage treten (lit. a) oder indiziert sein (lit. b, c), dass sich eine bestimmte Person nicht strafrechtlich verantworten müssen bzw. staatlich geschützt werden soll. Militärische Maßnahmen zugunsten eigener Staatsangehöriger werden dagegen provoziert durch eine Kollusion zwischen Privatpersonen und Aufenthaltsstaaten, welche sich dabei aktiv-unterstützend oder (trotz bestehendem Handlungspotential) passiv-unterlassend verhalten. Die Motivlage ist dabei vergleichsweise unterschiedlich, doch letztlich stellen sowohl Zulässigkeitsentscheidungen gem. Art. 17 Abs. 1 lit. a und b, Abs. 2 RSt als auch Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger in diesem Bereich Reaktionen auf gewisse (aufenthalts-)staatliche Involvierungen dar. 2. Staatliche Unfähigkeit Der wohl praktisch relevantere Fall staatlicher Unfähigkeit wird dagegen bereichsübergreifend von einen Zusammenbruch der effektiven Staatsgewalt geprägt. So ist bspw. die Annahme des IStGH im Fall von Saif Al-Islam Gaddafi, Libyen sei nicht in der Lage gewesen, die Ermittlungen oder Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen, auf den Bürgerkrieg von 2011 zurückzuführen; seine Auswirkungen veranlassten die Bundesregierung wiederum im selben Jahr zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Nafurah.209 Andererseits wurde zur Auslegung von Art. 17 Abs. 3 RSt mit den Beispielen von Ruanda und Somalia auf Fälle verwiesen,210 die auch im Rahmen des militärischen Menschenrechtsschutzes diskutiert werden. So können auch die einen totalen oder substantiellen Zusammenbruch des Justizsystems (Art. 17 Abs. 3 RSt) indizierenden Umstände, wenngleich niedrigschwelliger angesiedelt, durchaus mit etwaigen, den Menschenrechtsschutz gefährdenden Unfähigkeitskonstellationen verglichen werden. Mit dem Zusammenbruch der effektiven Staatsgewalt nimmt zugleich ein von Privatpersonen eigens ausgehendes Bedrohungspotential zu: Dem militärischen Menschenrechtsschutz gehen insofern bspw. massive und unkon­ trollierte Gewaltausbrüche voraus,211 während die Lage von Ausländern im 209  Siehe

S.  70 f. wieder Arsanjani, in: Hebel et al. (Hrsg.), Reflections on the ICC (1999), S. 57 (70); siehe Fn. 58, S. 56 ff. und S. 82 ff. zuvor. 211  Siehe auch Holsti, The State, War, and the State of War (1996), S. 119. 210  Siehe



B. Relevante Staatenpraxis87

zur Wahrung seiner fremdenrechtlichen Schutzpflichten unfähigen Aufenthaltsstaat zunehmend vom Wohlwollen anderer Privatpersonen abhängig wird. Im Rahmen von Art. 17 Abs. 3 RSt ist dies weniger zwingend, da z. B. Budget- und Personaldefizite nicht unbedingt etwas mit dem Einfluss von Privatpersonen zu tun haben müssen. Ein solcher kann sich aber auch hier auswirken: So wurde im Fall Bemba wegen fortdauernder Aktivitäten von Milizen in Zentralafrika ein verfahrensausschließendes Sicherheitsrisiko gesehen,212 während im Gaddafi Case der von Milizen ausgeübte Gewahrsam über Saif Al-Islam Gaddafi seine Inhaftierung durch die libyschen Behörden verhinderte.213

B. Relevante Staatenpraxis Der im Zentrum der Untersuchung stehende unwilling or unable-Standard ist völkervertragsrechtlich nicht ausdrücklich verankert. Vielmehr geht er aus der Praxis diverser Staaten hervor. Diese gilt es nun nicht nur zum Zwecke größerer Begriffsklarheit nachzuvollziehen. Zugleich kann erwartet werden, dass sich hierin Anhaltspunkte für die Frage zeigen werden, welche dogmatische Funktion er einnehmen soll. Die dogmatische Plausibilität derartiger funktionaler Ansätze ist dagegen ein Thema, auf das erst in einem zweiten Schritt eingegangen werden soll.214 Erst nach diesen Abschichtungen kann untersucht werden, ob, inwieweit und gegebenenfalls in welchem Rahmen der unwilling or unable-Standard völkerrechtliche Geltung beansprucht.215 Wenn diese Fragen auf die Staatenpraxis zurückführen, erscheint auch ein hieran ansetzendes induktives Vorgehen gerechtfertigt.216 Dabei wird der Schwerpunkt an dieser Stelle noch vornehmlich auf Erklärungen von gefährdeten und Territorialstaaten gelegt. Es wird dabei vorausgesetzt, dass die Notwendigkeit einer praktisch induzierten Regel eine gewisse staatenpraktische Klarheit erfordert, also einen näheren (expliziten oder impliziten) Bezug auf den unwilling or unable-Standard. Dass gewisse Fälle nur theoretisch hiermit in Verbindung gebracht werden könnten,217 wird daher keinen Beitrag zur Klärung der hier aufgeworfenen Fragen leisten können. 212  Hierzu

S.  83 f. S.  84 f. 214  Hierzu das 2. Kapitel. 215  Hierzu das 3. Kapitel. 216  Vgl. Jung, Rechtserkenntnis und Rechtsfortbildung im Völkergewohnheitsrecht (2012), S. 21; vgl. Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), S. 504 (504–506); vgl. auch die methodologische Untersuchung zu der das Völkergewohnheitsrecht betreffenden Rspr. des IGH von Talmon, EJIL 26 (2015), S. 417 (419–423). 217  Siehe z. B. S.  135 ff. 213  Hierzu

88

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Das insofern relevante Fallmaterial218 reicht von der jüngeren Vergangenheit bis in das frühe 19. Jahrhundert zurück. Der Schwerpunkt wird auf die Zeit nach 1945 gelegt (II.), wobei ein kurzer Blick auf einige davor liegende, teils fortwährend rezipierte Fälle nicht unterbleiben soll (I.).219 Bei chronologischem Vorgehen wird danach unterschieden, ob ein Fall im Schwerpunkt eher auf einen Unwillen oder eine Unfähigkeit des Territorialstaats zurückzuführen ist.

I. Prä-Charta-Zeit Mit den Fällen der prä-Charta-Zeit wird der Zeitraum von 1817 bis 1945 abgedeckt. Nachdem nun (1.) mit mit dem Caroline-Fall ein Beispiel staat­ lichen Unwillens besprochen wird, folgen (2.) Fälle territorialstaatlicher Unfähigkeit, veranschaulicht durch einige US-amerikanische Interventionen, sowie (3.) eine fallbezogene Randbemerkung. 1. Der Caroline-Fall (1837): Vereinigtes Königreich – USA Im vieldiskutierten und mitunter als Geburtsstunde des modernen Selbstverteidigungsrechts bezeichneten220 Caroline-Fall221 riefen im Konflikt mit der britischen Kolonialherrschaft begriffene Siedler nach einer Rebellion in der britischen Kolonie Upper Canada auf Navy Island – eine Insel auf der kanadischen Seite des Niagara River, von der aus das kanadische Festland angegriffen werden sollte – die Republic of Canada aus. Die Rebellen erhielten regelmäßige Waffen- und Lebensmittellieferungen von US-Bürgern; zuletzt schloss sich ihnen eine aus US-Bürgern bestehende Privatmiliz an. Die involvierten Personen erhielten keine direkten Unterstützungen durch die USA; vielmehr bemühte sich die US-amerikanische Regierung mit Blick auf die Rebellion um Zurückhaltung. Gleichwohl unternahmen die US-amerika218  Einige Übersichten, auf welche zurückgegriffen werden konnte, existieren hierzu bereits: Insb. Chachko/Deeks, Who is on Board with „Unwilling or Unable“?, passim; Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549 f. [Appendix I]); in Teilen auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 32 ff., wobei es allgemeiner um die militärische Terrorismusbekämpfung auf fremdem Staatsgebiet geht, weniger um eine spezifische Auseinandersetzung mit dem unwilling or unable-Test. 219  Vgl. insofern schon die Einführung. 220  Byers, ICLQ 51 (2002), S. 401 (406). 221  Siehe Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (502): „The 1837 case of the Caroline, known best for providing the basic rules for using force in anticipatory self-defense, is itself an ‚unwilling or unable‘ case.“



B. Relevante Staatenpraxis89

nischen Behörden nichts, um die Versorgung der Rebellen mit Munition und Milizionären durch die Sympathisanten zu verhindern. V. a. fehlte es im betreffenden Gebiet an weiteren Einheiten, um die Unterstützungshandlungen zu verhindern. Das britische Militär sah sich schließlich in der Nacht vom 29.12.1837 dazu veranlasst, ein in Privateigentum stehendes und zur Versorgung der Rebellen genutztes Schiff – die SS Caroline – auf US-amerikanischem Territorium zu zerstören.222 Bedeutung erlangte der Fall letztlich für die Frage nach der Möglichkeit präventiver Selbstverteidigung, inwieweit m. a. W. im Vorfeld eines bewaffneten Angriffs auf Selbstverteidigungsmaßnahmen zurückgegriffen werden kann.223 So beschreibt die Webster-Formel224 „a necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation“.225 Dieses Diktum wird u. a. als Ursprung des unwilling or unable-Konzepts eingestuft.226 2. Rekurs auf staatliche Unfähigkeit a) Erster Seminolenkrieg (1817–1818): USA – Spanisch-Florida Der erste Seminolenkrieg war ein bewaffneter Konflikt zwischen den USA und verschiedenen indigenen Stämmen in Spanisch-Florida, das bis 1821 unter spanischer Kolonialherrschaft stand (es folgten zwei weitere: von 1835–1842 und von 1855–1858). Er brach mit einer Invasion US-amerikanischer Truppen unter der Führung Andrew Jacksons im Jahr 1818 aus.227 Dabei erinnert diese unter Rechtfertigungsgesichtspunkten an den Caroline222  Nach Oeter, in: Münkler/Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention (2008), S. 29 (43) unter Fn. 8 a. a. O.; Christopher Greenwood, MPEPIL: „Caroline, The“ (April 2009), Rn. 1; Kreß/Schiffbauer, JA 2009, S. 611 (611); Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 71; Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1093; Green, Car. JICL 14 (2006), S. 429 (433 ff.). 223  Scharf, Case W. Res. JIL 48 (2016), S. 15 (38); Arnauld, ebd., § 13 Rn. 1093. Zu den Unklarheiten um die Begriffe antizipatorischer, präventiver und präemptiver Selbstverteidigung Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 (369–371). Krit. auch Dinstein, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 915 (918): „I do not know the difference between pre-emptive and anticipatory self-defence“. Hierzu auch noch später auf S. 194 ff. 224  Nach Daniel Webster, Außenminister der USA von 1841–1843 und 1850–1852. 225  Zit. nach Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn. 19 (unter Fn. 86); siehe auch näher bei Wolf, The Caroline Case, S. 194 ff. 226  Dinstein, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 915 (922). 227  Wright, JsoH 34 (1968), S. 566 (566); Weisman, FIU L. Rev. 9 (2013), S. 391 (399).

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Fall:228 Die USA beriefen sich darauf, dass insb. von Seminolen und von ihnen beherbergten Afroamerikanern, angeregt durch britischen Einfluss, Angriffe auf das US-amerikanische Grenzgebiet ausgingen, die von Spanien nicht weiter verfolgt würden. Diese Angriffe führten u. a. zum Tod von USBürgern und zu nicht unerheblichen Eigentumsentziehungen.229 Tatsächlich war die Grenze zwischen den USA und Spanisch-Florida zu dieser Zeit weitgehend ungeschützt und Spanien nicht in der Lage, die indigene Bevölkerung zu regieren und die vom US-amerikanischen Territorium ausgehenden Fluchtbewegungen von Sklaven in das Gebiet der Kolonie Florida zu unterbinden.230 Es standen jedoch nicht spanische Einrichtungen im Fokus der militärischen Maßnahmen, sondern v. a. die für die Angriffe verantwortlich gemachten, als unzivilisiert erachteten Seminolen und Afroamerikaner, in dieser Sichtweise Gesetzeslose in einem nichtregierten, quasi staatsfreien Raum.231 Betrachtet man die Seminolenkriege in einer Einheit, zeigen sich mehrere US-amerikanische Interessen. So war den USA daran gelegen, den spanischen und britischen Einfluss an der eigenen südöstlichen Grenze zu beenden, einen potentiellen Fluchtraum für afroamerikanische Sklaven zu schließen und – damit einhergehend – amerikanischen Sklavenhaltern weiteres Land zu verschaffen.232 Ein durch Grenzkonflikte provoziertes reines Sicher228  Vgl. Sofaer, in: Gazzini/Tsagourias (Hrsg.), Use of Force in IL (2012), S. 289 (299 f. und Fn. 33). 229  Wright, JsoH 34 (1968), S. 565 (565), indes bemüht, die Ursachen für den Konflikt über die US-amerikanische Position hinausgehend zu erläutern; vgl. auch Rosen, Border Law (2015), S. 214. Ein in dieser Hinsicht maßgebliches Ereignis war das „Scott-Massaker“ am 30.11.1817, Howe, What Hath God Wrought (2007), S. 98. 230  Weisman, FIU L. Rev. 9 (2013), S. 391 (398). Bei Rosen, ebd., S. 215 wird diesbezüglich ein vorsichtiger Vergleich zur heutigen Vorstellung des failed state gezogen; dazu bereits zuvor auf S. 39 ff. 231  Howe, What Hath God Wrought (2007), S. 98–103; Rosen, ebd., S. 214–216. Das Vorgehen der USA erinnerte daher, so Rosen, ebd., S. 215 f., an die Bekämpfung von Privaten auf hoheitsfreier See; und „neither Indians nor blacks in Florida could claim rights of territorial sovereignty because neither could be a sovereign nation.“ Siehe zur problematischen Rationalisierung imperialistischer Bestrebungen, drei bis vier Jahrhunderte weiter zurückgehend, in der Behandlung von Okkupationen und Entdeckungen als Rechtstitel der Landnahme, Schmitt, Der Nomos der Erde, 5. Aufl. 2011, S. 102: „Entdeckungen werden ohne die vorherige Genehmigung des Entdeckten gemacht. Ihr Rechtstitel liegt daher in einer höheren Legitimität. Entdecken kann nur, wer geistig und geschichtlich überlegen genug ist, um mit seinem Wissen und Bewußtsein das Entdeckte zu begreifen […]: Entdecken kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst und sie sich aus dieser Überlegenheit der Bildung und des Wissens zu unterwerfen vermag.“ 232  Frank, FIU L. Rev. 9 (2013), S. 277 (279).



B. Relevante Staatenpraxis91

heitskalkül war damit für die Invasion nicht ausschlaggebend. So ebnete die Invasion unter Andrew Jackson in Spanisch-Florida auch nicht zufällig den Beitritt Floridas zu den Vereinigten Staaten.233 b) Texanischer Unabhängigkeitskrieg (1835–1836): USA – Mexiko Interventionen der USA in Mexiko waren speziell im 19. Jahrhundert keine Seltenheit mehr. In den 1820er-Jahren erlaubte Mexiko die Ansiedlung von US-Amerikanern mit dem Ziel, über diese (noch) zu „mexikanisierende“ Bevölkerungsgruppe weitere in den Süden reichende Expansionen der USA zu begrenzen.234 Ferner hoffte man, dass hierdurch von Indigenen ausgehende Überfälle kontrolliert werden könnten.235 Um 1830 überstieg jedoch die amerikanische Bevölkerung in Texas die mexikanische deutlich, was zusammen mit ihrem Missmut über die mexikanische Regierung Unabhängigkeitsbestrebungen verstärkte.236 Andrew Jackson, nun siebter Präsident der Vereinigten Staaten, vertrat in dieser Angelegenheit nach außen eine neutrale Haltung.237 Überfälle Indigener auf den Norden Mexikos, die sich in den 1830er-Jahren ereigneten, provozierten jedoch Forderungen nach einem militärischen Eingreifen der USA.238 Hierzu kam es 1836, wobei die Besetzung von Nacogdoches durch General Edmund P. Gaines die eigentlichen US-amerikanischen Motive veranschaulicht. Gaines sollte die erklärte US-amerikanische Neutralität durchsetzen und Überfälle Indigener abwehren.239 So hielt der damalige US-Kriegsminister Lewis Cass hinsichtlich etwaiger von Indigenen ausgehender Gefahren Gaines dazu an: 233  Weisman, FIU L. Rev. 9 (2013), S. 391 (399). Ab 1821 übten die USA im Anschluss an den Adams-Onís-Vertrag (Treaty of Amity, Settlement, and Limits Between the United States of America and His Catholic Majesty) v. 22.2.1819, Treaties and other International Agreements of the United States of America (1776–1949), Bd. 11, abrufbar unter: https://www.loc.gov/law/help/us-treaties/bevans.php die Hoheitsgewalt aus. Florida ist seit 1845 der 27. Bundesstaat der USA. Siehe auch Chomsky, War Against People, in: Profit Over People/War Against People (1999 [2017]), S.  113 f. 234  Coerver/Santoni, in: Tucker (Hrsg.), Mexican-American War (2013), „Mexico, 1821–1854“, S. 409 (410). 235  McPherson, Short History of U.S. Interventions (2016), S. 20. 236  Coerver/Santoni, in: Tucker (Hrsg.), Mexican-American War (2013), „Mexico, 1821–1854“, S. 409 (410); vgl. auch Garrison, Amer. Hist. Rev. 20 (1904), S. 72 (72 f.). 237  Barker, Miss. Vall. Hist. Rev. 1 (1914), S. 3 (21). 238  McPherson, Short History of U.S. Interventions (2016), S. 20. 239  Barker, Amer. Hist. Rev. 12 (1907), S. 788 (806).

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

„It may […] be […] that these various contending parties may approach the frontiers, and that the lives and property of our citizens may be placed in jeopardy. Should this be the case, the President approves the suggestion you make, and you are authorized to take such side of the imaginary boundary line, as may be best for defensive operations. You will, however, under no circumstances, advance further than […] Nacogdoches, which is within the limits of the United States, as claimed by this government.“240

Die USA und Mexiko hatten sich 1831 gegenseitig dazu verpflichtet, Angriffe Indigener auf das jeweils andere Staatsgebiet zu unterbinden.241 Unter dem Gesichtspunkt tatsächlich befürchteter indigener Übergriffe – auch wenn diese Gefahr von US-amerikanischer Seite bisweilen übertrieben wurde242 – wird damit zunächst auf die Erforderlichkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen im Anschluss an eine Unfähigkeit Mexikos abgehoben, Texas effektiv zu regieren.243 Verbunden wird dies darüber hinaus jedoch mit der Annahme, dass die vorliegende Grenze nur imaginär sei und tatsächlich viel weiter reiche. Dies konnte jedoch nur in Ablehnung des ursprünglich vertraglich festgelegten Grenzverlaufs zwischen den USA und Mexiko formuliert werden, der von den USA jedoch abermals 1828 und 1831 bestätigt wurde.244 Der Rekurs auf die Notwendigkeit zur exterritorialen Selbstverteidigung, 240  Lewis Cass an Edmund P. Gaines am 25.4.1836, zit. nach Rogin, Fathers and Children (1975), S. 304 [Hervorh. P. L.]. 241  Treaty of Amity, Commerce, and Navigation v. 5.4.1831, Treaties and other International Agreements of the United States of America (1776–1949), Bd. 9, abrufbar unter: https://www.loc.gov/law/help/us-treaties/bevans.php. Darin lautet Art. 33 auszugsweise: „It is likewise agreed that the two contracting parties shall by all means in their power, maintain peace and harmony among the several Indian nations who inhabit the lands adjacent […] from the boundaries of the two countries; […] to attain this object both parties bind themselves expressly to restrain by force all hostilities and incursions on the part of the Indian nations living within their respective boundaries […].“ Zu exterritorialen Maßnahmen der Vertragsparteien ermächtigt Art. 33 ausdrücklich nicht. 242  Siehe Rogin, Fathers and Children (1975), S. 305; dagegen Barker, Amer. Hist. Rev. 12 (1907), S. 788 (807). 243  Insg. hierzu Rogin, ebd., S. 304 f. Bei Barker, Miss. Vall. Hist. Rev. 1 (1914), S. 3 (21) heißt es passend: „[A]nd, if it [Mexico, Anm. P. L.] was unable or unwilling [Hervorh. P. L.] to [prevent the Indians in its territory from warring on our citizens], international law and self-defense would justify the United States in doing it.“ ­McPherson, Short History of U.S. Interventions (2016), S. 20 charakterisiert Mexiko zu dieser Zeit als „too weak or too neglectful to police its north.“ 244  Ursprung des vertraglichen Grenzverlaufs ist der Adams-Onís-Vertrag (Fn. 233); Bezug hierauf nimmt Treaty of Limits between the United States of America and the United Mexican States v. 12.1.1828 und 5.4.1831, Treaties and other International Agreements of the United States of America (1776–1949), Bd. 9, abrufbar unter: ­https://www.loc.gov/law/help/us-treaties/bevans.php. Maßgeblich für die vorliegende Frage zum Grenzverlauf ist Art. 2, der u. a. den Sabine River als südwestlichen Grenzverlauf markiert. Nacogdoches ist westlich hiervon gelegen. Ensprechend er-



B. Relevante Staatenpraxis93

gestützt auf eine etwaige staatliche Unfähigkeit Mexikos, erhält hierdurch ein imperialistisches Gepräge.245 c) Grenzkonflikte zwischen den USA und Mexiko (1850er- bis 1880er-Jahre) Ähnliche Grenzkonflikte lassen sich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten, insb. zwischen den 1850er- und 1880er-Jahren verzeichnen. Hier kam es in beiden Staaten zu folgenreichen innerstaatlichen Auseinandersetzungen, dem Reformkrieg in Mexiko (1858–1861) auf der einen und dem US-amerikanischen Sezessionskrieg (1861–1865) auf der anderen Seite.246 In den 1850er-Jahren sahen sich die USA durch von Indigenen und sog. „Banditen“ verübte Übergriffe auf ihr Staatsgebiet zu ihrer Verfolgung auf mexikanischem Staatsgebiet in hot pursuit247 veranlasst, sei es durch Strafverfolgungsbehörden wie die Texas Ranger Division248 oder die Armee selbst.249 Prominenz erlangte darunter die Verfolgung geflüchteter Sklaven durch James H. Callahan im Oktober 1855, in deren Zuge die Stadt Piedras Negras zerstört wurde,250 oder die 1859 beginnenden Auseinandersetzungen mit Juan N. Cortina, zu dessen Ergreifung der damalige US-Kriegsminister John B. Floyd ein exterritoriales Vorgehen amerikanischer Streitkräfte autorisierte.251 So heißt es etwa nach einem Grenzübertritt im März 1860 in einem Brief des damals befehlshabenden Oberst Robert E. Lee: „I was gratified to learn […] that the authorities and public force of Mexico […] will pursue and punish Cortinas [sic]252 and his followers; as the vindication of the violated laws of the United States will conduce to the restoration of quiet on our frontier […]. For the attainment of this object I shall employ, if necessary, all the streckten die USA ihren Gebietsanspruch bis zum westlicher gelegenen Neches River. Hierzu Stenberg, Southwestern HQ 39 (1936), S. 255 (255, 256 f., 260 f., 269 f.). 245  Vgl. Stenberg, ebd., S. 261. 246  Matthews, in: Broggini (Hrsg.), U.S. Army on the Mexican Border (2010), S. 11 (38, 45). 247  Auch Brownlie, ICLQ 7 (1958), S. 712 (733 f.) führt dieses mit staatlicher Selbstverteidigung assoziierte Konzept auf die US-amerikanische Praxis zu den Grenzstreitigkeiten mit Mexiko zurück. 248  Siehe für den vorliegenden Zeitraum etwa Garvin, in: Magoc/Bernstein (Hrsg.), Imperialism and Expansionism (2015), S. 196 (197 f.). 249  Matthews, in: Broggini (Hrsg.), U.S. Army on the Mexican Border (2010), S. 11 (44). 250  Matthews, ebd., S. 37 ff.; Utley, Lone Star Justice (2002), S. 96 f. 251  Matthews, ebd., S. 39 ff., insb. S. 43. 252  Es handelt sich um denselben J. N. Cortina, vgl. Crimmins, Southwestern HQ 39/1 (1935), S. 21 (24).

94

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

force in this Department, and I beg leave to inform you that I have been directed by the Honble. Secʼy of War of the U.S., to notify the Mexican authorities on the Rio Grande, that they must break up and disperse the bands of banditti concerned in the outrages against the persons and property of American citizens. I shall therefore consider it my duty to hold them responsible for its faithful performance.“253

Zwischen 1873 und 1882 führten vergleichbare Bedrohungslagen zu mehr als 23 Grenzübertritten der US-amerikanischen Armee.254 Diese wurden von der sich unter Militärs verbreitenden Ansicht untermalt, Übergriffe auf das US-amerikanische Staatsgebiet durch vorsorgliche (präemptive) exterritoriale Maßnahmen unterbinden zu müssen.255 Nach wie vor schwächten innenpolitische Auseinandersetzungen, wie der Sturz der Regierung Sebastián Lerdos durch Porifirio Díaz im Jahr 1876, einen effektiven mexikanischen Grenzschutz.256 Und so wurden 1877 die US-amerikanischen Truppen unter Edward O. C. Ord schließlich zu Folgendem ermächtigt: „in case the lawless incursions continue he [Ord, Anm. P. L.] will be at liberty […] when in pursuit of a band of the marauders, and when his troops are either in sight of them or upon a fresh trail, to follow them across the Rio Grande, and to overtake and punish them […].“257

Provokationen wie diese sollten Mexiko dazu bewegen, ein höheres militärisches Kontingent an der Grenze abzustellen, was die Grenzsicherheit erhöhte und das Verhältnis beider Staaten in den 1880er-Jahren entspannte.258 Die grenzüberschreitende Verfolgung „wilder Indigener“ fand unter diesen Umständen schließlich Eingang in eine bilaterale Regelung.259 253  Jones, Life and Letters of Robert E. Lee (1906), S. 111 f.; Matthews, in: Broggini (Hrsg.), U.S. Army on the Mexican Border (2010), S. 11 (43). 254  Matthews, ebd., S. 52. 255  Utley, Frontier Regulars (1973 [1977]), S. 350 mit Blick auf Edward O. C. Ord und William R. Shafter. Matthews, ebd., S. 58. 256  Matthews, ebd., S. 55. 257  Zit. nach Utley, Frontier Regulars (1973 [1977]), S. 352 und Margolies, Spaces of Law (2011), S. 233. Der Rio Grande markiert in dieser Beziehung die Grenze zwischen Mexiko und den USA. 258  Matthews, in: Broggini (Hrsg.), U.S. Army on the Mexican Border (2010), S. 11 (56–58). 259  Siehe das Agreement Providing for the Reciprocal Crossing of the International Boundary Line by the Troops of the Respective Government in Pursuit of Savage Indians („Right to Pursue Indians Across Boundary Line“) v. 29.7.1882 mit Modifizierung vom 21.9.1882, Treaties and other International Agreements of the United States of America (1776–1949), Bd. 9, abrufbar unter: https://www.loc.gov/ law/help/us-treaties/bevans.php. So heißt es in Art. I: „It is agreed that the regular federal troops of the two Republics may reciprocally cross the boundary line of the two countries, when they are in close pursuit of a band of savage Indians […].“ Hier­ zu auch Coffey, in: Tucker (Hrsg.), North American Indian Wars, „Mexico“, S. 488 (489 f.).



B. Relevante Staatenpraxis95

d) „Pancho Villa“ (1916): USA – Mexiko Ein dem Caroline-Vorfall vergleichbarer Fall exterritorialer Bekämpfung von gefährdenden Privatpersonen wird u. a. in der US-amerikanischen Verfolgung von Francisco „Pancho“ Villa gesehen.260 Ihr ging ein Überfall von mind. 500 Personen unter der Führung Villas am 9.3.1916 auf die US-amerikanische Stadt Columbus, New Mexico voraus, bei dem 17 US-Bürger getötet, Waffen und Pferde gestohlen und Teile der Stadt geplündert und in Brand gesetzt wurden. Villa zog sich daraufhin auf mexikanisches Staatsgebiet zurück. Zu von Villa veranlassten Übergriffen auf US-Bürger war es im selben Jahr zudem bereits auf mexikanischem Staatsgebiet gekommen.261 Präsident Woodrow Wilson forderte daraufhin die mexikanische Regierung – ein de facto-Regime unter Venustiano Carranza, das 1915 während der Mexikanischen Revolution (1910–1920) von den USA anerkannt wur­ de262 – dazu auf, Villa festzunehmen. Mexiko war hierzu nicht in der Lage, sodass die USA über einen Zeitraum von elf Monaten unter der Führung John J. Pershings mit dem Ziel in Mexiko intervenierten, Villa und seiner Gefolgschaft habhaft zu werden, ohne aber Mexiko dabei zu schädigen.263 Inwiefern diese Intervention als Erfolg gewertet werden kann, wird uneinheitlich beantwortet – Villa konnte jedenfalls nicht gefasst werden.264 Die besagte Unfähigkeit Mexikos lässt sich auf die Auswirkungen der die Gestalt eines Bürgerkriegs annehmenden Revolution zurückführen.265 Ein Bericht des damaligen US-Außenministers Robert Lansing vom 19.10.1915 veranschaulicht dies: „[H]owever, it should be stated that the lawless conditions which have long continued throughout a large part of the territory of Mexico are not easy to remedy and that the great number of bandits who have infested certain districts and devastated 260  Davis, in: Miller/Bratspies (Hrsg.), Progress in International Law (2008), S.  633 (642 f.); Dinstein, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S.  915 (922 f.). 261  Katz, Amer. Hist. Rev. 83 (1978), S. 101 (101); Davis, ebd., S. 643. 262  Finch, AJIL 11 (1917), S. 399 (399). 263  Davis, in: Miller/Bratspies (Hrsg.), Progress in International Law (2008), S. 633 (643); Katz, Amer. Hist. Rev. 83 (1978), S. 101 (101); Scott, AJIL 10 (1916), S. 890 (891). Siehe auch Mori, Origins of the Right of Self-Defence (2018), S. 209 f. 264  Davis, ebd., S. 643 weist z. B. aus, dass die Gefolgschaft Villas und damit auch die von ihm ausgehende terroristische Gefahr beendet werden konnte. Katz, ebd., S. 101 beschreibt die Intervention dagegen als politisches und militärisches Desaster, da Villa nicht gefasst werden konnte, weite Teile der mexikanischen Bevölkerung gegen die USA aufgebracht wurden und nicht zuletzt ein Krieg mit Mexiko drohte. 265  Für einen kurzen Überblick siehe Horn, JöR 47 (1999), S. 399 (404 f.).

96

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

property in such territory can not be suppressed immediately, but that their suppression will require some time for its accomplishment […].“266

Gleichwohl ist zu beachten, dass die USA noch am 9.3.1916 Mexiko über die Absicht zur Verfolgung Villas auf mexikanischem Territorium informierten; Carranza schlug drei Tage später vor, dass Mexiko dies bei reziproker Erlaubnis, Banditen auf US-amerikanischem Territorium zu verfolgen, zulassen würde, was die USA am 13.3.1916 annahmen.267 Es liegt also nahe, den Fall eher mit dem Institut der Intervention auf Einladung zu assoziieren.268 3. Eine Randbemerkung zum Leticia-Vorfall (1932–1933): Kolumbien – Peru Vereinzelt269 wird auch der Leticia-Vorfall in einen Zusammenhang mit dem unwilling or unable-Konzept gebracht. Ursprung dieses Konflikts ist ein durch eine bewaffnete (auch peruanische Soldaten umfassende) Gruppe verübter Übergriff auf die kolumbianische Stadt Leticia270 am 1.9.1932, die in der Folgezeit mitsamt der umliegenden Region besetzt wurde.271 Während Peru eine Beteiligung bestritt und Regierungsgegner sowie Kommunisten für den Einfall verantwortlich machte, zeigte sich, dass sich peruanische Soldaten auf kolumbianischem Boden aufhielten; schließlich unterstützte Peru die weitere Besetzung Leticias.272 Kolumbien unternahm hingegen Maßnahmen zur Rückerlangung des besetzten Gebiets und griff im März 1933 Städte auf peruanischem Territorium an.273 Damit erweist sich die kolumbianische Intervention nicht als Reaktion auf ein Handeln Privater, das Peru nicht kon­ trollierte oder kontrollieren konnte. Peru muss vielmehr als aktiv in den Grenzkonflikt involviert angesehen werden.

266  Zit.

nach Finch, AJIL 10 (1916), S. 357 (366 f.). AJIL 10 (1916), S. 379 (386); Wallach, Emory ILR 24 (2010), S. 549

267  Sellers,

(584 f.). 268  Hierzu S.  72 ff. 269  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). 270  Der kolumbianische Status Leticias wurde durch den Vertrag von SalomónLozano v. 24.3.1922 geregelt. 271  Woolsey, AJIL 27 (1933), S. 317 (317  f.); Thomas, Southwestern SSQ 15 (1934), S. 155 (155). 272  Stahn, The Law and Practice of International Territorial Administration (2008), S. 234; Brecher/Wilkenfeld, A Study of Crisis (1997), S. 499 f.; Thomas, ebd., S. 156. 273  Woolsey, AJIL 27 (1933), S. 317 (318); Thomas, ebd., S. 156.



B. Relevante Staatenpraxis97

4. Zwischenfazit Prägend für die mit dem unwilling or unable-Konzept assoziierten Beispielsfälle der prä-Charta-Zeit ist damit, dass sich gefährdet wähnende Staaten ausschließlich gegen Privatpersonen und nicht gegen staatliche Institutionen des Territorialstaats vorgingen. Dabei handelte es sich i. d. R. zudem um ein an den gefährdeten Staat angrenzendes Territorium. Sicherheitsparadigmatisch hat dies zur Formulierung eines vermeintlichen Rechts zur Durchführung sog. hot pursuit geführt, das z. T. auch Eingang in bilaterale Abkommen gefunden hat. Daneben zeigt sich aber gerade bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Verweis auf eine nachbarstaatliche Unfähigkeit noch stark imperialistisch konnotiert ist:274 Dies veranschaulicht etwa die Ausübung der Staatsgewalt in Gebieten, welche einseitig und kontrafaktisch als dem eigenen Staatsgebiet angehörig erklärt wurden, oder relativierende Abstufungen anderer Bevölkerungsgruppen anhand eines einseitig zugeschriebenen Zivilisierungsgrades.

II. Geltungsbereich der UN-Charta Für das unter dem Geltungsbereich der UN-Charta relevante Fallmaterial werden nun zunächst (1.) Fälle staatlicher Unfähigkeit angesprochen, bevor (2.) auf Konstellationen staatlichen Unwillens eingegangen wird und abschließend (3.) sonstige Fälle verortet werden. 1. Territorialstaatliche Unfähigkeit a) Dekolonisation des nördlichen Afrikas: Frankreich – Tunesien (ab 1957) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstreckte sich die französische Kolonialherrschaft im Nordwesten Afrikas über die heutigen Gebiete Algeriens, Marokkos und Tunesiens.275 Während die Unabhängigkeit Algeriens in einem Konflikt zwischen Frankreich und dem FLN (1954–1962) erkämpft wurde,276 vollzog sich die Unabhängigkeit Marokkos und Tunesiens im Einauch Lorca, NYU J. Int. L. & Pol. 45 (2012), S. 1 (44 und f.). Moïse Mbengue, MPEPIL: „Decolonization: French Territories“ (Mai 2011), Rn. 1. 276  Siehe Fraleigh, Proc. ASIL Ann. M. 61 (1967), S. 6 ff. Das Ende des Algerienkrieges wird durch die Verträge von Évian v. 18.3.1962 markiert, International Legal Materials 1 (1962), S. 214 ff. In diesem Zusammenhang wurde am 19.3.1962 die Unabhängigkeit Algeriens erklärt, UNTS Bd. 507 S. 25 („Exchange of Letters and Declarations at the Close of the Evian Talks, Constituting an Agreement Between France and Algeria“). 274  Vgl.

275  Makane

98

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

vernehmen mit Frankreich. Marokko wurde am 6.11.1955 unabhängig, Tunesien am 20.3.1956.277 Gleichwohl sind ab 1957 in Tunesien verschiedene militärische Interven­ tionen der im Algerienkrieg involvierten Vierten Französischen Republik zu verzeichnen.278 Die in dieser Hinsicht typischerweise durch Frankreich bemühte Bedrohungslage wurde auf algerische Rebellen zurückgeführt, die vom tunesischen Staatsgebiet aus operierten und französische Soldaten angriffen.279 Frankreich sah sich daher – gestützt auf ein droit de poursuite280 – dazu berechtigt, solche unkontrollierten Personengruppen exterritorial (in einem Raum von zwölf Meilen) zu verfolgen.281 Entsprechende Vorfälle ereigneten sich v. a. von Mitte 1957 bis 1960.282 Dies insinuiert eine Nähe zu den Grenzkonflikten der 1850er- bis 1880erJahre zwischen den USA und Mexiko.283 So schien auch das erst jüngst unabhängige Tunesien noch außer Stande, sein Territorium effektiv zu kontrollieren; auch Sympathien der tunesischen Bevölkerung für den algerischen Unabhängigkeitskampf erschwerten Maßnahmen gegen Rebellen.284 Über solche Effektivitätsschwächen der tunesischen Regierung hinaus weisen nun Berichte, wonach der ALN im September 1957 ein Abschnitt im Süden des tunesischen Grenzgebiets zur Verfügung gestellt und die Nutzung der nördlicheren grenznahen Stadt Sakiet Sidi Youssef zu Trainingszwecken und zur Aufbewahrung von Waffen, Munition und Vorräten erlaubt worden sein soll.285 Gegen Ende des Jahres wurde die Zahl von ALN-Kämpfern, die sich in Tunesien aufhielten, auf 6.000 geschätzt, wobei sich der Rückzugsort Sa277  Im Falle Tunesiens wurde der Bardo Vertrag v. 12.5.1881 um die Errichtung des französischen Protektorats korrigiert. Für Marokko ist in dieser Hinsicht die Déclaration de La Celle-Saint Cloud v. 6.11.1955 konstitutiv. Zu alldem Makane Moïse Mbengue, MPEPIL: „Decolonization: French Territories“ (Mai 2011), Rn. 20. 278  Vgl. Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549); UN, Report of the Security Council to the General Assembly (16.7.1957–15.7.1958), GAOR 13th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/3901, S. 29 ff.; Report of the Security Council to the General Assembly (16.7.1958–15.7.1959), GAOR 14th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/4190, S. 38 (Ch. 17). 279  Brownlie, ICLQ 7 (1958), S. 712 (712); Wall, France, the US, and the Algerian War (2001), S. 100. 280  Siehe bereits den Grenzkonflikt zwischen den USA und Mexiko, S. 93 f. 281  Wall, France, the US, and the Algerian War (2001), S. 102; Brownlie, ICLQ 7 (1958), S. 712 (712). 282  Wall, ebd., S. 100; Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549); UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Tunisia to the President of the Security Council, 13.2.1958, UN-Dok. S/3952, S. 2. 283  Vgl. auch Brownlie, ICLQ 7 (1958), S. 712 (733). 284  Wall, France, the US, and the Algerian War (2001), S. 101. 285  Wall, ebd., S. 100.



B. Relevante Staatenpraxis99

kiet Sidi Youssef für den Algerienkrieg als „principal center of resupply and distribution“ erwies.286 Dementsprechend wurde, wenn auch nur implizit, sowohl eine Unfähigkeit als auch ein Unwille Tunesiens indiziert, nachdem die französische Luftwaffe diesen Ort am 8.2.1958 bombardierte:287 Frankreich führte dies weniger auf einen einzelnen Vorfall als auf die Gesamtheit vorheriger Übergriffe durch algerische Rebellen zurück.288 Diese verübten laut einer französischen Erklärung zunehmend Übergriffe auf französische Zivilsten und Armeeangehörige, was wiederum durch die tunesische Staatsgewalt unterstützt werde. Auf dieser Grundlage sei deutlich, „that the Tunisian Government has not shown itself capable of maintaining order on the Franco-Tunisian frontier, or disposed to do so.“289

Tunesien ging von einer Aggression Frankreichs aus und erklärte, zu Selbstverteidigungsmaßnahmen berechtigt gewesen zu sein.290 Frankreich betonte, Tunesien habe den FLN unterstützt, was als Aggression und Verstoß gegen das Interventionsverbot (dabei auch Algerien berücksichtigend) zu werten sei.291 Angesichts des tunesischen Verhaltens hätte sich vielmehr Frankreich auf einen bewaffneten Angriff gem. Art. 51 UNCh berufen können;292 weiterhin hieß es:

286  Wall,

ebd., S. 102. Überblick hierzu findet sich bei UN-Sicherheitsrat, Report to the General Assembly (16.7.1957–15.7.1958), GAOR 13th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/3901, S. 29 ff. Siehe auch ebd., S. 31 ff. zu einem vergleichbaren Vorfall in der Region der tunesischen Stadt Remada am 24. und 25.5.1958. 288  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. A/3901, S. 30. 289  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of France to the President of the Security Council, 14.2.1958, UN-Dok. S/3954, S. 2 f. [Hervorh. P. L.]. Mit Blick auf die vorausgegangene Aufnahme Tunesiens als Mitglied der Vereinten Nationen (UN-Generalversammlung, Res. 1112 (XI), 12.11.1956, UN-Dok. A/ RES/1112 (XI); UN-Sicherheitsrat, Res. 116 (1956), 26.7.1956, UN-Dok. S/3629, allg. auch zuvor auf S. 76 f.) sah Frankreich auch Art. 4 UNCh als verletzt an, UNSicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/3954, S. 2. An späterer Stelle betonte Frankreich noch, dass es die Prinzipien des Rechts erforderten, staatliche Kontrolle über die eigenen Grenzen sicherzustellen, UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff. 49. 290  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 811th Meeting: 18.2.1958, UN-Dok. S/ PV.811, Ziff. 16; SCOR 13th Year, 819th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.819, Ziff. 6 und im Ff. passim, ferner Ziff. 11, 48. 291  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 819th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/ PV.819, Ziff. 70, 72, 74, 80; siehe auch SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff. 36 f., 46. 292  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 819th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/ PV.819, Ziff. 86 und 88. 287  Ein

100

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

„an independent and sovereign country must not allow people to take cover behind its frontiers and attack others, even if those others are their enemies.“293

Tunesien habe auch die Einrichtung einer Rebellenorganisation geschützt und, „either directly or by obvious collusion, the arms traffic and the passage of armed groups across its frontiers“

erleichtert.294 Insofern damit eine Rebellion auf französischem Territorium unterstützt worden sei, meinte Frankreich, „[t]he Tunisian Government has also failed to fulfil its obligations under the United Nations Charter, which requires it to live in peace and as a good neighbor with the other Members of the United Nations.“295

Gleichermaßen wurden damit Formen einer Unfähigkeit sowie eines Unwillens umschrieben und in einen Zusammenhang mit Art. 51 UNCh gebracht. b) Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Libanon Im Zeichen des Nahostkonflikts steht eine Reihe bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen dem Staat Israel, der sich am 14.5.1948 für unabhängig erklärte, und der Libanesischen Republik. Bereits 1947 führten die Pläne für eine Teilung Palästinas296 zum ersten arabisch-israelischen Krieg, der mit dem Abschluss verschiedener Waffenstillstandsabkommen 1949 endete.297 Gleichwohl kam es in den nächsten Jahren wiederholt zu Konflikten zwischen beiden Staaten. aa) Bekämpfung der PLO zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren Bis zu den 1980er-Jahren kam es zu zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Libanon. Die hieran anknüpfenden Dis293  UN-Sicherheitsrat,

ebd., UN-Dok. S/PV.819, Ziff. 77. ebd., UN-Dok. S/PV.819, Ziff. 100. Deutlich in der darauffolgenden Sitzung: SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff. 50: „The Tunisian Government […] authorizes armed operations from its territory; it lends support to a rebel organization; it favours the smuggling of arms“. 295  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 819th  Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/ PV.819, Ziff. 101; ergänzend verwies Frankreich dabei auf UN-Generalversammlung, Res. 288 (IV)-A, 18.11.1949, UN-Dok. A/RES/288(IV). 296  Zentral hierfür ist UN-Generalversammlung, Res. 181 (II), 29.11.1947, UNDok. A/RES/181(II). 297  Für das Verhältnis zwischen Israel und dem Libanon siehe das General Armistice Agreement (with annex) v. 23.3.1949, UNTS Bd. 42 S. 287. 294  UN-Sicherheitsrat,



B. Relevante Staatenpraxis101

kussionen im UN-Sicherheitsrat wurden durch gegenseitige Vorwürfe der Verletzung der territorialen Integrität, der Aggression oder der Missachtung des Waffenstillstandabkommens von 1949 geprägt, wobei Israel in erster Linie und konstant auf vom libanesischen Staatsgebiet ausgehende Gewaltakte der PLO hinwies.298 Die hier interessierende Rolle des Libanon bewertete Israel dabei mit gewissen Unterschieden. 1969 beanstandete Israel z. B. grenzüberschreitende terroristische Operatio­ nen folgendermaßen: „It is thus that Lebanese territory has become a base for terror warfare. In addition to the centres of terror organizations known to exist in Beirut, saboteur squads trained and equipped primarily in Syria have crossed the border and have established themselves on Lebanese soil. […] The Government of Lebanon has been fully aware of this development. Indeed, the presence of the terror bases seems to have had some repercussion on the internal political situation in Lebanon. Yet the bases remained and attacks against Israel continued from them with growing intensity. During the last month alone there were twenty-one such attacks. […] The Lebanese authorities seemed unable or unwilling to curtail those attacks. Israel had no alternative but to resort to self-defence. On 11 August Israel acted to disable the terror bases […]. The Israeli action, however, was carefully aimed at the saboteur concentrations. […] The Government of Lebanon cannot be absolved of responsibility for the use of its territory as a base of terror warfare against Israel.“299

Der Kern dieses Rechtfertigungsmodells ist dabei auch in den Folgejahren nachvollziehbar.300 In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre kritisierte Israel nun aktive Unterstützungen der PLO: „It is a matter of common knowledge that by an agreement […] between the Government of Lebanon and the terror organizations, Lebanon has enabled and facili298  Siehe statt vieler UN, Report of the Security Council (16.6.1975–15.6.1976), GAOR 31st Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/31/2, Ziff. 71 ff.; Report of the Security Council (16.6.1977–16.6.1978), GAOR 33rd Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/33/2, Ziff. 45  f., 50  f.; Report of the Security Council (16.6.1978– 15.6.1979), GAOR 34th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/34/2, Ziff. 37, 39. 299  UN-Sicherheitsrat, SCOR 24th Year, 1498th Meeting: 13.8.1969, UN-Dok. S/ PV.1498, Ziff. 46 f., 67 f., 72, 82 [Hervorh. P. L.]; UN, Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 69. 300  Siehe zu vergleichbaren Begründungen UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/PV.2071, Ziff. 58 f.: „We seek no Lebanese territory. We honour and respect the international border with Lebanon. We do not wish to acquire one inch of Lebanese soil. […] We have created conditions in which the Government of Lebanon can restore control over that territory and in the process re-establish its sovereign right in the area.“ Insofern ähnlich SCOR 37th Year, 2394th Meeting: 16.9.1982, UN-Dok. S/PV.2394, Ziff. 126 f.

102

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

tated the establishment of a practically independent régime of the Palestinian murder and terror organizations in its territory […].“301

Hierdurch wurde auf das Kairoer Abkommen vom 3.11.1969302 zwischen dem Libanon und der PLO Bezug genommen, das der PLO u. a. zu Selbstverwaltungsrechten in Flüchtlingslagern verhalf, ihr Korridore in Grenzbereichen und die Unterstützung der libanesischen Armee z. B. in medizinischen Belangen zusicherte und letztlich den bewaffneten Kampf der PLO mit den Interessen Libanons assoziierte.303 Entsprechend lassen sich zu dieser Zeit auch gewisse argumentative Verschärfungen vorfinden, z. B. in Gestalt einer Feststellung Israels von 1973 mit Blick auf etwaige in Beirut eingerichtete terroristische Hauptquartiere und Einrichtungen, die mit der Zustimmung ­libanesischer Autoritäten unterhalten worden sein sollten: „As long as the Lebanese Government chose to do so it must be considered an accomplice in the terroristsʼ campaign“.304

Verstärkt wurde dagegen ab Mitte der 1970er-Jahre ein – bspw. auf den Einfluss Syriens oder der PLO zurückgeführtes – Fehlen effektiver libanesischer Regierungsgewalt beklagt.305 Entsprechend wurde 1978 etwa die Prä301  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Acting Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 21.6.1974, UN-Dok. S/11324, S. 1. Ähnlich 1972, nachdem es im Januar und Februar zu terroristischen Übergriffen auf das israelische Staatsgebiet kam, woraufhin Israel militärische Aktionen auf libanesischem Territorium durchführte, UNYB 1972, S. 157 f. Im Sicherheitsrat erklärte Israel: „Lebanon had permitted terrorist organizations to establish bases on its territory from which to carry out attacks against Israel […]. The Government of Lebanon, which has entered into agreement with the terror organization, had failed to put an end to their activities and, instead, had given them its support. […] In protecting its citizens, Israel had taken action that had been directed only against terrorists and their encampments, and its forces had returned to their bases after the operation. So long as Lebanon was unwilling or unable [Hervorh. P. L.] to prevent attacks from its territory against Israel, it could not complain against action taken in self-defence.“, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 117. 302  Abrufbar unter: http://prrn.mcgill.ca/research/papers/brynen2_09.htm. 303  Siehe ebd., Abschn.  1 („The Palestinian Presence“), Ziff. 2  f.; Abschn. 2 („Commando Activity“), Ziff. 1, 11, 14. Feinstein, Isr. L. Rev. 20 (1982), S. 362 (371). 304  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 174. 305  Etwa UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 1.5.1979, UNDok. S/13289; ferner Letter from the Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the President of the Secretary-General, 16.6.1975, UNDok. S/11726, S. 2; Letter from the Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 16.5.1979, UN-Dok. S/13331, S. 1. So erklärte Israel etwa mit Blick auf die Bombardierung der libanesi­



B. Relevante Staatenpraxis103

senz der PLO auf libanesischem Staatsgebiet mit der „inability of the Government of Lebanon to control part of its own territory“ erklärt und insofern die prinzipielle Berechtigung zu Selbstverteidigungsmaßnahmen begründet.306 In einem ganz ähnlichen Sinne erklärte nun auch der Ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen, nachdem am 10.7.1981 Ziele im Süden Libanons angegriffen wurden: „Confronted by repeated PLO outrages coupled with the inability of the Lebanese Government to fulfil its international obligations, Israel cannot be expected to sit back passively […]. Members of the Council need scarcely be reminded that under international law, if a State is unwilling or unable to prevent the use of its territory to attack another State, that latter State is entitled to take all necessary measures in its own defence. The Government of Israel is in fact exercising the inherent right of self-defence enjoyed by every sovereign State, a right also preserved under Article 51 of the [UNCh]. […] I must stress that Israel’s actions are specifically directed against concentrations of PLO terrorists in Lebanon. […] Israel has no fight with Lebanon.“307

Das Attentat auf den israelischen Botschafter Schlomo Argov am 3.6.1982 sollte schließlich zum Libanon-Feldzug – der Operation Peace for Galilee – führen, wobei sich Israel zunächst auf Stellungen der PLO konzentrierte, die den Norden Israels beschoss.308 Zwar forderte der Sicherheitsrat Israel zum Rückzug seiner Streitkräfte auf,309 Israel hielt jedoch resolut dagegen, „[…] that a State cannot invoke in its favour benefits deriving from certain provisions of international law without being prepared at the same time also to abide by the duties flowing from international law. If Lebanon is either unwilling or unable to prevent the harbouring, training and financing of PLO terrorists openly operating from Lebanese territory with a view to harassing Israel, Israelis and Jews worldwide, then Lebanon surely must be prepared to face the risk of Israelʼs taking the necessary countermeasures to stop such operations. This […] is not only a fundamental premise of international law […].“310 schen Stadt Zahlé im Dezember 1980 durch das syrische Militär: „As is well known, the Government of Lebanon is unable to expose and appeal against Syrian actions. This should not preclude the international community from acting to stop these outrages.“, Letter from the Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the Secretary-General, 24.12.1980, UN-Dok. S/14316, S. 1. 306  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 47, 52; vgl. später etwa auch SCOR 37th Year, 2385th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/PV.2385, Ziff. 218. 307  UN-Sicherheitsrat, SCOR 36th Year, 2292nd Meeting: 17.7.1981, UN-Dok. S/ PV.2292, Ziff. 52, 54–56, 62 [Hervorh. P. L.]. Zu den Umständen ebd., Ziff. 14; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 34. 308  Weigelt, ebd., S. 35; Feinstein, Isr. L. Rev. 20 (1982), S. 362 (363, 370). 309  UN-Sicherheitsrat, Res.  509 (1982), 6.6.1982, UN-Dok. S/RES/509(1982), Ziff. 1. 310  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2374th Meeting: 5.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2374, Ziff. 78 [Hervorh. P. L.].

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Einen Tag später erklärte Israel, keinerlei territoriale Ambitionen im Libanon zu haben, sondern vielmehr die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Libanon zu respektieren und zu ehren.311 Diese Interventionen erweisen sich damit als frühe Fälle einer explizit auf den unwilling or unable-Standard rekurrierenden Staatenpraxis.312 Die in diesem Sinne dem Libanon zugeschriebene Rolle variierte dabei über die Jahre. Eindeutig ging Israel aber davon aus, in Selbstverteidigung handeln zu können; nur am Rande ist hingegen von Gegenmaßnahmen (countermeas­ ures) die Rede. Auffällig ist schließlich, dass die israelischen Rechtsansichten mitunter elaboriert begründet wurden: Insofern wurde nicht nur auf einschlägige völkerrechtliche Literatur verwiesen;313 praktisch wurden zudem die US-amerikanischen Erwägungen zur Intervention in Mexiko aus dem Jahr 1916314 sowie die französischen Rechtfertigungen zur Bombardierung des tunesischen Orts Sakiet Sidi Youssef im Jahr 1958 rekapituliert.315 bb) Militärische Maßnahmen gegen die Hisbollah: 1993–1996 Bereits 1978 richtete der Sicherheitsrat in Reaktion auf die israelische Operation Litani die UNIFIL ein, welche den Rückzug israelischer Truppen vom libanesischen Staatsgebiet überwachen und zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit sowie von effektiver Regierungsgewalt im Südlibanon beitragen sollte.316 Israel schuf indes im Anschluss an die Operation 311  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2375, Ziff. 43; ähnlich SCOR 37th Year, 2385th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/ PV.2385, Ziff. 149 und f. 312  Vgl. Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). 313  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 53 mit Verweis auf D. Bowett und J. Fawcett; SCOR 34th Year, 2146th Meeting: 31.5.1979, UN-Dok. S/PV.2146, Ziff. 50 f. mit Verweis auf J. Fawcett; SCOR 34th Year, 2149th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2149, Ziff. 48 f. mit weiterer Berücksichtigung von L. Oppenheim und H. Kelsen; SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/PV.2375, Ziff. 54 mit Bezug auf L. Oppenheim; siehe i. Ü. auch S. 26 ff. zuvor. 314  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 55; zuvor auf S. 95 f. 315  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2391st Meeting: 6.8.1982, UN-Dok. S/ PV.2391, Ziff. 69–72. Dieser Verweis ergibt sich zumindest auch aus der kontroversen Diskussion im Sicherheitsrat, wurde also nicht nur als argumentationsstützender Präzedenzfall eingeführt (ebd., Ziff. 68); die hierauf nur bedingt eingehende Antwort des französischen Repräsentanten ebd., Ziff. 99 ff.; i. Ü. S. 97 ff. zuvor. 316  Schmitt, Mich. JIL 29 (2008), S. 127 (130); siehe UN-Sicherheitsrat, Res. 425 (1978), 19.3.1978, UN-Dok. S/RES/425 (1978); Res. 426 (1978), 19.3.1978, UNDok. S/RES/426 (1978).



B. Relevante Staatenpraxis105

Peace for Galilee, durch welche syrische Streitkräfte und die PLO vertrieben werden konnten, eine von den IDF kontrollierte Pufferzone im Süden des Libanon.317 Dies führte zur Radikalisierung libanesischer Schiiten und zur Formierung der Hisbollah, welche sich ab Mitte der 1980er-Jahre verstärkt gegen die Präsenz der IDF und ihrer Alliierten im Libanon richtete.318 In den 1990er-Jahren reagierte Israel hierauf mit zwei groß angelegten Militäroperationen: der Operation Accountability (1993) und der Operation Grapes of Wrath (1996).319 Die erstgenannte wurde vom Libanon als Aggression eingestuft,320 während Israel sein Vorgehen gegen terroristische Basen im Libanon unter Selbstverteidigungsgesichtspunkten für gerechtfertigt ansah.321 Eine nähere Auseinandersetzung im Sicherheitsrat unterblieb gleichwohl.322 Hierzu kam es dann jedoch 1996 anlässlich der Operation Grapes of Wrath – bekannt v. a. durch einen israelischen Artillerieschlag auf die süd­ libanesische Stadt Kana am 18.4.1996, bei dem über 100 Zivilisten starben.323 Der Libanon erachtete bereits die im April 1996 einsetzende Bombardierung seines süd­lichen Territoriums durch israelische Streitkräfte als Aggression.324 Israel wies dagegen auf Angriffe der Hisbollah auf im Norden Israels gelegene Städte hin: „The Lebanese Government does not have the ability – or the will – to control Hezbollah activities. Therefore, Israel must defend the security of its north by all necessary measures.“325 317  Schmitt,

ebd., S. 130 f. ebd., S. 131; Turns, JCSL 5 (2000), S. 177 (177). 319  Schmitt, ebd., S. 131. 320  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Lebanon to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 26.7.1993, UN-Dok. S/26151. 321  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Israel to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 26.7.1993, UNDok. S/26152. 322  UN-Generalversammlung, Report of the Security Council to the General Assembly (16 June 1993 to 15 June 1994), 18.10.1994, UN-Dok. A/49/2, S. 280–283. 323  Turns, JCSL 5 (2000), S. 177 ff., passim; Reisman, YJIL 22 (1997), S. 381 ff., passim. Näher hierzu auch UN-Sicherheitsrat, SCOR 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 13 f. zur Stellungnahme Libanons, S. 14 f. zur Stellungnahme Israels. 324  UNYB 50 (1996), S. 428; UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Lebanon to the United Nations addressed to the President of the Security Council, 14.4.1996, UN-Dok. S/1996/280 und wiederum am selben Tag UN-Dok. S/1996/281. 325  UN-Sicherheitsrat, SCOR 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/ PV.3653, S. 6 [Hervorh. P. L.]. 318  Schmitt,

106

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Verbunden wurde dieser Rekurs Israels auf eine Unfähigkeit bzw. einen Unwillen Libanons mit mehr oder weniger subtilen Infragestellungen libanesischer Souveränität: „The Lebanese Government was told time and time again: control the Hezbollah. If you are, as you claim, the sovereign Government of Lebanon, then this is your obligation. It is interesting that the Lebanese Government disarmed all the militias which had operated within its territory, but never Hezbollah. It was very strange to hear from the Prime Minister of Lebanon, just last night, ‚It is not within our ability to do this‘. Please decide; either his is the sovereign Government, or it is not within its ability.“326

Zuletzt hieß es: „Operations are being conducted solely against Hezbollah terrorist targets. […] Unfortunately, innocent civilians […] are suffering as a result of this confrontation. […] But this escalation was initiated by the murderous acts of Hezbollah, without any intervention by the so-called sovereign Government of the State of Lebanon.“327

Insofern scheint mit dem Rekurs auf Regierungsdefizite ein Fall territo­ rialstaatlicher Unfähigkeit im Fokus zu stehen, was auch die Präsenz der UNIFIL im Libanon zur fraglichen Zeit indizieren mag;328 auffallend ist in diesem Zusammenhang aber v. a. die vorgetragene Relativierung staatlicher Souveränität. Die genauen dogmatischen Konsequenzen dieses Verweises gibt die israelische Stellungnahme zwar nicht zweifelsfrei zu erkennen, beachtlich scheint aber immerhin zu sein, dass Israel seine Maßnahmen nur als gegen Einrichtungen der Hisbollah gerichtet verstand. Der Vorwurf, Libanon habe spezifisch die Entwaffnung der Hisbollah unterlassen, dürfte i. Ü. die gleichzeitige Annahme eines Falls staatlichen Unwillens ausweisen. cc) Der „Julikrieg“ (2006) Im Jahr 2000 zog Israel seine Truppen hinter die Blue Line, die Demarkationslinie zwischen Israel und dem Libanon, zurück.329 Das Verhältnis der beiden Staaten blieb gleichwohl angespannt und wurde wiederholt von Unruhen geprägt, die 2006 zu einer weiteren militärischen Intervention Israels 326  UN-Sicherheitsrat,

ebd., UN-Dok. S/PV.3653, ebd., S. 6 [Hervorh. P. L.]. ebd., UN-Dok. S/PV.3653, ebd., S. 7. 328  Schmitt, Mich. JIL 29 (2008), S. 127 (130 f.); Reisman, YJIL 22 (1997), S. 381 (381 f.). 329  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary General, 1.6.2000, UN-Dok. S/2000/512; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 55; Ruys, Armed Attack and Article 51 of the UN Charter (2010), S. 449; Tams/Brückner, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 673 (673). 327  UN-Sicherheitsrat,



B. Relevante Staatenpraxis107

führten.330 Diese begann am 12.7.2006, nachdem die Hisbollah das israelische Staatsgebiet mit Raketen und Artillerie beschossen hatte und zwei israe­ lische Soldaten entführt wurden.331 Der Libanon stufte das Vorgehen Israels als Aggression ein und bestritt, für die konfliktursächlichen Ereignisse verantwortlich zu sein.332 Israel berief sich dagegen auf sein Recht zur Selbstverteidigung nach Art. 51 UNCh und führte an: „Responsibility for this belligerent act of war lies with the Government of Lebanon, from whose territory these acts have been launched into Israel. […] These acts pose a great threat […] to Israel’s northern border […]. The ineptitude and inaction of the Government of Lebanon has led to a situation in which it has not exercised jurisdiction over its own territory for many years.“333

Dieser Verweis auf ineptitude and inaction – auf Unbeholfenheit und Untätigkeit – hat die Intervention bisweilen als Präzedenzfall des unwilling or unable-Konzepts erscheinen lassen.334 Dass Israel dabei seine Maßnahmen gegen die Hisbollah und nicht gegen den Libanon richten wollte, wird nun etwa damit begründet, dass Israel als „Achse des Terrors“ nur die Hisbollah, den Iran und Syrien identifizierte, nicht jedoch den Libanon.335 Doch gegen Ende Mai desselben Jahres erklärte Israel noch:

330  Tams/Brückner,

ebd., S. 673 f. Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 12.7.2006, UN-Dok. S/2006/515, S. 1. 332  Siehe nur UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Lebanon to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 13.7.2006, UN-Dok. S/2006/518; Identical ­letters from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Lebanon to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 13.7.2006, UN-Dok. S/2006/522; Identical letters from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Lebanon to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 21.8.2006, UN-Dok. S/2006/679, S. 1. Die Stellungnahme Libanons im Sicherheitsrat bei UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493, S. 12–14. 333  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 12.7.2006, UN-Dok. S/2006/515, S. 1 [Hervorh. P. L.]. Etwas später Identical letters from the Deputy Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 28.8.2006, UNDok. S/2006/692. Die Stellungnahme Israels im UN-Sicherheitsrat ebd., UN-Dok. S/ PV.5493, S. 10–12. 334  Siehe Tams/Brückner, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 673 (675, 688, m. w. N.). 335  So Tams/Brückner, ebd., S. 675; vgl. UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 12.7.2006, UN-Dok. S/2006/515, S. 1. 331  UN-Sicherheitsrat,

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

„We hold not only the Government of Lebanon fully responsible for all terrorist activity emanating from within its territory, but also […] the Governments of Iran and Syria for harbouring, financing, nurturing and supporting Hizbollah and other terrorist organizations.“336

Und im Sicherheitsrat337 erklärte Israel im Juli 2006 gerade auch mit Blick auf die damalige Regierungsbeteiligung der Hisbollah338: „Terrorism has been sending its long tentacles through every level of Lebanese society, integrating itself into the very fibre of a nation. Terrorists live and operate among civilians, occupying their towns and villages, using them as human shields, and they have infiltrated the Government itself.“339

Die hiermit beschriebenen Verbindungen gehen nun durchaus über die Rolle hinaus, die Israel dem Libanon noch in vergangenen Fällen zuwies. Es spricht insofern einiges für die Lesart, die von Israel beklagten Angriffe auf sein Staatsgebiet – vermittels der Annahme einer territorialstaatlichen Unfähigkeit – als dem Libanon zurechenbar zu verstehen.340 c) Militärische Maßnahmen der Türkei im Irak Die nachfolgenden militärischen Interventionen im Irak setzten in den 1980er-Jahren ein und stehen vornehmlich im Zeichen des Konflikts zwischen der Türkei und der PKK.341

336  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 30.5.2006, UN-Dok. S/2006/348. 337  Dieser rief zuletzt dazu auf, dass die Hisbollah und Israel Angriffe bzw. offensive Militäroperationen einstellen mögen und forderte einen nahen Rückzug der israe­ lischen Streitkräfte, UN-Sicherheitsrat, Res. 1701 (2006), 11.8.2006, UN-Dok. S/ RES/1701 (2006), Ziff. 1 f. 338  Vgl. Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 55. 339  UN-Sicherheitsrat, SCOR 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/ PV.5493, S. 11. Interessanterweise nehmen Tams/Brückner, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 673 (675, in Fn. 31 und 32) eben diesen Passus ausdrücklich in Bezug. 340  So Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 55. 341  Gegründet wurde die PKK am 27.11.1978; ihr ursprüngliches Ziel war es, einen unabhängigen Staat der seit Jahrhunderten vornehmlich in den türkischen, irakischen, syrischen und iranischen Grenzen lebenden Kurden zu errichten; heute steht die Realisierung lokaler Selbstverwaltungsrechte im Vordergrund, vgl. Keskin, RJIS 2008, S. 59 (60); Khdir, RLJ 4 (2016), S. 62 (63, 73, 76); Nachmani, Turkey: Facing a New Millennium (2003), S. 11.



B. Relevante Staatenpraxis109

aa) 1980er-Jahre Die PKK griff spätestens 1984 auf das Mittel bewaffneter Gewalt zurück.342 Eine völkerrechtliche Dimension erlangte dieser zunächst innerstaatliche Konflikt dabei spätestens, nachdem sich Einheiten der PKK auf irakisches Staatsgebiet zurückzogen und die Türkei exterritoriale Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung unternahm.343 Die Möglichkeit für einen solchen Rückzug ging maßgeblich mit dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) einher, der zu Kontrollverlusten der Regierung Saddam Husseins in den nördlichen Regionen des Irak führte.344 Zu Interventionen des türkischen Militärs kam es nun v. a. in den Jahren 1983, 1984, 1986 und 1987, wobei gerade die Effektivitätsschwächungen der irakischen Regierung einen Bezug zum unwilling or unable-Konzept aufdrängen mögen.345 Hierzu kam es letztlich jedoch nicht. So stimmte etwa die irakische Regierung einer entsprechenden Grenzüberschreitung der Türkei im Mai 1983 zu.346 Überdies ermöglichten bilaterale hot pursuit-Abkommen347 bis zum Ende der 1980er-Jahre entsprechende exterritoriale Maßnahmen der Türkei: Vorgesehen wurde darin das gegenseitige Recht, subversive Gruppen im Territorium des jeweils anderen Staates über eine Distanz von fünf bzw. zehn Kilometern zu verfolgen.348 bb) 1990er-Jahre Das Verhältnis beider Staaten änderte sich spätestens vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkriegs (1990–1991) und der in diesem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen des Sicherheitsrats und der zugunsten Kuwaits inter342  Keskin,

ebd., S. 60; Khdir, ebd., S. 73. ebd., S. 63 f., 75 ff. 344  Keskin, RJIS 2008, S. 59 (60); Simon, in: Shaked/Dishon (Hrsg.), Middle East Contemporary Survey (1986), S. 710 (746) [Turkey]. 345  Keskin, ebd., S. 62; Khdir, RLJ 4 (2016), S. 62 (75); Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549); Simon, ebd., S. 736 f., 746. 346  Simon, ebd., S. 746. Zur Intervention auf Einladung S. 72 ff. zuvor. 347  Nach Ruys, Armed Attack and Article 51 of the UN Charter (2010), S. 187 f. Siehe ferner S. 93 f. 348  Entscheidend sind v. a. das Frontier Security and Cooperation Agreement v. Feb. 1983 sowie das Security Protocol v. 15.10.1984, siehe Charountaki, JIA 17 (2012), S. 185 (189); Çarkoglu/Eder, in: Rubin/Kirisci (Hrsg.), Turkey in World Politics (2001), S. 235 (238, 244); Hentov, in: Ashton/Gibson (Hrsg.), The Iran-Iraq War (2013), S. 125 (135). Nach 1989 wurde das besagte Security Protocol nicht mehr verlängert, Keskin, RJIS 2008, S. 59 (63); Khdir, RLJ 4 (2016), S. 62 (75). Siehe auch Antonopoulos, J. Arm. Confl. L. 1 (1996), S. 33 (49). 343  Khdir,

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

venierenden Staaten – vornehmlich die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich.349 In einer Vielzahl von Resolutionen verurteilte der Sicherheitsrat die irakische Invasion Kuwaits,350 autorisierte alle mit Kuwait kooperierenden Mitgliedstaaten, die im Sinne der vorangehenden Resolutionen erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Region zu treffen,351 betonte die Notwendigkeit eines Waffenstillstandabkommens352 und forderte den Irak dazu auf, den Zutritt humanitärer Hilfsorganisationen zu ermöglichen.353 Vor diesem Hintergrund wurde die Operation Provide Comfort initiiert und eine Flugverbotszone im Norden Iraks eingerichtet, die in den nächsten Jahren weiter in den Süden erstreckt werden sollte.354 Dies bedeutete einerseits einen Verlust effektiver irakischer Regierungsgewalt in den nördlichen Gebieten, auf der anderen Seite die Entstehung eines die PKK begünstigenden Rückzugsraums.355 So kam es schließlich in den Folgejahren (v. a. 1992 und von 1995–1997) zu gegen die PKK gerichteten militärischen Maßnahmen der Türkei im Irak.356 Dies wurde vom Irak als Aggressionen erachtet, im Sicherheitsrat jedoch nicht weiter diskutiert.357 349  Vgl. Keskin, ebd., S. 62; Gazzini, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 469 (469). 350  Statt vieler UN-Sicherheitsrat, Res. 660 (1990), 2.8.1990, UN-Dok. S/RES/660 (1990), Ziff.  1 f. 351  UN-Sicherheitsrat, Res. 678 (1990), 29.11.1990, UN-Dok. S/RES/678 (1990), Ziff.  2 f. 352  UN-Sicherheitsrat, Res. 687 (1991), 3.4.1991, UN-Dok. S/RES/687 (1991), Ziff.  1 und ff. 353  UN-Sicherheitsrat, Res. 688 (1991), 5.4.1991, UN-Dok. S/RES/688 (1991), Ziff. 3. 354  Keskin, RJIS 2008, S. 59 (62); Gazzini, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 469 (470); US-Government Publishing Office, Public Papers of the Presidents of the United States: George H.W. Bush (1991, Book 1), Remarks on Assistance for Iraqi Refugees and a News Conference, 16.4.1991, S. 378 (379), abrufbar unter: https://www.gpo.gov/fdsys/granule/PPP-1991-book1/PPP-1991-book1-doc-pg 378-3/content-detail.html. 355  Keskin, ebd., S. 62; Khdir, RLJ 4 (2016), S. 62 (75); Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 37. 356  Keskin, ebd., S. 62; Weigelt, ebd., S. 37  ff.; Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). 357  UN-Generalversammlung, Report of the Security Council to the General Assembly (16.6.1994–15.6.1995), 14.11.1995, UN-Dok. A/50/2, S. 289; Report of the Security Council to the General Assembly (16.6.1995–15.6.1996), 13.11.1996, UNDok. A/51/2, S. 248; Report of the Security Council (16.6.1996–15.6.1997), GAOR, 52nd Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/52/2, S. 221–223; Report of the Security Council (16.6.1997–15.6.1998), GAOR, 53rd Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/53/2, S.  147 f. UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Iraq to the UN (Annex), 31.3.1995, UN-Dok. S/1995/254, S. 2 Ziff. 2; Letter from the



B. Relevante Staatenpraxis111

Die Türkei verwies indes darauf, dass die Nachwirkungen der Golf-Krise es Terroristen ermöglichten, von Nordirak aus die Sicherheit der Türkei zu bedrohen.358 In einer Erklärung von 1995 heißt es: „As Iraq has not been able to exercise its authority over the northern part of its country since 1991 for reasons well known, Turkey cannot ask the Government of Iraq to fulfil its obligation, under international law, to prevent the use of its territory for the staging of terrorist acts against Turkey.“359

Im Folgejahr knüpfte der türkische Außenminister hieran unter Zugrundelegung von Prinzip 1 Abs. 10 der Friendly Relations Declaration an: „[e]very State has the duty to refrain from […] acquiescing in organized activities within its territory directed towards the commission of [terrorist acts in another State].“360

Auf dieser Grundlage wurde gefolgert: „As of this very principle, it becomes inevitable for a country to resort to necessary and appropriate force to protect itself from attacks from a neighbouring country, if the neighbouring State is unwilling or unable to prevent the use of its territory for such attacks.“361

Als konsequenter Abschluss dieser Ansicht kann schließlich die Formulierung gelesen werden: „Under these circumstances, Turkey’s resort to measures imperative to its own security originating from the principle of self-preservation and necessities, cannot be regarded as a violation of Iraq’s sovereignty.“362

Durchaus denkbar ist, betont man etwa „self-preservation and necessities“, dass sich die Türkei hier auf den völkerrechtlichen Notstand gestützt haben Permanent Representative of Iraq to the UN, 6.7.1995, UN-Dok. S/1995/540 (insb. S. 4 a. E.); Identical letters from the Permanent Representative of Iraq to the UN, 31.5.1996, UN-Dok. S/1996/401; Letter from the Permanent Representative of Iraq to the UN, 10.1.1997, UN-Dok. S/1997/24. 358  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Turkey to the UN (Annex), 23.10.1996, UN-Dok. S/1996/872, S. 2; Identical letters from the Permanent Representative of Turkey to the UN (Annex), 3.1.1997, UN-Dok. S/1997/7, S. 3. 359  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Charge DʼAffaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN, 24.7.1995, UN-Dok. S/1995/605, S. 1 [Hervorh. P. L.]. 360  UN-Generalversammlung, Res. 2625 (XXV), 24.10.1970, UN-Dok. A/RES/ 2625(XXV), Annex: Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in Accordance with the Charter of the United Nations; siehe auch S.  158 f. sogleich. UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Charge DʼAffaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN (Annex), 2.7.1996, UN-Dok. S/1996/479, S. 2; der Klammerzusatz im zitierten Passus richtet sich nach der Stellungnahme des türkischen Außenministers. 361  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/1996/479, S. 2 [Hervorh. P. L.]. 362  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/1996/479, S. 2.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

könnte.363 Gleichfalls nahe liegt, dass hiermit die Erforderlichkeit (necessity) von Selbstverteidigungsmaßnahmen gemeint war; hierauf deutet auch die Erklärung des türkischen Außenministers hin, wenn von Angriffen aus einem benachbarten Staat gesprochen wird.364 Auffallend ist unabhängig davon jedenfalls, dass die Türkei ausdrücklich betonte, die Souveränität und territo­ riale Integrität Iraks, trotz besagter Effektivitätsschwächungen, für äußerst wichtig zu halten, gar für diese einzustehen.365 cc) Von 2007–2008 Nach einer vorübergehenden Zeit der Entspannung zu Beginn der 2000erJahre nahmen ab 2004 Übergriffe der PKK auf Zivilisten und das türkische Militär zu.366 Nachdem im Oktober 2007 mehrere türkische Soldaten bei Übergriffen starben und acht weitere Soldaten entführt wurden, wurde der Norden Iraks bombardiert und mit Artillerie beschossen.367 Ende Februar 2008 setzte schließlich mit der Operation Sun eine groß angelegte, etwas mehr als eine Woche dauernde Bodenoffensive der türkischen Armee im Nordirak ein.368 In diesem Zusammenhang werden mitunter die irakische Zurückhaltung zur Bekämpfung der PKK oder unterlassene Auslieferungen verdächtiger Personen als Hinweis für einen staatlichen Unwillen vor dem Hintergrund des Selbstverteidigungsrechts angesehen.369 Doch die Türkei bemühte anders als in den 1990er-Jahre nicht nur das unwilling or unable363  So Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 38 (in der nachfolgenden Fn. 112 wird der zitierte Passus der Stellungnahme des türkischen Außenministers wiedergegeben). Zum Notstand noch auf S. 244 ff. 364  Ausdrücklicher heißt es bei UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Turkey to the UN, 8.10.1996, UN-Dok. S/1996/836, S. 2: „If it had been possible to prevent terrorist activity directed against Turkey originating from northern Iraq, the need for Turkey to enter into arrangements such as the temporary danger zone would not have arisen. The temporary danger zone is […] entirely a temporary defensive measure expected to remain in force until State authority is established in some manner in the region.“ [Hervorh. P. L.] 365  So UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼAffaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN, 24.7.1995, UN-Dok. S/1995/605, S. 1; Identical letters from the Permanent Representative of Turkey to the UN (Annex), 3.1.1997, UN-Dok. S/1997/7, S. 2. 366  Trapp, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 689 (689); Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S. 334 (337 f.). 367  Ruys, ebd., S. 338. 368  Trapp, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 689 (691 f.); Ruys, ebd., S.  338 f. 369  Siehe Ruys, ebd., S. 355, 358; Trapp, ebd., S. 698 unter Fn. 93; vgl. Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (550).



B. Relevante Staatenpraxis113

Konzept nicht mehr; vielmehr wurde auch der Sicherheitsrat weder von ihr (entgegen Art. 51 S. 2 Hs. 1 UNCh) informiert noch vom Irak angerufen.370 Erläuternde Funktion mag zwar der Ansicht der Türkei zukommen, wonach „[t]he counter-terrorism operation carried out by Turkish Armed Forces in northern Iraq was limited in scope, geography and duration. It targeted solely the PKK/ KONGRA-GEL terrorist presence in the region. […] Turkey remains a staunch advocate of the territorial integrity and sovereignty of Iraq.“371

Damit steht dieser Militäreinsatz in letzter Konsequenz jedoch, auch wegen seiner rhetorischen Politisierung und in Abwesenheit eingehender rechtlicher Begründungen,372 nicht im eigentlichen Zentrum der mit dem unwilling or unable-Standard assoziierbaren Staatenpraxis.373 dd) Von 2015–2016 In jüngerer Vergangenheit ersuchte der Irak die Staatengemeinschaft, wie noch zu vertiefen sein wird, anlässlich der vom ISIL ausgehenden Bedrohungen um militärische Unterstützung. Während insofern exterritoriale militärische Maßnahmen gegen den ISIL auf irakischem Staatsgebiet grundsätzlich vor dem Hintergrund der Intervention auf Einladung zu bewerten sind,374 verwehrte sich der Irak zu dieser Zeit ausdrücklich gegen gewisse, seinerseits als Aggression eingestufte Vorstöße des türkischen Militärs, die im Zeichen des Konflikts mit der PKK stehen, und zu denen es 2015 und 2016 kam.375 Diesbezüglich erwiderte die Türkei nun, zumindest im Hinblick auf die Intervention im Jahr 2016: „Turkey respects the sovereignty and territorial integrity of Iraq and has spared no effort to uphold these principles both on the ground and in international forums.

370  Ruys,

ebd., S. 345; Trapp, ebd., S. 693. Note Verbale from the Permanent Mission of Turkey to the UN Office at Geneva addressed to the Secretariat of the Human Rights Council, 28.3.2008, UN-Dok. A/HRC/7/G/15. 372  Trapp, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 689 (693); Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S. 334 (345 f., 348). 373  Hierauf wird gleichwohl zurückzukommen sein, siehe S. 194 ff., 311 ff. 374  Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (878 f.). Allg. hierzu bereits auf S. 72 ff. 375  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Iraq to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 14.12.2015, UN-Dok. S/2015/963, S. 2 f.; Identical letters from the Permanent Representative of Iraq to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council (Annex), 19.10.2016, UN-Dok. S/2016/870, S. 2 f. 371  UN-Menschenrechtsrat,

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

[…] The Iraqi Government, which claims that it has been fighting DEASH [sic] on behalf of the international community, carries out this struggle with the support of the international community. Therefore, it is in the best interest of all concerned if Iraq seeks as much support as it can assure in this major effort. On the other side, the terrorist organization PKK, operating in both Syria and Iraq for decades, […] has been posing a serious threat to the national security of Turkey. Successive Iraqi Governments’ inability and unwillingness to remove such a direct threat to their neighbour from their territory has led to the expansion of this threat to the Nineveh and Kirkuk governorates of Iraq.“376

Insofern verwies die Türkei darauf, ihr Territorium und ihre Staatsangehörigen gegen vom irakischen Staatsgebiet ausgehende Gefahren der PKK zu verteidigen.377 Die mit dem unwilling or unable-Standard begründeten Maßnahmen wurden damit eindeutig als Fall der Selbstverteidigung verstanden. Zwar wurden dabei Unwillen und Unfähigkeit des Territorialstaats funktional nicht näher erläutert; zumindest situativ ist aber offenkundig, dass die bisher skizzierten Spannungen nun durch die grenzüberschreitenden Aktivitäten des ISIL verstärkt wurden, welche die irakische Staatsgewalt, wie angedeutet, vor gänzlich neue Herausforderungen stellten. d) Militärische Maßnahmen in Syrien ab 2014 Die 2014 auf syrischem Staatsgebiet einsetzenden militärischen Maßnahmen einer Reihe von Staaten stehen im Zeichen der durch den ISIL hervorgerufenen Bedrohungslage. Die Anfänge dieser Organisation können auf die US-amerikanische Intervention im Irak (2003) und hierauf folgende Benachteiligungen von Sunniten, eine unter Saddam Hussein noch begünstigte Minderheit, zurückgeführt werden. Ein Jahrzehnt später hatte sich ein anfäng­ licher Widerstand in ein Selbstverständnis überlegener politischer und religiöser Autorität gewandelt, das mit der Ausrufung eines grenzüberschreitenden islamischen Kalifats am 29.6.2014 durch Abu Bakr al-Baghdadi in Mossul seinen ersten Höhepunkt fand.378 Am 15.8.2014 drückte der Sicherheitsrat 376  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Turkey to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 1.11.2016, UN-Dok. S/2016/912, S. 1 [Hervorh. P. L.]. 377  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/2016/912, S. 1 f. Es scheint zudem, als habe die Türkei ihre nationalen Sicherheitsinteressen in ähnlichem Maße durch den ISIL und die PKK bedroht gesehen, UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 36. 378  Nach Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 65; Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (873); ZEIT ONLINE v. 29.6.2014: Islamischer Staat. Isis ruft offenbar Kalilat aus, abrufbar unter https:// www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/kalifat-isis.



B. Relevante Staatenpraxis115

seine Besorgnis über die Kontrolle irakischer und syrischer Gebietsteile durch den ISIL und die damit einhergehende Destabilisierung der Region aus und verurteilte die vom ISIL verübten Terrorakte.379 Während der Sicherheitsrat zunächst noch eher nationale Maßnahmen ins Auge fasste,380 zeichnete spätestens Res. 2249 (2015) ein anderes Bild: „the Islamic State in Iraq and the Levant […] constitutes a global and unprecedented threat to international peace and security“.381

Nach ausdrücklicher Berücksichtigung zweier Hilfeersuchen des Irak, in denen betont wurde, dass der ISIL einen sicheren Zufluchtsort außerhalb seiner Staatsgrenzen etabliert habe, der die Sicherheit seiner Bevölkerung und seines Territoriums direkt bedrohe,382 wurden alle Mitgliedstaaten mit entsprechenden Kapazitäten aufgerufen, „to take all necessary measures, in compliance with international law […], on the territory under the control of ISIL also known as Daʼesh, in Syria and Iraq, to redouble and coordinate their efforts to prevent and suppress terrorist acts committed specifically by ISIL […] as well as ANF, and all other individuals, groups, undertakings and entities associated with Al Qaeda, and other terrorist groups […], and 379  UN-Sicherheitsrat, Res. 2170 (2014), 15.8.2014, UN-Dok. S/RES/2170 (2014), S. 1, 3 und passim, unter Ziff. 5 (S. 3) wieder mit Bezug auf Res. 1373 (2001) und dem Aufruf an die Staaten, Personen zur Verantwortung zu ziehen, „who perpetrate, organize and sponsor terrorist acts“. Zur forlaufenden Betonung dessen in der weiteren Resolutionspraxis siehe Res. 2178 (2014), 24.9.2014, UN-Dok. S/RES/2178 (2014); Res. 2199 (2015), 12.2.2015, UN-Dok. S/RES/2199 (2015); Res. 2253 (2015), 17.12.2015, UN-Dok. S/RES/2253 (2015); Res. 2322 (2016), 12.12.2016, UN-Dok. S/RES/2322 (2016); Res. 2354 (2017), 24.5.2017, UN-Dok. S/RES/2354 (2017); Res. 2368 (2017), 20.7.2017, UN-Dok. S/RES/2368 (2017); Res. 2370 (2017), 2.8.2017, UN-Dok. S/RES/2370; Res. 2396 (2017), 21.12.2017, UN-Dok. S/RES/2396 (2017). 380  Siehe UN-Sicherheitsrat, Res. 2178 (2014), 24.9.2014, UN-Dok. S/RES/2178 (2014), S. 4 Ziff. 4: „The Security Council, […] [a]cting under Chapter VII of the Charter of the United Nations, […] [c]alls upon all Member States, in accordance with their obligations under international law, to cooperate in efforts to address the threat posed by foreign terrorist fighters, including by preventing the radicalization to terrorism and recruitment of foreign terrorist fighters, including children, preventing foreign terrorist fighters from crossing their borders, disrupting and preventing financial support to foreign terrorist fighters, and developing and implementing prosecution, rehabilitation and reintegration strategies for returning foreign terrorist fighters“; siehe auch Ziff. 2, 5, 6. 381  UN-Sicherheitsrat, Res.  2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1 [Hervorh. P. L.]. 382  Siehe UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Iraq to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 25.6.2014, UN-Dok. S/2014/440, S. 2 f.; Letter from the Permanent Representative of Iraq to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 22.9.2014, UN-Dok. S/2014/691, S. 2. Insg. auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 66 f.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

to eradicate the safe haven they have established over significant parts of Iraq and Syria“.383

Die hierauf ergriffenen und teils schon zuvor angestrengten Militäropera­ tionen wurden von vergleichsweise vielen Staaten getragen, zeitigten aber v. a. auf syrischem Staatsgebiet Probleme:384 Denn abgesehen von der vor dem Hintergrund der Intervention auf Einladung stehenden Präsenz Russlands und Irans385 kritisierte Syrien spätestens ab 2015 militärische Aktivitäten anderer Staaten auf seinem Territorium, auf welche nun einzugehen ist, recht vehement.386 aa) USA In einer maßgeblichen Erklärung bezogen sich die USA nun etwa zunächst auf die vom Irak beklagten sicheren Zufluchtsorte in Syrien und das damit 383  UN-Sicherheitsrat, Res.  2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 2 Ziff. 5. 384  Der Vergleich zwischen Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (897), dem es in Ansehung von Befürwortern und Gegnern der Mis­ sionen in der Staatengemeinschaft schwerfällt, dem Fall eine (bestimmte) Präzedenzwirkung zukommen zu lassen, und Scharf, Case W. Res. JIL 48 (2016), S. 15 (52), dessen Verständnis einer Wandlung des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts gedrängt in der Formulierung zum Ausdruck kommt, „9/11 is better characterized as a Grotian Moment that was, until the 2015 ISIS attacks, still one step away from coming to fruition“, mag dies recht anschaulich illustrieren. 385  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 16.10.2015, UN-Dok. S/2015/789; Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 15.10.2015, UN-Dok. S/2015/792, S. 2; i. Ü. Bannelier-Christakis, LJIL 29 (2016), S. 743 (760). 386  Siehe nur UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 21.9.2015, UN-Dok. S/2015/719 mit Blick auf militärische Maßnahmen des Vereinigten Königreichs, Australiens und Frankreichs. Mit entsprechender Kritik an den USA und Kanada Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 22.9.2015, UN-Dok. S/2015/727, S. 2. Gegen die US-amerikanisch geführte Allianz gewandt etwa Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 16.11.2015, UN-Dok. S/2015/851, S.  1  f. Ferner UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 30. Entsprechendes zeichnete sich überdies schon 2014 ab: 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/ PV.7271, S. 43. Siehe ferner Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S.  873 (884) m. w. N.; Bannelier-Christakis, ebd., S. 771 f.



B. Relevante Staatenpraxis117

verbundene Ersuchen, militärisch gegen den ISIL vorzugehen. Daraufhin hieß es: „ISIL and other terrorist groups in Syria are a threat not only to Iraq, but also to many other countries, including the [US] and our partners in the region and beyond. States must be able to defend themselves, in accordance with the inherent right of individual and collective self-defence, as reflected in Article 51 [UNCh], when, as is the case here, the government of the State where the threat is located is unwilling or unable to prevent the use of its territory for such attacks. The Syrian regime has shown that it cannot and will not confront these safe havens effectively itself. Accordingly, the [US] has initiated necessary and proportionate military actions in Syria in order to eliminate the ongoing ISIL threat to Iraq […].“387

Dies vertraten die USA auch im übrigen Krisenverlauf.388 Veranschau­ lichend wurde dabei etwa hervorgehoben, dass die syrische Regierung unter Baschar al-Assad zu selten Versuche unternommen habe, den ISIL zu stoppen, und militärische Maßnahmen auf Regimegegner konzentriert habe,389 was zumindest in einer früheren Phase den spezifischen Fall eines territorialstaatlichen Unwillens etwas näher veranschaulichen mag.390 Dogmatisch 387  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United ­ tates of America to the UN addressed to the Secretary-General, 23.9.2014, UN-Dok. S S/2014/695 [Hervorh. P. L.]. Im Wortlaut nahezu identisch ist eine Stellungnahme des US-amerikanischen Vertreters im Sicherheitsrat: 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 4. Siehe auch Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), ebd., S. 880, 882 mit einem abgrenzenden Überblick. 388  Siehe bereits UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UNDok. S/PV.7271, S. 7; ausdrücklich heißt es etwa auch bei 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 22: „[…] coalition air operations are grounded in well-established military procedures firmly based in international law and the requests of neighbouring States for collective self-defence under [Art.] 51 [UNCh]. The foundation has not changed and we will continue our mission with the full sanctions of international law.“ Siehe darüber hinaus The White House, US-Legal and Policy Frameworks Guiding the Use of Military Force (Dez. 2016), S. 10; ferner U.S. Department of State mit den Anmerkungen von Brian J. Egan im Rahmen der jährlichen Konferenz der ASIL am 1.4.2016, unter der Überschrift „Jus ad bellum“ abrufbar unter: https://2009-2017.state.gov/s/l/releases/remarks/255493.htm. Bradley/Gold­smith, AJIL 110 (2016), S. 628 (644) weisen in diesem Sinne auf den unwilling or unable-Standard als eine über den Syrien-Konflikt hinausgehende Grundlinie der Obama-Administration hin; vergleichbar Goldsmith, Harv. ILJ 57 (2016), S. 455 (462). Mit etwas anderer Wendung Deeks, AJIL 110 (2016), S. 646 (652), wonach sich die Obama-Administration auffallend häufig auf die Zustimmung von Territorialstaaten und weniger auf strittigere Interventionsgrundlagen, wie z. B. den unwilling or unable-Standard, verlassen habe (ausnahmsweise jedoch ebd., S. 655– 657). 389  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S.  22 f. 390  Situativ veranschalichend auch UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 4: „The Al-Assad regime in Syria has shown that

118

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

wurde der unwilling or unable-Standard letztlich klar im Selbstverteidigungsrecht verortet; allerdings sind insofern nähere funktionale Differenzierungen kaum nachzuvollziehen. bb) Vereinigtes Königreich Mit einer kurzen Stellungnahme informierte das Vereinigte Königreich den Sicherheitsrat 2014 darüber, den Irak durch militärische Selbstverteidigungsmaßnahmen zu unterstützen.391 Bei einem solchen allgemeinen Verweis beließ es das Vereinigte Königreich auch in der Folgezeit,392 wobei zuletzt immerhin noch auf Res. 2249 (2015) hingewiesen wurde.393 Zwar wurde u. a. erklärt, dass die brutale Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die Regierung Syriens ein Klima erzeugt habe, das die Entstehung des ISIL befördert hätte.394 Einen expliziten Bezug zum unwilling or unable-Standard weisen diese Stellungnahmen jedoch nicht auf.395 it cannot and will not suppress that threat, even as it undertakes actions that benefit recruitment by extremists.“ 391  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 26.11.2014, UN-Dok. S/2014/851. Zum Bekenntnis der Erforderlichkeit militärischer Maßnahmen bereits 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok S/PV.7272, S. 14. 392  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland to the UN addressed to the President of the Security Council, 8.9.2015, UN-Dok. S/2015/688 mit Blick auf eine gezielte Tötung eines „target known to be actively engaged in planning and direct­ ing imminent armed attacks against the United Kingdom“. Weiterhin auch die ähnlich allg. gefasste Stellungnahme zu Res. 2249 (2015) nach den Pariser Anschlägen vom November 2015: 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 9. 393  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland to the UN addressed to the President of the Security Council, 3.12.2015, UN-Dok. S/2015/928. 394  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 23; siehe a. a. O. noch S. 24: Hier wurde die Stärkung gouvernementaler Fähigkeiten durch die russische Intervention auf Einladung anerkannt. 395  Ein näherer Überblick über die Rolle und den Willensbildungsprozess im House of Commons im Jahr 2015 bei Murray/O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (336 ff.). Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (798 f.) weisen u. a. im Hinblick auf eine Erklärung des damaligen Premierministers D. Cameron ein Indiz dafür aus, dass wohl auch das Vereinigte Königreich auf den unwilling or unable-Standard zurückgegriffen haben könnte, siehe The Telegraph v. 26.11.2015: David Cameron’s full statement calling for UK involvement in Syria air strikes, abrufbar unter: https:// www.telegraph.co.uk/news/politics/david-cameron/12018841/David-Camerons-fullstatement-calling-for-UK-involvement-in-Syria-air-strikes.html, u. a. mit der Aussage vor dem Hintergrund des Selbstverteidigungsrechts: „[…] the Assad regime is unwil-



B. Relevante Staatenpraxis119

cc) Kanada Während sich Kanada schon 2014 zu militärischen Unterstützungsleistungen bereit zeigte,396 ähnelt eine Stellungnahme zur Ergreifung militärischer Maßnahmen in Syrien aus dem Jahr 2015 der vorigen Erklärung der USA. Vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh und dem irakischen Ersuchen hieß es dabei: „ISIL also continues to pose a threat not only to Iraq, but also to Canada and Canadians, as well as to other countries in the region and beyond. In accordance with the inherent right of individual and collective self-defence reflected in Article 51 [UNCh], States must be able to act in self-defence when the Government of the State where a threat is located is unwilling or unable to prevent attacks emanating from its territory.“397

Insofern gilt auch das zur vorigen Stellungnahme Gesagte. Kanada betonte jedoch zusätzlich, dass die auf dieser Grundlage getroffenen militärischen Maßnahmen nicht gegen Syrien oder die syrische Bevölkerung, sondern lediglich gegen den ISIL gerichtet seien.398 2016 wurde gleichwohl die Durchführung von Luftangriffen beendet.399 dd) Australien Australiens zog ebenfalls früh militärische Maßnahmen gegen den ISIL in Betracht.400 Mit der vorstehenden Erklärung Kanadas ist dabei insb. die folgende Stellungnahme vergleichbar: „Article 51 [UNCh] recognizes the inherent right of States to act in individual or collective self-defence where an armed attack occurs against a Member of the [UN]. States must be able to act in self-defence when the Government of the State where the threat is located is unwilling or unable to prevent attacks originating ling and/or unable to take action necessary to prevent ISIL’s continuing attack on Iraq – or indeed attacks on us.“ de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (97 f.) verweist dagegen auf das Fehlen einer entsprechenden offiziellen Erklärung. 396  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok S/PV.7272, S. 25; zurückhaltender bei 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S.  26 f. 397  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Canada to the UN addressed to the President of the Security Council, 31.3.2015, UN-Dok. S/2015/221 [Hervorh. P. L.]. 398  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/2015/221. 399  Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 40 und m. w. N. 400  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 15.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

from its territory. The Government of Syria has, by its failure to constrain attacks upon Iraqi territory originating from ISIL bases within Syria, demonstrated that it is unwilling or unable to prevent those attacks.“401

Damit wurde der unwilling or unable-Standard wieder eindeutig im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts verortet. Nähere funktionale Erläuterungen unterblieben dabei jedoch. Auch wurde wieder – wenngleich von einem Scheitern bzw. Versagen Syriens die Rede war – das fragliche Begriffspaar ohne alternative Spezifizierung schlicht in seiner Gesamtheit erwähnt. ee) Türkei Auch die Türkei ergriff mehrmals exterritoriale militärische Maßnahmen in Syrien. Diese wurden aber nicht nur gegen den ISIL [(1)], sondern auch gegen kurdische Gruppen gerichtet [(2)]. (1) Militärische Maßnahmen gegen den ISIL Mit Blick auf eine durch den ISIL hervorgerufene unmittelbare Gefahr betonte die Türkei 2015 etwa, die territoriale Integrität Syriens zu respektieren, jedoch (u. U.) das Recht zur Selbstverteidigung auszuüben.402 Dabei weist eine weitere Erklärung im selben Jahr näheres zu Art. 51 UNCh aus: Die Türkei verwies hier zunächst auf die durch die Syrien-Krise entstandene humanitäre Notlage und die einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen, die sich mit den vom ISIL ausgehenden Gefahren auseinandersetzen. Angesichts zweier Terroranschläge (darunter in Suruç am 20.7.2015, bei dem mehr als 30 Personen starben) sah sich die Türkei nun darin bestätigt „under a clear and imminent threat of continuing attacks from Daesh“ zu stehen. Weiter hieß es: „It is apparent that the regime in Syria is neither capable of nor willing to prevent these threats emanating from its territory, which clearly imperil the security of Turkey and the safety of its nationals. Individual and collective self-defence is our inherent right under international law, as reflected in Article 51 [UNCh].

401  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Australia to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.9.2015, UN-Dok. S/2015/693 [Hervorh. P. L.]. So auch die Stellungnahme in 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 69. 402  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Turkey to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 23.2.2015, UN-Dok. S/2015/127.



B. Relevante Staatenpraxis121 On this basis, Turkey has initiated necessary and proportionate military actions against Daesh in Syria […].“403

Der Verweis auf den unwilling or unable-Standard ähnelt insofern den vorbenannten Erklärungen,404 wobei auch hier wieder die bereits aufgezeigten Unklarheiten bestehen. Syrien jedenfalls kritisierte diesen Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht, weniger jedoch die darin zum Ausdruck gebrachte prinzipielle Reichweite von Art. 51 UNCh, sondern etwaige türkische Verursachungsbeiträge zur Syrien-Krise, z. B.: „[T]he Turkish regime has no right to invoke Article 51, because it is itself the party exporting the terrorism to which it refers.“405 (2) Militärische Maßnahmen gegen kurdische Gruppen Die Türkei beschränkte die Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts jedoch nicht auf den ISIL, sondern weitete es auch auf als Terrororganisationen eingestufte kurdische Gruppen aus, welche grenznahe Gebiete rund um die syrische Stadt Afrin kontrollieren sollten: Hierzu wurden neben der PKK auch die KCK, PYD und YPG gezählt.406 Dabei betonte die Türkei, ohne den unwilling or unable-Standard explizit zu erwähnen, der syrischen territorialen Integrität verpflichtet zu sein und nur gegen terroristische Akteure zur

403  Zu alldem UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN addressed to the President of the Security Council, 24.7.2015, UN-Dok. S/2015/563, S. 1 [Hervorh. P. L.]. Ähnlich Letter from the Permanent Representative of Turkey to the UN addressed to the President of the Security Council, 19.2.2016, UN-Dok. S/2016/163, passim; siehe auch 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 24 und 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 36 f. Dagegen (mit der Kritik einer türkischen Aggression) Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 16.2.2016, UN-Dok. S/2016/147, S. 1 f. und Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 18.2.2016, UN-Dok. S/2016/149. 404  Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (880). 405  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council (Annex), 20.7.2015, UN-Dok. S/2015/574, S. 2. So auch Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 2.7.2015, UN-Dok. S/2015/487. 406  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Chargé d’affaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 22.1.2018, UN-Dok. S/2018/53, S. 1.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit vorzugehen; neben Art. 51 UNCh seien diese Maßnahmen zugleich „within the context of the responsibility attributed to Member States in the fight against terrorism, including through Security Council resolutions 1373 (2001), 1624 (2005), 2170 (2014) and 2178 (2014)“

zu verorten gewesen.407 Syrien sprach dagegen von einer illegitimen Präsenz des türkischen Militärs auf seinem Staatsgebiet408 bzw. von einer Aggres­ sion.409 Zu einem ähnlich gelagerten Fall kam es auch im Folgejahr mit Initiierung der Operation Peace Spring: Hier hob die Türkei zunächst die durch den Syrien-Konflikt verursachten Gefahren terroristischer Organisationen hervor und betonte, in Übereinstimmung mit ihrem Selbstverteidigungsrecht gezielt und verhältnismäßig gegen Terroristen in Syrien vorzugehen, und zwar „to counter the imminent terrorist threat, to ensure Turkey’s border security, to neutralize terrorists starting from along the border region adjacent to Turkish territory and to liberate Syrians from the tyranny of PKK’s Syrian branch, PKK/PYD/ YPG, as well as Deash. […] In particular, PKK/PYD/YPG units close to Turkish borders in the north-east of Syria, continue to be a source of direct and imminent threat as they opened harassment fire on Turkish border posts […].“410

Wieder rekurrierte die Türkei dabei nicht auf den unwilling or unableStandard.411 Syrien warf der Türkei jedenfalls expansionistische Ambitionen vor und beschrieb den Vorgang als „a flagrant violation of international law and a blatant violation of Security Council resolutions“.412

407  Zu alldem, samt Zitat, UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/2018/53, S. 1 f.; de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (97); und Marxsen/Peters, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 1 (8). 408  UN-Sicherheitsrat, 73rd Year, 8181st Meeting: 14.2.2018, UN-Dok. S/PV.8181, S. 11. 409  UN-Sicherheitsrat, 73rd Year, 8195th Meeting: 28.2.2018, UN-Dok. S/PV.8195, S. 20. 410  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Turkey to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.10.2019, UN-Dok. S/2019/804, S. 1. 411  So auch Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Ausarbeitung: Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien, 17.10.2019, Az. WD 2 – 3000 – 116/19, S. 9. 412  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 10.10.2019, UN-Dok. S/2019/806.



B. Relevante Staatenpraxis123

ff) Frankreich Frankreich nahm bereits 2014 an, dass sich der ISIL maßgeblich durch die Unterstützung der syrischen Regierung entwickeln konnte.413 Im Zusammenhang mit der Ergreifung militärischer Maßnahmen verwies Frankreich in ­einer Erklärung aus dem Jahr 2015 nun einerseits auf die maßgeblichen Sicherheitsratsresolutionen zu Terrorakten des ISIL, die auch eine direkte und außerordentliche Gefahr für die französische Sicherheit darstellten, andererseits wiederum auf das besagte irakische Ersuchen. Gefolgert wurde hieraus: „In accordance with Article 51 [UNCh], France has taken actions involving the participation of military aircraft in response to attacks carried out by ISIL from the territory of the Syrian Arab Republic.“414

Nachdem es am 13.11.2015 dann zu mehreren Anschläge in Paris kam, zu denen sich der ISIL bekannte,415 erweiterte Frankreich sein militärisches Engagement in Syrien, wobei der Ständige Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen die vorangegangene Erklärung erweiterte: „As I said, the events of 13 November were an armed aggression against France. Our military action, of which we informed the Security Council from the outset and which was justified as legitimate collective self-defence, can now also be characterized as individual self-defence, in accordance with Article 51 [UNCh].“416

Für die Berechtigung zu (individueller und kollektiver) Selbstverteidigung wurde an dieser Stelle also nicht eigens auf den unwilling or unable-Standard zurückgegriffen.417 413  UN-Sicherheitsrat,

S. 12.

69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271,

414  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of France to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 9.9.2015, UN-Dok. S/2015/745. 415  Dies provozierte nicht zuletzt die erstmalige Aktivierung der Beistandsklausel aus Art. 42 Abs. 7 EUV (Vertrag über die Europäische Union v. 7.2.1992 in der Fassung des Vertrags von Lissabon v. 13.12.2007, ABl. C 306, 17.12.2007; BGBl. 2008 II S. 1038, 2009 II S. 1223), dessen UAbs. 1 S. 1 folgendermaßen lautet: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 [UNCh].“ Siehe Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (882). Umfassend hierzu Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 ff. Eine über die Regeln der UNCh hinausgehende Rechtsgrundlage liegt hierin, ausweislich des Wortlauts, nicht, siehe Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (538). 416  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 2. 417  Vgl. auch Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (881); siehe UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/ PV.7527, S. 9 f.: Hier wurde betont, dass der auch in Syrien zu bekämpfende Feind der ISIL samt assoziierter Gruppen sei. Dabei wurden die Regierung Syriens und ihre

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

gg) Deutschland Nach anfänglicher Zurückhaltung418 erklärte auch Deutschland Ende 2015, militärische Maßnahmen eingeleitet zu haben: Verwiesen wurde dabei auf die vom Sicherheitsrat festgestellte Bedrohung durch den ISIL sowie auf vom ISIL verübte bewaffnete Angriffe, etwa auf den Irak oder Frankreich, welche die betroffenen Staaten zu Selbstverteidigungsmaßnahmen veranlasst hätten. Die von der Bundesrepublik eingeleiteten Maßnahmen seien nun gegen den ISIL und nicht gegen Syrien gerichtet. Erläuternd heißt es dabei in dieser Erklärung: „ISIL has occupied a certain part of Syrian territory over which the Government of the Syrian Arab Republic does not at this time exercise effective control. States that have been subjected to armed attack by ISIL originating in this part of Syrian territory, are therefore justified under Article 51 [UNCh] to take necessary measures of self-defence, even without the consent of the Government. Exercising the right of collective self-defence, Germany will now support the military measures of those States that have been subjected to attacks by ISIL.“419

Diese Rechtsansicht wurde kritisch als „limited sovereignty-Argument“420 rezipiert, wohlwollender dagegen als vergleichsweise vorsichtiger Ansatz eirepressiven Maßnahmen v. a. gegenüber der Zivilbevölkerung kritisiert und ein politischer Übergangsprozess gefordert. 418  In UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st  Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/ PV.7271, S. 23 wurde noch die militärisch komplexe Situation in Syrien betont; bei 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 31 wurde auf die Notwendigkeit eines sinnvollen politischen Prozesses und auf die bisherige Praxis des Sicherheitsrats, namentlich Res. 2139 (2014), verwiesen. 419  Insg. UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Germany to the UN addressed to the President of the Security Council, 10.12.2015, UN-Dok. S/2015/946 [Hervorh. P. L.]. Zuvor hatte auch eine Sachstandsmitteilung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags den sowohl als „unwilling or unable“ als auch als „unwilling and unable“ bezeichneten Standard als sich vor dem Hintergrund der bisherigen Staatenpraxis abzeichnende gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Völkerrechts beschrieben, die sich durch Res. 2249 (2015) verfestigt haben könnte, so Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Sachstand: Staatliche Selbstverteidigung gegen Terroristen. Völkerrechtliche Bewertung der Terroranschläge von Paris vom 13. November 2015 (Aktualisierung und Ergänzung des Gutachtens WD – 3000 – 191/15 v. 23.11.2015), 30.11.2015, Az.: WD 2 – 3000 – 203/15, insb. S. 12–14 (siehe auch S. 20 f.). 420  So Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (881); siehe jedoch noch ders., LJIL 29 (2016), S. 777 (780) mit der Annahme eines impliziten Rekurses auf den unwilling or unable-Standard. Noch weiter geht Tladi, in: Peters/ Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (77 und f.), der der Erklärung den Aussagegehalt entnimmt, die Bundesrepublik habe das fragliche Gebiet als dem ISIL und nicht Syrien zugehörig verstanden. Der Wortlaut der Erklärung lässt indes deutlich das Gegenteil erkennen.



B. Relevante Staatenpraxis125

ner „lex-ISIL“421 beschrieben. Zwar ist eine ausdrückliche Nennung des unwilling or unable-Standards an dieser Stelle unterblieben; dafür wurde aber unmittelbar aus der Abwesenheit effektiver Regierungshoheit in Teilen des syrischen Staatsgebiets das Recht zu notwendigen Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen nicht-staatliche Akteure abgeleitet. Insofern wird – implizit, aber dennoch klar – auf einen Fall territorialstaatlicher Unfähigkeit abgestellt, der in der Syrien-Krise auch durchaus nahe liegt.422 hh) Belgien Erklärungen Belgiens waren anfänglich noch allgemein gefasst.423 2014 pochte Belgien u. a. noch auf eine Resolution der Vereinten Nationen, die die Legitimität internationaler (militärischer) Maßnahmen stärken sollte.424 Der vorigen Erklärung Deutschlands ähnelt jedoch ein Bericht zur Ergreifung kollektiver Selbstverteidigungsmaßnahmen zugunsten des Irak:425 Darin wurde nach einem Verweis auf das besagte Ersuchen und die einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen erklärt: „ISIL has occupied a certain part of Syrian territory over which the Government of the Syrian Arab Republic does not, at this time, exercise effective control. In the light of this exceptional situation, States that have been subjected to armed attack by ISIL originating in that part of the Syrian territory are therefore justified under Article 51 [UNCh] to take necessary measures of self-defence. […] Those meas421  Bernstorff, ESIL Reflections Vol. 5 Iss. 7, 11.7.2016, S. 3 f.; in einem ähnlichen Sinne gehen Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (282) davon aus, dass hierin eine im Vergleich zum unwilling or unable-Standard restriktivere Formulierung liegen würde. Krit. dagegen Urs, ZaöRV 77 (2017), S. 31 (33). 422  Siehe Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (890); diese Möglichkeit wird auch von Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (59), wenngleich sehr zurückhaltend, in Betracht gezogen. Als Referenz dient dafür der Antrag der Bundesregierung zum Streitkräfteeinsatz gegen den ISIL vom 1.12.2015, BT-Drs. 18/6866, S. 1 f. sowie die entsprechende Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses vom 2.12.2015, BT-Drs. 18/6912, S. 1 f. Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (537 f.) geht nun davon aus, dass die Bundesregierung hier letztlich die US-amerikanische Begründung zur Rechtfertigung militärischer Gewalt auf Grundlage des unwilling or unableStandards übernommen habe. In diese Richtung, wenngleich vorsichtig, auch Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (35). Auch Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (797) ordnen die Rechtsansicht der Bundesrepublik als Fall des unwilling or unableStandards ein. Unentschieden dagegen Sassenrath, ZaöRV 77 (2017), S. 83 (84). 423  Siehe nur UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok S/ PV.7272, S. 29; 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 47 f. 424  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 35. 425  Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (881); Berns­ torff, ESIL Reflection Vol. 5 Iss. 7, 11.7.2016, S. 3.

126

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

ures are directed against the so-called ‚Islamic State in Iraq and the Levant‘ and not against the Syrian Arab Republic.“426

Implizit wird damit wieder, wie der Verweis auf die fehlende Ausübung effektiver Kontrolle der syrischen Regierung in gewissen Gebieten zeigt, auf eine Form territorialstaatlicher Unfähigkeit abgestellt, woraus – bei Vorliegen eines von diesen Gebieten ausgehenden bewaffneten Angriffs – das Recht zu Selbstverteidigungsmaßnahmen abgeleitet wird. Dies erweist sich in der Sichtweise Belgiens allerdings als besondere Ausnahmesituation.427 Ausdrücklich erwähnt wurde der unwilling or unable-Standard aber auch hier wieder nicht. ii) Norwegen Norwegen schien sich in seinen Erklärungen anfänglich noch auf die Situation im Irak zu konzentrieren.428 Später wurden gleichwohl militärische Maßnahmen in Syrien ergriffen. Die maßgebliche Erklärung ähnelt dabei hinsichtlich der Notwendigkeit kollektiver Selbstverteidigung in ihrem Bezug auf das irakische Ersuchen, nebst den einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen, den Erklärungen Deutschlands und Belgiens.429 Ein Bezug zu einer wie auch immer gearteten Form territorialstaatlicher Unfähigkeit wurde jedoch nicht hergestellt. So hieß es schlicht: „Pursuant to that request, the Government of Norway is taking measures against ISIL in accordance with Article 51 [UNCh]. The measures are directed against ISIL, not against the Arab Republic of Syria.“430

Vergleichbar ist hingegen die Betonung, Selbstverteidigungsmaßnahmen nicht gegen Syrien zu richten. Besonders ertragreich ist diese Erklärung für die Einordnung des unwilling or unable-Standards letztlich jedoch kaum. Zwar wurden noch im Vorjahr Implikationen territorialstaatlicher Unfähigkeit in einen Zusammenhang mit der Ergreifung militärischer Mittel gebracht: 426  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Belgium to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.6.2016, UN-Dok. S/2016/523 [Hervorh. P. L.]. 427  Dies zieht Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (77 und f.) als Indiz für die Annahme heran, dass Belgien sein Verhalten nicht als rechtsschaffend oder -transformierend eingestuft hätte. Man könnte die Erklärung dagegen genauso gut, im Hinblick auf vergleichbare (künftige) Ausnahmesituationen, als rechtserheblich formuliert verstehen. 428  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 26. 429  Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (881). 430  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Norway to the UN addressed to the President of the Security Council, 3.6.2016, UN-Dok. S/2016/513.



B. Relevante Staatenpraxis127 „The fall of large expanses of territory to a terrorist group and the unspeakable atrocities of those brutal criminals have to be countered with a wide range of instruments, including military force.“431

Dafür fehlt dieser Stellungnahme eine Spezifizierung des für einschlägig befundenen rechtlichen Rahmens etwaig zu ergreifender militärischer Maßnahmen. jj) Dänemark Dänemark erklärte bereits 2014, gewisse Unterstützungsleistungen im militärischen Bereich zugunsten des Irak angestrengt zu haben.432 Später wurde anlässlich der Ergreifung kollektiver Selbstverteidigungsmaßnahmen im Syrien-Konflikt auf Res. 2249 (2015) und auf das irakische Ersuchen verwiesen. In Anlehnung hieran hieß es 2016: „The Security Council called upon Member States to prevent and suppress terrorist acts committed by ISIL and to eradicate the safe haven ISIL has established over significant parts of Iraq and Syria. In accordance with Article 51 [UNCh], the Kingdom of Denmark is taking measures against ISIL in support of this call.“433

Eine wirkliche Bezugnahme auf den unwilling or unable-Standard liegt damit jedoch nicht vor. Dänemark stellte hier vielmehr auf den Aufruf des Sicherheitsrats ab, dem es mit den ergriffenen Maßnahmen – nun allerdings im Rahmen von Art. 51 UNCh – folgen wollte. kk) Zusammenfassung Erklärungen zu einem gegen den ISIL gerichteten exterritorialen militärischen Tätigwerden in Syrien finden sich damit, von der Türkei und Australien abgesehen, v. a. für Staaten aus dem nordamerikanischen und europäischen Raum. Ihnen allen ist gemein, dass sie auf das Selbstverteidigungsrecht als entscheidenden Rechtfertigungsrahmen rekurrierten. Dabei wurde der unwilling or unable-Standard explizit nur von den USA, Kanada, Australien 431  UN-Sicherheitsrat,

S. 59.

70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527,

432  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S.  37 f.; 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok S/PV.7272, S. 34. 433  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Denmark to the UN addressed to the President of the Security Council, 13.1.2016, UN-Dok. S/2016/34. Siehe weiterhin, abstrakt gefasst, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 56: „A functioning global order requires us to protect the innocent victims of terrorism where States fail to do so.“ Ausdrücklich wurde daraufhin im Rahmen weiterer zu ergreifender Maßnahmen auch auf militärische Mittel verwiesen.

128

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

und der Türkei erwähnt, funktional dabei jedoch nicht weiter ausdifferenziert. Die Erklärungen des Vereinigten Königreichs und Norwegens erscheinen verstärkt unbestimmt, während Dänemark seinen Rekurs auf Art. 51 UNCh auf einen Aufruf des Sicherheitsrats zurückführte. Deutschland und Belgien betonten indes Schwächungen der effektiven Kontrollausübung Sy­ riens über gewisse Gebietsteile, was wohl implizit die Annahme einer territorialstaatlichen Unfähigkeit indiziert; in der Sichtweise Belgiens war jedoch diese Situation, die zur Notwendigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen von diesen Gebietsteilen ausgehende bewaffnete Angriffe führte, als Ausnahme anzusehen. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass nicht alle diese Staaten zugleich aktiv wurden und ihr militärisches Engagement teils auch wieder früh beendeten.434 2. Territorialstaatlicher Unwille a) Israelischer Militärschlag in Tunesien: 1985 Wie schon gezeigt wurde, setzte Israel im Konflikt mit der PLO vermehrt auf exterritoriale militärische Maßnahmen. In Tunis wurde dabei am 1.10.1985 ein Logistikzentrum der PLO bombardiert.435 Kurz zuvor hatte Israel auf mehrere der PLO zugeschriebene Terrorakte aufmerksam gemacht, darunter z. B. ein Mord an drei israelischen Staatsbürgern am 25.9.1985 in Zypern, und zu erkennen gegeben, auch künftig Maßnahmen zur Verteidigung seiner Bürger zu ergreifen.436 Von der fraglichen Basis in Tunis seien nun bewaffnete Angriffe gegen Israel und unschuldige Zivilisten ausgegangen bzw. geplant worden, woraus der Ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen folgerte: „[…] a country cannot claim the protection of sovereignty when it knowingly offers a piece of its territory for terrorist activity against other nations […]. Tunisia, then, actually provided a base for murderous activity against another State […]. The protection of sovereignty cannot be claimed by any Government when it makes available such facilities, especially against the State that must protect itself.“437

434  Z. B. Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 44. 435  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Tunisia to the UN, 1.10.1985, UN-Dok. S/17509, S. 1; Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (532). 436  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Israel to the UN, 27.9.1985, UN-Dok. S/17502, S. 1 f.; UNYB 39 (1985), S. 285. 437  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 193.



B. Relevante Staatenpraxis129

Israel betonte dabei, dass die in Tunis getroffenen Maßnahmen nicht gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit Tunesiens gerichtet gewesen seien, sondern ausschließlich gegen die PLO-Einrichtung, was für den unwilling or unable-Standard nun geradezu typisch ist.438 Zugleich wurden die angenommenen Unterstützungsleistungen Tunesiens als völkerrechtswidrig angesehen, insofern sie gegen die Aggressionsdefinition der Generalversammlung439 und die Friendly Relations Declaration440 verstoßen sollten.441 Anders als im Falle Libanons wurde der unwilling or unable-Standard jedoch nicht explizit erwähnt. Insofern aber der Vorwurf artikuliert wurde, Tunesien habe nichts gegen die besagte PLO-Einrichtung unternommen oder sei in ihre Unterhaltung verwickelt gewesen, liegt die Annahme eines Falls territorialstaatlichen Unwillens immerhin recht nahe. Funktional ist dabei die Annahme interessant, Tunesien könne sich unter diesen Umständen nicht auf den Schutz seiner Souveränität berufen.442 Prinzipiell könnte dies schlicht zum Ausdruck bringen, dass dem israelischen Selbstverteidigungsrecht hier nichts im Wege stünde; zugleich liegt dieser Annahme jedoch das Potential inne, die getroffenen Maßnahmen gänzlich außerhalb des völkerrechtlichen Gewaltverbots (und seiner Ausnahmen) zu verorten. b) Militärische Maßnahmen der USA gegen al-Qaida Über mehrere Jahre hinweg ergriffen die USA in verschiedenen Staaten exterritoriale militärische Maßnahmen zur Bekämpfung von al-Qaida, von denen nachfolgend einige umrissen werden sollen.

438  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 193; Report of the Sec­ retary-General in Pursuance of Paragraph 5 of SC Res. 573 (1985), 13.12.1985, UN-Dok. S/17659/Rev.1, S. 4 (Annex II: Replies from Member States. Israel, ­ 21.11.1985). 439  UN-Generalversammlung, Res. 3314 (XXIX), 14.12.1974, UN-Dok. A/RES/ 3314 (XXIX), Annex: Definition of Aggression; siehe auch noch S. 159 ff., 191 ff. 440  UN-Generalversammlung, Res. 2625 (XXV), 24.10.1970, UN-Dok. A/RES/ 2625 (XXV), siehe auch noch S. 109 ff., 158 f. 441  UN-Sicherheitsrat, Report of the Secretary-General in Pursuance of Paragraph 5 of SC Res. 573 (1985), 13.12.1985, UN-Dok. S/17659/Rev.1, S. 4 (Annex II: Replies from Member States. Israel, 21.11.1985); SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 193. 442  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 193.

130

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

aa) Sudan und Afghanistan: 1998 Am Vorabend der mit der Bush-Doktrin einhergehenden Antiterrorpolitik der USA443 stehen am 20.8.1998 getroffene Militärschläge der USA im Sudan und in Afghanistan.444 Diesen gingen am 7.8.1998 Anschläge auf die US-amerikanischen Botschaften in Nairobi (Kenia) und Dar-es-Salaam (Tansania) voraus, bei denen zahlreiche Personen, darunter auch zwölf US-Bürger, starben.445 Die USA führten die Anschläge auf al-Qaida und Osama bin Laden zurück und erklärten vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh: „In response to these terrorist attacks, and to prevent and deter their continuation, United States armed forces today struck at a series of camps and installations used by the Bin Ladin organization to support terrorist actions against the United States and other countries. In particular, […] a facility being used to produce chemical weapons in the Sudan and terrorist training and basing camps in Afghanistan.“446

Der Sudan erachtete das Vorgehen der USA als Aggression,447 während das Talibanregime – als nicht von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung Afghanistans – die Militärschlage als gegen das afghanische Volk gerichtet ansah.448 Ein nicht unwesentlicher Aspekt der Kontroverse, die sich um die Intervention rankt, betrifft zunächst die Faktenlage, insb. ob die bei Khartum zerstörte Arzneimittelfabrik tatsächlich der Herstellung chemischer Waffen diente, was der Sudan bestritt.449 Mit Blick auf die Territorialstaaten brachten die USA zum Ausdruck: 443  Vgl.

S.  5 f.

The White House, National Security Strategy of the USA, Sept. 2002,

444  Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 (161); vgl. Cannizzaro/Rasi, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 541 (550); Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (144 f.). 445  Murphy, ebd., S. 161; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 41; siehe als Reaktion hierauf UN-Sicherheitsrat, Res. 1189 (1998), 13.8.1998, UN-Dok. S/RES/1189 (1998). Zur fragl. Möglichkeit bewaffneter Angriffe auf diplomatische und konsularische Einrichtungen noch auf S. 217 f. 446  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 20.8.1998, UN-Dok. S/1998/780, S. 1. 447  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Sudan to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 21.8.1998, UNDok. S/1998/786, S. 2, 4. 448  Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 (164); Cannizzaro/Rasi, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 541 (546). 449  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Sudan to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 21.8.1998, UNDok. S/1998/786, Ziff. 10; Letter from the Permanent Representative of the Sudan to the UN addressed to the President of the Security Council, 24.8.1998, UN-Dok. S/1998/793; Letter from the Permanent Representative of the Sudan to the UN



B. Relevante Staatenpraxis131 „These attacks were carried out only after repeated efforts to convince the Government of the Sudan and the Taliban regime in Afghanistan to shut these terrorist activities down and to cease their cooperation with the Bin Ladin organization.“450

Daraus wurde nun die Formulierung einer Duldungspflicht in Anknüpfung an einen staatlichen Unwillen zur Bekämpfung von Terrorismus gefolgert.451 So erklärte auch der damalige Präsident der USA, William J. Clinton: „Afghanistan and Sudan have been warned for years to stop harboring and supporting these terrorist groups. But countries that persistently host terrorists have no right to be safe havens.“452

Beide Territorialstaaten erscheinen in dieser Lesart zwar als „Komplizen“.453 Ausdrücklich wurde auf den unwilling or unable-Standard dabei aber nicht zurückgegriffen. bb) Post 9/11: Operation Enduring Freedom Maßgeblich beeinflusst wurde die sich um die völkerrechtliche Zulässigkeit von Gewalt gegen nicht-staatliche Akteure rankende Debatte durch die Terroranschläge vom 11. September und die in Reaktion hierauf getroffenen Maßnahmen – zugespitzt in der sog. Bush-Doktrin, „[w]e will make no distinction between the terrorists who commited these acts and those who harbor them“454. Einhellig verurteilten Generalversammlung455 und Sicherheitsaddressed to the President of the Security Council (Annex), 16.11.1998, UN-Dok. S/1998/1069, S.  2 f. 450  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 20.8.1998, UN-Dok. S/1998/780, S. 1. 451  So Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 42; in diesem Sinne ist wohl auch Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549) zu verstehen; ausdrücklich auch Sharp, Chicago JIL 1 (2000), S. 37 (45). 452  US-Government Publishing Office, Public Papers of the Presidents of the United States: William J. Clinton (1998), Address to the Nation on Military Action Against Terrorist Sites in Afghanistan and Sudan, 20.8.1998, S. 1643 (1644), abrufbar unter: https://www.gpo.gov/fdsys/browse/collection.action?collectionCode=CPD& browsePath=1998 %2F08&isCollapsed=false&leafLevelBrowse=false&isDocument Results=true&ycord=488. 453  Cannizzaro/Rasi, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 541 (546). 454  The White House (President George W. Bush), Statement by the President in His Address to the Nation, 11.9.2001, abrufbar unter: https://georgewbush-white house.archives.gov/news/releases/2001/09/20010911-16.html. Siehe auch die Stellungnahme von James D. Cunningham bei UN-Sicherheitsrat, 56th Year, 4370th Meeting: 12.9.2001, UN-Dok. S/PV.4370, S. 7 f. 455  UN-Generalversammlung, Res. 56/1, 12.9.2001, UN-Dok. A/RES/56/1.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

rat456 die Anschläge, rekurrierten auf regionaler Ebene NATO457 und OAS458 auf ihre Mechanismen kollektiver Sicherheit, während zahlreiche Staaten den neuerlich ausgerufenen Kampf gegen den Terrorismus unterstützten.459 Vor diesem Hintergrund wurde angenommen, dass sich ein entsprechender Paradigmenwechsel vollzogen habe,460 spontan neues Völkergewohnheitsrecht entstanden sei,461 die Nationen der Welt einen „international constitutional moment“462 erführen oder sich gar ein „Grotianischer Moment“ ereignet habe.463

456  UN-Sicherheitsrat, Res. 1368 (2001), 12.9.2001, UN-Dok. S/RES/1368 (2001); Res. 1373 (2001), 28.9.2001, UN-Dok. S/RES/1373 (2001), S. 1. 457  Zur entsprechenden Stellungnahme des damaligen NATO-Generalsekretärs George Robertson siehe: https://www.nato.int/docu/speech/2001/s011002a.htm. Art. 5 Abs. 1 NATO-Vertrag (Nordatlantikvertrag v. 4.4.1949, BGBl. 1955 II S. 289, 293 (UNTS Bd. 34 S. 243; Bd. 126 S. 350; Bd. 243 S. 308) lautet: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen […] als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 [UNCh] anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet […].“ 458  OAS, Strengthening Hemispheric Cooperation to Prevent, Combat, and Eliminate Terrorism, Res. v. 21.9.2001, OAS Dok. OEA/Ser.F/II.23, RC.23/RES.1/01, ILM 40 (2001), S. 1270 (1271). Siehe hierzu Art. 3 Nr. 1 Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance v. 2.9.1947 (UNTS Bd. 21 S. 77): „The High Contracting Parties agree that an armed attack by any State against an American State shall be considered as an attack against all the American States and […] each one of the said Contracting Parties undertakes to assist in meeting the attack in the exercise of the inherent right of individual or collective self-defense recognized by Article 51 [UNCh].“ 459  Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 48; Byers, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 625 (629). Siehe auch die Stellungnahme des damaligen US-Außenministers Colin Powell, UN-Sicherheitsrat, 56th Year, 4413th Meeting: 12.9.2001, UN-Dok. S/PV.4413, S. 16 f. de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (98 f.) weist auf den Anschein hin, dass in diesem Fall die harbouring-Doktrin zum einzigen Mal auf einhellige Zustimmung gestoßen sei; vgl. ferner Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 314 ff., 319 f. Zu den problematischen Implikationen eines neu ausgerufenen „Krieges“ (gegen Terrorismus) für das Selbstverteidigungsrecht, z. B. eine zeitlich unbegrenzte Ausdehnung dieses Rechts, Delbrück, GYIL 44 (2001), S. 9 (18 f.). 460  Auf die vermeintliche Neuartigkeit der Bemühung des Selbstverteidigungsrechts weist Schrijver, NILR 48 (2001), S. 271 (275) hin. 461  Langille, Boston Coll. ICLR 26 (2003), S. 145 (154–156). 462  Slaughter/Burke-White, Harv. ILJ 43 (2002), S. 1 (2). 463  Scharf, Case W. Res. JIL 48 (2016), S. 15 (52); bestätigend Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (780); krit. dagegen Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (486 und f.) und Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (92, 143). Siehe auch ILC, Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Concl. 8 Ziff. 9: „[…] however, some pe-



B. Relevante Staatenpraxis133

Dies, mitsamt den unter der Bush-Administration außerordentlich weit gefassten exterritorialen Antiterrormaßnahmen, legt es nahe, das unwilling or unable-Konzept zumindest auch auf die Ereignisse vom 11. September zurückzuführen,464 wenngleich es nicht ausdrücklich bemüht wurde, als die USA am 7.10.2001 im Rahmen der Operation Enduring Freedom in Afghanistan intervenierten.465 An den UN-Sicherheitsrat gerichtet erklärten sie, vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh weitere Angriffe auf die USA vorbeugen und abschrecken zu wollen. Ferner hieß es in der Erklärung des Ständigen Vertreters der USA bei den Vereinten Nationen: „Since 11 September, my Government has obtained clear and compelling information that the Al-Qaeda organization, which is supported by the Taliban regime in Afghanistan, had a central role in the attacks. […] The attacks on 11 September 2001 and the ongoing threat to the United States and its nationals posed by the Al-Qaeda organization have been made possible by the decision of the Taliban regime to allow the parts of Afghanistan that it controls to be used by this organization as a base of operation. Despite every effort by the United States and the international community, the Taliban regime has refused to change its policy. From the territory of Afghanistan, the Al-Qaeda organization continues to train and support agents of terror […].“466

Vereinzelt wurde aus der engen Verbindung zwischen dem Taliban-Regime und al-Qaida abgeleitet, Osama bin Laden und andere al-Qaida-Anführer seien als staatliche Akteure anzusehen gewesen, was die Anschläge vom 11. September zu einem bewaffneten Angriff Afghanistans gemacht und eine expansivere, Privatakteure berücksichtigende Auslegung des bewaffneten Angriffs i. S. v. Art. 51 UNCh nicht erforderlich gemacht hätte.467 Andererseits wurde die Verantwortlichkeit Afghanistans für die von al-Qaida organisierten Anschläge insofern auf die Rolle des Taliban-Regimes zurückgeführt, als dieses das afghanische Staatsgebiet kontrollierte und zumindest Kenntnis der terroristischen Aktivitäten hatte.468 Diese Differenzierung ist der vorigen riod of time must elapse for a general practice to emerge; there is no such thing as ‚instant custom‘.“ 464  Scharf, ebd., S. 52 spricht genauer von einem „Grotian Moment that was, until the 2015 ISIS attacks, still one step away from coming to fruition.“ Siehe ferner Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). Siehe zur „maximalistischen“ Außenpolitik der Bush-Administration dies., AJIL 110 (2016), S. 646 (647 ff. sowie 651 f., 656, 661). 465  Vgl. auch Byers, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 625 (626). 466  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 7.10.2001, UN-Dok. S/2001/946, S. 1, auch im Hinblick auf die Erklärungen der USA vor ihrer wörtlichen Inbezugnahme. 467  Di Rattalma, IYIL 13 (2003), S. 59 (65 f., 68, 73). 468  Stahn, ZaöRV 62 (2002), S. 183 (215); Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (457) mit Verweis auf die wahrgenommene Stellung der Taliban als de facto-Regierung und

134

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Stellungnahme auch insofern eigen, als darin die Unterstützung und Zurverfügungstellung von Gebietsteilen durch das Taliban-Regime hervorgehoben wurde. So erschienen die Selbstverteidigungsmaßnahmen einerseits gegen al-Qaida und andererseits „against a country which was [willingly] harbour­ ing but not controlling them“ gerichtet gewesen zu sein.469 Insofern könnte im Grunde angesichts eines kollusiven Verhaltens zwischen Staat und Privatpersonen ein Fall territorialstaatlichen Unwillens angenommen werden, welcher die USA zu entsprechenden Selbstverteidigungsmaßnahmen in Afghanistan berechtigt haben könnte.470 Dabei wurden jedoch, wie bereits angedeutet, die Verbindungen zwischen dem Taliban-Regime und al-Qaida als durchaus nah ausgeprägt verstanden.471 Dies hat wiederum zur Prominenz der (nicht unumstrittenen) safe haven- bzw. safe harbour- oder harbour and support-Doktrin beigetragen.472 Explizit wurde der unwilling or unable-Standard in offiziellen Stellungnahmen zu dieser Zeit jedoch, anders als in den 2010er-Jahren,473 eigentlich nicht in Bezug genommen.474 die Beherbergung von al-Qaida; Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (36) mit dem Hinweis auf die Betonung einer substanziellen Unterstützung al-Qaidas durch die Taliban; vgl. auch Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (68 f.). 469  Byers, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 625 (628, der Klammerzusatz auf S. 634; i. Ü. auch in diesem Sinne S. 631, 633, 636, 638). Ein etwaiger unaware or unable-Standard sei auf dieser Grundlage mit Beginn der Operation Enduring Freedom im Rahmen des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts jedoch nicht formuliert worden, so Byers, ebd., S. 638. Mit dem Hinweis auf Parallelen zu den Interventionen im Sudan und in Afghanistan drei Jahre zuvor, Stahn, ZaöRV 62 (2002), S. 183 (215 f.). 470  Dies auch bei Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (69). 471  Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (619) mit dem Verweis auf aktive Unterstützungsleistungen des Taliban-Regimes; vgl. i. Ü. Jinks, Chicago JIL 4 (2003), S. 83 (84 ff., 89 f. hingegen relativierend); mit der Bejahung von „overall control“ (vgl. S. 165 ff. sogleich) in diesem Fall Stahn, Fl. F. World Aff. 27/2 (2003), S. 35 (47); auf eine enge Verbindung weist auch Tzimas, ZaöRV 78 (2018), S. 147 (166 f.) hin; vgl. auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (94). Mit einem kurzen Überblick zu den an dieser Stelle aufgeworfenen Unterschieden in der Literatur de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (28). 472  Hierzu noch S. 150 f., 158 ff. Siehe zu ihrem Verhältnis zum deutlich weiter gefassten unwilling or unable-Standard Hakimi, ILS 91 (2015), S. 1 (8 f., 12); vgl. auch Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (795 f., 796 ff.). 473  Siehe S.  114 ff. 474  Siehe aber eine Äußerung eines früheren Rechtsberaters des US-Außenministeriums (2005–2009), Bellinger III, Legal Issues in the War on Terrorism (Vortrag v. 31.10.2006) [Hervorh. P. L.]: „Why did we have a right to use military force? We were justified in using military force in self-defense against the Taliban because it had allowed al Qaida to use Afghanistan as an area from which to plot attacks and



B. Relevante Staatenpraxis135

cc) Anmerkung zur Tötung von Osama bin Laden: 2011 Die unter George W. Bush getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus wurden in der Zeit der Obama-Administration (2009–2017) fortgesetzt, wenn nicht sogar – richtet man den Fokus auf gezielte Tötungen, v. a. durch den Einsatz von Drohnen475 – noch intensiviert.476 Dabei fand neben der Tötung von Anwar al Awlaki am 30.9.2011 im Jemen v. a. die Tötung von Osama bin Laden am 2.5.2011 im pakistanischen Abbottabad größte Aufmerksamkeit.477 Gerade dieser Fall wird bisweilen als Präzedenz des unwilling or unable-Konzepts eingeordnet.478 Präsident Obama erklärte noch am Abend der Tötung bin Ladens: „For over two decades, bin Laden has been al Qaeda’s leader and symbol, and has continued to plot attacks.“479

Entsprechend erklärte auch zwei Tage später Jay Carney, der Pressesprecher des Weißen Hauses, unter Bezugnahme auf die Erklärung von Barack H. Obama die Operation ohne weiteres für rechtmäßig: „We acted in the nationʼs self-defense.“480 Die als Operation Neptune Spear bekannte Mission wird jedoch von gewissen Unklarheiten begleitet, die zumindest ihre Einordnung im Rahmen des unwilling or unable-Konzepts nicht unerheblichen Zweifeln aussetzt. Dies liegt einerseits an dem Umstand, dass der Fall im Sicherheitsrat nicht debattiert wurde und die USA eine Anzeige i. S. v. Art. 51 S. 2 Hs. 1 UNCh train in the use of weapons and it was unwilling to prevent al Qaida from continuing to do so.“ Deeks, AJIL 110 (2016), S. 646 (656) verweist auf die prinzipielle Fortsetzung einer auf dem unwilling or unable-Standard fußenden Außenpolitik unter der Obama-Administration. Siehe Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1122 unter Fn. 157, wonach der unwilling or unable-Standard funktional an die Stelle der safe haven- bzw. safe harbour-Doktrin getreten sei. 475  Umfassend dazu Städele, Völkerrechtliche Implikationen des Einsatzes bewaffneter Drohnen (2014). 476  McCrisken, IA 87 (2011), S. 781 (793); Höfer, Gezielte Tötungen (2013), S. 4. 477  Mit diesen Fällen setzt sich näher Kretzmer, in Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 760 ff. auseinander, siehe zu den vorliegend wesentlichen Details S.  760–763 a. a. O. 478  Das Bsp. leitet nicht zuletzt Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (485, siehe auch 549) ein; siehe auch die Einordnung bei Goldsmith, Harv. ILJ 57 (2016), S. 455 (462, mit Fn. 34). 479  The White House (Office of the Press Secretary), Remarks by the President on Osama bin Laden, 2.5.2011, abrufbar unter: https://obamawhitehouse.archives.gov/ the-press-office/2011/05/02/remarks-president-osama-bin-laden. 480  The White House (Office of the Press Secretary), Press Briefing by Press Secretary Jay Carney, 4.5.2011, abrufbar unter: https://obamawhitehouse.archives.gov/ the-press-office/2011/05/04/press-briefing-press-secretary-jay-carney-542011.

136

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

unterließen.481 Auf der anderen Seite erscheinen die Stellungnahmen Pakistans widersprüchlich, wurde die Mission doch zunächst vom damaligen Premierminister Yousaf Raza Gilani begrüßt und erst später vom pakistanischen Außenministerium als nicht autorisiert kritisiert.482 Die durch diesen Umstand angeregten Spekulationen haben etwa zu dem nicht fernliegenden Vorschlag geführt, die Operation im Rahmen der Intervention auf Einladung zu verorten, sodass schon gar kein Raum für den Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht bestünde.483 Die Diskussion des Falls wird aber in weiten Teilen von der Annahme geprägt, dass sich dieser als Ausprägung einer außenpolitischen Grundlinie der Obama-Administration erweisen würde, u. U. auf den unwilling or un­ able-Test rekurrieren zu können:484 Zurückgegriffen wird dafür etwa auf Blogbeiträge bzw. Reden von Harold H. Koh, damaliger Rechtsberater des US-Außenministeriums,485 von John O. Brennan in seiner Funktion als Berater in Belangen des Heimatschutzes486 oder auf Äußerungen von Barack H. Oba­ ma im Präsidentschaftswahlkampf 2008.487 All dies ändert jedoch

481  Kretzmer,

in Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 760 (763, 765). Kretzmer, ebd., S. 764. 483  So Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 64. Allg. hierzu schon auf S. 72 ff. 484  Siehe Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (485, der erste Absatz sowie Fn. 2) mit Blick auf Stellungnahmen Obamas im Präsidentschaftswahlkampf 2008. Kretzmer, in Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 760 widmet sich dem unwilling or unable-Konzept auf S. 777 ff. recht umfangreich, stellt aber ebenso auf S. 770 (unter Fn. 72) fest: „The last point [that since Pakistan was unwilling or unable to constrain that threat the United States was entitled to use lethal force against Bin Laden in Pakistani territory] was not expressly raised in relation to the killing of Bin Laden, but is the general position of the United States […].“ 485  Siehe Koh, The Obama Administration and International Law (Vortrag v. 25.3.2010) [Hervorh. P. L.]: „Of course, whether a particular individual will be targeted in a particular location will depend upon considerations specific to each case, including those related to the imminence of the threat, the sovereignty of the other states involved, and the willingness and ability of those states to suppress the threat the target poses.“ Diesen Abschnitt zitiert, neben weiteren, ders., The Lawfulness of the U.S. Operation Against Osama bin Laden, OpinioJuris: 19.5.2011, ohne jedoch einen näheren Bezug zum fraglichen Zustand Pakistans aufzubauen. 486  Brennan, Strengthening our Security by Adhering to our Values and Laws (Vortrag v. 16.9.2011) [Hervorh. P. L.]: „And as President Obama has stated on numerous occasions, we reserve the right to take unilateral action if or when other governments are unwilling or unable to take the necessary actions themselves.“ Die Äußerung steht a. a. O. jedoch im Zusammenhang mit der Erweiterung militärischer Maßnahmen über sog. hot battlefields hinaus. 487  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (485); Kretzmer, in Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 760 (765–767, 770). 482  Siehe



B. Relevante Staatenpraxis137

nichts an dem Umstand, dass die USA ihr Vorgehen nur spärlich begründeten und auf Umstände eines Unwillens oder einer Unfähigkeit des Territorialstaats nicht ausdrücklich Bezug nahmen; es ist diese Unbestimmtheit, die Spekulationen über die Rechtmäßigkeit der Mission erst ermöglichten.488 Das heißt jedoch auch, dass sich hier eine etwaige Relevanz des unwilling or unable-Konzepts nur vor dem Hintergrund der allgemeineren US-Außenpolitik ergeben kann. Eine induktive Generalisierung scheint hingegen nicht möglich zu sein.489 Daher kann der Fall auch keinen wirklichen Beitrag zur Aufklärung von Begriff und dogmatischer Funktion des unwilling or unableStandards leisten.490 c) Russische Interventionen in Georgien (ab 1999) Die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 legte diverse, üblicherweise historisch tief verwurzelte Konflikte zwischen und in ihren Sukzessorstaaten offen.491 Im Fall Georgiens lassen sich entsprechende Spannungen bis heute etwa für die rechtlich eigentlich Georgien zugehörigen, de facto aber unabhängigen und seit 2008 von Russland als Staaten anerkannten Regime Ab488  Kretzmer, ebd., S. 780. Bezeichnend hierfür erscheint die Feststellung Ledermans, The U.S. Perspective on the Legal Basis for the bin Laden Operation, OpinioJuris: 24.5.2011: „What is truly distinctive about the bin Laden case […] is not the absence of legal explanation (after all, military forces rarely provide a public legal account when they use force against a particular target in an armed conflict), but instead that the Executive has been so unusually forthcoming about its views on the legal aspects of the bin Laden operation.“ Siehe weiterhin Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (626, 637). 489  Vgl. Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), S. 504 (505); siehe auch S. 87 f. zuvor. 490  Allenfalls theoretisch ließe sich also andenken, ob Pakistan zur Festnahme bin Ladens unwillig oder unfähig war. Hinderlich ist letztlich jedoch der Mangel an konkreteren Bezügen in den Erklärungen der USA. Diese Unklarheiten betreffen auch weitere Militäroperationen der USA: So bestehen etwa in der Zeit nach dem 11. September widersprüchliche Angaben darüber, ob Pakistan vglb. Maßnahmen auf seinem Staatsgebiet grundsätzlich zugestimmt hat, mit einem Überblick und jeweils w.N. Henriksen, JCSL 19 (2014), S. 211 (234 ff.); Anhaltspunkte für derartige, jedoch nicht von allen Zweifeln befreite Zustimmungen bestehen ebenfalls im Hinblick auf anderweitige US-Militärmaßnahmen in den frühen 2010er-Jahren im Jemen (ebd., S. 242); auch in Somalia konnten sich die USA in den frühen 2010er-Jahren wohl auf eine Zustimmung stützen (ebd., S. 244). Entsprechende Unklarheiten begegnen wiederum der Festnahme von Abu Anas al-Liby Anfang Oktober 2013 in Libyen durch die USA (ebd., S. 245 ff.). Im Allg. zur Intervention auf Einladung bereits auf S.  72 ff. 491  Cutts, Case W. Res. JIL 40 (2007), S. 281 (282); Bagdasaryan/Petrova, RLJ 5 (2017), S. 98 (99); vgl. auch Luchterhandt, AVR 46 (2008), S. 435 (436 ff. und passim).

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

chasien und Süd-Ossetien nachvollziehen.492 Anfang der 1990er-Jahre kam es u. a. zu Kämpfen in Süd-Ossetien, von 1992–1993 zum Georgisch-Abchasischen Krieg, der zur Errichtung der UNOMIG führte, und im August 2008 zum fünftägigen Georgien-Krieg.493 In diesem ohnehin angespannten Zeitraum kam es zu mehreren militärische Interventionen Russlands. So kritisierte Georgien bereits im November 1999 den Beschuss seines Grenzgebiets durch russische Kampfhubschrauber als Aggression,494 was Russland hinsichtlich ausstehender Sachverhaltsermittlungen zurückwies – vielmehr sei man bereit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenzuarbeiten.495 Nur einen Monat später sah sich Georgien jedoch dazu veranlasst, Vorwürfe Russlands zurückzuweisen, tschetschenische Terroristen durch die Zurverfügungstellung von sicheren Korridoren, Waffen oder finanziellen Mitteln zu unterstützen.496 Vergleichbare Vorwürfe verdichteten sich spätestens 2001, als Ende Oktober und Ende November die russische Luftwaffe das georgische Staatsgebiet unter Beschuss nahm, was Georgien jeweils als Aggression einstufte.497 In der Folge erklärte Russland: „In supporting Chechen and international terrorists, the Georgian side provoked fighting in Abkhazia, Georgia, which […] has further complicated efforts to reach an agreement with Sukhumi [die Hauptstadt Abchasiens, Anm. P. L.].“498

Lässt sich auf diesem Weg eine Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt noch allenfalls erahnen, fiel die russische Stellungnahme nach 492  Cutts,

ebd., S. 283; Luchterhandt, ebd., S. 436. ebd., S. 289; Luchterhandt, ebd., S. 435, 445; Domrin, Transn. L. & Cont. P. 15 (2006), S. 515 (519); UN-Sicherheitsrat, Res. 858 (1993), 24.8.1993, UNDok. S/RES/858 (1993). 494  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 18.11.1999, UNDok. S/1999/1181, S. 2. 495  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 24.11.1999, UN-Dok. S/1999/1196, S. 2. 496  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 27.12.1999, UN-Dok. S/1999/1277, S.  2 f. 497  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the President of the Security Council (Annex), 29.10.2001, UNDok. S/2001/1022, S. 2; Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 28.11.2001, UN-Dok. S/2001/1124, S. 2. 498  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 16.11.2001, UNDok. S/2001/1085, S. 2. 493  Cutts,



B. Relevante Staatenpraxis139

Luftschlägen auf das georgische Staatsgebiet am 29. und 30.7.2002499 nun um einiges deutlicher aus: „The situation in the area of the Russian-Georgian border has suddenly become exacerbated […]. From their bases located in Georgia’s Pankisi Gorge, Chechen fighters and international terrorists have made armed attempts to penetrate the territory of the Russian Federation. These events provide […] confirmation of the fact that Tbilisi’s policy of appeasing the terrorists and attempting to part with them ‚in a friendly manner‘ is resulting in a new wave of terror, loss of human life and serious destabilization in the Caucasus and in Georgia itself. It should be pointed out that the Georgian authorities, who have repeatedly assured the world community of their readiness to restore by themselves order in the Pankisi Gorge, have once again acknowledged their unwillingness to take practical measures to halt terrorism. To all appearances, they are unable and really do not wish to do that there. […] Moscow considers that the Georgian authorities are obliged to take effective measures to destroy the terrorist bases in the Pankisi Gorge. The responsibility for the consequences of the armed incursion by bandits into the territory of the Russian Federation lies fully with the Georgian side.“500

Ferner wurden das Pankissi-Tal und andere Grenzgebiete, nachdem es auch im August zu Militärschlägen kam,501 von Russlands Präsidenten Wladimir W. Putin als Räume bezeichnet, die terroristische Operationen ermöglichten. Allgemein erklärte Putin: „The continued existence in separate parts of the world of territorial enclaves outside the control of national governments, which, owing to the most diverse circumstances, are unable or unwilling to counteract the terrorist threat is one of the reasons that complicate efforts to combat terrorism effectively.“502

Konkret wurde nun darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich terroristischer Gefahren nur schwerlich zu einer Kooperation der beiden Staaten gekommen sei, Georgien die Festnahme und Strafverfolgung von Terroristen nicht ange499  Georgien kritisierte dies als aggressiven Akt, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the President of the Security-Council (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/851, S. 2. 500  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2 [Hervorh. P. L.]. 501  Siehe UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 23.8.2002, UN-Dok. S/2002/950, S. 2. 502  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 12.9.2002, UNDok. S/2002/1012, S. 2 [Hervorh. P. L.].

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

strengt habe und auch die Auslieferung von Terroristen unterblieben sei.503 Insofern wurde angedroht: „If the Georgian leadership is unable to establish a security zone in the area of the Georgian-Russian border, continues to ignore [UN-Security Council Res. 1373 (2001)], and does not put an end to the bandit sorties and attacks on adjoining areas in the Russian Federation, we reserve the right to act in accordance with Article 51 [UNCh] […].“504

Russland begründete damit seine in Selbstverteidigung ergriffenen exter­ ritorialen militärischen Maßnahmen mit dem unwilling or unable-Konzept, wobei Unwillen und Unfähigkeit kaum voneinander abgegrenzt wurden. Anknüpfend an die Erklärung Putins liegt es aber nahe, unterlassene Strafverfolgungsmaßnahmen und unterlassene Auslieferungen von Terroristen, aber auch Nichtbefolgungen einschlägiger Sicherheitsratsresolutionen als Vorwurf staatlichen Unwillens zu interpretieren.505 Die dogmatische Funktion des Standards wurde indes, wenngleich auf die Verantwortlichkeit Georgiens für die Folgen eines bewaffneten Einfalls von Banditen in das russische Staatsgebiet verwiesen wurde,506 kaum thematisiert: Im Fokus stand v. a. die Versicherung, in solchen Fällen zu Selbstverteidigungsmaßnahmen berechtigt zu sein.507 Georgien auf der anderen Seite kritisierte „the liberal, if mildly put, interpretation of Article 51 [UNCh]“, welche als vollkommen inakzeptabel zurückgewiesen wurde.508 503  UN-Sicherheitsrat,

ebd., UN-Dok. S/2002/1012, S. 2 ff. ebd., UN-Dok. S/2002/1012, S. 3 [Hervorh. P. L.]. Mit Verweis auf Res. 1373 (2001) des Sicherheitsrats auch schon Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2. 505  Dagegen Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (257), welche mit Blick auf gewisse von Georgien getroffene Maßnahmen einen Fall staatlicher Unfähigkeit annimmt; instruktiv i. Ü. a. a. O. S.  252 ff. 506  Siehe wieder UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the SecretaryGeneral (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2. 507  Hinzuweisen ist auf eine maßnahmenorientierte Erklärung Putins im Zusammenhang mit Art. 51 UNCh, welche an die Figur sog. hot pursuits erinnert (hierzu schon S. 93 f., 97 ff.): „I ask the General Staff to announce proposals on the possi­ bility and expediency of carrying out strikes against reliably identified terrorist bases during pursuit operations.“, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 12.11.2002, UN-Dok. S/2002/1012, S. 3. 508  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Georgia to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 16.9.2002, UN-Dok. S/2002/1035, S. 2. Ferner Identical letters from the Permanent Representative of Georgia to the UN 504  UN-Sicherheitsrat,



B. Relevante Staatenpraxis141

d) Militärische Aktivitäten Kolumbiens in Ecuador: 2008 Erwähnt sei noch die militärische Intervention Kolumbiens in Ecuador am 1.3.2008 (Operation Phoenix), die vor dem Hintergrund des unwilling or unable-Konzepts eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit erlangt hat.509 Hier bombardierten kolumbianische Militärkräfte in Ecuador ein grenznahes und lokal schwer zugängliches Camp der sich zu dieser Zeit im Guerillakampf mit Kolumbien befindenden FARC; dabei wurde Raúl Reyes getötet, ein hochrangiges FARC-Mitglied und Ziel der Operation. Kolumbianische Bodentruppen betraten daraufhin ecuadorianisches Staatsgebiet, stellten Dokumente und Datenträger sicher und überführten den Leichnam Reyes’ nach Kolumbien.510 Die Operation steht im Kontext eines jahrzehntelangen innerkolumbianischen Konflikts, in dem die FARC 2007 allein in der zweiten Jahreshälfte den Tod von ca. 71 Soldaten und zweier Polizisten Kolumbiens verursachte.511 Nach der Operation verwies die Regierung Kolumbiens auf ihr Selbstverteidigungsrecht und sprach von einer ursprünglich vom kolumbianischen Territorium ausgehenden Verfolgung (hot pursuit).512 Ecuador beklagte dagegen eine Verletzung seiner Souveränität und territorialen Integrität.513 Am 5.3.2008 bezeichnete die OAS die Intervention als „a violation of the sovereignty and territorial integrity of Ecuador and of principles of international law.“514 So äußerte sich auch die Rio-Gruppe, wobei es in ihrer Erklärung hieß: addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 16.9.2002, UN-Dok. S/2002/1033. 509  Gray, International Law and the Use of Force (3. Aufl. 2008), S. 225; Pinto/ Kotlik, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 702 (702). Dem Fall widmen sich ausgiebiger Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (533–546) und Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 216–229. 510  Nach Deeks, ebd., S. 534, 538; Dau, ebd., S. 216; Pinto/Kotlik, in: Ruys et al. (Hrsg.), ebd., S. 702 f.; OAS, Report of the OAS Commission that Visited Ecuador and Colombia, S. 6. 511  Dau, ebd., S. 218 f. 512  Dau, ebd., S. 217; Pinto/Kotlik, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 702 (704); OAS, Report of the OAS Commission that Visited Ecuador and Colombia, S. 7. 513  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Ecuador to the UN addressed to the President of the Security Council, 3.3.2008, UN-Dok. S/2008/146, S. 1; siehe auch Identical letters from the Permanent Representative of Ecuador to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 14.3.2008, UN-Dok. S/2008/177, passim. 514  Permanent Council of the OAS, Res. 930 (1632/08): Convocation of the Meeting of Consultation of Ministers of Foreign Affairs and Appointment of a Commis-

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

„We note […] the full apology that President Álvaro Uribe [der damalige Präsident Kolumbiens, Anm. P. L.] offered to the Government and people of Colombia, for the violation on March 1, 2008, of the territory and sovereignty of his sister nation by Colombian security forces. We also acknowledge the pledge by President Álvaro Uribe, on behalf of his country, that these events will not be repeated under any circumstances, in compliance with Articles 19 and 21 of the OAS Charter.“515

Zwar wurde eine Rechtfertigung Kolumbiens mit Blick auf etwaige Verbindungen zwischen der FARC und ecuadorianischen Regierungskreisen, gestützt durch die vor Ort gesicherten Dokumente und Datenträger, unter dem Gesichtspunkt eines territorialstaatlichen Unwillens bzw. angesichts der schweren territorialen Beherrschbarkeit des im Urwald gelegenen Gebiets als Fall einer etwaigen staatlichen Unfähigkeit diskutiert.516 Doch die Abwesenheit einer nur impliziten Bezugnahme Kolumbiens auf das unwilling or un­ able-Konzept, v. a. aber die kolumbianische Bekräftigung, das fragliche Verhalten in Zukunft nicht mehr zu wiederholen, legen es nahe, dem Fall keine allzu große Bedeutung für das untersuchte Konzept beizumessen.517

sion, 5.3.2008, OAS Dok. CP/RES. 930 (1632/08); auch bei OAS, Report of the OAS Commission that Visited Ecuador and Colombia, Annex 1, S. 13 (14). 515  Unter OAS, ebd., Annex 2: Declaration of the Heads of State and Government of the Rio Group on the Recent Events Between Ecuador and Colombia, 7.3.2008, S. 17 f., in Bezug genommen Ziff. 3 f., i. Ü. Ziff. 2. Der dabei referenzierte Art. 19 OAS-Charta statuiert ein umfassendes Interventionsverbot, Art. 21 OAS-Charta hingegen die Unverletzlichkeit staatlicher Territorien, ihrerseits vorm. Art. 15 und 17 der Charter of the Organization of American States v. 30.4.1948, UNTS Bd. 119 S. 3, modifiziert durch das Protocol of Amendment to the Charter of the Organization of American States (Protocol of Buenos Aires) v. 27.2.1967, UNTS Bd. 721 S. 324. 516  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (540–542); bejahend Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 226; überblickshalber Pinto/Kotlik, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 702 (709 f.). 517  Ersteres räumt Deeks, ebd., S. 539 auch ein. Entsprechend ist diese Fallstudie auch weitgehend im Konjunktiv gehalten (siehe nur S. 541) und schließt nach einem ausführlichen Versuch, die „Faktoren“ des unwilling or unable-Tests (S. 519 ff.) auf diesen Fall anzuwenden (S. 533) mit dem eher ernüchternden Ergebnis: „Virtually none of the information discussed […] came to light in Colombia’s explanation of its use of force, in the subsequent bilateral exchanges […], or in the discussion at the OAS.“ (S. 545). Dau, ebd., S. 227 f. kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass es an der Gegenwärtigkeit eines bewaffneten Angriffs fehle. Der insofern aufgebrachte Aufwand zur Ermittlung eines Unwillens oder einer Unfähigkeit Ecuadors scheint insofern nur bedingt Früchte zu tragen. Seine bloß abstrakte Bejahung ohne Rückhalt in belastbaren Stellungnahmen Kolumbiens läuft zudem Gefahr, eine Staatenpraxis auszuweisen, die so nicht relevant ist. Es kann, wie eingangs betont wurde (S. 87 f.), also nicht darauf ankommen, in welchen Fällen sich Staaten auf den unwilling or unable-Test hätten berufen können, sondern wann dies tatsächlich geschehen ist.



B. Relevante Staatenpraxis143

3. Sonstige Fälle Zuletzt sind einige Fälle auszuweisen, die mit dem unwilling or unableStandard zwar assoziierbar erscheinen,518 im Weiteren jedoch weniger in den Fokus gestellt werden sollen. Portugals Interventionen in Sambia, Guinea und im Senegal (1969–1971): Von 1969 bis 1971 ging Portugal davon aus, dass organisierte Rebellengruppen von Sambia, Guinea und dem Senegal aus das je angrenzende portugiesische Territorium angegriffen hätten, was eine militärische Intervention zu Selbstverteidigungszwecken erfordert hätte.519 Portugal wies z. B. darauf hin, dass Sambia verpflichtet sei, die Nutzung seines Territoriums als Sprungbrett für gegen fremde Territorien gerichtete feindliche Handlungen zu unterbinden.520 In diese Richtung ging auch der Vorwurf an Guinea, (Privat-)Organisationen auf seinem Territorium dazu autorisiert zu haben, gewaltsam gegen Portugiesisch-Guinea (heute Guinea-Bissau) vorzugehen,521 oder die Ansicht, Senegal unterstütze die als terroristische Organisation eingestufte PAIGC.522 Da die portugiesischen Stellungnahmen aber nicht explizit auf den unwilling or unable-Standard zurückgriffen und der Sicherheitsrat das Vorgehen Portugals in allen Fällen verurteilte,523 können diese Fälle von einer weiteren Berücksichtigung ausgenommen werden.524 Südafrika–Angola (1978–1982): Von 1978 bis 1982 sah sich Angola einer Vielzahl militärischer Interventionen Südafrikas ausgesetzt.525 Südafrika beinsg. Deeks, ebd., S. 549 f. Self-Defense (1996), S. 179; Szabó, Anticipatory Action in SelfDefence (2011), S. 208; Deeks, ebd., S. 549. 520  UN-Sicherheitsrat, SCOR 24th Year, 1486th Meeting: 18.7.1969, UN-Dok. S/ PV.1486, Ziff. 69; zur gesamten Stellungnahme des portugiesischen Vertreters ebd., Ziff.  61 ff. 521  UN, Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR, 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 595 (1522nd Meeting: 15.12.1969), siehe ferner auch Ziff. 609. 522  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Charge DʼAffaires a.i. of the Permanent Mission of Portugal to the UN addressed to the President of the Security Council, 10.7.1971, UN-Dok. S/10255, S. 1 f. 523  UN-Sicherheitsrat, Res. 268 (1969), 28.7.1969, UN-Dok. S/RES/268 (1969) (Sambia); Res. 275 (1969), 22.12.1969, UN-Dok. S/RES/275 (1969) (Guinea); Res. 273 (1969), 9.12.1969, UN-Dok. S/RES/273 (1969) (Senegal); Res. 294 (1971), 15.7.1971, UN-Dok. S/RES/294 (1971) (Senegal). 524  Siehe dagegen jedoch Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). 525  Siehe nur UN, Report of the Security Council (16.6.1978–15.6.1979), GAOR 34th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/34/2, S. 37 ff.; Report of the Security Council (16.6.1981–15.6.1982), GAOR, 37th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/37/2, S.  30 ff.; Deeks, ebd., S. 549. 518  Vgl.

519  Alexandrov,

144

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

gründete dies i. d. R. mit einem Verweis auf das Erfordernis, Südwestafrika (heute Namibia) vor terroristischen Bedrohungen der mitunter von angolanischem Staatsgebiet aus operierenden SWAPO zu schützen.526 Auf einen spezifischen Unwillen oder eine Unfähigkeit Angolas rekurrierte Südafrika jedoch allenfalls implizit. Repräsentativ erscheint z. B. die folgende Formulierung: „South Africa has no choice but to continue to eradicate threats from countries which openly harbour terrorists and make their territories available for attacks against South West Africa/Namibia.“527

Hinzu kommt, dass der Sicherheitsrat, so er in dieser Zeit hiermit befasst wurde, bis auf eine Ausnahme528 Interventionen Südafrikas verurteilte und als Aggression einstufte.529 Äußerst fraglich erscheint auch das Ziel, Südwestafrika bzw. Namibia vor terroristischen Aktionen der SWAPO zu schützen. Denn schon 1966 hatte die Generalversammlung das ursprünglich aus Art. 22 Versailler-Vertrag530 resultierende Mandat Südafrikas zur Verwaltung Südwestafrikas für beendet erklärt.531 1971 erklärte der IGH die fortwährende Präsenz Südafrikas in Namibia für illegal532 und die SWAPO fand schließlich 1973 die Anerkennung der Generalversammlung als Repräsentantin des namibischen Volkes.533 Auch der Fall Angolas kann daher für Begriff

526  Erklärungen Südafrikas verwiesen v. a. hierauf und auf die Verantwortlichkeit der SWAPO, siehe UN-Sicherheitsrat, Letter from the Minister of Foreign Affairs of South Africa addressed to the President of the Security Council, 19.3.1979, UN-Dok. S/13180 (Annex), S. 1 f.; Letter from the Minister of Foreign Affairs of South Africa addressed to the Secretary-General, 5.11.1979, UN-Dok. S/13608 (Annex), S. 2; Letter from the Minister of Foreign Affairs and Information of South Africa addressed to the President of the Security Council, 27.6.1980, UN-Dok. S/14028 (Annex), S. 1 f.; Letter from the Permanent Representative of South Africa to the UN addressed to the President of the Security Council, 31.3.1982, UN-Dok. S/14937. 527  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/14028, S. 2 [Hervorh. P. L.]. 528  UN, Report of the Security Council (16.6.1981–15.6.1982), GAOR 37th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/37/2, S. 30 (31 f., insb. Ziff. 460, 465 f., 469). 529  UN-Sicherheitsrat, Res. 447 (1979), 28.3.1979, UN-Dok. S/RES/447 (1979), Ziff. 1 f.; Res. 454 (1979), 2.11.1979, UN-Dok. S/RES/454 (1979), Ziff. 1, 4; Res. 475 (1980), 27.6.1980, UN-Dok. S/RES/475 (1980), Ziff. 1–3. 530  Siehe Völkerbundsatzung (im Rahmen der Pariser Vorortverträge) v. 28.4.1919 unter RGBl. 1919 S. 738–741. 531  UN-Generalversammlung, Res. 2145 (XXI), 27.10.1966, UN-Dok. A/RES/2145 (XXI); siehe auch UN-Sicherheitsrat, Res. 276 (1970), 30.1.1970, UN-Dok. S/RES/ 276 (1970), Ziff. 2 und 4. 532  IGH (Continued Presence of South Africa in Namibia), ICJ Rep. 1971, S. 16 (Ziff. 49, 133). 533  UN-Generalversammlung, Res. 3111 (XXVIII), 12.12.1973, UN-Dok. A/RES/ 3111 (XXVIII), Ziff. I/2.



B. Relevante Staatenpraxis145

und Funktion des unwilling or unable-Konzepts keinen nennenswerten Beitrag leisten. Zu gewissen militärischen Aktivitäten im Kongo (ab 1998): In der DR Kongo kam es in den späten 1990er-Jahren534 zu ausgreifenden militärischen Auseinandersetzungen, die sich insb. zwischen der DR Kongo (nebst Alliierten) sowie Uganda und Ruanda abspielten, und i. Ü. die Tätigkeiten diverser Rebellengruppen einschlossen.535 Neben der Rolle Ruandas536 erscheint dabei v. a. auch das von der DR Kongo als Aggression erachtete Vorgehen der Republik Uganda einer Hervorhebung wert:537 Diese initiierte 1998 die Ope534  Die Region stand noch unter den Folgewirkungen des Völkermords in Ruanda, S. 55 f. zuvor unter Fn. 58. 535  Ntoubandi, AHRLJ 7 (2007), S. 162 (163 f.). 536  Am 30.7.2002 erreichten die DR Kongo und Ruanda ein Friedensabkommen, das zum Rückzug ruandischer Truppen führte und das Problem bewaffneter Rebellengruppen (der Interahamwe und der ex-FAR, zwei Hutu-assoziierte Gruppen) adressierte (UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of South Africa to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.8.2002, UN-Dok. S/2002/914, Annex, siehe etwa Ziff. 5 und 6). Doch schon 2004 intervenierte Ruanda in der DR Kongo, was mit Bedrohungen in Verbindung gebracht wurde, die von besagten Rebellengruppen ausgehen sollten (UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Democratic Republic of the Congo to the UN addressed to the President of the Security Council, 27.4.2004, UN-Dok. S/2004/327, S. 1 f.; Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Democratic Republic of the Congo to the UN addressed to the President of the Security Council, 1.12.2004, UN-Dok. S/2004/935; Letter from the Chargé dʼaffaires ad interim of the Permanent Mission of the Democratic Republic of the Congo to the UN addressed to the President of the Security Council, 6.12.2004, UN-Dok. S/2004/949 (Annex), S. 3; UNYB 58 (2004), S. 123, 133; vgl. Gray, International Law and the Use of Force (2008), S. 72; Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549); vgl. auch Hartwig, ZaöRV 66 (2006), S. 985 (1034)). Die Konstellation erscheint prinzipiell typisch für gegen Privatpersonen gerichtete Selbstverteidigungsmaßnahmen, zumal es der kongolesischen Regierung nach den kriegerischen Auseinandersetzungen der Vorjahre schwerfiel, das Staatsgebiet zu kontrollieren, auf dem es auch nach 2002 noch zu Kämpfen bewaffneter Milizen kam (Gray, ebd., S. 72; so hielt auch noch UN-Sicherheitsrat, Res. 1565 (2004), 1.10.2004, UN-Dok. S/RES/1565 (2004), Ziff. 15 u. a. die DR Kongo dazu an, „to ensure that its territory is not used to infringe the sovereignty of the others […].“) Ruanda bestritt jedoch die Präsenz seiner Militärkräfte im Kongo (UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Rwanda to the UN addressed to the President of the Security Council, 29.4.2004, UN-Dok. S/2004/335, S. 1 f.; Letter from the Permanent Representative of Rwanda to the UN addressed to the President of the Security Council, 6.12.2004, UN-Dok. S/2004/951 (Annex), Ziff. 1). Der Sicherheitsrat forderte Ruanda schließlich zum Rückzug seiner Truppen auf (UN-Sicherheitsrat, Statement by the President of the Security Council, 7.12.2004, UN-Dok. S/PRST/2004/45; siehe auch Gray, ebd., S. 72). 537  Zu den Umständen der von der DR Kongo getroffenen Annahme einer Aggression, auch im Verfahren vor dem IGH, Green, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 575 (577 f.).

146

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

ration Safe Haven, in deren Zuge sie, mangels effektiver Kontrollausübung der kongolesischen Regierung über das gesamte eigene Staatsgebiet, exterritorial ihre Sicherheitsinteressen militärisch zu schützen suchte, und zwar: „To enable UPDF neutralize Uganda dissident groups which have been receiving assistance from the Government of the DRC and the Sudan. To ensure that the political and administrative vacuum, and the instability caused by the fighting between the rebels and the Congolese Army and its allies do not adversely affect the security of Uganda. […] To be in position to safeguard the territory integrity of Uganda against irresponsible threats of invasion from certain forces.“538

Dabei wurden nun z. B. die Aktivitäten der Rebellengruppe ADF im Hinblick auf die territorialstaatliche Verfassung dahingehend beschrieben, dass diese „the incapacity of the Congolese Armed Forces“ ausgenutzt und so an Uganda grenzende Gebietsteile kontrolliert hätten, während kongolesische Militäreinheiten auf urbane Areale beschränkt gewesen seien, „thus giving the ADF rebels enough room to establish training bases, hospitals and operational centres.“539 Uganda argumentierte nun: „armed attacks by armed bands whose existence is tolerated by the territorial sovereign generate legal responsibility and therefore constitute armed attacks for the purpose of Article 51. And thus, there is a separate […] standard of responsibility, according to which a failure to control the activities of armed bands, creates a susceptibility to action in self-defence by neighbouring States.“540

Insofern wurde der unwilling or unable-Standard allenfalls implizit referenziert. Der IGH entschied letztlich jedoch, dass vorliegend die Voraussetzungen zur Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nicht vorgelegen hätten;541 der Sicherheitsrat hatte daneben Uganda und Ruanda bereits 2000 zum Rückzug ihrer Truppen aufgefordert und ihnen eine Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der DR Kongo zugewiesen.542 538  Nach IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 109, im wiedergegebenen Dokument Nr. 2, 3, 5, i. Ü. Ziff. 143; Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (258); ferner Green, ebd., S. 580 ff. 539  ICG, North Kivu, into the Quagmire? (1998), S. 7; IGH, ebd., Ziff. 135. 540  IGH (Armed Activities), Oral Proceedings: Verbatim record 2005/7, 18.4.2005, Ziff. 80; Wiedergabe bei Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (259). 541  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 147), siehe an späterer Stelle i. Ü. die Feststellung, dass gouvernementale „absence of action […] against the rebel groups in the border area“ nicht gleichbedeutend sei mit „ ‚tolerating‘ or ‚acquiescing‘ in their activities“ (ebd., Ziff. 301); hierzu Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (481). Siehe später auch noch S. 200 ff. 542  UN-Sicherheitsrat, Res. 1304 (2000), 16.6.2000, UN-Dok. S/RES/1304 (2000), Ziff. 4 lit. a; hierzu, mit Blick auf weitere Reaktionen und m. w. N. auch Green, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 575 (583 ff.). I. Ü. z. B. auch Res. 1468 (2003), 20.3.2003, UN-Dok. S/RES/1468 (2003), Ziff. 12.



B. Relevante Staatenpraxis147

Israel–Syrien (2003): Am 4.10.2003 wurden durch ein auf die PIJ zurückgeführtes Selbstmordattentat im israelischen Haifa mehrere Personen getötet und verwundet; tags darauf bombardierte Israel das nahe Damaskus gelegene Ain es Saheb.543 Syrien wandte sich an den Sicherheitsrat und sprach von einer gegen das syrische Staatsgebiet gerichteten Aggression.544 Israel sah sich vor dem Hintergrund zunehmender terroristischer Gewaltakte der PIJ, die es zukünftig zu verhindern gelte, durch sein Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt.545 So sei in Ain es Saheb eine Einrichtung angegriffen worden, die Terroristen als sicherer Rückzugsort und zu Trainingszwecken gedient habe.546 Während für die palästinensischen Gebiete nun angenommen wurde, „Islamic Jihad […] operates freely from Palestinian Authority terri­tory“547, gestaltete sich die Rolle Syriens aus israelischer Sicht doch deutlich anders: „Safe harbour and training facilities are provided throughout Syria for terrorist organizations […], both in separate facilities and in Syrian army bases. […] Syria has itself facilitated and directed acts of terrorism by coordinating and briefings via phone and Internet and by calling activists to Damascus for consultations and briefings.“548

Israel habe sich dabei lange Zeit zurückgenommen, trotz unzähliger Terror­ anschläge, „for which Syria bears direct and criminal responsibility.“549

Diese vorgetragene Verwicklungsform scheint jedoch über einen „bloßen“ Fall territorialstaatlichen Unwillens hinauszugehen.550 Dies wird dabei auch durch den Umstand indiziert, dass der unwilling or unable-Standard, anders als in Teilen der bisherigen Staatenpraxis Israels, nicht benannt wurde. Auch dieser Fall kann daher im Weiteren außer Acht gelassen werden.551 543  Nach Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 51; Moir, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 662 (662). 544  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the President of the Security Council, 5.10.2003, UN-Dok. S/2003/939; Identical letters from the Permanent Representative of the Syrian Arab Republic to the UN addressed to the Secretary-General and to the President of the Security Council (Annex), 5.10.2003, UN-Dok. S/2003/940, S. 2. So auch die Stellungnahmen Syriens in der anschließenden Sitzung, 58th Year, 4836th Meeting: 5.10.2003, UN-Dok. S/PV.4836, S. 2–4 und 25 f. 545  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.4836, S. 5, 7. 546  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.4836, S. 5. 547  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.4836, S. 5. 548  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.4836, S. 5. 549  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.4836, S. 7. 550  Siehe aber die Assoziierung bei Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (549). 551  Relevant erscheint der Fall, darauf hat Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 52 hingewiesen, für die accumulation of events-Theorie;

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

Indien-Pakistan (2019): Ende Februar 2019 bombardierte die Luftwaffe Indiens ein vermeintliches Camp der Terrororganisation JeM in Pakistan.552 Diesbezüglich wurde teilweise argumentiert, Indien hätte sich in diesem Zuge auf den unwilling or unable-Standard vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh berufen können.553 Indien gab jedoch (rückblickend auf einen Anschlag vom 14.2.2019, bei dem 40 indische Sicherheitskräfte starben) lediglich zu erkennen: „India has been repeatedly urging Pakistan to take action against the JeM to prevent jihadis from being trained and armed inside Pakistan. Pakistan has taken no concrete actions to dismantle the infrastructure of terrorism on its soil. Credible intelligence was received that JeM was attempting another suicide terror attack in various parts of the country […]. In the face of imminent danger, a preemptive strike became absolutely necessary. In an intelligence led operation […], India struck the biggest training camp of JeM in Balakot. […] The Government of India is firmly and resolutely committed to taking all necessary measures to fight the menace of terrorism. Hence this non-military preemptive action was specifically targeted at the JeM camp.“554

Insofern wurde letztlich weder explizit auf das Selbstverteidigungsrecht noch auf den unwilling or unable-Standard abgestellt; v. a. spricht aber schon die Betonung, eine „nicht-militärische“ Maßnahme ergriffen zu haben dafür, dass Indien sein Vorgehen nicht innerhalb der Regeln der UN-Charta rund um das völkerrechtliche Gewaltverbot eingeordnet wissen wollte.555 Zur Tötung von Qassem Soleimani, USA-Irak (2020): Am 3.1.2020 wurde der iranische General Qassem Soleimani im Zuge eines US-amerikanischen hierzu später auf S. 193 f. Die Präzedenzwirkung der Intervention wird wohl als gering eingestuft, Moir, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 662 (671). 552  Siehe tagesschau.de v. 26.2.2019: Luftschlag in Pakistan. Indien greift mutmaßliches Terrorcamp an, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/indienpakistan-119.html; ferner Pillai, „Surgical Strikes“ Redux?: Ratcheting Tensions in South Asia, OpinioJuris: 26.2.2019. 553  Sharma/Srivastava, The Balakot Strikes: Analysing India’s „Non-Military Preemptive Action“, OpinioJuris: 6.3.2019. 554  Ministry of External Affairs (Government of India), Statement by Foreign Secretary on the Strike on JeM training camp at Balakot, 26.2.2019, unter https://www. mea.gov.in/Speeches-Statements.htm?dtl/31089/Statement+by+Foreign+Secretary+on +26+February+2019+on+the+Strike+on+JeM+training+camp+at+Balakot abrufbar; i. Ü. tagesschau.de v. 26.2.2019: Luftschlag in Pakistan. Indien greift mutmaßliches Terrorcamp an, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/indien-pakistan119.html. 555  Burra, Legal Implications of the Recent India-Pakistan Military Standoff, OpinioJuris: 8.3.2019.



B. Relevante Staatenpraxis149

Drohneneinsatzes auf dem Gelände des Flughafens von Bagdad getötet.556 Während der Irak dieses Vorgehen als Aggression bezeichnete557 und der Iran neben einem staatsterroristischen Vorfall von einer „gross violation of the fundamental principles of international law“ sprach,558 erklärten die USA: „In accordance with Article 51 of the Charter of the United Nations, […] the United States has undertaken certain actions in the exercise of its inherent right of selfdefence. These actions were in response to an escalating series of armed attacks in recent months by the Islamic Republic of Iran and Iran-supported militias on United States forces and interests […], in order to deter the Islamic Republic of Iran from conducting or supporting further attacks against the United States or United States interests, and to degrade the Islamic Republic of Iran and Islamic Revolutionary Guard Corps Qods Force-supported militias’ ability to conduct attacks.“559

Mitunter wurde dies nun zum Anlass genommen, einen – wohlgemerkt hypothetischen – Rekurs der USA auf den (ggf. nun auch auf staatliche Akteure erweiterbaren) unwilling or unable-Standard kritisch zu hinterfragen.560 Ausdrücklich kam es zu einem solchen Begründungsversuch von Seiten der USA indes nicht. Vielmehr wurde dem US-amerikanischen Vorgehen in weiten Teilen die Völkerrechtskonformität schon insofern abgesprochen, als es an der für die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts notwendigen Dringlichkeit gefehlt habe, zumal Soleimani wohl in mediatorischer Funktion tätig 556  Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Ausarbeitung: Völkerrechtliche Aspekte des Konflikts zwischen Iran und den USA, 13.1.2020, Az.: WD 2 – 3000 – 001/20, S. 4; NZZ v. 3.1.2020: Die USA töten eine der mächtigsten Figuren des iranischen Regimes, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/konfliktmit-iran-usa-toeten-maechtigen-general-kassem-soleimani-ld.1531695. 557  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Iraq to the UN addressed to the President of the Security Council, 6.1.2020, UN-Dok. S/2020/15, S.  1 f. 558  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Islamic Republic of Iran to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security-Council, 3.1.2020, UN-Dok. S/2020/13, S. 1; weiterhin Letter from the Permanent Representative of the Islamic Republic of Iran to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 8.1.2020, UN-Dok. S/2020/16, S. 1 mit Verweis auf eine „terrorist attack“; i. Ü., Letter from the Permanent Representative of the Islamic Republic of Iran to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 8.1.2020, UN-Dok. S/2020/19. 559  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.1.2020, UN-Dok. S/2020/20, S. 1. 560  Labuda, The Killing of Soleimani, EJIL:Talk!: 13.1.2020; am Rande Aust, Die Tötung von Qassem Soleimani, Verfassungsblog: 5.1.2020; ferner Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Ausarbeitung: Völkerrechtliche Aspekte des Konflikts zwischen Iran und den USA, 13.1.2020, Az.: WD 2 – 3000 – 001/20, S. 21.

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1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

war, und die US-Administration ferner zu erkennen gab, von Vergeltungsund Abschreckungserwägungen motiviert gewesen zu sein.561

III. Zusammenfassung Es ist eine nennenswerte, wenngleich auch eher eingeschränkt umfangreiche Staatenpraxis nachzuvollziehen, die sich zur Begründung exterritorialer militärischer Maßnahmen gegen nicht-staatliche Akteure – mal mehr, mal weniger eindeutig – auf den unwilling or unable-Standard stützt. Dass diese aber mehr als ein Jahrhundert umspannen soll,562 trifft nur bedingt zu: Zwar ist in diesem Zusammenhang z. B. die Figur sog. hot pursuits praktisch sowohl vor als auch während der Charta-Ära auffindbar. Wirklich prononciert wurde das fragliche Konzept jedoch erst zum Ende der 1960er-Jahre hin vorgetragen, wobei es seitdem v. a. im Rahmen der globalen Anstrengungen zur Bekämpfung des ISIL in der Syrien-Krise Konjunktur erlangte. Völkerrechtsdogmatisch verortet wurde der unwilling or unable-Standard in diesem Zeitraum v. a. im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UNCh); vereinzelt wurden aber auch Assoziationen mit dem völkerrechtlichen Notstand oder dem Recht der Gegenmaßnahmen evoziert. Insofern verbleiben Unklarheiten darüber, welche dogmatische Funktion der Standard überhaupt einnehmen soll. Immerhin lassen sich zwei grob gefasste – praktisch nicht immer trennscharf voneinander unterschiedene, teils wechselseitig auf ein und dieselbe Situation bezogene, insofern aber die funktionale Einheitlichkeit des Standards versinnbildlichende – Tatbestände mit je eigenständigem Bedeutungsgehalt induzieren: 1. Staatlicher Unwille Konstellationen staatlichen Unwillens zeichnen sich durch die Maßgeblichkeit territorialstaatlicher Einflussnahmen auf die unmittelbar drittgefährdenden Handlungen nicht-staatlicher Akteure aus, was m. a. W. ein prinzipielles territorialstaatliches Handlungspotential voraussetzt. Fallübergreifend wurden insofern v. a. gewisse aktive und gewillt-passive Verhaltensweisen563 kritisiert: Diese lassen sich in der Annahme zusammenfassen, dass Staaten keine sicheren Zufluchtsorte bereitstellen dürften, sei es durch die Zurverfügungstellung von bzw. einem unterlassenen Vorgehen gegen Einrichtungen, 561  Siehe Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), ebd., S. 17, 18–20, 26; Aust, ebd.; vgl. Labuda, ebd. 562  So Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (486). 563  Siehe auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (459 f., 471).



B. Relevante Staatenpraxis151

die terroristischen Aktivitäten dienen und damit andere Staaten gefährden,564 oder durch die Überlassung ganzer Gebietsteile.565 Damit umfasst die Unwillens-Alternative des fraglichen Standards neben Fällen einer potentiell drittschädigenden Kollusion zwischen Territorialstaat und nicht-staatlichem Akteur auch solche, die typischerweise im Rahmen der sog. safe haven- oder safe harbour-Doktrin diskutiert werden.566 Hierüber geht sie allerdings noch insofern hinaus, als sich ein Staat bei entsprechender Gefahrenlage nicht rein passiv verhalten dürfen, ganz allgemein also nicht sehenden Auges effektive Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung auf präventivem oder repressivem Wege unterlassen dürfen solle.567 Dadurch erfährt diese Begriffsalternative jedoch eine außerordentliche Weite.568 564  Vgl. die Stellungnahme Benjamin Netanyahus bei UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 193 oder die Haltung der USA gegen Ende der 1990er-Jahre, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 20.8.1998, UN-Dok. S/1998/780, S. 1; US-Government Publishing Office, Public Papers of the Presidents of the United States: William J. Clinton (1998), Address to the Nation on Military Action Against Terrorist Sites in Afghanistan and Sudan, 20.8.1998, S. 1643 (1644), abrufbar unter: https://www.gpo.gov/fdsys/browse/ collection.action?collectionCode=CPD&browsePath=1998 %2F08&isCollapsed=false &leafLevelBrowse=false&isDocumentResults=true&ycord=488. 565  Siehe die Haltung der USA nach dem 11. September, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 7.10.2001, UN-Dok. S/2001/946, S. 1. 566  In diesem Sinne wohl auch Bethlehem, AJIL 106 (2012), S. 770 (776, als elftes formuliertes Prinzip zum Rahmen des staatlichen Selbstverteidigungsrechts gegen nicht-staatliche Akteure), der Kollusion als Ausprägung des weiter gefassten Begriffs staatlichen Unwillens beschreibt und i. Ü. den „colluding“ neben den „harboring state“ stellt; siehe i. Ü. Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 319 f., 330 f.; ferner auch Brunée/Toope, ICLQ 67 (2018), S. 263 (274); siehe auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (104 f.). So auch ausdrücklich The White House, USLegal and Policy Frameworks Guiding the Use of Military Force (Dez. 2016), S. 10: „unwillingness might be demonstrated where, for example, a State is colluding with or harboring a terrorist organization operating from within its territory and refuses to address the threat posed by the group.“ Siehe zur safe haven- oder safe harbourDoktrin Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1122, einschließlich Fn. 157 a. a. O. mit der Beobachtung, dass an ihre Stelle nun der unwilling or unable-Standard getreten sei; zur Weite des unwilling or unable-Standards auch Hakimi, ILS 91 (2015), S. 1 (12 f.); siehe an späterer Stelle noch S. 158 ff. Anlass zur Diskussion hat dabei v. a. die Operation Enduring Freedom gegeben, hierzu bereits auf S. 131 ff., vgl. auch Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (806). 567  In diesem Sinne wohl die Stellungnahme Russlands im Zusammenhang mit der Georgien-Krise, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the SecretaryGeneral (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2. Etwas weitergehend gewendet bei Couzigou, ZaöRV 77 (2017), S. 53 (54), wonach der „unfähige“ Territorial-

152

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

2. Staatliche Unfähigkeit Staatliche Unfähigkeit zeichnet sich dagegen durch die Abwesenheit oder Einschränkungen effektiver Staats- bzw. Regierungsgewalt aus.569 Dies kann z. B. durch einen defizitären Grenzschutz indiziert werden; immer häufiger geht es mittlerweile jedoch um einen Verlust der effektiven Kontrolle über ganze Gebietsteile im Territorialstaat, sog. ungoverned spaces,570 wodurch drittgefährdende sichere Zufluchtsorte entstehen können,571 was üblicherweise einen vom Territorialstaat unerwünschten Zustand darstellt. Denkbar staat als nicht willens zur Ausübung seiner Pflicht, bewaffnete Angriffe nicht-staat­ licher Akteure zu unterbinden angesehen werden kann, wenn er Hilfe in diesem Bereich nicht ersucht oder akzeptiert. Dies unter Bezugnahme auf Trapp, ICLQ 56 (2007), S. 141 (147), welche davon ausgeht, dass etwaige bereits getroffene Maßnahmen nicht schlicht substituiert werden dürften, sondern der gefährdete Staat vielmehr davon ausgehen müsste, dass territorialstaatliche Präventionsleistungen in noch nicht ausreichender Weise unternommen wurden. Einordnend Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (459 f., 481), wobei am zuletzt a.O. von „wilful toleration“ und „negligent ignorance“ gesprochen wird. Ferner Hakimi, ebd., S. 12 f. Weit gefasst die Leiden Policy Recommendations, NILR 57 (2010), S. 531 ff. (Ziff. 42): „Where a state is itself supporting or encouraging the actions of terrorists on its territory, it may well be unwilling to avert or repel the attack and action in self-defence may be necessary.“ 568  Statt vieler Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (545). 569  Hmoud, AJIL 107 (2013), S. 576 (577) fordert qualifizierend etwa einen Zusammenbruch des Staatsapparats innerhalb jeglicher Gebietsteile. Dagegen Hakimi/ Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (281) mit dem Hinweis, dass an dieser Stelle (konzeptionell gesehen) bereits die bloße Ineffektivität etwaiger Bemühungen einer, ihre Autorität über ein betreffendes Gebiet ausübenden, Regierung ausreichen würden. Typischerweise sind jedoch nicht unerhebliche Defizite der Staatsgewalt nachvollziehbar bzw. zu erwarten; siehe insofern auch die krit. Untertöne zur regionalen Anwendung des unwilling or unable-Standards, hierzu die Schlussfolgerung. 570  Vgl. Hakimi, ILS 91 (2015), S. 1 (9, 12); zum Kontrollverlust auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (110); vgl. auch Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 328 f. Krit. zur Verwendung dieses Begriffs Prinz/Schetter, Die Friedens-Warte 89: 3/4 (2014), S. 91 (96 ff.). 571  Entsprechend auch bei The White House, US-Legal and Policy Frameworks Guiding the Use of Military Force (Dez. 2016), S. 10: „inability perhaps can be demonstrated most plainly, where, for example, a State has lost or abandoned effective control over the portion of its territory where the armed group is operating.“ Bewertungs- und indizienhalber schlägt Couzigou, ZaöRV 77 (2017), S. 53 (54) etwa vor: das Vorliegen eines kontinuierlichen Musters bewaffneter Angriffe; die (fragliche) territorialstaatliche Kriminalisierung dieses Verhaltens; die Durchführung detaillierter Ermittlungen in solchen Fällen auf Seiten des Territorialstaats; daneben die strafrechtliche Verfolgung und ggf. Auslieferung etwaiger Täter; die Beachtung entsprechender adressatenbezogener Resolutionen des Sicherheitsrats. Per se sei ein Staat als unfähig anzusehen, dem es an einer Regierung fehlt, die in der Lage wäre, entsprechende Vergehen im eigenen Territorium zu kontrollieren (ebd.).



B. Relevante Staatenpraxis153

ist freilich auch, dass diesem schlicht die Kenntnis über solche Aktivitäten auf seinem Territorium fehlt572 oder sich seine angestrengten Bemühungen als ineffektiv erweisen.573 Hier zeigt sich wieder die (zumindest konzeptionelle) Weite des Standards; rein praktisch stehen Unfähigkeitskonstellationen ohne grundlegendere Defizite der Staatsgewalt jedoch nicht zu erwarten. Die Ursachen für solche Defizite sind wiederum vielfältig:574 Sie liegen z. B. in originär innenpolitischen Spannungen, so die Beispiele Libanons, Iraks und Syriens,575 oder in Einflussnahmen anderer Staaten,576 wie nicht zuletzt die Einrichtung einer Flugverbotszone über weite Teile Iraks in den 1990er-Jahren zeigt.577 Insofern können nicht nur etwaig drittgefährdende Privatpersonen nicht mehr kontrolliert, sondern hoheitliche Funktionen überhaupt, wenn auch nur in einem gewissen Bereich, kaum noch ausgeübt werden, worin sich der unfähige vom unwilligen Staat unterscheidet. Dagegen scheint die Abwesenheit effektiv ausgeübter Staatsgewalt über gewisse Gebiete, allein weil sie schwer zugänglich sind, zur Unfähigkeitsklassifizierung nicht auszureichen.578 Zwar mögen die Beispiele der schwer zugänglichen georgischen Gebiete im Kaukasus579 oder das im ecuadorianischen Urwald gelegene Camp der FARC580 anderes insinuieren. Doch nicht nur Russland führte seine Intervention nicht darauf zurück, dass nur das russische Militär in der Lage gewesen sei, in das fragliche Gebiet vorzudringen;581 auch die Intervention Kolumbiens in Ecuador schien in erster Linie vom Misstrauen gegenüber der ecuadorianischen Regierung und ihrem Verhältnis zur FARC geprägt zu sein, nicht jedoch von einer Unfähigkeit Ecuadors, seine Regie-

572  Siehe Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (459), a. a. O. als die achte von neun Ebenen; siehe ebd., S. 481 auch mit einem allgemein-annähernden Verweis auf „incapacity“ und „unawareness“. 573  Vgl. Hakimi, ILS 91 (2015), S. 1 (12 f.). Vgl. in diesem Sinne auch die Leiden Policy Recommendations, NILR 57 (2010), S. 531 ff. (Ziff. 42): „Self-defence may also be necessary if the armed attack cannot be repelled or averted by the territorial state. States relying on self-defence therefore must show that the territorial state’s action is not effective in countering the terrorist threat.“; in Ziff. 52 a. a. O. wird schließlich auf Grundlage der Unfähigkeit einer Regierung, mit nicht-staatlichen Akteuren effektiv umzugehen, von einem failing state gesprochen, der neben den fragile state gestellt wird. 574  Vgl. Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (545 f.). 575  Siehe S.  104 ff., 113 f., 114 ff. 576  So z. B. Israels Kritik am Einfluss Syriens im Libanon, vgl. S. 100 ff. 577  Siehe S.  109 ff. 578  Anders Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 778. 579  Siehe S.  137 ff. 580  Siehe S.  141 f. 581  Siehe wiederum S. 137 ff.

154

1. Kap.: Begriffliche Einordnung des unwilling or unable-Standards

rungsautorität im fraglichen Gebiet präsenter auszuüben,582 sodass in beiden Fällen auch eher ein territorialstaatlicher Unwille zur Debatte stand. Zuletzt müsste es zu einer Ausnutzung dieses Raums staatlicher Abwesenheit durch sich darin aufhaltende nicht-staatliche Akteure in drittstaatlich gefährdender Weise kommen.583 Der Nutzungsrahmen wird dabei recht weit gefasst: gesprochen wird etwa von Rückzugs- und Erholungsräumen, Trainingsmöglichkeiten, der medizinischen Verpflegung und Nahrungsaufnahme dienenden Räumen, von Waffen- und Munitionslagern, logistischen Opera­ tionszentren oder Abschusspunkten.

582  Siehe

wiederum S. 141 f. ist wohl der maßgebliche Anknüpfungspunkt für Bethlehem, AJIL 106 (2012), S. 770 (776, das zwölfte Prinzip zum Rahmen des staatlichen Selbstverteidigungsrechts gegen nicht-staatliche Akteure), der darauf abstellt, dass hinreichender Grund zu der Annahme bestehen müsste, dass der Territorialstaat zur effektiven Bekämpfung der bewaffneten Aktivitäten des nicht-staatlichen Akteurs nicht in der Lage ist. Dies ist im Weiteren jedoch maßgeblich aus der Sicht des gefährdeten Staates gedacht, wie die Erwägungen a. a. O. zeigen, wann die Einholung einer territorialstaatlichen Einwilligung der Effektivität der Selbstverteidigungsmaßnahmen abträglich sein könnte. Letztlich wird daher auch das bloße Vorkommen von „armed activ­ ities of the nonstate actor operating in its territory or within its jurisdiction“ für ausreichend gehalten, was (ebenfalls a. a. O.) zu dem nicht unproblematischen Schluss führt: „[t]he failure or refusal to agree to a reasonable and effective plan of action, and to take such action, may support a conclusion that the state in question is to be regarded as a colluding or a harboring state.“ 583  Dies

2. Kapitel

Völkerrechtsdogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards In der zugrundeliegenden Staatenpraxis haben sich Unterschiede bei der Frage aufgetan, welche dogmatische Funktion der unwilling or unable-Standard überhaupt einnehmen soll. Im Schwerpunkt wurde dabei die Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts angesprochen (B.), gestaltlich in der Formulierung einer Zurechnungsregel oder der Annahme einer zurechnungsunabhängigen territorialstaatlichen Duldungspflicht.1 Vereinzelt waren aber auch hiervon verschiedene Ansätze nachvollziehbar (C.), etwa Assoziationen mit dem völkerrechtlichen Notstand, dem Recht der Gegenmaßnahmen oder Insinuationen einer etwaigen Herausnahme des Territorialstaats aus dem Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Bevor also auf die Frage nach der Geltung des fraglichen Konzepts eingegangen werden kann, soll zuerst die völkerrechtsdogmatische Plausibilität dieser verschiedenen Ansätze hinterfragt werden, um zu klären, welche dogmatische Funktion der unwilling or unable-Standard überhaupt einnehmen kann.

A. Vorbemerkung Der dogmatische „Plausibilisierungstest“ dieser fünf vorab bezeichneten Varianten muss dem Umstand Rechnung tragen, dass die Stellungnahmen gefährdeter Staaten nicht nur fallübergreifend, sondern schon innerhalb eines bestimmten Falls differieren können. Da es nachfolgend aber weniger um die Uniformität der Übung als um die dogmatische Anschlussfähigkeit des un1  Mit dem Hinweis auf eine hierbei bestehende Unklarheit Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (14); vgl. auch Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (810). In diesem Sinne auch die Feststellung bei Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (35), wonach die unwilling or unable-Doktrin einen Zurechnungstatbestand durch Unterlassen begründen solle, „oder um es klarer zu sagen: Auf einen Zurechnungszusammenhang zwischen dem Angreifer und dem Adressaten der Selbstverteidigungsmaßnahme soll ganz verzichtet werden.“ Was von beiden es sein soll, scheint jedoch eher die Frage zu sein. Vgl. zur Unsicherheit, ob das Kriterium staatlichen Unwillens eine Zurechnung ermöglichen kann, Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (41, unter Fn. 116). Mit kurzem Überblick und Verweis auf Unklarheiten auch Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (802 f.).

156

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

willing or unable-Standards geht, muss mit einer die relevanten – und wenn auch nur vereinzelt vorgetragenen – Stellungnahmen auf ihre wesentlichen Begründungslinien reduzierenden Idealtypik operiert werden. Erklärungsübergreifende und -immanente Widersprüche mögen zwar die Überzeugungskraft solcher Erklärungen einschränken. Dieser Umstand betrifft jedoch v. a. praktisch-geltungsorientierte Gesichtspunkte, auf die noch zurückzukommen sein wird.2

B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts Im Rahmen der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts könnte der unwilling or unable-Standard auf zweierlei Art umgesetzt werden: entweder (I.) als völkerrechtliche Zurechnungsregel, oder (II.) als eine den Territorialstaat treffende zurechnungsunabhängige Duldungspflicht.

I. Der unwilling or unable-Standard als völkerrechtliche Zurechnungsregel Dass der unwilling or unable-Standard als völkerrechtliche Zurechnungsregel fungieren könnte, auf deren Grundlage das nicht-staatliche Verhalten dem Territorialstaat zugerechnet werden müsste, soll zunächst mit einem staatenpraktischen Resümee exemplifiziert werden (1.). Daraufhin wird die Plausibilität dieses Ansatzes erörtert (2.). 1. Argument Während des Julikriegs im Jahr 2006 betonte etwa Israel im Hinblick auf den Beschuss seines Staatsgebiets durch die Hisbollah:3 „Responsibility for this belligerent act of war lies with the Government of Lebanon, from whose territory these acts have been launched into Israel. […] These acts pose a great threat […] to Israel’s northern border […]. The ineptitude and inaction of the Government of Lebanon has led to a situation in which it has not exercised jurisdiction over its own territory for many years.“4

2  Hierzu

das 3. Kapitel. S.  106 ff. 4  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 12.7.2006, UN-Dok. S/2006/515, S. 1 [Hervorh. P. L.]. 3  Siehe



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 157

Ganz in diesem Sinne hieß es auch etwas früher: „We hold not only the Government of Lebanon fully responsible for all terrorist activity emanating from within its territory, but also […] the Governments of Iran and Syria for harbouring, financing, nurturing and supporting Hizbollah and other terrorist organizations.“5

Dabei mag die Zurechenbarkeit des nicht-staatlichen Verhaltens gerade durch die Betonung einer vollen territorialstaatlichen Verantwortlichkeit für alle vom eigenen Territorium ausgehenden terroristischen Aktivitäten artikuliert worden sein. Ähnliches wurde schließlich auch im Fall der russischen Intervention in Georgien im Jahr 2002 angedeutet: „It should be pointed out that the Georgian authorities, who have repeatedly assured the world community of their readiness to restore by themselves order in the Pankisi Gorge, have once again acknowledged their unwillingness to take practical measures to halt terrorism. To all appearances, they are unable and really do not wish to do that there. […] Moscow considers that the Georgian authorities are obliged to take effective measures to destroy the terrorist bases in the Pankisi Gorge. The responsibility for the consequences of the armed incursion by bandits into the territory of the Russian Federation lies fully with the Georgian side.“6

2. Plausibilität Auf dieser Grundlage ist fraglich, ob der unwilling or unable-Standard in plausibler Weise auf einen Fall völkerrechtlicher Zurechnung hindeuten könnte. Hierfür sind [a)] gewisse Resolutionen der Generalversammlung, [b)] die Judikatur von IGH und ICTY sowie [c)] die Artikel der Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit (ILC-Artikel) ins Auge zu fassen.7

5  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Permanent Representative of Israel to the UN addressed to the Secretary-General and the President of the Security Council, 30.5.2006, UN-Dok. S/2006/348. [Hervorh. P. L.] 6  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2 [Hervorh. P. L.]. 7  Siehe auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 25–30; Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 140 ff.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

a) Resolutionen der UN-Generalversammlung aa) Friendly Relations Declaration Auf die am 24.10.1970 von der Generalversammlung angenommene Friendly Relations Declaration8 stellten im Rahmen der vorliegend herangezogenen Staatenpraxis etwa die Türkei und Israel ab.9 Dabei war in beiden Fällen das erste Prinzip der Erklärung maßgeblich,10 das einen Bezug zu nicht-staatlichen Akteuren herstellt: „Every State has the duty to refrain from organizing or encouraging the organization of irregular forces or armed bands including mercenaries, for incursion into the territory of another State.“

Weiterhin heißt es: „Every State has the duty to refrain from organizing, instigating, assisting or participating in acts of civil strife or terrorist acts in another State or acquiescing in organized activities within its territory directed towards the commission of such acts, when the acts referred to in the present paragraph involve a threat or use of force.“11

Damit hat das völkerrechtliche Gewaltverbot zumindest insofern eine Präzisierung erfahren, als u. U. auch bei Gewalthandlungen nicht-staatlicher Akteure von staatlicher Gewalt gesprochen werden könnte;12 der Begriff des bewaffneten Angriffs i. S. v. Art. 51 UNCh ist dagegen jedoch enger gefasst, sodass ein Verstoß gegen das Gewaltverbot noch nicht per se seine Schwelle erreicht.13 Sollte also ein Staat den Einfall nicht-staatlicher Akteure in ein 8  UN-Generalversammlung, Res.  2625 (XXV), 24.10.1970, UN-Dok. A/RES/ 2625 (XXV), Annex: Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in Accordance with the Charter of the United Nations. 9  Zur Erklärung Israels S. 128 f.; die Erklärung der Türkei auf S. 109 ff. 10  „The principle that States shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any State or in any other manner inconsistent with the purposes of the United Nations“, UN-Generalversammlung, Res. 2625 (XXV), 24.10.1970, UN-Dok. A/RES/2625 (XXV), Annex. Zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit siehe Prinzip 1 Abs. 2: „A war of aggression constitutes a crime against the peace, for which there is responsibility under international law.“, siehe auch Bruha, Die Definition der Aggression (1980), S.  127 f. 11  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/2625 (XXV), Annex, Prinzip 1 Abs. 8 und 9. 12  Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 34 Rn. 15; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 25. 13  IGH (Nicaragua) ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 191); Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (791 f., 794).



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 159

anderes Staatsgebiet organisieren oder ermutigen, die Verursachung von inneren Unruhen oder Terrorakten in einem anderen Staat organisieren, hierzu anstiften, sie unterstützen oder an solchen Handlungen teilnehmen oder schlicht hierauf gerichtete Aktivitäten auf seinem Territorium dulden, wird er wohl bei alternativen Handlungsmöglichkeiten berechtigterweise als zur Unterbindung entsprechender Gefahren unwillig bezeichnet werden können.14 Dagegen scheint jedoch schon der Prinzipienwortlaut der Subsumption von Fällen staatlicher Unfähigkeit deutlich entgegenzustehen.15 So mag im ersten Zugriff ein in diesem Sinne unwilliger Staat eher gegen Art. 2 Nr. 4 UNCh verstoßen als ein unfähiger Staat; allein daraus folgt jedoch noch nicht das Recht des gefährdeten Staats, Selbstverteidigungsmaßnahmen (im unwilligen Staat) auszuüben.16 bb) Aggressionsdefinition Die Friendly Relations Declaration wurde gut vier Jahre nach ihrer Annahme von der Generalversammlung mit Res. 3314 (XXIX) zur Definition von Aggression bekräftigt.17 Hier galt es, Aggressionen von anderweitig nicht erlaubter Gewalt abzugrenzen.18 Primär sollte dies – unabhängig von Art. 51 UNCh – eine Begriffsklärung im Anwendungsbereich von Art. 39 UNCh bewirken.19 Dabei fallen zwar die Begriffe der Aggression und des – im Ausgang Corten, ebd., S. 792. wieder Corten, ebd., S. 792 f. und mit Verweis auf IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 300, 303 und maßgeblich 301), wobei ausdrücklich davon abgesehen wurde, die bloße Abwesenheit von Regierungsmaßnahmen gegen Rebellengruppen unter die passiven Verhaltensweisen der Friendly Relations Declaration zu fassen: „[…] the Court cannot conclude that the absence of action by Zaire’s Government against the rebel groups in the border area is tantamount to ‚tolerating‘ or ‚acquiescing‘ in their activities.“ 16  Siehe Corten, ebd., S. 792–794. Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (627–629), zumindest i. E. 17  UN-Generalversammlung, Res. 3314 (XXIX), 14.12.1974, UN-Dok. A/RES/ 3314 (XXIX), Annex: Definition of Aggression. O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (189) betont die Vagheit der Aggressionsdefinition, die nur schwerlich vertragliche Vorkehrungen ändern und damit auch nicht eine Erweiterung des Rechts, auf Gewalt zurückzugreifen, stützen könne. 18  Bruha, Die Definition der Aggression (1980), S. 233; siehe auch UN-Generalversammlung, Res. 2330 (XXII) (Need to expedite the drafting of a definition of aggression in the light of the present international situation), 18.12.1967, UN-Dok. A/ RES/2330 (XXII). 19  Trapp, in: Weller (Hrsg.), The Use of Force in IL (2015), S. 679 (682); Randelz­ hofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 17. 14  Vgl.

15  Siehe

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

diesbezüglich enger gefassten – bewaffneten Angriffs nicht zusammen, sie weisen aber gewisse Überschneidungen auf,20 was angesichts des ebenfalls nachvollziehbaren Verweises auf die Aggressionsdefinition in der relevanten Staatenpraxis21 zu ihrer weiteren Berücksichtigung berechtigt. Im Resolutionsanhang wurde Aggression zunächst definiert als „the use of armed force by a State against the sovereignty, territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations, as set out in this Definition.“

Auf dieser Grundlage wurden in Art. 3 lit. a–g mehrere – ausweislich Art. 4 nicht abschließende – Regelbeispiele für das Vorliegen einer Aggression enumeriert. Dabei stellt Art. 5 Nr. 2 S. 2 klar: „Aggression gives rise to international responsibility.“22 Für die Frage, wann von nicht-staatlichen Akteuren unmittelbar ausgehende Gewaltakte als solche eines Staates anzusehen sind, wann m. a. W. eine indirekte Begehungsweise vorliegt,23 ist Art. 3 lit. g entscheidend. Als Aggression ist danach anzusehen: „The sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to the acts listed above, or its substantial involvement therein.“

Art. 3 lit. g fordert also die Entsendung oder eine substantielle Involvierung in die von bewaffneten Banden, Gruppen, Freischärlern oder Söldnern ausgeführten Akte bewaffneter Gewalt, die wiederum als erheblich angesehen werden müssten. Die Duldung organisierter Aktivitäten nicht-staatlicher Akteure auf dem eigenen Territorium, die auf die Herbeiführung von inneren Unruhen oder Terrorakten in einem anderen Staat ausgerichtet sind, werden nun jedoch – anders als noch in der Friendly Relations Declaration – nicht mehr erwähnt.24 Zurückzuführen ist dies auf den im damaligen Sonderausschuss fehlenden Konsens zwischen West-, sozialistischen und blockfreien Staaten hinsichtlich der auf das Selbstverteidigungsrecht zurückwirkenden Verortung von indirekter und erst recht lediglich subversiv-duldender Gewalt.25 20  Randelzhofer/Nolte, ebd., Art. 51 Rn. 17; vgl. auch Stelter, Gewaltanwendung unter und neben der UN-Charta (2007), S. 149 f. 21  So etwa die israelische Intervention in Tunesien, siehe S. 128 f. 22  Dieser schlichte Bezug auf Aggression geht wiederum über die noch in Prinzip 1 Abs. 2 der Friendly Relations Declaration festgelegte Verantwortlichkeit für den Angriffskrieg hinaus, Bruha, Die Definition der Aggression (1980), S. 128. 23  Bruha, ebd., S. 116; siehe auch Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (54) mit dem Verweis auf eine Zurechnungsgrundlage privaten Handelns. 24  Hinweis und Erläuterungen bei Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 26; ferner Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (132 f.).



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 161

In diesem Kontext sind nun einige funktionale Aspekte dieser als Aggression anerkannten indirekten Begehungsweise zu verorten. Ausgangspunkt hierfür ist, dass diese vom IGH in Nicaragua als möglicher Fall eines bewaffneten Angriffs anerkannt wurde.26 Mitunter wird daher angenommen, dass es letztlich das hier umschriebene Verhalten eines Staates selbst sei, das seine eigene Urheberschaft für einen bewaffneten Angriff – auf primärrecht-

25  Bruha, Die Definition der Aggression (1980), S. 228 ff., insb. S. 230–236; Weigelt, ebd., S. 26; Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S.  142 f.; Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 34–36. Siehe ferner die Reports of the Special Committee on the Question of Defining Aggression: UN, GAOR 23rd Session, Agenda Item 86, UN-Dok. A/7185/Rev.1, 1968, Ziff. 48–50 zu Uneinigkeiten hinsichtlich „indirekter Aggressionen“; Ziff. 56–59 zum Verhältnis von Aggression und Selbstverteidigungsrecht. GAOR 24th  Session, Supplement No. 20 (24.2.–3.4.1969), UN-Dok. A/7620, Ziff.  43–45 (i.  Ü. Ziff.  72  f.) zur legitimen Reichweite von Selbstverteidigung; Ziff. 61 ff. schließlich zum Problem von „indirect or covert uses of illegal force“ und der Frage, ob es sich dabei um Fälle von Aggressionen handelt. Die entsprechende Kritik spielt sich dabei vor dem Hintergrund des Selbstverteidigungsrechts ab: „Some representatives further emphasized the danger that indirect armed aggression such as invasion by armed bands might be invoked not only to exercise the right of self-defence but also, under cover of that tight, to commit interventions.“ (Ziff. 62; siehe auch Ziff. 63 zu weiterer in diese Richtung weisender Kritik). GAOR 25th Session, Supplement No. 19 (13.7.–24.8.1970), UN-Dok. A/8019, Ziff. 26 ff. wiederum zur Frage, ob indirekte Aggression zur Selbstverteidigung berechtigt. Dafür etwa der Verweis auf die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit eines gefährdeten Staates (Ziff. 27); dagegen die Befürchtung, einen Vorwand i. R. v. Art. 51 UNCh zur Anwendung von Gewalt zu schaffen (Ziff. 53); vermittelnd der grundsätzliche Rekurs auf Fragen der Verhältnismäßigkeit, unabhängig vom Vorliegen direkter oder indirekter Gewalt (Ziff. 54); im weiteren Anschluss Ziff. 126 ff. Siehe ferner Ziff. 30 mit Verweis auf die fehlende Adressierung der drittgefährdenden Überlassung des Territoriums an einen anderen Staat. Zum Selbstverteidigungsrecht (und seiner Wechselwirkung mit Aggression) allg. sowie anlässlich der jeweiligen Entwürfe Ziff. 41–43, 69 ff. GAOR 26th Session, Supplement No. 19 (1.2.–5.3.1971), UN-Dok. A/8419, Ziff. 26 ff. zur Frage der Einbeziehung indirekter Aggressionen; Ziff. 38 ff. zu Selbstverteidigung und Verhältnismäßigkeit. Ferner GAOR 27th Session, Supplement No. 19 (31.1.–3.3.1972), UN-Dok. A/8719; GAOR 28th Session, Supplement No. 19 (25.4.– 30.5.1973), UN-Dok. A/9019; GAOR 29th Session, Supplement No. 19 (11.3.–12.4. 1974), UN-Dok. A/9619. 26  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 195): „In particular, it may be considered to be agreed that an armed attack must be understood as including not merely action by regular armed forces across an international border, but also ‚the sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to‘ (inter alia) an actual armed attack, conducted by regular forces, ‚or its substantial involvement therein‘.“ Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (814); de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (92 f.); Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 144.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

licher Ebene von Art. 51 UNCh – ausweise.27 Überzeugend wurde dagegen aber mit Blick auf Art. 1 der Aggressionsdefinition betont, dass sich Aggressionen als Gewaltanwendungen eines Staates gegen einen anderen Staat darstellen müssten; dabei sei, wie Art. 3 lit. g zeige, die tatsächliche Gewaltanwendung durch einen Staat nicht immer nötig: Vielmehr soll diese hier von nicht-staatlichen Akteuren ausgeübt werden können; um aber von einer Aggression eines Staates gegen einen anderen Staat sprechen zu können, müsste gerade dieses nicht-staatliche Verhalten einem Staat zugerechnet werden.28 Art. 3 lit. g fungiert in diesem Sinne also über die Kriterien der Entsendung und wesentlichen Beteiligung als zurechnungsbegründendes lex specialis.29 Klärungsbedürftig bleiben damit aber die Vorgaben dieses Zurechnungstatbestandes im Verhältnis zum unwilling or unable-Standard. Dabei wird das Merkmal der Entsendung („sending by or on behalf of a State“) üblicherweise als äußerst enges Näheverhältnis beschrieben, das den nicht-staatlichen Akteur immerhin als de facto-Organ ausweisen, oder in dem sein Verhalten von einem Staat direkt instruiert oder kontrolliert werden müsste.30 Derart ausgeprägte Beziehungen sind für die Fälle des unwilling or unable-Standards allerdings untypisch.31 Insofern verlagert sich die Debatte eher auf das Kriterium wesentlicher Beteiligung („substantial involvement“).32 Dabei ließ der IGH in Nicaragua bloße „assistance to rebels in the form of the provision of weapons or logistical or other support“ für das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs nicht ausreichen,33 während das Kriterium in Armed Activities neben dem Fall ei27  Tsagourias,

ebd., S. 814 f. in: Weller (Hrsg.), The Use of Force in IL (2015), S. 679 (682). 29  Trapp, ebd., S. 682 f. Zur denkbaren Einordnung von Art. 3 lit. g als Sekundärbzw. Zurechnungsnorm siehe Kawagishi, ZaöRV 77 (2017), S. 27 (29 f.), der a. a. O. noch Art. 55 ILC-Artikel als Kollisionsregel im Verhältnis zu anderen Zurechnungsregeln ins Spiel bringt. Von einer Zurechnungsregel geht auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 143 aus; vgl. auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (93); vgl. ferner Marxsen/Peters, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 1 (1 f.). Ein Überblick auch bei de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (30 f.). 30  Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (814); Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 33; de Wet, ebd., S. 93; weiterhin Trapp, ebd., S. 683 (Fn. 21) mit einem Verweis auf die Nähe zu Art. 8 ILC-Artikel; siehe hierzu auch sogleich auf S. 171 ff. 31  Vgl. Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (796). 32  Vgl. auch de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (31). 33  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 195); Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 34. Diese Annahme wurde schon in den abweichenden Sondervoten kritisiert, mit Hin28  Trapp,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 163

ner Entsendung schon gar nicht mehr zitiert wurde.34 Daraus wurde nun einerseits gefolgert, dass Art. 51 UNCh auch in diesem Bereich auf ein nach den bestehenden Sekundärregeln zurechenbares Verhalten zu begrenzen sei.35 Auf der anderen Seite wurde bspw. angenommen, dass wesentliche Beteiligung i. S. v. Art. 3 lit. g, um dem Kriterium einen eigenen Anwendungsbereich zu verschaffen, vielmehr als qualifizierender Rückbezug auf die Prinzipien der Friendly Relations Declaration zu verstehen sei,36 was wiederum die Anforderungen an einen bewaffneten Angriff im entgegengesetzten Sinne absenken würde. Auf dieser (strittigen) Grundlage können, wie zuvor, zumindest Fälle staatlicher Unfähigkeit kaum als „substantial involvement“ begriffen werden; schon eher ließen sich dagegen wohl enger umgrenzte, wenngleich auch nicht alle Fälle staatlichen Unwillens in Betracht ziehen.37 Und in der Tat wird in diesem Sinne mitunter der Versuch unternommen, eine Zurechnung zu ermöglichen, wenn ein Staat nicht-staatlichen Akteuren aktive und weweis auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 144 (Fn. 560), etwa von Schwebel, IGH, ebd., Dissenting Opinion of Judge Schwebel, S. 259 (Ziff. 166): „Nicaragua apparently has not ‚sent‘ Nicaraguan irregulars to fight in El Salvador, but it has been ‚substantially involved‘ in the sending of leadership of the Salvadoran insurgency back and forth. […] Nicaragua’s substantial involvement further takes the forms of providing arms, munitions, other supplies, training, command-and-control facilities, sanctuary and lesser forms of assistance to the Salvadoran insurgents. Those insurgents, in turn, carry out acts of armed force against another State, namely, El Salvador. Those acts are of such gravity as to amount to other acts listed in Article 3 of the Definition of Aggression […]. The many thousands of El Salvadorans killed and wounded, and the enormous damage to El Salvador’s infrastructure and economy, as a result of insurgent attacks so supported by Nicaragua is ample demonstration of the gravity of the acts of the insurgents.“ Jennings ging daneben die mehrheitlich getragene Reichweite des fraglichen Ausschlusses zu weit, IGH, ebd., Dissenting Opinion of Judge Sir Robert Jennings, S. 528 (543): „If there is added to all this ‚other support‘, it becomes difficult to understand what it is, short of direct attack by a State’s own forces, that may not be done apparently without a lawful response in the form of collective self-defence; nor indeed may be responded to at all by the use of force or threat of force […].“ 34  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 146); Ruys, Armed Attack and Article 51 (2010), S. 482 f. 35  Ruys, ebd., S. 483; eine hohe Zurechnungsschwelle, die auf direkte Anweisungen hinauslaufen müsse, konstatiert de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (93), wobei zusätzlich auf die Entsprechung der restriktiven Lesart des IGH mit dem historischen Abfassungsprozess der Aggressionsdefinition, aber auch krit. auf ein „responsibility vacuum“ verwiesen wird. Zu den ILC-Artikeln sogleich auf S. 171 ff. 36  Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (815 f., 818); vglb. de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (103). 37  Dafür de Wet, ebd., S. 103 f.; mit gänzlicher Ablehnung Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (796).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

sentliche Unterstützungen leistet oder ihnen sichere Zufluchtsstätten gewährt.38 Dies erfordert jedoch eine erweiternde Lesart des Kriteriums „wesentlicher Beteiligung“,39 was gerade in Fällen nur passiver bzw. duldender Gewährung sicherer Zufluchtsstätten größere Probleme aufwirft40 und auf größere Kritik gestoßen ist.41 Je enger an dieser Stelle aber das Verhältnis zwischen Staat und nicht-staatlichem Akteur ausgeprägt ist, desto plausibler 38  Dies spielt sich innerhalb der sog. harbour and support-, safe harbour- oder safe haven-Doktrin ab. Siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 156 f., 160 ff. (insb. S. 165 ff.). Krit. dagegen Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 26 f. und Wandscher, Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 150 f. Für eine Zurechnung in „Unterstützungskonstellationen“ schlägt Wandscher, ebd., S. 246, 249 ff. eine Abwägung zwischen den „Souveränitätsinteressen“ (vgl. eingangs S. 30 ff.) vor; in „Duldungskon­ stellationen“ wird eine Zurechnungsmöglichkeit indes verneint, Wandscher, ebd., S. 251–255. Zum Verhältnis dieser Doktrinen zum unwilling or unable-Standard ­Hakimi, ILS 91 (2015), S. 1 (12) und auf S. 150 f. zuvor. 39  Dau, ebd., S. 156 f.; Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S. 334 (359); Ruys/Verhoeven, JCSL 10 (2005), S. 289 (315–317), die einen aiding and abetting-Test in Anlehnung an das Völkerstrafrecht vorschlagen: Der dabei erwähnte Art. 25 Abs. 3 lit. c RSt liest: „In accordance with this Statute, a person shall be criminally responsible and liable for punishment for a crime within the jurisdiction of the Court if that person: […] For the purpose of facilitating the commission of such crimes, aids, abets or otherwise assists in its commission, including providing the means for its commission“ [Hervorh. P. L.]. Ausdrücklich wird ein solcher Test von Tams, EJIL 20 (2009), S. 359 (385 f.) begrüßt, Bezugspunkt ist dabei die Staatenpraxis (a. a. O. S. 385); befürwortet bei dems, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (162 f.). Beide Kriterien wurden bereits von Cassese, EJIL 12 (2001), S. 993 (997, 999) für ein exterritoriales militärisches Tätigwerden unter Gesichtspunkten staatlichen Unwillens in Betracht gezogen, letztlich wird hier jedoch dem Sicherheitsrat eine maßgebliche Rolle beigemessen, da die aufenthaltsstaatliche Komplizenschaft variieren könne (ebd., S. 1000). Ferner Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 34 mit der Gleichstellung gewisser Unterstützungsleistungen und Entsendungen. 40  Dau, ebd., S. 160–162, 165–167, 170 und m.w.N, einschränkend fordert Dau a. a. O.: die Limitierung des Personenkreises auf ausdrücklich zu Gewaltakten bereite Personen (S. 171); staatliche Beherbergung als conditio sine qua non für den Erfolg der nicht-staatlichen Aktivitäten (S. 171 f.); objektive Nachweisbarkeit dieser Umstände (S. 172); den dezidierten subjektiven Willen des Territorialstaats zur Beherbergung, der die allgemeinen Zielsetzungen der nicht-staatlichen Akteure, wenngleich auch nicht jeden einzigen Anschlag, einschließen müsse (S. 173 f.). Siehe i. Ü., v. a. mit Blick auf die Praxis, Tams, ebd., S. 385 f.; mit gewisser Zuversicht ders, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 163. Maßgeblich ist dabei wohl, dass die von der harbouring-Doktrin adressierte Passivität einen Völkerrechtsverstoß darstellen müsste, vgl. Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (474 und ff.); hierzu noch auf S.  218 ff. 41  Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1122 nimmt an, dass die harbouring-Doktrin keine Stütze im heutigen Völkerrecht findet; ablehnend hinsichtlich der IGH-Rspr. auch Starski, ebd., S. 488. Offener dagegen Payandeh/Sauer, ZRP 2016,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 165

erscheint prima facie immerhin ein zurechnungsbegründender Rekurs auf das Kriterium „wesentlicher Beteiligung“. Entscheidend scheint dabei aber zu sein, was auch nicht selten bejaht wird, ob sich für diese extensive Lesart der Aggressionsdefinition eine entsprechende Staatenpraxis bei bestehender Rechtsüberzeugung beanspruchen lässt.42 Unter diesem Gesichtspunkt ist jedoch, wie gezeigt wurde, die spezifisch den unwilling or unable-Standard betreffende Übung eher geringfügig ausgeprägt und arm an Verweisen auf Formen wesentlicher territorialstaatlicher Beteiligungen.43 Für sich genommen muss dies zwar nicht unbedingt die Plausibilität der hier fraglichen Verortung (von Teilen) des unwilling or unable-Standards mindern; im Hinblick auf die normative Geltung des Konzepts wird hierauf dennoch zurückzukommen sein.44 b) Zur Judikatur des IGH und ICTY Auch in der Judikatur des IGH und ICTY finden sich Einordnungen zu der Frage, wann von nicht-staatlichen Akteuren ausgehende Gewaltakte als solche eines Staates anzusehen sind. Für den IGH kann zunächst auf die Entscheidung in Diplomatic and Consular Staff in Tehran, einen Zurechnungs-Sonderfall, verwiesen werden:45 Hier wurde zwischen der Initiation der „Angriffe“ auf die US-amerikanische Botschaft in Teheran am 4.11.1979 und die US-amerikanischen Konsulate in Täbris und Schiras am 5.11.1979 einerseits, sowie der Zeit nach erfolgter Besetzung andererseits unterschieden.46 In der ersten Phase konnte nur eine S. 34 (35), Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (806 f.) und Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (85 f.). 42  In einem ähnlichen Sinne bejahen Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 37–41 eine Zurechnungsmöglichkeit im Falle staatlichen Unwillens und staatlicher Unfähigkeit unter Zugrundelegung der jüngeren Praxis, einschließlich der Reaktionen des Sicherheitsrats auf den 11. September; im Fall staatlicher Unfähigkeit (ebd., Rn. 41) wird dabei jedoch das Interesse des gefährdeten Staats wohl schlicht als überwiegend vorausgesetzt, wofür im Gegenzug aber die Anforderungen an die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung zu betonen seien (vgl. auch noch S. 206 ff. sogleich). Auf eine solche Praxis verweist ebenfalls Tams, EJIL 20 (2009), S. 359 (384–386), wobei eine gewisse Diskrepanz zur IGH-Rspr. und den ILC-Artikeln konzediert wird. 43  Dies räumt auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (104) als eigentliche Befürworterin dieser Verortung des unwilling or unable-Standards ein. 44  Siehe hierzu das 3. Kapitel. 45  Siehe auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 27. 46  IGH (Diplomatic and Consular Staff in Tehran), ICJ Rep. 1980, S. 3 (Ziff. 61, 69).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Pflichtverletzung, insb. unter diplomaten- und konsularrechtlichen Gesichtspunkten, nicht aber eine Zurechnung des nicht-staatlichen Verhaltens fest­ gestellt werden.47 Dagegen gab die weitergehende Untätigkeit Irans in der zweiten Phase in Verbindung mit die Übernahme der Einrichtungen und die Geiselnahme des Personals befürwortenden Äußerungen von staatlichen und religiösen Autoritäten neben der am 17.11.1979 dekretierten Aufforderung an die USA, den geflüchteten Schah Mohammad Reza Pahlavi auszuliefern,48 Anlass zu einer anderen Bewertung: „The result of that policy was fundamentally to transform the legal nature of the situation created by the occupation of the Embassy and the detention of its diplomatic and consular staff as hostages. The approval given to these facts by the Ayatollah Khomeini and other organs of the Iranian State, and the decision to perpetuate them, translated continuing occupation of the Embassy and detention of the hostages into acts of that State. The militants, authors of the invasion and jailers of the hostages, had now become agents of the Iranian State for whose acts the State itself was internationally responsible.“49

In der Nicaragua-Entscheidung des IGH stellte sich hingegen u. a. die Frage, ob die Vergehen der von den USA unterstützten Contra-Rebellen den USA zugerechnet werden konnten;50 dies verneinte der IGH unter Zuhilfenahme des folgenden Maßstabs: „All the forms of United States participation mentioned above, and even the general control by the respondent State over a force with a high degree of dependency on it, would not in themselves mean, without further evidence, that the United States directed or enforced the perpetration of the acts contrary to human rights and humanitarian law alleged by the applicant State. Such acts could well be committed by members of the contras without the control of the United States. For this conduct to give rise to legal responsibility of the United States, it would in principle have to be proved that that State had effective control of the military or paramilitary operations in the course of which the alleged violations were com­ mitted.“51

Damit wurde der Maßstab effektiver Kontrolle als Zurechnungskriterium formuliert.52 Dabei erwecken die zu diesem Kriterium hinführenden Ausfüh47  IGH,

ebd., Ziff. 61–64. ebd., Ziff. 69–71, 73. 49  IGH, ebd., Ziff. 74 (siehe auch Ziff. 76). 50  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 144 f. 51  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 115) [Hervorh. a. E. P. L.]. 52  Siehe insofern Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S.  144 ff.; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 28 mit dem krit. Hinweis, dass der IGH diesen Maßstab ohne nähere Auseinandersetzung mit der Staatenpraxis selbst aufgestellt habe. Stahn, Fl. F. World Aff. 27/2 (2003), S. 35 (37) geht hingegen davon aus, dass der aufgestellte Maßstab effektiver Kon­ trolle infolge der Ereignisse des 11. Septembers aufgehoben worden sei. 48  IGH,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 167

rungen zum zurechnungsbegründenden Verhältnis zwischen Contra-Rebellen und den USA den Anschein, als würden sie Indizien zum Vorliegen effektiver Kontrolle aufstellen.53 So sah der IGH etwa „United States participation, even if preponderant or decisive, in the financing, organizing, training, supplying and equipping of the contras, the selection of its military or paramilitary targets, and the planning of the whole of its operation“

als nicht zureichend an.54 Mit Blick auf die US-amerikanischen Finanzierungen, die den Offensiven der Contra-Rebellen regelmäßig vorausgingen, ging der IGH ferner davon aus: „it does not follow that each provision of funds by the United States was made in order to set in motion a particular offensive, and that that offensive was planned by the United States.“55

Auch wenn es als sicher gelten könne, dass die USA Contra-Organisationen wie die FDN in weiten Teilen finanziert, trainiert, ausgestattet, bewaffnet und organisiert hätten, konnte der IGH nicht mit Sicherheit feststellen, „that the respondent State [die USA, Anm. P. L.] ‚created‘ the contra force in Nicaragua“

oder „that the United States gave ‚direct and critical combat support‘, at least if that form of words is taken to mean that this support was tantamount to direct intervention by the United States combat forces, or that all contra operations reflected strategy and tactics wholly devised by the United States.“56

Festgestellt werden müsste hierfür wiederum, was vorliegend nicht gelang, „whether or not the relationship of the contras to the United States Government was so much one of dependence on the one side and control on the other that it would be right to equate the contras, for legal purposes, with an organ of the United States Government, or as acting on behalf of that Government.“57

Wie von C. Dau jedoch gezeigt wurde, fand das Erfordernis eines mit „complete dependence“ umschriebenen Handlungsmediums, das die rechtliche Gleichstellung nicht-staatlicher Akteur mit dem sie unterstützenden Staat

53  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 145  f. (in Fn. 561); auch das ICTY hatte sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob der IGH in Nicaragua einen einheitlichen Zurechnungsmaßstab oder einen effective control- und einen davon unterschiedlichen dependence and control-Test formuliert hatte, ICTY, Appeals Chamber: Prosecutor v. Tadić, Ziff. 106–114 (insb. Ziff. 109–111). 54  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 115). 55  IGH, ebd., Ziff. 103 (ferner Ziff. 95–98). 56  IGH, ebd., Ziff. 108. 57  IGH, ebd., Ziff. 109.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

rechtfertigen soll,58 in der Sache Application of Genocide Convention eine Klarstellung, wenn nicht sogar Neueinordnung:59 Nachdem die vorstehende Passage aus Nicaragua zitiert wurde, führte der IGH aus, „so to equate persons or entities with State organs when they do not have that status under internal law must be exceptional, for it requires proof of a particularly great degree of State control over them, a relationship which the Court’s Judgment […] expressly described as ‚complete dependence‘.“60

Daraufhin wandte sich der IGH der Frage zu, „whether the massacres at Srebrenica were committed by persons who, though not having the status of organs of the Respondent, nevertheless acted on its instructions or under its direction or control“.61

Eben diese Frage, so heißt es weiter, sei nun offensichtlich „different from the question whether the persons who committed the acts of genocide had the status of organs of the Respondent under its internal law; nor however and despite some appearance to the contrary, is it the same as the question whether those persons should be equated with State organs de facto, even though not enjoying that status under internal law. The answer to the latter question depends […] on whether those persons were in a relationship of such complete dependence on the State that they cannot be considered otherwise than as organs of the State“.62

Danach ist die eine „complete dependence“ voraussetzende Kontrollausübung eines Staates über als de facto-Organe anzusehende nicht-staatliche Akteure vom Zurechnungskriterium effektiver Kontrolle zu unterscheiden.63 58  IGH,

ebd., Ziff. 110 f. Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 145 f. (insb. Fn. 561); Stern, in: Crawford et al. (Hrsg.), The Law of International Responsibility (2010), S. 193 (206); IGH (Application of Genocide Convention), ICJ Rep. 2007, S.  43 ff. 60  IGH, ebd., Ziff. 393 (sowie Ziff. 391 f. zur bisherigen Rspr.). 61  IGH, ebd., Ziff. 396 (entsprechend auch Ziff. 397). 62  IGH, ebd., Ziff. 397; insofern auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 145 f. 63  Siehe hierzu wiederum Dau, ebd., S. 145 f. (in Fn. 561) und 147. Maßstabsbildend für das Kriterium effektiver Kontrolle kam es dem IGH sodann auf Art. 8 ILCArtikel an (hierzu noch S. 176 ff.), IGH, ebd., Ziff. 398 ff. Die hiervon unterschied­ liche Frage nach der Zurechnung von Handlungen sog. de facto-Organe verortete der IGH dagegen vor dem Hintergrund von Art. 4 ILC-Artikel, a. a. O. Ziff. 385 ff. In der Lit. ist dies str.: Für eine Verortung in Art. 4 ILC-Artikel etwa Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (575 f.); de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (32). Für eine Verortung in Art. 5 ILC-Artikel Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (134, unter Fn. 243). Vgl. für eine Verortung in Art. 8 ILC-Artikel wohl Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (54); vgl. Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (469) mit einem Verweis sowohl auf Art. 4 als auch auf Art. 5. Stern, in: Crawford et al. (Hrsg.), The Law of International Responsibility (2010), S. 193 (206), in Anerkennung der IGH-seitigen Einordnung bei Art. 4 ILC-Artikel, verweist auf die Nähe 59  Dau,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 169

Am Maßstab effektiver Kontrolle knüpften Ende der 1990er-Jahre nun zwei Entscheidungen des ICTY64 in der Sache Prosecutor v. Duško Tadić an, der wegen diverser auf das Jahr 1992 datierender Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Bosnienkrieg angeklagt wurde.65 Hier orientierte sich die Strafkammer noch am vom IGH in Nicaragua aufgestellten Maßstab effektiver Kontrolle.66 Anders jedoch die Berufungskammer des ICTY,67 die den vom IGH aufgestellten Maßstab für nicht überzeugend hielt: Ihm stünde zunächst die Logik des Rechts internationaler Staatenverantwortlichkeit entgegen.68 So sei es den Staaten verwehrt, rein faktisch durch (nicht-staatliche) Individuen zu handeln und sich in der Folge von einem ihrerseits etwaig völkerrechtswidrigen Handeln zu distanzieren; Zurechnung werde dabei durch Kontrolle vermittelt. „The degree of control“, so die Berufungskammer weiter, „may, however, vary according to the factual circumstances of each case. The Appeals Chamber fails to see why in each and every circumstance international law should require a high threshold for the test of control. Rather, various situations may be distinguished.“69

So bedürfe es etwa des Nachweises spezifischer Instruktionen (oder einer nachträglichen Anerkennung) nicht nur, wenn ein Individuum auf dem Gebiet eines anderen Staates völkerrechtswidrige Vergehen verüben, sondern auch, wenn ein nicht-organisierter Zusammenschluss von Individuen solche Akte begehen sollte.70 Unterschieden werden müsse jedoch

zu Art. 8 ILC-Artikel und erachtet die Kategorie sog. de facto-Organe als redundant. I. Ü. ist anzumerken, dass der IGH unter diesem Gesichtspunkt in Application of Genocide Convention bei Ziff. 391 den ersten Teil von Ziff. 109 aus Nicaragua (ICJ Rep. 1986 S. 14) zitierte. Auf diese Ziffer, wenngleich auf ihren letzten Abschnitt, greift die Kommentierung zu den Artikeln der Staatenverantwortlichkeit zurück: ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 8 Ziff. 4. 64  Siehe auch UN-Sicherheitsrat, Res. 827 (1993), 25.5.1993, UN-Dok. S/RES/ 827 (1993), insb. Ziff. 2. 65  Siehe ICTY, Trial Chamber: Prosecutor v. Tadić, Ziff. 6, 9, und v. a. 194 ff.; ferner Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 147. 66  ICTY, ebd., Ziff. 584–588, 599–602, 604 und insb. (mit ausdrücklicher Erwähnung dieses Maßstabs a. E.) 605. 67  Letztlich identifizierte diese den in Nicaragua aufgestellten dependence and control-Test mit dem Maßstab effektiver Kontrolle, was den seitens der Berufungskammer eigens entwickelten Kontrollmaßstab in einen Zusammenhang mit de factoOrganen bringen musste, ICTY, Appeals Chamber: Prosecutor v. Tadić, Ziff. 110–112, 137; siehe auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 145 f. (unter Fn. 561). 68  ICTY, ebd., Ziff. 115 und 116 ff. 69  ICTY, ebd., Ziff. 117. 70  ICTY, ebd., Ziff. 118; siehe Ziff. 119 zu der von der Berufungskammer als vergleichbar angesehenen Situation, in der private Individuen oder Gruppen zur Durch-

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„the situation of individuals acting on behalf of a State without specific instructions, from that of individuals making up an organized and hierarchically structured group […]. Plainly, an organized group differs from an individual in that the former normally has a structure, a chain of command and a set of rules as well as the outward symbols of authority. Normally a member of the group does not act on his own but conforms to the standards prevailing in the group and is subject to the authority of the head of the group. Consequently, for the attribution to a State of acts of these groups it is sufficient to require that the group as a whole be under the overall control of the State.“71

Es ist also der Organisationsgrad solcher Gruppen, der spezifische Anweisungen, auf die einzelne Individuen und nicht-organisierte Gruppen noch angewiesen sein mögen, als Zurechnungsvoraussetzung im Sinne effektiver Kontrolle nicht erforderlich machen soll.72 Von der insofern hinreichenden overall control könne daher gesprochen werden, „when a State […] has a role in organising, coordinating or planning the military actions of the military group, in addition to financing, training and equipping or providing operational support to that group“,

auf spezifische Anweisungen für jeden einzelnen Fall kommt es danach also nicht mehr an.73 Damit solle insb. verhindert werden, dass sich Staaten ihrer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit durch einen Verweis auf ihr Rechtssystem oder die Abwesenheit spezifischer Anweisungen an nicht-staatliche Akteure begeben.74 I. Ü. werde diese Differenzierung von der Praxis diverser Spruchkörper und von den Staaten selbst getragen.75 Rückeinschränkend verwies die Berufungskammer aber noch darauf, dass eine weitergehende und zwingende Beweislage hinsichtlich einer solchen nicht nur finanzierten und ausgestatteten, sondern auch angeleiteten und in ihren Planungen unterstützten Gruppe bestehen müsste, wenn der „kontrollierende Staat“ nicht der

führung rechtmäßiger Aufgaben beauftragt werden, hiervon aber in unrechtmäßiger Weise – gewissermaßen ultra vires – abweichen. 71  ICTY, ebd., Ziff. 120. 72  Vgl. ICTY, ebd., Ziff. 120, 122 f. 73  ICTY, ebd., Ziff. 137. 74  ICTY, ebd., Ziff. 123. 75  ICTY, ebd., Ziff. 115, 124  ff. Die Berufungskammer verwies dabei u. a. auf: General Claims Commission (basierend auf der General Claims Convention zw. Mexiko und den USA v. 8.9.1923, Reports of International Arbitral Awards 2006, Vol. IV, S. 11 ff.), Charles S. Stephens and Bowman Stephens (U.S.A.) v. United Mexican States, Entsch. v. 15.7.1927, Reports of international Arbitral Awards 2006, Vol. IV, S. 265 ff., beide abrufbar unter: http://legal.un.org/riaa/vol_4.shtml; IUSCT (basierend auf der Claims Settlement Declaration v. 19.1.1981), Yeager v. Iran, Award No. 32410199-1, 2.11.1987, 17 IUSCT-Reports 92; EGMR, Case of Loizidou v. Turkey, Urt. v. 18.12.1996, Appl. No. 15318/89.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 171

Territorialstaat sei, die fraglichen Vergehen sich also exterritorial ereigneten.76 c) Staatliche Verantwortlichkeit nach den ILC-Artikeln Für die wesentlich auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage stehenden Regeln der Staatenverantwortlichkeit bieten die Kodifizierungsarbeiten der UN-Völkerrechtskommission, die 2001 in den Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts kulminierten, einen maßgeb­ lichen Einblick.77 In gewisser Weise wurde in diesem Zuge ein Teil der vorstehend skizzierten Entwicklung synthetisiert. Daher sind zunächst [aa)] die wesentlichen Inhalte der ILC-Artikel eingedenk der für den unwilling or unable-Standard maßgeblichen Fallkonstellationen zu wiederholen, bevor [bb)] die damit einhergehenden Implikationen und ihre Brauchbarkeit für den unwilling or unable-Standard aufgezeigt werden können. Freilich ist in diesem doch überwiegend selbstverteidigungsrechtslastigen Kontext der Rekurs auf das Recht der Staatenverantwortlichkeit nicht unproblematisch.78 Denn Art. 51 UNCh führt als Primärnorm eine von Sekundärnormen doch relativ unabhängige Existenz, was wiederum – auch mit Blick auf Art. 103 UNCh – eine entsprechende Kongruenz im Hinblick auf Zurechnungsfragen nicht selbstverständlich macht.79 Unter Anerkennung des Primats der Primärnorm lässt sich dieser Rekurs jedoch mit der beide Regelungsregime verfolgenden Frage rechtfertigen, was das Verhalten eines Staates in letzter Konsequenz denn eigentlich ausmacht.80 aa) Maßstab Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates folgt nach Art. 1 ILC-Artikel aus jedem völkerrechtwidrigen Handeln eines Staates, welches ausweislich Art. 2 ILC-Artikel vom kumulativen Vorliegen zweier Voraussetzungen abhängig ist, und zwar „[…] when conduct consisting of an action or omission (a)  is attributable to the State under international law; and (b)  constitutes a breach of international obligation of the State.“ 76  ICTY,

ebd., Ziff. 138. Investitions- und Menschenrechtsschutz (2013), S. 224. 78  Mit einem Überblick zu Unterschieden und Konvergenzen Martin, Vand. JTL 52 (2019), S. 387 (430–433). 79  Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (466–468); vgl. Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 314. 80  Nach Starski, ebd., S. 468 f. 77  Burkard,

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Im Anschluss an die erwähnten Resolutionen der Generalversammlung und die Entscheidungen von IGH und ICTY ist nun also näher auf die Implikationen von Art. 2 lit. a ILC-Artikel einzugehen. Das Nähere hierzu sieht das II. Kapitel der ILC-Artikel vor. Darin adressiert Art. 4 zunächst ausschließlich statusorientiert das Verhalten von Organen eines Staates.81 Art. 5 betrifft sodann das Verhalten natürlicher und juristischer Personen, denen ein Status i. S. v. Art. 4 zwar nicht zukommt, die durch das staatliche Recht aber ermächtigt sind, Elemente hoheitlicher Gewalt auszuüben, solange sie dabei in dieser Eigenschaft agieren. Art. 6 regelt die Zurverfügungstellung von Organen durch einen Staat zugunsten eines anderen Staates, Art. 7 schließlich das Handeln ultra vires der Art. 4–6 unterfallenden Personen.82 Mit Blick auf das für den unwilling or unable-Standard typisierte Handeln nicht-staatlicher Akteure ist daher zunächst Art. 8 ILC-Artikel von näherem Interesse. Darin heißt es: „The conduct of a person or group of persons shall be considered an act of a State under international law if the person or group of persons is in fact acting on the instructions of, or under the direction or control of, that State in carrying out the conduct.“

Während die erste Variante eine Anweisung voraussetzt, erweisen sich die auf Leitung oder Kontrolle abhebenden letzteren, allgemeiner gefassten Zurechnungsvarianten als schwieriger greifbar.83 Dem Staat werde danach ein Verhalten zugerechnet, so die Kommentierung der Völkerrechtskommission, „only if it directed or controlled the specific operation and the conduct complained of was an integral part of that operation. The principle does not extend to conduct which was only incidentally or peripherally associated with an operation and which escaped from the State’s direction or control.“84

Mit Blick auf das Ausmaß der erforderlichen Kontrollausübung rekurrierte die Völkerrechtskommission nun ausdrücklich auf die IGH-Entscheidung in Nicaragua unter ausdrücklicher Inbezugnahme des den Maßstab effektiver Kontrolle statuierenden Passus;85 für das vom ICTY befürwortete Kriterium einer overall control und den damit einhergehenden Widerspruch 81  Definiert werden insofern die „core cases“, wobei Fälle, die „certain acts of individuals or entities which do not have the status of organs of the State“ betreffen, erst an späterer Stelle des II. Kap. Relevanz erlangen sollen, ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 4 Ziff. 2. 82  Siehe ILC, ebd., Art. 7 Ziff. 1 und 9. 83  ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 1 und 7. 84  ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 3. 85  ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 4.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 173

zur IGH-Rechtsprechung bemerkte die Völkerrechtskommission hingegen schlicht: „[…] the legal issues and the factual situation in the Tadić case were different from those facing the Court in that case [den IGH in Nicaragua, Anm. P. L.]. The tribunal’s mandate is directed to issues of individual criminal responsibility, not State responsibility, and the question in that case concerned not responsibility but the applicable rules of international humanitarian law.“86

Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass die staatliche Kontrolle voraussetzende Zurechnungsvariante in Art. 8 ILC-Artikel als effektive Kontrolle im Sinne der IGH-Rechtsprechung zu verstehen ist.87 Nach Art. 9 ILC-Artikel ist schließlich das Verhalten einer Person oder Gruppe von Personen völkerrechtlich als das eines Staates anzusehen, „if the person or group of persons is in fact exercising elements of the governmental authority in the absence or default of the official authorities and in circumstances such as to call for the exercise of those elements of authority.“

86  ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 5. Hierzu auch Dau, Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure (2018), S. 147  f.; anknüpfend an Art. 2 ICTY-Statut („Grave breaches of the Geneva Conventions of 1949“; abrufbar unter: https://www.icty.org/ en/documents/statute-tribunal) ging es in diesem Zusammenhang anwendungshalber darum, ob ein internationaler oder ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorlag, vgl. ICTY, Appeals Chamber: Prosecutor v. Tadić, Ziff. 80 ff., 88 ff.; angenommen wurde, dass Art. 2 ICTY-Statut einen internationalen bewaffneten Konflikt voraussetze, ICTY, ebd., Ziff. 80; ICTY, Appeals Chamber: Prosecutor v. Tadić (Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction), v. a. Ziff. 79 f., 82, 84 mit Hinweis auf eine in diesem Sinne notwendige Limitation angesichts umfangreicher, mit der Jurisdiktion einhergehender Auswirkungen auf staatliche Souveränität und die von einem internationalen bewaffneten Konflikt sprechenden Vorarbeiten des Statuts: So heißt es bei UN-Sicherheitsrat, Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), 3.5.1993, UN-Dok. S/25704, Ziff. 37 im Hinblick auf Art. 1 des Statuts („Competence of the International Tribunal“): „The Geneva Conventions constitute rules of international humanitarian law and provide the core of the customary law applicable in international armed conflicts [Hervorh. P. L.]. […]“ 87  IGH (Application of Genocide Convention), ICJ Rep. 2007, S. 43 (Ziff. 399 f.) mit ausdrücklichem Bezug auf Art. 8 ILC-Artikel (a. a. O. unter Ziff. 398). In diesem Sinne z. B. auch Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (577); ferner Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 150 f. Die Kommentierung von Art. 8 ILC-Artikel gibt im Hinblick auf die Überschreitung eines entsprechend autorisierten, angeleiteten oder kontrollierten Aktes zu erkennen, dass die Voraussetzungen der Zurechnung erfüllt wären, „where persons or groups have committed acts under the effective control of a State“, ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 8. Deutlicher vielleicht noch eine Kommentierung von Art. 10 ILC-Artikel: „Once an organized movement comes into existence as a matter of fact, it will be even less possible to attribute its conduct to the State, which will not be in a position to exert effective control over its activities.“, ILC, ebd., Art. 10, Ziff. 2.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Erfasst werden davon eher Ausnahmefälle – die Völkerrechtskommission nennt z. B. Revolutionen, bewaffnete Konflikte, Fremdbesetzungen sowie Auflösung, Zerfall, Unterdrückung und Inoperabilität der staatlichen Hoheitsmacht.88 „The cases envisaged by Article 9“, so heißt es in der Kommentierung mit Blick auf das Kriterium der Ausübung hoheitlicher Gewalt, „presuppose the existence of a Government in office and of State machinery whose place is taken by irregulars or whose action is supplemented in certain cases. This may happen on part of the territory of a State, which is for the time being out of control, or in other specific circumstances.“89

Die mit „absence“ und „default“ beschriebene Nichterreichbarkeit staat­ licher Einrichtungen soll dabei Fälle des vollkommenen Zusammenbruchs des Staates und der Nichtausübung von Funktionen durch die hierfür zuständigen Institutionen erfassen, „for instance, in the case of a partial collapse of the State or its loss of control over a certain locality.“90

Durch diese Umstände muss schließlich, wie es in Art. 9 ILC-Artikel a. E. heißt, das fragliche Verhalten erforderlich gemacht worden sein.91 Art. 9 ILC-Artikel scheint für den unwilling or unable-Standard dabei wenigstens insofern relevant zu sein, als zahlreiche Ursachen staatlicher Dysfunktion – ob sie grundsätzlicher Natur wie im failed state sein oder nur bereichsbezogen erscheinen mögen – antizipiert werden. In Art. 10 ILC-Artikel wird dagegen das zurechnungsbegründende Verhalten aufständischer oder anderweitiger Bewegungen aufgenommen. Hier geht es zunächst um ein rein privates Handeln, das erst mit der Realisierung seiner Ziele – sei es in der eigenen Einsetzung als Regierungsautorität, in der Einrichtung eines neuen Staats in Gebieten des Vorgängerstaats oder in Gebieten, die seiner Regierungsgewalt unterstehen (Art. 10 Nr. 1 und 2) – eine transformative Kontinuität zwischen der ursprünglichen nicht-staatlichen Bewegung und der späteren Staatsgewalt schafft, die eine Zurechnung rechtfertigt.92 Prinzipiell erscheint nun für die vorliegenden Zwecke die Frage durchaus von Interesse zu sein, wann von einer Bewegung i. S. v. Art. 10 zu sprechen sein wird. In den Kommentierungen der Völkerrechtskommission wird hierfür etwa auf den sachlichen Anwendungsbereich des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 verwiesen, der letztlich auf einen gesteigerten Organisationsgrad der nicht-staatlichen Akteure ab88  ILC,

ebd., Art. 9 Ziff. 1. ebd., Art. 9 Ziff. 4. 90  ILC, ebd., Art. 9 Ziff. 5. 91  Siehe hierzu mit kurzer Erläuterung ILC, ebd., Art. 9 Ziff. 6. 92  ILC, ebd., Art. 10 Ziff. 2, 4–6. 89  ILC,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 175

hebt.93 In diesem Sinn und Kontext reflektiere die Definition von „dissident armed forces“ die essentielle Idee eines „insurrectional movement“.94 Für den unwilling or unable-Standard im hier untersuchten Sinn ist jedoch, wie eingangs geschildert wurde, eine dreipolige Konstellation relevanter Akteure typisch. Diese ist Art. 10 indes nicht bzw. allenfalls bedingt eigen.95 Denn einerseits kann hier erst eine ex post-Betrachtung Aufschluss über die Kontinuität zwischen einem (etwaig drittgefährdendem) nicht-staatlichen Akteur und der späteren Staatsgewalt geben. In diesem Zuge würde es nun andererseits, im auf das Selbstverteidigungsrecht übertragenen Sinne gesprochen, zu einer Identifikation von nicht-staatlichem Akteur und gefährdetem, nicht jedoch von nicht-staatlichem Akteur und Territorialstaat kommen.96 Dies entspricht jedoch nicht der im Rahmen des unwilling or unable-Standards supponierten Stoßrichtung eines bewaffneten Angriffs. Art. 11 ILC-Artikel betrifft den hier vergleichsweise weniger, allenfalls hilfsweise97 relevanten Fall eines Verhaltens, das durch einen Staat anerkannt und als eigenes angenommen wird. bb) Übertragungen Mithin kommt Art. 4–7, 10 f. ILC-Artikel im Hinblick auf die dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards keine nennenswerte Bedeu93  ILC, ebd., Art. 10 Ziff. 9; Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II), 8.6.1977, UNTS Bd. 1125 S. 609 (BGBl. 1990 II S. 1637). Zum sachlichen Anwendungsbereich heißt es in Art. 1 Abs. 1, wie auch die besagte ILC-Kommentierung zitiert, dass das Protokoll „auf alle bewaffneten Konflikte Anwendung [findet], die von Artikel 1 [ZP I zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949] nicht erfaßt sind und die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, daß sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.“ Nach Art. 1 Abs. 2 hingegen, und von solchen Bewegungen möchte die ILC a. a. O. abgrenzen, „findet [dieses Protokoll] nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.“ 94  ILC, ebd., Art. 10 Ziff. 9. 95  Und zwar auch unter Berücksichtigung der prima facie in eine andere Richtung weisenden Kommentierung der ILC, ebd., Art. 10 Ziff. 9: „Insurrectional movements may be based in the territory of the State against which the movement’s actions are directed, or on the territory of a third State.“ [Hervorh. P. L.] 96  Vgl. ebd. 97  Vgl. ILC, ebd., Art. 11 Ziff. 5.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

tung zu. Dagegen scheint jedoch eine nähere Betrachtung von Art. 8 [(1)] und Art. 9 ILC-Artikel [(2)] gerechtfertigt zu sein. (1) Art. 8 ILC-Artikel Im Rahmen von Art. 8 ILC-Artikel ist auf Grundlage der vorigen Ausführungen nun entscheidend, ob in den hier interessierenden Fallkon­stellationen – im Hinblick auf den nicht-staatlichen Akteur – typischerweise eine territorialstaatliche Anweisung (instruction), Leitung (direction) oder Kontrollausübung (control) erwartet werden kann. (a) Staatliche Unfähigkeit Den unfähigen Staat kennzeichnet die Abwesenheit effektiver Staats- bzw. Regierungsgewalt in gewissen Teilen seines Territoriums, in welchen er ­hoheitliche Funktionen nicht mehr ausüben kann. Dieser Raum staatlicher Abwesenheit wird in der Folge von nicht-staatlichen Akteuren in drittgefährdender Weise ausgenutzt.98 Unter diesen Umständen können diese vom Territorialstaat nicht mehr angewiesen oder geleitet werden. Und auch eine seinerseits bestehende effektive Kontrollausübung, womit spezifische Operations- und Missionsbezüge einhergehen würden,99 kann hier nicht erwartet werden. Insofern würde nach der Völkerrechtskommission schon das in Art. 8 ILC-Artikel artikulierte Prinzip ein Verhalten nicht erfassen, „which was only incidentally or peripherally associated with an operation and which escaped from the State’s direction or control“.100

Vielmehr dürfte in den fraglichen Gebieten nicht einmal mehr die noch vom ICTY formulierte overall control vorgefunden werden. Dem unfähigen Staat ist mithin das hier fragliche Verhalten nicht-staatlicher Akteure über Art. 8 ILC-Artikel nicht zurechenbar.101

98  Zu

alldem S. 152 ff. zuvor. Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 8 Ziff. 3. 100  ILC, ebd., Art. 8 Ziff. 3. 101  Siehe auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 154; Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (584) mit dem Verweis auf die Verantwortlichkeit eines Staates nur für die Verletzung einer eigenen primären Verpflichtung; vgl. daneben in einem allg. Sinne auch Tladi, AJIL 107 (2013), S. 570 (571 f.). 99  ILC,



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 177

(b) Staatlicher Unwille Charakteristisch für den unwilligen Staat ist in erster Linie das grundsätzliche Fortbestehen territorialstaatlicher Einflussnahmemöglichkeiten auf die nicht-staatlichen Akteure. Entsprechend ist hier regelmäßig zu erwarten, dass effektive Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung nicht ergriffen werden. Angesichts dieses prinzipiell fortbestehenden Handlungspotentials lässt sich nun aber die im Hinblick auf die Kontrollausübung getroffene Feststellung zum unfähigen Staat nicht ohne weiteres übertragen, was die Frage aufwirft, ob immerhin Konstellationen territorialstaatlichen Unwillens unter Art. 8 ILC-Artikel gefasst werden können. Typisch für Konstellationen staatlichen Unwillens ist das Vorhandensein eines gewissen Aktionsraums zu Gunsten nicht-staatlicher Akteure im Territorialstaat. Der Territorialstaat mag diesen entweder aktiv zur Verfügung gestellt102 oder in seiner Entstehung nicht unterbunden haben,103 wobei noch mehr oder minder ausgeprägte territorialstaatliche Unterstützungsleistungen hinzutreten mögen. Dies wird mitunter räumlich als sicherer Zufluchtsort (safe haven) oder verhaltensbezogen als Beherbergung (to harbour) in Bezug genommen.104 Nun mag durchaus angenommen werden, dass der bloß unwillige Territorialstaat immerhin die Kontrolle über das Vorhandensein eines solchen Raums innehat. So setzt Art. 8 ILC-Artikel eben auch eine vollkommene Abhängigkeit (complete dependence) der nicht-staatlichen Akteure vom Territorialstaat, der dann quasi durch diese hindurch handeln würde, nicht voraus.105 Dennoch ist das von Art. 8 vorausgesetzte Moment effektiver Kon­ trolle nicht raum-, sondern spezifisch operationsbezogen zu verstehen.106 Eben solche Operationsbezüge fehlen in den maßgeblichen Stellungnahmen der Staatenpraxis jedoch weitgehend. So wird entweder die Zurverfügungstellung eigens kontrollierter Gebiete kritisiert107 oder es wird in allgemeiner 102  So etwa der gegen Tunesien gerichtete Vorwurf Israels hinsichtlich der PLO (S. 128 f. zuvor); siehe auch die Rolle Afghanistans bzw. der Taliban (hierzu S. 131 ff.). 103  In diese Richtung werden die Stellungnahmen der USA zur Intervention im Sudan und in Afghanistan zu verstehen sein (siehe S. 130 f.); entsprechend auch die Rolle Georgiens im Hinblick auf die Aktivitäten tschetschenischer Terroristen in der Sichtweise Russlands (S. 137 ff.). 104  Vgl. zur harbouring-Doktrin etwa Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (474). 105  Siehe hierzu S. 165 ff., 171 ff. zuvor. 106  Vgl. ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 8 Ziff. 3. 107  Siehe UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 7.10.2001, UN-Dok. S/2001/946, S. 1, hierzu S.  131 ff. zuvor.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Manier ganz grundsätzlich dazu aufgerufen, terroristische Aktivitäten zu bekämpfen und die Zusammenarbeit mit terroristischen Organisationen zu beenden.108 Mit dem Vorwurf territorialstaatlicher Unterstützungsleistungen mag in dieser Hinsicht zwar ein durchaus brauchbarer Anknüpfungspunkt bestehen. Diese bedingen jedoch nur unter engen Voraussetzungen, folglich nicht per se die zurechnungsbegründende Annahme effektiver Kontrolle: Insofern muss sich das fragliche Verhalten als integraler Bestandteil der jeweiligen Operation(en) erweisen.109 Dies ist für die Fälle staatlichen Unwillens jedoch nicht typisch, zeichnet sich doch der unwillige Staat vielmehr durch seine Herausnahme aus den Aktionen nicht-staatlicher Akteure oder lediglich durch die Übernahme von Rahmen- oder Hintergrundfunktionen aus. Dies unterschreitet jedoch das Erfordernis effektiver Kontrolle. Damit kann auch dem unwilligen Staat das fragliche Verhalten nicht-staatlicher Akteure nicht über Art. 8 ILC-Artikel zugerechnet werden.110 (2) Art. 9 ILC-Artikel Die Relevanz von Art. 9 ILC-Artikel für die vorliegenden Zwecke wird durch die tatbestandlich vorgesehene Nichterreichbarkeit staatlicher Einrichtungen („in the absence or default of the official authorities“) indiziert, welche situativ durchaus Vergleichbarkeiten mit den Fällen aufweist, die für den 108  Zu Beispielen der herangezogenen Staatenpraxis nochmals UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the President of the Security Council, 20.8.1998, UN-Dok. S/1998/780, S. 1 (S. 130 f. zuvor); vglw. auch UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meet­ ing: 4.10.1985, UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 193 (hierzu S. 128 f.); ferner UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 31.7.2002, UN-Dok. S/2002/854, S. 2 (hierzu S. 137 ff. zuvor). 109  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 8 Ziff. 3. 110  Siehe wieder Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 154; vgl. im Ausgang prinzipiell wohl auch Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (566, 578 585), der angesichts der Enge dieser Zurechnungsregeln einen alternativen complicity-Standard zu begründen sucht: dies in Fällen, „when a state provides a knowing and causal contribution to the commission of a conduct by a non-state actor“ (ebd., S. 585). Angeknüpft wird dabei an einen anderen, den nicht-staatlichen Akteur im Territorialstaat unterstützenden Staat (ebd., S. 579), wobei sich die konzeptionellen Überlegungen wohl auch auf entsprechende Unterstützungsleistungen des Territorialstaats übertragen ließen. Als maßgebliches Argument greift V. Lanovoy dabei auf eine durch die Enge der Zurechnungsregeln bedingte „responsibility gap“ zurück (ebd., S. 566, 579 ff., 585); so auch Plakokefalos, EJIL 28 (2017), S. 587 (588, im Ff. mit berechtigter Kritik), siehe im Sinne dieser Kritik (insb. ebd., S. 590) auch sogleich nachfolgend S.  180 ff.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 179

unwilling or unable-Standard als typisch angesehen wurden. Vorausgesetzt ist aber ferner, dass die Person oder Personengruppe Elemente der Regierungsgewalt ausüben müsste, wobei die zugrundeliegenden Umstände staat­ licher Dysfunktionalität die Ausübung besagter Elemente erforderlich machen müssten. Dies deutet bereits darauf hin, dass es auf eine durch staatlichen Unwillen oder Unfähigkeit vermittelte Nichterreichbarkeit der staatlichen Einrichtungen alleine nicht ankommt. Mit Art. 9 ILC-Artikel einher geht insofern vielmehr, „a normative element in the form of agency […], and this distinguishes these situations from the normal principle that conduct of private parties, including insurrectionary forces, is not attributable to the State.“111

Für das Verständnis von agency, die sich als agency of neccessity darstelle, verwies die Völkerrechtskommission auf die Idee der levée en masse,112 wobei in den Diskussionen zum Art. 9 ILC-Artikel vorausgehenden ILC-Entwurfsartikel 8113 auf die (rechtshistorisch ältere) negotiorum gestio, die Geschäftsführung ohne Auftrag, verwiesen wurde.114 In diesem Sinne kann sich das fragliche Handeln durchaus vom eigentlich hoheitlich-gebotenen Handeln unterscheiden: „The term ‚calls for‘ conveys the idea that some exercise of governmental function was called for, though not necessarily the conduct in question.“115

D. h. jedoch mitnichten, dass sich ein Staat in solchen Situationen jedes Handeln nicht-staatlicher Akteure, das im Zusammenhang mit hoheitlichen Funktionen stehen mag, zurechnen lassen muss. So heißt es auch in der (von der Kommentierung ausdrücklich berücksichtigten) Entscheidung des IUSCT in Yeager v. Iran mit Blick auf den früheren ILC-Entwurfsartikel 8 lit. b: 111  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 9 Ziff. 6. 112  ILC, ebd., Art. 9 Ziff. 2; dabei handelt es sich um die auf den 23.8.1793 zurückgehende und bis dato beispiellose Kopplung der Verpflichtung zum Wehrdienst an den Status der insofern Verpflichteten als Bürger der Ersten Französischen Repu­ blik, Forrest, in: Moran/Waldron (Hrsg.), The People in Arms (2003), S. 8 (8). 113  Dieser lautete: „The conduct of a person or group of persons shall also be considered as an act of the State under international law if: (a) it is established that such persons [sic] or group of persons was in fact acting on behalf of that State; or (b) such person or group of persons was in fact exercising elements of the governmental authority in the absence of the official authorities and in circumstances which justified the exercise of those elements of authority.“ Zit. nach YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 31; entsprechend auch YILC 1996 Vol. II Part 2, S. 59. 114  So etwa die Stellungnahme von Taslim O. Elias in: YILC 1974 Vol. I, 1258th Meeting (16.5.1974), Ziff. 30; mit weiteren Rechtsinstituten auch Roberto Ago ebd., Ziff. 3. Zum Ansatz ihrer Übertragung auf durch nicht-staatliche Akteure hervorgerufene Gefahrenlagen gibt Tancredi, ZaöRV 77 (2017), S. 69 ff. einen Überblick. 115  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 9 Ziff. 6.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„The Tribunal is persuaded, therefore, that the revolutionary ‚Komitehs‘ or ‚Guards‘ involved in this Case, were acting ‚for‘ Iran.“116

Es ist letztlich dieses subjektive Element auf Seiten des nicht-staatlichen Akteurs – der Wille, für den Staat unter besagten Umständen eigentliche hoheitliche Funktionen auszuüben –, das die Zurechnung legitimiert. Der nicht-staatliche Akteur i. S. v. Art. 9 ILC-Artikel unterscheidet sich damit erheblich von dem auf dem Gebiet des Territorialstaats operierenden Akteur im konzeptionellen Sinne des unwilling or unable-Standards.117 Zwar mag dabei etwa das unter Gesichtspunkten staatlichen Unwillens als kollusiv beschriebene Verhältnis zwischen nicht-staatlichem Akteur und Territorialstaat zu Lasten des gefährdeten Staats in eine andere Richtung weisen. Es gehört jedoch schon wegen Art. 2 Nr. 4 UNCh nicht zu den Funktionen eines Staats, andere Staaten zu gefährden. Folglich kann auch die durch einen nichtstaatlichen Akteur verursachte Gefährdung eines Staates, selbst wenn sie im faktischen Interesse eines anderen Staats stehen sollte, letzterem nicht über Art. 9 ILC-Artikel zugerechnet werden. (3) Der vorläufige ILC-Entwurfsartikel 11 In einen Zusammenhang mit dem erwähnten ILC-Entwurfsartikel 8, dessen lit. b letztlich Eingang in Art. 9 ILC-Artikel fand, wurde nun ein weiterer Entwurfsartikel gebracht, der vom damaligen Sonderberichterstatter Roberto Ago, in seinem vierten Bericht zur Staatenverantwortlichkeit, vorgeschlagen wurde.118 Es handelt sich dabei um ILC-Entwurfsartikel 11, dessen Inhalt – unter „Conduct of private individuals“ firmierend – folgendermaßen lautete: „1.  The conduct of a private individual or group of individuals, acting in that capacity, is not considered to be an act of the State in international law. 2.  However, the rule enunciated in the preceding paragraph is without prejudice to the attribution to the State of any omission on the part of its organs, where the latter ought to have acted to prevent or punish the conduct of the individual or group of individuals and failed to do so.“119

116  IUSCT, Yeager v. Iran, Award No. 324-10199-1, 2.11.1987 (17 IUSCT-Reports 92), Entscheidungsdruck S. 8 [Hervorh. P. L.]; ILC, ebd., Art. 9 Ziff. 2. 117  Siehe letztlich auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (469). 118  Siehe für diesen Zusammenhang den Vorschlag von Richard D. Kearney, den seinerzeit noch nicht ausdrücklich auf staatliche Dysfunktionalität abhebenden ILCEntwurfsartikel 8 mit ILC-Entwurfsartikel 11 (dazu sogleich) zu kombinieren, YILC 1974 Vol. I, 1258th Meeting (16.5.1974), Ziff. 8 (und einführungshalber Ziff. 1 ff.). 119  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 146.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 181

Für die vorliegenden Zwecke muss dabei v. a. Abs. 2 Interesse wecken, bringt er doch die Staatenverantwortlichkeit im Hinblick auf das Unterlassen120 von Staatsorganen ins Spiel, wenn diese präventiv oder repressiv das Verhalten von einem Individuum oder einer Gruppe von Individuen hätten adressieren müssen, dies jedoch versäumten bzw. hieran scheiterten („and failed to do so“). Auf Grundlage der vorstehenden Ausführungen fällt es nun nicht schwer, hierunter Fälle staatlichen Unwillens oder staatlicher Unfähigkeit zu subsumieren. Allerdings wurde ILC-Entwurfsartikel 11 nicht Teil der im Jahr 2001 verabschiedeten und zur Kenntnis genommenen ILC-Artikel. Insofern kann von der Vorgeschichte und der letztlichen Nichtannahme von ILC-Entwurfsartikel 11 Aufschluss über die hier fragliche Konzeption des unwilling or unable-Standards als Zurechnungsregel erwartet werden. (a) Vorschlag durch den Sonderberichterstatter R. Ago ILC-Entwurfsartikel 11 („Conduct of Private Individuals“) fand, wie gesagt, im Zuge des vierten Berichts des Sonderberichterstatters Roberto Ago zur Staatenverantwortlichkeit Eingang in das Kodifikationsvorhaben.121 Darin setzte sich dieser umfassend mit Entscheidungen diverser Spruchkörper ab der Mitte des 19. Jahrhunderts,122 der Staatenpraxis beginnend mit der im Jahr 1930 (zumindest zum Thema „Repsonsibility of States for Damage Caused in Their Territory to the Person or Property of Foreigners“) gescheiterten Kodifikationskonferenz des Völkerbundes123 und der einschlägigen Literatur in diesem Bereich124 auseinander. Im Rahmen letzterer – und unter Hervorhebung des Konsenses, dass die Verantwortlichkeit der Staaten nicht mehr, wie noch im Frühmittelalter, aus der Zugehörigkeit eines nicht-staat­ lichen Akteurs zum Staatsverbund resultiert125 – hob Roberto Ago insb. D. Anzilotti hervor. Dieser sah es 1906 als Grundprinzip an, dass 120  Dass „nur“ von Unterlassen gesprochen wurde, ist nicht weiter erheblich, insofern wurde in der folgenden Zeit mit „conduct“ allgemeiner auf ein staatliches Verhalten abgestellt, siehe während der maßgeblichen Diskussion (dazu sogleich) Roberto Ago in: YILC 1975 Vol. I, 1311th Meeting (16.5.1975), Ziff. 23 f., wobei „conduct“ als Oberbegriff für verschiedentlich vorstellbare Formen von „omissions“ und „commissions“ gebraucht wurde. 121  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 61 ff. 122  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 74 und ff. 123  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 91 ff.; Miller, AJIL 24 (1930), S. 674 (674); Marboe, Entschädigung und Schadenersatz in der internationalen Rechtsprechung (2009), S. 115. 124  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 138 ff. 125  Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899 [1958]), S. 325; YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 138 ff., passim.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„[l]’État n’est pas responsable si des étrangers sont tués ou volés, mais il est responsable s’il ne veut pas ou s’il ne peut pas poursuivre les auteurs de l’homicide ou du vol. Dans le premier cas, en effet, rien ne peut être reproché à l’État, car celui-ci n’est pas tenu de garantir que les étrangers ne seront ni tués, ni volés. Dans le second cas, au contraire, un acte illicite, au point de vue du droit international, est commis par l’État: il a sa cause dans le refus ou l’impossibilité de l’État de poursuivre les auteurs du crime, ce qui équivaut à priver les étrangers de la protection judiciaire exigée par le droit de gens. La poursuite des auteurs du crime étant une obligation imposée à l’État par le droit international […].“126

Dieses Verständnis der Staatenverantwortlichkeit griff der Sonderberichterstatter u. a. in der Übersetzung „by being unable or unwilling to take action against the guilty individuals“ auf.127 Auf den ersten Blick bestätigt dieser Vorgriff einen direkten Zusammenhang zwischen ILC-Entwurfsartikel 11 und dem unwilling or unable-Standard. Offen lässt die Formulierung freilich, ob das darin artikulierte Prinzip auch für durch nicht-staatliche Akteure provozierte Selbstverteidigungssituationen Geltung beanspruchen kann. Der Sonderberichterstatter hielt jedenfalls dementsprechend und auf Grundlage seiner Untersuchungen fest: „Cases of acts of individuals directed against foreign persons or property that States are obliged to provide with special protection do not give rise to an exception of the general rule regarding the possible determination of the State’s international responsibility in connexion [sic] with the acts of individuals; in those cases too, such acts are not attributed to the State as a source of international respons­ ibility.“128

Dieses negative Resultat bedeute jedoch in keiner Weise, „that the State cannot otherwise incur international responsibility with regard to such actions. But the rule must spell out that this responsibility can derive only from an act by State organs, which, by their passive attitude towards the action of individuals, have failed to fulfil an international obligation of the State.“129

Gemeint sind damit Situationen, in denen es nicht möglich ist, eine spezifische Maßnahme eines Staatsorgans des Territorialstaats auszumachen, die auf Partizipation oder eine Form von „Mittäterschaft“ hindeuten würde.130 126  Anzilotti, Revue Générale de Droit International Public 13 (1906), S. 5 (28) [Hervorh. P. L.], Fortsetzung ebd. auf S. 285 ff. Der Inhalt des Zitats wiederum übersetzt in YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 141. 127  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 141 [Hervorh. P. L.]. 128  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 134. 129  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 145. 130  Vgl. YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71  ff., Ziff. 64.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 183

Dafür wurde das Beispiel eines auf eigene Faust agierenden Individuums bemüht, das in eine Botschaft eindringen und dort Gegenstände zerstören oder Dokumente entwenden würde.131 In solchen Fällen könne dem Staat nicht der Vorwurf gemacht werden, selbst gegen die Unverletzlichkeit der Botschaft verstoßen zu haben, sehr wohl aber „of having breached a totally different obligation – namely to ensure, with due diligence, that such crimes do not occur […].“132

Das private Handeln stelle dabei im Verhältnis zum staatlichen Verhalten ein lediglich externes Ereignis dar, das gleichsam aber nicht ohne Auswirkung auf die Verantwortlichkeit des Staates sei, sondern in dieser Hinsicht vielmehr als Katalysator fungiere.133 Vorherrschend betrifft das dabei herangezogene Fallmaterial – wie auch die Inbezugnahme D. Anzilottis – Situationen, in denen Individuen auf dem Gebiet des Territorialstaats Übergriffe auf Ausländer verübten, wobei Übergriffe auf Repräsentanten eines anderen Staates als Sonderfall eingestuft wurden.134 Den rechtlichen Rahmen dürften insofern der Menschenrechtsschutz sowie das Diplomaten- und Konsularrecht vorgeben.135 Davon unterschiedlich, so heißt es weiter, seien jedoch auch Fälle nicht zu behandeln, in welchen Personen – insb. als Gruppen oder Banden organisiert – Übergriffe in einem Staat verüben, die sie auf dem Gebiet eines seiner Nachbarstaaten vorbereitet hatten.136 So gebe es eine Vielzahl an Beispielen „of incidents provoked by such activities, protests addressed to the Governments accused of harbouring and supporting the groups which carried out the activities, indignant rebuttals of those accusations, and so on.“137

131  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 63 und 65. 132  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 65. 133  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 65 und Fn. 120 ebd.; siehe auch nochmals die Erklärungen von Roberto Ago in: YILC 1975 Vol. I, 1308th Meeting (13.5.1975), insb. Ziff. 6. 134  So auch die Einschätzung von Milan Šahović in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 38 sowie YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 114 und ff., 75 ff. 135  Zu fremdenrechtlichen Mindestbedingungen siehe S. 62 ff. zuvor; i. Ü. wieder YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 114. 136  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 135. 137  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 135 [Hervorh. P. L.].

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Situativ nähert sich dies nun deutlich der für das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht typisierten Ausgangssituation des unwilling or unableStandards an.138 Um auf der anderen Seite im Wege der Zurechnung für das private Handeln völkerrechtlich direkt verantwortlich zu sein, so heißt es weiter, müssten solche privaten Gruppen engere Beziehungen mit der jeweiligen territorialstaatlichen Regierung unterhalten. Verschiedene Umstände indizierten dabei den völkerrechtlichen Stellungswandel vom Individuum zum territorialstaatlichen de facto-Organ, und zwar: „[w]here it can be seen that that Government encourages and even promotes the organization of such groups, that it provides them with financial assistance, training and weapons, and co-ordinates their activities with those of its own forces for the purpose of conducting operations […].“139

Vergegenwärtigt man sich die abschließende Fassung der ILC-Artikel, würde nicht jedes dieser Beispiele unter Art. 8 ILC-Artikel fallen. Doch die vom Sonderberichterstatter für eine Zurechnung vorausgesetzten Wechselwirkungen zwischen Staat und nicht-staatlichem Akteur deuten durchaus auf das im Rahmen von Art. 8 ILC-Artikel erforderliche Kontrollmoment hin. Daneben könne es indes zweifelsohne Situationen geben, in denen nichtstaatliche Akteure vollkommen außerhalb staatlicher Strukturen agierten: „If that is the case, the actions which such groups may carry out in the territory of another State do not constitute a separate category distinct from other hypothetical acts of individuals […]: they are not actions which may be considered acts of the State in whose territory they were conceived and prepared.“140

Hier müsse es bei der besagten eigenen Verantwortlichkeit des Territorialstaats bleiben: „The Government of that State will be accused of having failed to fulfill its international obligations with respect to vigilance, protection and control, of having failed in its specific duty not to tolerate the preparation in its territory of actions which are directed against a foreign Government or which might endanger the latter’s security.“141

138  Mit ausdrücklichem Verweis auf den Terrorismus in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Nikolai Ushakov in: YILC 1975 Vol. I, 1310th Meeting (15.5.1975), Ziff. 28; vgl. grundsätzlich auch Roberto Ago in: YILC 1978 Vol. I, 1476th Meeting (10.5.1978), Ziff. 14 und 11 f. 139  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 136 (auch zuvor). 140  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 135. 141  YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 135.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 185

Das Einzige, was in solchen Konstellationen, unabhängig vom normativen Rahmen, zugerechnet werde, sei dann das entsprechende Handeln oder Unterlassen eines Staatsorgans,142 was i. Ü. nicht zuletzt die Annahme unterstützt, dass Art. 8 ILC-Artikel für die dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards als Zurechnungsregel nicht einschlägig sein dürfte. (b) Kontroverse in der UN-Völkerrechtskommission Dieser Vorschlag wurde in der Völkerrechtskommission kontrovers diskutiert. Das zentrale Problem, um das sich die Diskussion drehte, war dabei im Bericht des Sonderberichterstatters mehr oder minder ausdrücklich angelegt. Denn die Abhängigkeit vom privaten Handeln als an und für sich rein externes Ereignis würde, so hieß es hierin, auf das objektive Element des völkerrechtswidrigen Handelns fortwirken, wohingegen die Zurechnung als prinzipiell korrelierendes subjektives Element in keiner Weise von diesem Ereignis abhinge.143 Ein Teil der Diskussion um ILC-Entwurfsartikel 11 drehte sich zunächst um Formulierungsfragen, worauf es hier weniger ankommt.144 Befürwortend wurde vorgebracht, dass der Entwurfsartikel als Quelle staatlicher Verantwortlichkeit nicht den Akt von Privatpersonen, sondern die Verletzung einer den Staaten obliegenden Pflicht ausmache.145 Weiterhin würde damit eine subsidiäre Regel festgelegt, welche die übrigen Vorschriften zur Staatenverantwortlichkeit komplettiere.146 Als Zweckmäßigkeitserwägung lässt sich ferner auch die den Entwurfsartikel befürwortende Stellungnahme des Vorsitzenden Abdul Hakim Tabibi erwähnen: „Without the acceptance of such rules, there would be more anarchy – individuals would be able to commit wrongful acts with impunity by attributing them to a State, and States would be able to use individuals to commit wrongful acts, while disclaiming responsibility or failing to take the action required by their obli­ gation.“147 Roberto Ago in: YILC 1975 Vol. I, 1311th Meeting (16.5.1975), Ziff. 15. 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility, S. 71 ff., Ziff. 65. 144  Siehe YILC 1975 Vol. I, 1308th Meeting (13.5.1975), passim, exemplarisch Ziff. 22 f., 29, 32 f.; YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), passim, exemplarisch Ziff. 46. 145  Mustafa Kamil Yasseen in: YILC 1975 Vol. I, 1308th Meeting (13.5.1975), Ziff. 29; so auch José Sette Câmara in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 3. 146  Taslim O. Elias in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 22. 147  Abdul Hakim Tabibi in: YILC 1975 Vol. I, 1311th Meeting (16.5.1975), Ziff. 6. Diese Stellungnahme ließe sich durchaus als Plädoyer für den unwilling or unableStandard aus der Sicht gefährdeter Staaten überführen. 142  Siehe

143  YILC

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Gegen ILC-Entwurfsartikel 11 wurde indessen eine gewisse Inhaltsleere, u. a. auch Überflüssigkeit148 vorgebracht: Sein Gehalt würde aus der gesamtheitlichen Logik der Entwurfsartikel resultieren.149 Schwerwiegend erscheint daneben die Kritik, ILC-Entwurfsartikel 11 Abs. 2 wirke sich auf völkerrechtliche Primärnormen aus.150 Es sei dabei gerade die in diesem Absatz vorgesehene Formulierung „ought to have acted“, die problematisch sei, da sich die Kommission der Formulierung von Primärnormen eigentlich enthalten solle.151 Diese Entfernung von der Sphäre staatlicher Akte, weg von Fragen der Zurechnung und hin zur Völkerrechtswidrigkeit, wurde mitunter als nahezu inakzeptabel wahrgenommen.152 An dieser Stelle lassen sich auch Bedenken verorten, die auf die Besonderheiten des jeweiligen primärrecht­ lichen Bereichs verwiesen, dem durch eine solche Regelung nur bedingt Rechnung getragen werden könne.153 In diesem Spannungsfeld sollte 1975 die folgende vom Drafting Committee vorgeschlagene Fassung von ILC-Entwurfsartikel 11 von der Völkerrechtskommission angenommen werden, die im Vergleich zum ursprüng­ lichen Vorschlag von Roberto Ago aus dem Jahr 1972 nun doch deutlich weniger an den unwilling or unable-Standard erinnert: „1.  The conduct of a person or a group of persons not acting on behalf of the State shall not be considered as an act of the State under international law. 2.  Paragraph 1 is without prejudice to the attribution to the State of any other conduct which is related to that of the persons or groups of persons referred to in that paragraph and which is to be considered as an act of the State by virtue of articles 5 to 10.“154 Vallat in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 49. J. P. Tammes in: YILC 1975 Vol. I, 1308th Meeting (13.5.1975), Ziff. 22. Dies wurde in gewisser Weise auch von Befürwortern des Entwurfsartikels anerkannt, etwa von Paul Reuter in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 30 mit dem Verweis auf seine Selbstverständlichkeit: „if it did not appear in the draft articles, the substance of international law would not be changed“. 150  Edvard Hambro in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 37. 151  Francis Vallat in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 49; in dieser Hinsicht etwas vorsichtiger und die Nützlichkeit der Differenzierung zwischen privaten und staatlichen Akten in ILC-Entwurfsartikel 11 Abs. 2 betonend, Ali Suat Bilge in: YILC 1975 Vol. I, 1310th Meeting (15.5.1975), Ziff. 36. 152  Nikolai Ushakov in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 51. Zumindest einen Wechsel vom Subjektiven (Zurechnung) zum Objektiven (Völkerrechtswidrigkeit) erkennt Roberto Ago an, YILC 1975 Vol. I, 1311th Meeting (16.5.1975), Ziff. 20. 153  Paul Reuter in: YILC 1975 Vol. I, 1309th Meeting (14.5.1975), Ziff. 34; hieran anknüpfend Robert Q. Quentin-Baxter, ebd., Ziff. 46. 154  YILC 1975 Vol. I, 1345th Meeting (7.7.1975), Ziff. 10, 17. Siehe zu den in erster Lesung angenommenen Entwurfsartikeln des ersten Teils YILC 1980 Vol. II Part. 2, S. 30 ff. (ILC-Entwurfsartikel 11 auf S. 31). 148  Francis 149  Arnold



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 187

(c) Schlussendliche Verwerfung Wieder aufgegriffen wurde ILC-Entwurfsartikel 11 im Jahr 1998 im Rahmen des ersten Berichts zur Staatenverantwortlichkeit des Sonderbericht­ erstatters James Crawford.155 Anerkannt wurde darin die sich in ILC-Entwurfsartikel 11 widerspiegelnde Entwicklung im Völkerrecht hin zur Differenzierung zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Sphäre, welche Staaten eine gewisse Sicherheit biete. Diese Sicherheit müsse sich jedoch in Abwesenheit eines eigenständigen Regelungsgehalts und der Verweisung auf sonstige Zurechnungsregeln als illusorisch erweisen.156 Insofern sei die Regelung „both circular and potentially misleading, because in any given situation of injury caused by private individuals, it tends to focus on the wrong question. The issue in such cases is not whether the acts of private individuals as such are attributable to the State (they are not), but rather, what is the extent of the obligation of the State to prevent or respond to those acts. In short, not only is article 11 not a rule of attribution, it does not have the slightest impact […] on the application of the other provisions of chapter II which are rules of attribution.“157

Daher schlug der Sonderberichterstatter – auch unter dem Eindruck kritischer Stellungnahmen einiger Staaten158 – vor, ILC-Entwurfsartikel 11 zu verwerfen, was letztlich auch ohne weitere kommissionsinterne Meinungsdifferenzen geschah.159 Vorgeschlagen wurde jedoch, die Bedeutung von ILC-Entwurfsartikel 11 Abs. 1 durch einen Fälle der Staatenverantwortlichkeit ergänzenden Entwurfsartikel zu bewahren, was mit Art. 15bis geschehen sollte160:

155  YILC

1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff. 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff., Ziff. 244. 157  YILC 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff., Ziff. 244. 158  YILC 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S.  1  ff., Ziff. 243; die USA in: YILC 1998 Vol. II Part 1, S. 109, 108 etwa: „The duplication of rules provides a tribunal with an additional, if not troublesome, question of which rule to apply in a given situation and whether the rules differ in application. Article 11 should be deleted.“ In eine ähnliche Richtung und mit dem Hinweis auf das Erfordernis einer einfachen Anwendbarkeit der eigentlichen Zurechnungsregeln ferner die Stellungnahme der Schweiz, ebd., S. 109, 105 f. Zur Stellungnahme Großbritanniens, insb. mit dem Verweis auf verbleibende Unklarheiten, ebd., S. 109. 159  YILC 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff., Ziff. 245, 284 (darin S. 57). Ferner YILC 1998 Vol. I, 2558th Meeting (7.8.1998), Ziff. 45 ff., dabei insb. Ziff. 51 und 58; zu den vom Drafting Committee vorgeschlagenen Entwurfsartikeln ebd., 2562nd Meeting (13.8.1998), Ziff. 70  ff., dabei insb. Ziff. 72 (S. 288). Siehe auch YILC Vol. II Part 2, Ziff. 419 und 425. 160  YILC 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff., Ziff. 283, einführend Ziff. 278 ff.; siehe auch YILC 1998 Vol. I, 2555th Meeting (4.8.1998), Ziff. 56–59. 156  YILC

188

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„Conduct which is not attributable to a State under articles 5, 7, 8, 9 or 15 shall be considered an act of that State if and to the extent that the State subsequently acknowledges or adopts that conduct as its own.“161

Dieser Regelungsgehalt findet sich in der abschließenden Fassung des Kodifikationsvorhabens mit wenigen Änderungen wiederum in Art. 11 ILCArtikel,162 einem Artikel also, der für die hier interessierenden Fälle typischerweise nicht von Relevanz ist.163 d) Fazit Unter Zugrundelegung der Friendly Relations Declaration, der Aggres­ sionsdefinition, der Judikatur von IGH und ICTY sowie der Arbeiten der Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit ist davon auszugehen, dass sich staatliche Unfähigkeit schlechterdings nicht in dogmatisch plausibler Weise als zurechnungsbegründender Umstand164 formulieren lässt. Dasselbe wird für Fälle staatlichen Unwillens165 sowohl unter Zugrundelegung der IGH-Rechtsprechung (weniger jedoch im Hinblick auf die Judikatur des ICTY) als auch mit Blick auf die ILC-Artikel einschließlich ihrer Vorarbeiten angenommen werden können. Wird jedoch Art. 3 lit. g der Aggres­ sionsdefinition als zurechnungsbegründendes lex specialis aufgefasst, eröffnet das Kriterium „wesentlicher Beteiligung“ zumindest einen dogmatisch nicht ungangbaren Anknüpfungspunkt, um bei entsprechend eng ausgeprägten Beziehungen das Handeln nicht-staatlicher Akteure einem insofern unwilligen Territorialstaat zuzurechnen. Nur in diesem doch recht begrenzten Rahmen und ungeachtet schlussendlicher Geltungsfragen166 scheint die Hypothese, der unwilling or unable-Standard sei als völkerrechtliche Zurech161  YILC 1998 Vol. II Part 1, First Report on State Responsibility, S. 1 ff., Ziff. 284 (S.  57 f.). 162  Sein Wortlaut heißt: „Conduct which is not attributable to a State under the preceding articles shall nevertheless be considered an act of that State under international law if and to the extent that the State acknowledges and adopts the conduct in question as its own.“ Siehe im Vorlauf u. a. auch YILC 2000 Vol. 2 Part. 2, S. 65 f. 163  So schon S. 175 zuvor; vgl. auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (470 f.). 164  Andeutungshalber findet sich die Erwägung einer Zurechenbarkeit, zunächst nur auf den Fall staatlicher Unfähigkeit, z. B. auch bei Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (55 f.). Kurz darauf wird jedoch angenommen, dass der unwilling or unable-Standard lediglich auf die Haftung für ein eigenes Verhalten des Territorialstaats verweise (ebd., S. 56). 165  Sharp, Chicago JIL 1 (2000), S. 37 (44) deutet eine Zurechnungsmöglichkeit für den unwilligen Staat an, wobei es hier nicht zu einer Auseinandersetzung mit der IGH-Rspr. oder den Arbeiten der ILC kommt. 166  Hierauf wird im 3. Kapitel zurückzukommen sein.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 189

nungsregel aufzufassen, in nicht unzureichender Weise dogmatische Plausibilität beanspruchen zu können.

II. Territorialstaatliche Duldungspflicht im Sinne des unwilling or unable-Standards Mit dem unwilling or unable-Standard könnte zugleich eine Pflicht des Territorialstaats formuliert werden, militärische Maßnahmen des gefährdeten Staats gegen nicht-staatliche Akteure auch dann auf seinem Staatsgebiet zu dulden, wenn ihm das nicht-staatliche Verhalten nicht zu­rechenbar ist. Die Relevanz dieses Ansatzes soll zunächst staatenpraktisch illustriert werden (1.), bevor seine dogmatische Plausibilität untersucht wird (2.). 1. Argument Israel erklärte 1981 seine im Libanon gegen die PLO ergriffenen Maßnahmen folgendermaßen: „Members of the Council need scarcely be reminded that under international law, if a State is unwilling or unable to prevent the use of its territory to attack another State, that latter State is entitled to take all necessary measures in its own defence. The Government of Israel is in fact exercising the inherent right of self-defence enjoyed by every sovereign State, a right also preserved under Article 51 of the [UNCh]. […] I must stress that Israel’s actions are specifically directed against concentrations of PLO terrorists in Lebanon. […] Israel has no fight with Lebanon.“167

Ähnlich lesen sich einige Stellungnahmen von Staaten, die in Syrien zur Bekämpfung des ISIL intervenierten. Die USA erklärten etwa: „States must be able to defend themselves, in accordance with the inherent right of individual and collective self-defence, as reflected in Article 51 [UNCh], when, as is the case here, the government of the State where the threat is located is unwilling or unable to prevent the use of its territory for such attacks. […] Accordingly, the [US] has initiated necessary and proportionate military actions in Syria in order to eliminate the ongoing ISIL threat to Iraq […].“168 SCOR 36th Year, 2292nd Meeting: 17.7.1981, UN-Dok. S/ PV.2292, Ziff. 52, 54–56, 62 [Hervorh. P. L.]. 168  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the Secretary-General, 23.9.2014, UN-Dok. S/2014/695 [Hervorh. P. L.]. Diese Grundlinien lassen sich auch in Erklärungen anderer Staaten im Verlauf der Syrien-Krise nachvollziehen, etwa seitens Australiens oder der Türkei, siehe S. 119–122 zuvor. Eine Kurzfassung der US-amerikanischen Erklärung findet sich in einer Stellungnahme Kanadas: „In accordance with the inhe167  UN-Sicherheitsrat,

190

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Belgien betonte daneben: „Those measures are directed against the so-called ‚Islamic State in Iraq and the Levant‘ and not against the Syrian Arab Republic.“169

Gemein ist diesen Erklärungen, dass sie den unwilling or unable-Standard ausdrücklich im Selbstverteidigungsrecht verorteten. Der Unwille bzw. die Unfähigkeit des Territorialstaats, entsprechende präventive Maßnahmen zu ergreifen, wurde dabei recht schlicht festgestellt. In den Vordergrund rückte dagegen die Beteuerung, nur gegen den gefährdenden nicht-staatlichen Akteur vorzugehen und militärische Maßnahmen nicht gegen den Territorialstaat zu richten, mit dem man schließlich in keinem Konflikt stehe. Es ist hier also weniger ein dem Territorialstaat zurechenbares Verhalten, auf das im Wege der Selbstverteidigung reagiert wird, sondern die schlichte Notwendigkeit solcher Maßnahmen angesichts einer Gefahr, die der Territorialstaat nicht unterbinden wollte oder konnte. Funktional-dogmatisch kann insofern von einer den Territorialstaat treffenden zurechnungsunabhängigen Duldungspflicht gesprochen werden.170 2. Plausibilität Fraglich ist also, ob sich eine solche zurechnungsunabhängige Duldungspflicht dogmatisch plausibilisieren lässt. Dafür sind zunächst [(a)] Vorfragen zur Auslegung von Art. 51 UNCh maßgeblich. Auf dieser Grundlage müsste jedoch zusätzlich erklärt werden können [(b)], warum genau der gefährdete Staat im Territorialstaat militärisch agieren dürfen sollte, wenn schon letzterem ein bewaffneter Angriff nicht zurechenbar ist.

rent right of individual and collective self-defence reflected in Article 51 [UNCh], States must be able to act in self-defence when the Government of the State where a threat is located is unwilling or unable to prevent attacks emanating from its territory.“, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Canada to the UN addressed to the President of the Security Council, 31.3.2015, UN-Dok. S/2015/221 [Hervorh. P. L.]. 169  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Belgium to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.6.2016, UN-Dok. S/2016/523 [Hervorh. P. L.]; nahezu wortlautgleich Letter from the Permanent Representative of Norway to the UN addressed to the President of the Security Council, 3.6.2016, UNDok. S/2016/513. 170  Siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 119 und 120 ff.; vgl. auch Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (14, 32).



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 191

a) Art. 51 UNCh als dogmatische Hürde Soll der unwilling or unable-Standard außerhalb völkerrechtlicher Zurechnungsregeln etabliert werden, kann (rückblickend auf das typische Grundszenario) ein bewaffneter Angriff des Territorialstaats nicht vorliegen. Vorauszusetzen wäre also vielmehr, wie auch die exemplarischen Erklärungen indizieren, dass diesen auch nicht-staatliche Akteure verüben können. Dies ist eine ebenso voraussetzungsreiche wie umstrittene Frage: Insofern soll es sogleich auch nicht darum gehen, die (Un-)Möglichkeit nicht-staatlicher bewaffneter Angriffe abschließend zu eruieren, sondern darum, einen Überblick über diejenigen Merkmale von Art. 51 UNCh zu geben, deren Vorliegen für die Annahme der hier fraglichen Duldungspflicht überhaupt vorauszusetzen wäre. Die in diesem Sinne zu überwindenden dogmatischen Hürden von ­ Art. 51 UNCh betreffen dabei v. a. [(aa)] das Wesen des bewaffneten Angriffs, [bb)] die Anforderungen an seine Urheberschaft sowie [cc)] den ­Adressaten des ausgeübten Selbstverteidigungsrechts. aa) Zum Wesen bewaffneter Angriffe (1) Intensitätsschwelle Der bewaffnete Angriff i. S. v. Art. 51 UNCh setzt einen gewalttätigen Akt voraus. Dabei wird überwiegend gefordert, dass die angewendete Gewalt eine gewisse Intensität aufweisen müsse.171 Dies wird etwa dahingehend präzisiert, dass militärische Gewalt in massiver und koordinierter Form gegen einen anderen Staat eingesetzt werden müsste.172 Gegen eine solche ­Intensitätsschwelle wurde zwar vorgebracht, dass sie mit dem umfassenden völkerrechtlichen Gewaltverbot nicht vereinbar sei: Grauzonen zwischenstaatlicher Gewalt seien nicht zu dulden und überhaupt sei unklar, wer über die Intensität bestimmen solle, sodass das Problem vielmehr auf Rechts­ folgenseite unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu verhandeln sei.173 171  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, Abschn. 8 Rn. 19; insb. IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 191 ff., 211, 249); IGH (Oil Platforms), ICJ Rep. 2003, S. 161 (Ziff. 51, 64, 72). Mit einem Überblick Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (269 ff.); niederschwellig angesetzt bei Kretzmer, EJIL 24 (2013), S. 235 (242 f., 263). Hierzu auch ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 6. 172  Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 34 Rn. 22. 173  So noch Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rn. 28; ähnlich die sog. Chatham House Principles, ICLQ 55 (2006), S. 963 (966); so letztlich auch (unter zusätzlichem Verweis auf den Ausschluss kollektiver Selbstverteidigung in diesen Fällen) IGH (Oil Platforms), ICJ Rep. 2003, S. 161, Separate Opinion of Judge

192

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Dies setzt jedoch bereits die Notwendigkeit der Selbstverteidigung voraus, unterstellt also den Tatbestand, dessen Vorliegen gerade in Frage steht, vermag einen missbräuchlichen Rekurs auf Art. 51 UNCh nicht zu verhindern und institutionalisiert in keiner Weise die in jedem Fall notwendig einseitige Wertung, ob eine Selbstverteidigungslage besteht. Orientierung zur Intensität eines bewaffneten Angriffs kann dagegen die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung geben.174 Hier lautet Art. 1: „Aggression is the use of armed force by a State against the sovereignty, territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations […].“

Während dies noch keinen Aufschluss über die Intensität eines bewaffneten Angriffs gibt, finden sich in Art. 3 Regelbeispiele für das Vorliegen einer Aggression. Darunter fallen klassische Fälle wie die Invasion bzw. der Angriff der Streitkräfte eines Staats auf das Hoheitsgebiet eines anderen Staats oder damit einhergehende militärische Besetzungen oder gewaltsame Annexionen (lit. a), die Beschießung und Bombardierung des Hoheitsgebiets eines Staats durch die Streitkräfte eines anderen Staats einschließlich des entsprechenden Einsatzes sonstiger Waffen durch einen Staat (lit. b), Blockaden von Häfen oder Küsten eines Staats durch die Streitkräfte eines anderen Staats (lit. c) oder der Angriff staatlicher Streitkräfte auf Land-, See- oder Luftstreitkräfte bzw. die See- und Luftflotte eines anderen Staats (lit. d).175 Für die hier relevanten Fälle sind aber v. a. die letzten beiden Regelbeispiele relevant: Nach lit. f gilt als Aggression „[t]he action of a State in allowing its territory, which it has placed at the disposal of another State, to be used by that other State for perpetrating an act of aggression against a third State“,

nach lit. g hingegen „[t]he sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to the acts listed above [Hervorh. P. L.], or its substantial involvement therein“.

Hiermit macht Art. 3 lit. g deutlich, dass die Regelbeispiele in einer auf­ einander bezogenen Einheit stehen und eine gewisse Erheblichkeit bzw. Intensität voraussetzen. Insofern gilt es mit dem IGH, „to distinguish the most Simma, Ziff. 13; hier die Schutzbedürftigkeit des gefährdeten Staats betonend, Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 96. 174  UN-Generalversammlung, Res. 3314 (XXIX), 14.12.1974, UN-Dok. A/RES/ 3314 (XXIX), Annex; Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 34 Rn. 22. 175  Übersetzung nach dem Resolutionstext des dt. Übersetzungsdienstes bei den Vereinten Nationen, April 2003.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 193

grave forms of the use of force (those constituting an armed attack) from other less grave forms.“176 (2) Accumulation of events-Doktrin Ein hieran anknüpfendes Problem entsteht, wenn es zu mehreren Vorfällen kommt, die für sich genommen die Intensitätsschwelle des Art. 51 UNCh noch nicht erreichen. Dass dieses Problem auch für den unwilling or unableStandard relevant ist, zeigt die maßgebliche Staatenpraxis: So gingen z. B. der militärischen Intervention Frankreichs in Tunesien im Jahr 1958 mehrere Übergriffe durch algerische Rebellen voraus,177 Israel verwies 1981 für seine exterritorialen Maßnahmen im Libanon auf „repeated PLO outrages“178 und 2006 auf sich mehrende Gewaltakte der Hisbollah,179 und ähnlich gingen den türkischen Interventionen im Irak von 2007 bis 2008 mehrere Übergriffe der PKK auf Militär und Zivilbevölkerung voraus.180 Insofern schien gerade eine Mehrzahl von Gewaltakten Selbstverteidigungsmaßnahmen provoziert zu haben. Gesprochen wird dabei etwa von einer „Nadelstichtaktik“181. Solche Fälle in die Struktur von Art. 51 UNCh zu übersetzen ist das Anliegen der accumulation of events-Doktrin: Sie verbindet mehrere intensitätsunterschwellige Übergriffe zu einem bewaffneten Angriff und hält damit seine Gegenwärtigkeit aufrecht.182 Insofern lässt sie sich auf das Interesse gefährdeter Staaten zurückführen, auf Abwehrmöglichkeiten zurückzugreifen, um unterschwelligen Übergriffen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.183 Übereinstimmend wird dabei wohl betont, dass dies einen gewissen Zusammenhang der einzel-

176  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 191). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den aus dieser Differenzierung resultierenden Problemen bei Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (etwa ausgehend von S. 165, i. Ü. passim). Grundsätzlich gegen eine Intensitätsschwelle Paust, Univ. Pa. JIL 34 (2013), S. 431 (432 f.). 177  Siehe S.  97 ff. zuvor. 178  UN-Sicherheitsrat, SCOR 36th Year, 2292nd Meeting: 17.7.1981, UN-Dok. S/ PV.2292, Ziff. 52. 179  Siehe S.  106 ff. zuvor. 180  Siehe S.  112 f. zuvor. 181  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 106 f. Zum Begriff sog. „pin-prick assaults“ siehe die Differenzierung von Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 554, 722. 182  Schmalenbach, NZWehrr 42 (2000), S. 177 (182). Zurückgeführt wird sie auf US-amerikanische Militärschläge gegen Libyen im Jahr 1986, nach Johnstone, Col. J. Transnat’l L. 43 (2005), S. 337 (372 f.). 183  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 109.

194

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

nen Übergriffe erfordert, etwa „in time, source and cause“184.185 Der IGH hat dieses Problem mit Formulierungen wie, „[e]ven taken cumulatively […] these incidents do not seem to the Court to constitute an armed attack“186

oder „[t]he Court is of the view that […] even if this series of deplorable attacks could be regarded as cumulative in character, they still remained non-attributable“187

eher nur andeutungsweisen adressiert, die Frage also entweder offen gelassen188 oder befürwortet.189 Zumindest in der Staatenpraxis scheint aber eine gesteigerte Sympathie für diesen zusammenfassenden Ansatz zu bestehen.190 (3) Zeitlicher Rahmen Zeitlich kann mit einer gewissen Allgemeinheit vorausgesetzt werden, dass ein bewaffneter Angriff sowohl schon als auch noch bestehen muss.191 Grenzen lassen sich dabei kaum trennscharf ziehen. Durchaus nahe liegt es aber, das Selbstverteidigungsrecht nicht erst nach Gestaltwerdung des Schadens zu eröffnen, wenn der Angriff also passiert ist und in der Vergangenheit liegt, da einem gefährdeten Staat kaum zugemutet werden kann, sich erst nach Schädigung zu verteidigen.192 Das dahinter stehende prinzipiell 184  Ruys,

Armed Attack and Article 51 of the UN Charter (2010), S. 168. die Übersicht bei Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 107 (unter Fn. 394) m. w. N.; vgl. auch Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (36 ff., insb. 38). 186  IGH (Oil Platforms), ICJ Rep. 2003, S. 161 (Ziff. 64). 187  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 146). 188  Gray, International Law and the Use of Force (2008), S. 156. 189  Letzteres und auch i. Ü. Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 108. 190  Siehe Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 52, 93; so auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 21; Kretzmer, EJIL 24 (2013), S. 235 (243 f.); Henriksen, JCSL 19 (2014), S. 211 (249). Zurückhaltend Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 310 f. und ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 7. 191  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn. 19. Insofern heißt es auch in Art. 51 S. 1 UNCh: „if an armed attack occurs“ [Hervorh. P. L.]. 192  Bowett, Self-Defence in International Law (1958), S. 191; siehe auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 52–54, wobei Art. 51 UNCh das Auftreten eines bewaffneten Angriffs nicht (wie a. a. O. bei Rn. 53 zu lesen ist) im Perfekt, sondern im Präsens beschreibt; ferner Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (90). 185  Hierzu



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 195

legitime Interesse ist jedoch ebenso wie der Begriff der Zumutbarkeit äußerst dehnbar.193 Für die Frage, wie weit eine Selbstverteidigungsmaßnahme einem bewaffneten Angriff vorausgehen kann, hat sich daher ein nahezu unerschöpflicher Fundus an Vorschlägen und Kriterien entwickelt.194 Als vergleichsweise konsensfähig und im eigentlichen Wortsinn das „Schon“ eines bewaffneten Angriffs versinnbildlichend erscheint in diesem Zusammenhang noch die Figur der sog. interceptive oder abfangenden Selbstverteidigung: Gemeint ist damit die Reaktion auf einen bereits irreversibel in Gang gesetzten Prozess, der lediglich einen Schaden noch nicht bewirkt hat und für dessen Bestehen auf eindeutige Beweise zurückgegriffen werden kann.195 Geht es dagegen um das „Noch“ eines bewaffneten Angriffs, kann in vergleichbarer Weise betont werden, dass eine alleinige Waffenpause (verwiesen wurde mehrmals auf das Beispiel eines Raketenangriffs) einen bewaffneten Angriff nicht beendet, sofern seine Intensivierung durch weitere Übergriffe (wiederum bei großer zeitlicher Nähe und hinreichendem Beweismaterial) zu erwarten ist.196 Das ausgewiesene Fallmaterial zeigt indes, dass der unwilling or unableStandard, abgesehen von den durch die von der accumulation of eventsDoktrin erfassten Bedrohungslagen, unter zeitlichen Gesichtspunkten nicht zwingend Probleme birgt: Ihm wurden nämlich nicht nur äußerst lang anhal193  Anschaulich verdeutlicht dies die in diesem Sinne äußerst weitreichende BushDoktrin, dazu The White House, National Security Strategy of the USA, Sept. 2002, S. 6: „We will disrupt and destroy terrorist organizations by […] defending the [USA], the American people, and our interests at home and abroad by identifying and destroying the threat before it reaches our borders. While the [USA] will constantly strive to enlist the support of the international community, we will not hesitate to act alone, if necessary, to exercise our right of self-defense by acting preemptively against such terrorists, to prevent them from doing harm against our people and our country“; ähnlich ebd., S. 15. Siehe aber Ruys/Ferro, ICLQ 65 (2016), S. 61 (78) mit dem Hinweis, dass die Zulässigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen über die in zeitlicher Hinsicht im Caroline-Fall vorgesehenen Kriterien hinaus gemeinhin nicht anerkannt wurde. 194  Vgl. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht (2012), S.  49 ff. 195  Diener, Terrorismusdefinition im Völkerrecht (2008), S. 251  f.; Schiffbauer, ebd., S. 67; Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 606 ff.; befürwortend auch Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 (161). Veranschaulichend wurde hierfür auf ein noch nicht an seinem Zielgebiet angelangtes Kampfflugzeug hingewiesen (Schiffbauer, ebd., S. 67), z. B. mit einem hypothetisch-erweiterten Verweis auf die Anbahnung des japanischen Luftwaffenangriffs auf Pearl Harbor 1941 (Dinstein, ebd., Rn. 607 und ff.). 196  Kugelmann, JURA 2003, S. 376 (381); Dau, Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure (2018), S. 180; wohl auch Heintschel v. Heinegg/Gries, AVR 40 (2002), S. 145 (157).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

tende Maßnahmen wie die Präsenz des israelischen Militärs im Südlibanon bis zur Jahrtausendwende zugeordnet,197 sondern auch die gut einwöchige Operation Sun der Türkei im Irak Ende Februar 2008198 oder der im Rahmen der Operation Phoenix erfolgte kurzzeitige Übergriff auf das Staatsgebiet Ecuadors, den Kolumbien zunächst als hot pursuit auswies.199 Abstrakt bestehen für die Grundkonstellation des unwilling or unable-Standards insofern keine größeren zeitlichen Probleme als in sonstigen Gefährdungslagen, die im Zusammenhang mit nicht-staatlichen Akteuren stehen.200

197  Diese scheinen auf den ersten Blick eher mit Blick auf das „Noch“ eines bewaffneten Angriffs problematisch zu sein; da hierdurch jedoch neuerliche bewaffnete Angriffe unterbunden werden sollen, wirken diese Maßnahmen gleichsam im Vorfeld „künftiger“ bewaffneter Angriffe, siehe Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht (2012), S. 78. Das Bsp. auf S. 104–108. 198  Siehe S.  112 f. zuvor. 199  Siehe hierzu S. 141 f. Auch wenn der Fall nach der letztendlichen Entschuldigung Kolumbiens nur bedingt staatenpraktisch relevant ist, erscheint seine Ausgangssituation dem hier typischen Grundszenario nicht unähnlich. 200  In diesem Sinne wohl auch die Abgrenzung bei Goldsmith, Harv. ILJ 57 (2016), S. 455 (460–462): Hier wird der unter der Obama-Administration zur Anwendung gebrachte unwilling or unable-Standard erst nach den Vorstellungen dieser Regierung zu einem etwaigen vorbeugenden Selbstverteidigungsrecht besprochen; mit implizit ähnlicher Tendenz Banks, MLR 200 (2009), S. 54 (55, unter Fn. 5). Letztlich kann daher auch eine nähere Auseinandersetzung mit den Begriffen präventiver, präemptiver und antizipatorischer Selbstverteidigung unterbleiben, siehe jedoch Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff., passim, mit einem umfangreichen Überblick zu zahlreichen Differenzierungen in diesem Bereich. Anzumerken ist gleichwohl, dass ein rechtssicherer Gebrauch dieser Begriffe kaum erwartet werden kann. So wird mitunter ein semantischer Unterschied zwischen präemptiver und antizipatorischer Selbstverteidigung verneint (Dinstein, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 915 (918)); Diener, Terrorismusdefinition im Völkerrecht (2008), S. 250; Bellier, Maine L. Rev. 58 (2006), S. 508 (514); bei Kretzmer, EJIL 24 (2013), S. 235 (248, 260, 271 f.) werden die Begriffe hingegen weitgehend synonym verwendet), präemptive und präventive Selbstverteidigung als dasselbe angesehen (Blumenwitz, Politische Studien 54 (2003), Heft 391, S. 21 (21); vgl. Kreutzer, Preemptive Self-Defense (2004), S. 11), antizipatorische Selbstverteidigung zum Oberbegriff präventiver und präemptiver Selbstverteidigung erklärt (vgl. im Überblick und m. w. N. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht (2012), S. 64), andererseits aber auch präventive Selbstverteidigung als Topos antizipatorischer und präemptiver Selbstverteidigung angesehen (Wolfrum, Max Planck UNYB 7 (2003), S. 1 (30 und ff.); siehe auch Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 (369)). Ferner de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 (506) mit der Beobachtung einer grundsätzlichen Skepsis in der Staatengemeinschaft hinsichtlich präventiver und präemptiver Selbstverteidigung.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 197

bb) Urheberschaft Größere Probleme bereitet die Frage, ob nicht-staatliche Akteure einen bewaffneten Angriff verüben können. Hierbei sind, auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des IGH [(2)], enorme Unterschiede in der Auslegung von Art. 51 UNCh zu verzeichnen [(1)]. (1) Auslegungsansätze Die für die Auslegung von Art. 51 UNCh zentrale Frage liegt darin, ob die Limitierung der Urheberschaft eines bewaffneten Angriffs auf Staaten nach der gewöhnliche Bedeutung von Art. 51 UNCh, dem systematischen Zusammenhang der UN-Charta, ihrem telos (Art. 31 Abs. 1 WÜV201), einer späteren Übung (Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV) und den travaux préparatoires (Art. 32 WÜV) plausibel erscheint.202 Für den Wortlaut gilt, dass Art. 51 UNCh Urheber oder Quelle eines bewaffneten Angriffs nicht näher personalisiert, m. a. W. nicht von einem Staat spricht, sondern mit einem Mitglied der Vereinten Nationen (Art. 4 Abs. 1 UNCh) nur einen Staat als Ziel eines bewaffneten Angriffs ausweist.203 Systematisch kommt es v. a. darauf an, wie das Verhältnis von Art. 2 Nr. 4 zu Art. 51 UNCh aufgefasst wird, definieren doch Art. 1 Nr. 1, 39 und 53 Abs. 1 UNCh „Angriff“ bzw. „aggression“ nicht näher.204 Betont man, dass Art. 2 Nr. 4 UNCh auf das Verhältnis der Mitglieder der Vereinten Nationen, also auf Staaten abstellt, und Art. 51 UNCh eine Ausnahme hierzu festlegt, könnte das Staatlichkeitserfordernis entsprechend auch für das Selbstverteidigungsrecht stark gemacht werden.205 Dagegen könnte jedoch die Formulie201  Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1969, BGBl. 1985 II S. 927 (UNTS Bd. 1155 S. 331). 202  Mit einem darüber hinausgehenden Blick auf die Berücksichtigung bzw. Adressierung nicht-staatlicher Akteure z. B. im Rahmen des humanitären Völkerrechts, im Völkerstrafrecht, in Vertragswerken zur Bekämpfung des Terrorismus, in Resolutionen des Sicherheitsrats sowie in einer sich ändernden Staatenpraxis Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (564 f., 571 f.). 203  Tomuschat, EuGRZ 28 (2001), S. 535 (540); Frowein, ZaöRV 62 (2002), S. 879 (887); Österdahl, ZaöRV 77 (2017), S. 23 (24); Dau, Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure (2018), S. 62; Wedgwood, AJIL 99 (2005), S. 52 (58); Lanovoy, ebd., S. 571; Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (239–241); umfangreich dargelegt bei Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (112–114). 204  Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 75. 205  Weigelt, ebd., S. 75  f.; siehe in gewisser Weise auch Blumenwitz, ZRP 35 (2002), S. 102 (104) im Vergleich von bewaffnetem Angriff und Angriffshandlung (Art. 39 Var. 3 UNCh).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

rung in Art. 51 S. 1 UNCh, „[n]othing […] shall impair the inherent right of individual or collective self-defence“ sprechen.206 Verwiesen wird von dieser Warte wiederum auch auf die Berücksichtigungsfähigkeit Privater im Rahmen von Art. 39 UNCh, insb. unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung des Friedens (Var. 1), wie sie der Sicherheitsrat z. B. für den ISIL artikulierte.207 Die Plausibilität dieses Rekurses setzt jedoch einerseits voraus, dass die tatbestandlichen Varianten von Art. 39 Hs. 1 UNCh vor dem Hintergrund des einheitlichen Friedensbegriffs der UN-Charta nicht ausdifferenziert werden, sondern vielmehr einheitlich gehandhabt werden müssten.208 Und andererseits müssten die Tatbestände von Art. 39 und Art. 51 S. 1 UNCh gleich- oder zumindest parallel laufen.209 Dagegen spricht jedoch, dass die Befugnisse des Sicherheitsrats bei Aktivierung des kollektiven Sicherheitssystems weiter reichen als unilaterale Selbstverteidigungsmaßnahmen.210 Entsprechende Differenzen setzen sich im Rekurs auf Ziel und Zweck von Art. 51 UNCh fort. Je nachdem mag das legitime Interesse des gefährdeten Staats, sich zu verteidigen, oder die ratio von Art. 2 Nr. 4 UNCh, Gewalt in den internationalen Beziehungen umfassend zu unterbinden, neben dem in Art. 1 Nr. 1 UNCh erklärten Ziel, den Weltfrieden und die internationale ­Sicherheit zu wahren,211 betont werden. Im erstgenannten Sinn wurde etwa bemerkt, dass Terroranschläge herkömmlichen zwischenstaatlichen Angriffen materiell gleichzustellen, wenn nicht sogar als gefährlicher anzusehen seien.212 Wenn dies auch nicht in früheren Zeiten antizipiert worden sein mag, 206  Siehe Ruys, Armed Attack and Article 51 of the UN Charter (2010), S. 58 [Hervorh. P. L.]. 207  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 62; allein hieraus kann jedoch noch nicht gefolgert werden, dass dem Selbstverteidigungsrecht eine Reduktion des Angreifers auf Staaten immanent sei (so aber dies., ebd.). Dafür müsste sich die auf Art. 39 UNCh stützende Praxis unmittelbar auf Art. 51 UNCh fortwirken, was C. Dau selbst in Frage zieht (ebd., S. 64). Siehe zum Beispiel des ISIL UN-Sicherheitsrat, Res. 2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1 (und Ziff. 1), zuvor S. 114 ff. 208  Krajewski, AVR 40 (2002), S. 183 (197). 209  Insofern und krit. Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 64; Blumenwitz, ZRP 35 (2002), S. 102 (104). 210  Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 79; Dau, ebd., S. 64. In gewisser Weise (und insofern Kap. VII UNCh als Teil des ius contra bellum (nunmehr) keinen vorangegangenen Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 UNCh vo­ raussetze) setzt hier jedoch Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (117–119) an und überträgt die Toleranz von Kap. VII UNCh gegenüber asymmetrischen Gewaltanwendungen als Potential für Art. 51 UNCh. 211  Krit. hierzu Tams, ebd., S. 120–122. 212  Bruha/Bortfeld, VN 2001, S. 161 (165); vgl. auch Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 (471).



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 199

so müsse es nun doch verwundern, wenn Staaten Gewalt gegen sie angreifende konventionelle Armeen anwenden dürften, im Hinblick auf Terroranschläge aber auf keine rechtlichen Mittel zum Schutz ihrer Zivilbevölkerungen zurückgreifen könnten.213 Entsprechend wurde auch angenommen, dass Abschreckungspolitiken gerade dann besonders effektiv seien, wenn Terroranschläge den Anwendungsbereich von Art. 51 UNCh aktivieren könnten.214 Im Ergebnis erweise sich dies dann auch als Ausdruck eines praktischen völkerrechtlichen Wirklichkeitswandels, der sich vom formellen Festhalten an der Staatlichkeit des Angreifenden entfernt habe und dabei die menschenrechtliche Begründung des Selbstverteidigungsrechts prononciere.215 Die hiergegen gerichteten Einwände – die Gefahr eines Missbrauchs des Selbstverteidigungsrechts und einer damit einhergehenden Erosion des völkerrechtlichen Gewaltverbots – liegen andererseits auf der Hand.216 Unter historischen Gesichtspunkten (Art. 32 lit. a WÜV) wurde wiederum auf Entwürfe der US-amerikanischen Delegation im Rahmen der San Fran213  Wedgwood, AJIL 99 (2005), S. 52 (58). Dies verfängt freilich nur, insofern als rechtliches Mittel das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht festgelegt wird. Auch Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (26) spricht sich letztlich dafür aus, dass Art. 51 UNCh jede Gewaltanwendung mit der Intensität eines bewaffneten Angriffs erfassen müsse. 214  Reisman, Hou. JIL 22 (1999), S. 3 (39). 215  Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 (471 f.). Ders. bemüht sich a. a. O. sogleich, diese Gefahren zu relativieren: „Ein materielles Verständnis von Art. 51 SVN“, so heißt es nun, „darf das Selbstverteidigungsrecht daher nicht ausweiten, es muss im Gegenteil von einem positiven Friedensbegriff her seine Grenzen noch schärfer nachzeichnen und eine ‚genuine link‘ zwischen individueller/kollektiver Verteidigungshandlung und völkergemeinschaftlicher Friedenssicherung herstellen.“ Dass letztlich die Verhältnismäßigkeit diese „scharfe Grenzzeichnung“ gewährleisten soll (siehe ebd., S. 472), etwas anderes bleibt auch nicht, darf aber spätestens bezweifelt werden. Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (241) verweist daneben maßgeblich auf völkerrechtliche Praktiken (der USA) seit dem Beginn des 19. Jhdt. Siehe auch den Verweis auf eine Staatenpraxis in diesem Sinne bei Murphy, AJIL 99 (2005), S. 62 (67 ff.). Insofern bestehen aber auch gegenläufige Tendenzen, etwa mit Blick auf NAM, 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document, Ziff. 25.2; hierzu auch Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (897). Daneben stehen maßgeblich Res. 1368 und 1373 (2001) des UN-Sicherheitsrats im Fokus; doch auch insofern ist str., ob hierdurch die nicht-staatliche Urheberschaft eines bewaffneten Angriffs bestätigt wurde, krit. etwa Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (543, 544); u. a. erkennt Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (623, und 633 i. Ü.) z. B. an, dass dabei nur in der Präambel auf das Selbstverteidigungsrecht Bezug genommen wurde und weniger von einem bewaffneten Angriff, sondern vielmehr von einer Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gesprochen wurde; so auch Mégret, KJ 35 (2002), S. 157 (164 ff.); zu Unklarheiten bzgl. einer hiermit einhergehenden Autorisierung unilateraler Militärmaßnahmen McDonnell, Geo. Wash. ILR 44 (2012), S. 243 (268 f.). 216  So auch ausdrücklich Kotzur, ebd., S. 471.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

cisco-Konferenz verwiesen, die zum Selbstverteidigungsrecht von „attack by any state against any member state“217 oder einer „aggression by any state“218 sprachen,219 sich letztlich aber nicht durchsetzen konnten.220 Dies eröffnet Raum für Spekulationen in die eine oder andere Richtung. So könnte angenommen werden, dass die im Wortlaut verbliebene Weite konzeptionell jeglichen bewaffneten Angriff, also auch einen solchen nicht-staatlicher Akteure, erfassen sollte, solange er nur bewaffnet sei.221 Auf der anderen Seite wird darauf verwiesen, dass zur Zeit des Entwurfs der UN-Charta die Frage nach militärischen Defensivmaßnahmen in Reaktion auf originär nicht-staatliche Akteure nicht antizipiert wurde.222 Die Unklarheiten um den Ursprung des bewaffneten Angriffs setzen sich damit auch im Rahmen der historischen Auslegung von Art. 51 UNCh fort.223 (2) IGH-Rechtsprechung Auf die Diskussion dieser Frage hat nicht zuletzt die Rechtsprechung des IGH einen enormen, wenngleich auch nicht abschließend determinierenden Einfluss genommen.224 217  U.S. Department of State, Office of the Historian, Foreign Relations of the United States: Diplomatic Papers, 1945, General: The United Nations, Vol. I, Minutes of the 36th Meeting of the US Delegation, San Francisco, 11.5.1945, S. 674 (Annex), abrufbar unter: https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1945v01/d222. 218  U.S. Department of State, Office of the Historian, Foreign Relations of the United States: Diplomatic Papers, 1945, General: The United Nations, Vol. I, Minutes of the 37th Meeting of the US Delegation, San Francisco, 12.5.1945, S. 676, abrufbar unter: https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1945v01/d223. 219  Hierzu insb. Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S.  66 f. 220  Vgl. auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 87. 221  Stahn, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 827 (830). 222  Van Steenberghe, LJIL 23 (2010), S. 183 (198); vgl. auch Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (51). 223  Vgl. auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 67; so letztlich auch Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against NonState Actors (2019), S. 90 (123 f.). Siehe jedoch O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 174 (185) mit dem Hinweis, dass Art. 51 UNCh zu einem vglw. späten Zeitpunkt und auf maßgebliches Betreiben lateinamerikanischer Staaten aufgenommen wurde, welche die Realisierung eines Systems regionaler kollektiver Sicherheit – damit das Recht kollektiver Selbstverteidigung einschließend – verfolgten: Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance and Final Act of the Inter-American Conference for the Maintenance of Continental Peace and Security v. 2.9.1947, UNTS Bd. 21 S. 77. 224  Diese umfangreiche Rezeption in Lit. und nachfolgender Rspr. bestätigt, dass der tatsächliche Einfluss von IGH-Entscheidungen auf das Völkerrecht durchaus über



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 201

(a) Grundlinien Zunächst wurden in der Nicaragua-Entscheidung mit Blick auf das Tatbestandsmerkmal des bewaffneten Angriffs Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure zwar für relevant erachtet, entscheidend dafür aber – angelehnt an Art. 3 lit. g der Aggressionsdefinition und die hierin vorgesehenen staatlichen Hintergrundaktivitäten (Entsendung bzw. substantielle Involvierung) – auf das Erfordernis einer staatlichen Beteiligung bzw. Verwicklung in diese Aktivitäten abgestellt.225 Hieran knüpfte die (betontermaßen nach dem 11. September 2001 getroffene) Entscheidung in der Sache Oil Platforms an, und zwar mit einem auf die Annahme einer Selbstverteidigungslage bezogenen Erfordernis staatlicher Zurechenbarkeit: „in order to establish that it was legally justified in attacking the Iranian platforms in exercise of the right of individual self-defence, the United States has to show that attacks had been made upon it for which Iran was responsible“.226

Im Mauer-Gutachten ging der IGH zwar davon aus, dass Art. 51 UNCh nicht von Relevanz sei.227 Gleichwohl wurde aber auch hier betont: die in Art. 59 IGHSt vorgesehene Rechtskraft seiner Entscheidungen inter partes hinauszugehen vermag, in diesem Sinne Shahabuddeen, Precedent in the World Court (1996), S. 100, 235. Eine bindende Präjudizwirkung kommt den Entscheidungen aber nicht zu, Shahabuddeen, ebd., S. 238; Jennings, ICLQ 45 (1996), S. 1 (6); OellersFrahm, in: Simma et al. (Hrsg), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 94 Rn. 11; Sachs, Sicherheit und Frieden 23 (2005), S. 144 (144). 225  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 195), a. a. O. nicht zuletzt auch mit der Formulierung: „But the Court does not believe that the concept of ‚armed attack‘ includes not only acts by armed bands where such acts occur on a significant scale but also assistance to rebels in the form of the provision of weapons or logistical or other support.“ Siehe auch Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 89; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 75 f., 88 bezieht sich u. a. hingegen auf den Maßstab effektiver Kontrolle (dazu IGH, ebd., Ziff. 115). Krit. insofern Martin, Vand. JTL 52 (2019), S. 387 (432, unter Fn. 219): „It is worth noting that the ‚effective control‘ test that was also elaborated in Nicaragua was to assess the attribution of NSA […] violations of IHL to the controlling state […], for purposes of state responsibility – not to determine attribution for purposes of justifying the use of force in self-defense or even the use of force.“ 226  IGH (Oil Platforms), ICJ Rep. 2003, S. 161 (Ziff. 51) [Hervorh. P. L.], bei Ziff. 57 heißt es entsprechend: „the Court has simply to determine whether the United States has demonstrated that it was the victim of an ‚armed attack‘ by Iran [Hervorh. P. L.] such as to justify it using armed force in self defence“; Dau, ebd., S. 89. 227  IGH (Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory), ICJ Rep. 2004, S. 136 (Ziff. 139), insofern Israel nämlich Kontrolle über die besetzten palästinensischen Gebiete ausübte, in denen die fraglichen Gefährdungen erst ihren Ursprung nahmen, siehe auch O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (200).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„Article 51 of the Charter thus recognizes the existence of an inherent right of selfdefence in the case of armed attack by one State against another State. However, Israel does not claim that the attacks against it are imputable to a foreign State.“228

Und schließlich hieß es ein gutes Jahr später im Armed Activities-Fall: „The Court has found […] that there is no satisfactory proof of the involvement in these attacks, direct or indirect, of the Government of the DRC. The attacks did not emanate from armed bands or irregulars sent by the DRC or on behalf of the DRC, within the sense of Article 3 (g) of the General Assembly resolution 3314 (XXIX) on the definition of aggression […]. The Court is of the view that […] even if this series of deplorable attacks could be regarded as cumulative in character, they still remained non-attributable to the DRC.“229

Es zeigt sich also, dass der IGH in ständiger Rechtsprechung bisher davon ausgegangen ist, dass von nicht-staatlichen Akteuren ausgehende Gewaltakte nur dann einen bewaffneten Angriff darstellen können, wenn sie einem Staat zurechenbar sind.230

228  IGH, ebd., Ziff. 139. Zur hieran anknüpfenden Diskussion siehe insb. Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 91 ff.; krit. etwa Murphy, AJIL 99 (2005), S. 62 ff. 229  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 146) [Hervorh. P. L.]. 230  Diese Einschätzung wird weitgehend geteilt, siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 97; ausdrücklich befürwortet dies etwa Tladi, AJIL 107 (2013), S. 570 (574), wenngleich vielleicht auch a. a. O. die entsprechende Staatenpraxis etwas unterschätzt wird. Nicht zu Unrecht hat jedoch etwa Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (27–29) auf eine Liberalisierungstendenz im Armed Activities-Fall hingewiesen, insofern der IGH hier die Frage nach einem Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure offengelassen habe: So heißt es in IGH, ebd., Ziff. 147: „[…] the Court has no need to respond to the contentions of the Parties as to whether and under what conditions contemporary international law provides for a right of self-defence against large-scale attacks by irregular forces.“ So auch Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1120; Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 36 sowie Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (157 f.). Krit. zu dieser Rezeption jedoch Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 14 (57 f.), wonach der Passus mangels Zurechnungsmöglichkeit gerade im Zusammenhang mit dem Fehlen der Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts zu lesen sei. O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 174 (200 f.) interpretiert den fraglichen Passus dahingehend, dass wenn ein Staat für das Verhalten eines nicht-staatlichen Akteurs nicht verantwortlich sei, „that actor must itself control enough territory to have the capacity to launch a large-scale attack.“ Auf dieser Grundlage könne Art. 51 UNCh dann, wie es a. a. O. heißt, relevant werden, abgesehen von einer Zurechnungsmöglichkeit also durch einen umfangreichen Kontrollverlust der Staatsgewalt; ähnliches klingt zunächst auch bei Kawagishi, ZaöRV 77 (2017), S. 27 (29) an, der dem fraglichen Passus letztlich aber keine größere Bedeutung beimisst.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 203

(b) Limitierte Entwicklungsoffenheit Dies ist auf teils heftige Kritik gestoßen,231 wobei u. a. auch auf entsprechende Sonder- und abweichenden Voten (Art. 55, 57 IGHSt232) verwiesen wurde, die IGH-interne Differenzen offenbarten.233 Diese ändern freilich nichts an dem Umstand, dass der IGH seine Entscheidungen wie skizziert getroffen hat, ihnen wohnt aber durchaus das Potential inne, die substantielle Autorität seiner Entscheidungen zu relativieren.234 So erklärte etwa Higgins in ihrem Sondervotum zum Mauer-Gutachten, dass der Wortlaut von Art. 51 UNCh nicht auf den bewaffneten Angriff eines Staates limitiert sei; diese Qualifikation sei „rather a result of the Court so determining in Military and Paramilitary Activities in and against Nicara­ gua“.235 In diese Richtung geht auch die Erklärung Buergenthals, der darauf aufmerksam machte, dass der Sicherheitsrat im Zusammenhang mit terroristischen Gefahren auch das naturgegebene Selbstverteidigungsrecht bestätigte, und dem Gericht einen zu formalistischen Ansatz bescheinigte.236 Hierauf verwies auch Kooijmans, der in den Sicherheitsratsresolu­tionen zum 11. September zumindest ein neues Element zur Urheberschaft bewaffneter Angriffe erkannte, das der bisher über einen Zeitraum von 50 Jahren anerkannten Interpretation des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts entgegenstehe.237 Dies wiederholte Kooijmans in seinem Sondervotum zur Entscheidung in der Sache Armed Activities, wobei er zusätzlich auf ein Phänomen verwies, das mittlerweile ähnlich vertraut sei wie der Terrorismus selbst: „the almost complete absence of government authority in the whole or part of the territory of a State.“238 Dazu merkte Kooijmans an: 231  Siehe exemplarisch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 76–78, 88. 232  Statut des Internationalen Gerichtshofs v. 26.6.1945, BGBl. 1973 II S. 505 (UNCIO Bd. 15 S. 355). 233  Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 76–78; zurückhaltender Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 96; im Überblick van Steenberghe, LJIL 29 (2016), S. 43 (47 f.). 234  Shahabuddeen, Precedent in the World Court (1996), S. 180. 235  IGH (Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory), ICJ Rep. 2004, S. 136, Separate Opinion of Judge Higgins, Ziff. 33; dies greift auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 77 ausdrücklich auf. Es soll gleichwohl nicht unterschlagen werden, dass Higgins a. a. O. trotz entsprechender Vorbehalte damit schloss, „that this is to be regarded as a statement of the law as it now stands“. 236  IGH, ebd., Declaration of Judge Buergenthal, Ziff. 6. 237  IGH, ebd., Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 35. 238  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168, Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 27–29, 30.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„If armed attacks are carried out by irregular bands from such territory against a neighbouring State, they are still armed attacks even if they cannot be attributed to the territorial State. It would be unreasonable to deny the attacked State the right to self-defence merely because there is no attacker State, and the Charter does not so require.“239

Für die Frage nach der Urheberschaft des bewaffneten Angriffs gibt dies ein weiteres teleologisches Argument für eine extensive Lesart von Art. 51 UNCh.240 Dem schloss sich auch das Sondervotum Simmas in derselben Sache an. Darin hieß es mit Blick auf die bisherige Entscheidungspraxis: „in the light of more recent developments not only in State practice but also with regard to accompanying opinio iuris, [a restrictive reading of Article 51] ought urgently to be reconsidered, also by the Court.“241

Diese Kritik ist erheblich, bringt sie doch zum Ausdruck, dass der IGH den Gehalt des von ihm anzuwendenden Rechts (Art. 38 Abs. 1 IGHSt) verkannt haben könnte.242 Die Aufrechterhaltung der Rechtsprechung mag sich insofern als gutes Beispiel für die grundsätzlich strenge Orientierung des – nicht an den stare decisis-Grundsatz gebundenen – IGH an seine vorherigen Entscheidungen erweisen.243 Allerdings liegt im Verweis auf neuere Entwicklungen in der Staatenpraxis ein Grund, der den IGH, sofern er einmal aufgegriffen werden sollte, zur Abweichung von seiner soweit gefestigten Rechtsprechung verhelfen könnte.244

239  IGH,

ebd., Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 30. darf aber doch verwundern, dass es im Hinblick auf den zugrundeliegenden Fall irrelevant sein soll, „[w]hether such reaction by the attacked State should be called self-defence or an act under the state of necessity or be given a separate name, for example ‚extra-territorial law enforcement‘ “, IGH, ebd., Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 31. Deutlich werden hier zumindest die mit dem unwilling or unable-Standard verbundenen Unklarheiten. Hierauf wird zurückzukommen sein, siehe S.  251 ff. 241  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168, Separate Opinion of Judge Simma, Ziff. 12 f. und 11. 242  Damit geht sie in auch über die von Higgins im Vorjahr an der Mehrheitsentscheidung zum Mauer-Gutachten geübte Kritik hinaus, die die gerichtliche Einschätzung letztlich akzeptierte, „as I must“, IGH (Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory), ICJ Rep. 2004, S. 136, Separate Opinion of Judge Higgins, Ziff. 33. 243  Vgl. Shahabuddeen, Precedent in the World Court (1996), S. 238 sowie S. 97 ff. 244  Shahabuddeen, ebd., S. 239 f. 240  Es



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 205

cc) Der Adressat Geht man davon aus, dass nicht-staatliche Akteure einen bewaffneten Angriff verüben können, erscheint es folgerichtig, dass die in Reaktion hierauf getroffenen Selbstverteidigungsmaßnahmen auch gegen diese gerichtet werden können.245 In der Konzeption einer territorialstaatlichen Duldungspflicht ist dies nachgerade zwingend, würde doch die Zulässigkeit militärischer Maßnahmen allein gegen den unwilligen oder unfähigen Territorialstaat eine Zurechnung des bewaffneten Angriffs voraussetzen. Kommen nicht-staatliche Akteure als Adressaten des Selbstverteidigungsrechts in Betracht, wird ihnen zwar eine gewisse (nicht unproblematische) Völkerrechtsunmittelbarkeit eingeräumt.246 Diese birgt jedoch für sich genommen keine über die nichtstaatliche Urheberschaft des bewaffneten Angriffs hinausgehenden Probleme. dd) Zwischenfazit Damit findet die Ablehnung der Möglichkeit eines durch nicht-staatliche Akteure verübten bewaffneten Angriffs einen soliden Halt in der IGH-Rechtsprechung, die auch in der jüngeren Vergangenheit einen nicht zu unterschätzenden Anklang in der Staatenpraxis findet.247 Eine Präzedenzwirkung dürfte ihr gleichwohl nicht zukommen. Vielmehr ist – spätestens nach den Reaktionen auf den 11. September – anzuerkennen, dass Fälle wie auch die vorliegend herangezogenen durchaus auf einen gewohnheitsrechtlichen Wandel hindeuten können.248 Keinesfalls zwingt dies zu der Annahme, ein bewaffne245  Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 650; siehe Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (28, 29). 246  Vgl. Stahn, ZaöRV 62 (2002), S. 183 (214 f.). 247  NAM, 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document, Ziff. 25.2; Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (897). Vgl. insofern auch die krit. Beobachtung von Lanovoy, EJIL 28 (2017), S. 563 (566 f., 573); ferner Ruys/Ferro, ICLQ 65 (2016), S. 61 (72) mit dem Hinweis, dass die Möglichkeit eines Angriffs nicht-staatlicher Akteure unabhängig von jeglicher staatlichen Beteiligung zumindest kontrovers sei; ähnlich Murray/O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (314 f.). Die Rspr. begrüßend Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (54 ff.). Weiterhin betont etwa Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (53) ein nach wie vor bestehendes Zurechnungserfordernis im Rahmen von Art. 51 UNCh, so auch Urs, ZaöRV 77 (2017), S. 31 (31); ein Zurechnungserfordernis bejahen mit Blick auf die IGH-Rspr. auch Randelzhofer/Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 36 f. 248  So etwa de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (102 f., 105 ff.). Vgl. ferner Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (3 f.); vgl. auch Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (35); vgl. i. Ü. Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (86 f.); zur fehlenden Präzedenzwirkung etwa Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (109); vgl. ferner Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745

206

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

ter Angriff könne nun auch durch nicht-staatliche Akteure verübt werden. Eine solche Lesart von Art. 51 UNCh lässt sich allerdings in plausibler Weise vortragen. Dies wiederum ist die maßgebliche Vorannahme, die für eine zurechnungsunabhängige territorialstaatliche Duldungspflicht bejaht werden müsste. b) Begründungsrahmen einer territorialstaatlichen Duldungspflicht Die Ausrichtung von Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen nicht-staat­ liche Akteure erweist sich als Konsequenz ihrer möglichen Urheberschaft eines bewaffneten Angriffs. Befinden sich diese nicht-staatlichen Akteure bei Ergreifung militärischer Maßnahmen weder in einem hoheitsfreien Raum noch im gefährdeten Staat, kollidiert das Selbstverteidigungsrecht des gefährdeten Staats mit dem entgegenstehenden territorialstaatlichen Hoheitsanspruch.249 Gefährdete Staaten betonen daher bisweilen, gezielt gegen nicht-staatliche Akteure und eben nicht gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit des Territorialstaats vorzugehen,250 was bisweilen zu der Annahme verleitet hat, es handele sich hierbei um Selbstverteidigungsmaßnahmen, die Art. 2 Nr. 4 UNCh nicht unterfallen würden.251 Insofern ist je(790); Kretzmer, EJIL 24 (2013), S. 235 (246 f.) mit der Beobachtung, dass dies in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend vertreten werde. 249  Tomuschat, EuGRZ 28 (2001), S. 535 (541); Banks, MLR 200 (2009), S. 54 (92 f.). Die Auflösung dieser Interessenkollision wirft i. Ü. durchaus komplexe Pro­ bleme auf und kann nicht durch einen simplifizierenden Blick auf die Erwägungen hinter nationalstaatlichen Vorkehrungen des Notwehr- bzw. Nothilferechts aufgelöst werden, wie bei Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (257 f.) zu lesen ist; ders., Univ. Pa. JIL 34 (2013), S. 431 (434) lässt i. Ü. die bloße Existenz eines nicht-staatlichen bewaffneten Angriffs für exterritoriale Selbstverteidigungsmaßnahmen ausreichen, „with or without the consent of the state from which the non-state actor armed attacks emanate and whether or not such a state is unwilling or unable to control its territory.“ [Hervorh. P. L.]. 250  Siehe S. 97 ff. Hierauf basieren auch die Annahmen von Hmoud, AJIL 107 (2013), S. 576 (577 f.), die die von D. Bethlehem angeregte Konnotation des unwilling or unable-Standards stützen. Ferner BVerfG, Beschl. v. 17.9.2019 – 2 BvE 2/16, Rn. 51 zum Fall eines territorial verfestigten nicht-staatlichen Akteurs: die a. a. O. getroffene Annahme, „[i]n diesem Fall sind die Rechte des Territorialstaats nur [Hervorh. P. L.] dadurch betroffen, dass das Gebiet, auf dem die Verteidigungshandlung erfolgt, ihm völkerrechtlich zugeordnet ist, obwohl er dort allenfalls noch eingeschränkt Staatsgewalt ausübt“, scheint jedoch das Gewaltverbot zu marginalisieren. 251  Siehe in diesem Sinne insb. Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (819–824), maßgeblich wird hier auf entsprechende Erklärungen gefährdeter Staaten abgestellt und (wenig überzeugend, siehe S. 97 ff.) insinuiert, dass Territorialstaaten häufiger eine Verletzung ihrer Souveränität als eine Verletzung von Art. 2 Nr. 4 UNCh rügten



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 207

doch nicht nur die territorialstaatliche Wahrnehmung üblicherweise eine andere.252 Vielmehr verdeutlicht Art. 2 Nr. 4 UNCh a. E. mit der auffangtatbestandlichen Wendung, „[a]ll Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force […] in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations“,

dass das völkerrechtliche Gewaltverbot umfassende Geltung beansprucht und mithin auch Gewaltanwendungen auf dem Territorium eines anderen Staats ohne dessen Erlaubnis erfasst.253 (ebd., S. 822 f.). An dieser Stelle wird sodann Art. 21 ILC-Artikel ins Feld geführt, er lautet: „The wrongfulness of an act of a State is precluded if the act constitutes a lawful measure of self-defence taken in conformity with the Charter of the United Nations.“ In diesem Sinne soll – mit Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (33 und f.), der den unwilling or unable-Standard in diesem Zusammenhang einordnet – dem Umstand Rechnung getragen werden, dass auch nicht-staatliche Akteure einen bewaffneten Angriff verüben und von Selbstverteidigungsmaßnahmen adressiert werden können. Entscheidend solle dabei sein, dass Art. 21 ILC-Artikel (siehe ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 21 Ziff. 5) auch Dreieckskonstellationen erfasse; in den Kommentierungen geht es dabei jedoch, wie eingeräumt wird, erst einmal nur um das Neutralitätsrecht (Finke, ebd., S. 33; Tsagourias, ebd., S. 821), was die Erstreckung auf andere Bereiche durchaus fragwürdig erscheinen lässt. Vielmehr heißt es jedoch bei ILC, ebd., Art. 21 Ziff. 6 a. E.: „Article 21 simply reflects the basic principle for the purposes of chapter V, leaving questions of the extent and application of self-defence to the applicable primary rules referred to in the Charter.“ Ganz in diesem Sinne kommt es nach Art. 21 ILC-Artikel zu einem Unrechtsausschluss des Verhaltens (siehe ILC, ebd., Chapter V Ziff. 1), wenn es sich um eine „lawful measure of self-defence“ handelt, die in Übereinstimmung mit der UN-Charta steht. Der Unrechtsausschluss zieht insofern lediglich primärrechtliche Wertungen nach. Geht man also, wie hier, davon aus, dass das Gewaltverbot umfassende Geltung beansprucht, muss die besagte Interessenkollision ebenfalls auf primärrechtlicher Ebene liegen; damit kann auch der Rückgriff auf Art. 21 ILC-Artikel nicht verfangen. So erscheint es im Ergebnis dann auch untragbar, den Territorialstaat „zumindest rechtlich betrachtet [als] unbeteiligten Dritten“ einzustufen, Finke, ebd., S. 33; Tsagourias, ebd., S. 821; ähnlich und unter Bezugnahme auf N. Tsagourias, letztlich jedoch mit Rekurs auf Art. 25 ILC-Artikel, geht zudem de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (107 f.) vor. Siehe ferner die Verortung von Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (88). Siehe im Allg. ebenfalls Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (256 f.), wobei die Rechtmäßigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen schon vorausgesetzt wird. 252  Siehe S. 97 ff.; siehe zu Ansichten anderer völkerrechtlicher Akteure das 3. Kapitel; mit dem Verweis auf eine mit dieser Sichtweise nicht korrespondierenden Staatenpraxis Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (193 ff.). 253  Ruys, ebd., S. 164, 191 ff., 209 und passim; siehe auch S. 36 ff. zuvor; ferner Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (460); Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (629 f.); Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1125; vgl. auch Randelzhofer/ Nolte, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 2, 3. Aufl. 2012, Art. 51 Rn. 20; vgl. Tladi, in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019),

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Würde nun – im hier untypischen Fall – ein Staat einen anderen (in zurechenbarer Weise) angreifen, wäre die Interessenabwägung gewissermaßen vorgegeben: Dass der gefährdete Staat hier prinzipiell auch zu exterritorialen Selbstverteidigungsmaßnahmen zurückgreifen könnte, steht außer Frage.254 Im vorliegend typisierten Grundszenario verhält es sich jedoch anders: Hier konnte nämlich nur festgestellt werden, dass nicht-staatliche Akteure einen bewaffneten Angriff verüben und durch Selbstverteidigungsmaßnahmen in Anspruch genommen werden können. Dass auf dieser Grundlage aber auch der Territorialstaat die Ergreifung solcher Maßnahmen durch den gefährdeten Staat auf seinem Staatsgebiet dulden müsste, ist damit – gerade in Abwesenheit einer Zurechnungsmöglichkeit – nicht gesagt.255 Zusammengefasst wird diese von einer prima facie fortbestehenden Gleichrangigkeit der antagonisierenden „Souveränitätsrechte“ geprägte Ausgangslage (exterritoriale Selbstverteidigung einerseits, Wahrung der territorialen Integrität andererseits) als „Tripolaritätsproblem“.256 Soll die fragliche territorialstaatliche Duldungspflicht in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts zurechnungsunabhängig verortet werden, kann der unwilling or unable-Standard nun eigentlich nur noch als abwägungsleitendes Moment fungieren, und zwar entweder im Rahmen der Erforderlichkeit oder der Verhältnismäßigkeit.257 Fraglich ist jedoch, ob dies hinreichend S. 14 (62–65); O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 174 (184).; Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (795 f.); Stahn, Fl. F. World Aff. 27/2 (2003), S. 35 (38); Banks, MLR 200 (2009), S. 54 (87) zumindest im Ausgang, wobei ein militärisches Tätigwerden des gefährdeten Staats im Territorialstaat stark von einer entsprechenden Warnung des ersteren und der eingeräumten Möglichkeit für den letzteren abhängig gemacht wird, selbst tätig zu werden, vgl. ebd., S. 93 ff., 97 ff., 106 f. Im Überblick schließlich ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 4 f., 15 f. 254  Siehe nur Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (35 f.), woran dies. i. E. auch insg. festhalten; ferner Tladi, ebd., S. 87 f.; Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (624); vgl. auch Schiffbauer, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 167 (177) mit dem Verweis auf ein im Zurechnungsfall zweipoliges Verhältnis im klassischen Sinne des Selbstverteidigungsrechts. 255  Siehe den Hinweis bei Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (18 und f.), dass die territoriale Integrität des Territorialstaats das Bindeglied für Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen nicht-staatliche Akteure sei. Ferner Tladi, ebd., S. 21, wonach an dieser Stelle der Rekurs auf Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte nicht über das fragliche „Ob“ des Selbstverteidigungsrechts hinweghelfe. 256  Starski, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 237 (242 f.); Schiffbauer, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), ebd., S. 167 (177); Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 309. 257  Im Überblick Starski, ebd., S. 243; Schiffbauer, ebd., S. 177–179, unter Fn. 62 auch mit Verweis auf Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 103, expliziter ebd., S. 107 zur Einordnung des unwilling or unable-Standards unter Erforderlichkeits- bzw. Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten; Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 324, 326 (m. w. N.) zur Verortung in der



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 209

plausibel ist. Es liegt dabei nahe, auch mit Blick auf die relevante Staatenpraxis, dass mit dem Rekurs auf den Unwillen oder die Unfähigkeit des Territorialstaats ein Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen artikuliert werden soll.258 Dies wirft die Frage auf, ob für die Konstruktion einer zurechnungsunabhängigen territorialstaatlichen Duldungspflicht bereits die Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung durch ein eigenes Verhalten des Territorialstaats ausreichen kann259 (vgl. Art. 2 lit. b ILC-Artikel).260 Dafür müsste wiederum ein Blick auf die Pflicht geworfen werden, zu deren Erfüllung der Territorialstaat unwillig oder unfähig sein soll und gefragt werden, ob ihre Verletzung unter Berücksichtigung ihres normativen Kontextes den Ausschlag für das Selbstverteidigungsinteresse des gefährdeten Staates geben kann. Solche normativen Rückanbindungsmöglichkeiten könnten im Neutralitätsrecht [aa)] oder im Diplomaten- und Konsularrecht [bb)] liegen. Im Schwerpunkt wird jedoch der völkerrechtliche Regelungsbestand zur Terrorismusbekämpfung zu konsultieren sein [cc)], der die Debatte um den unwilling or unable-Standard naheliegenderweise maßgeblich begleitet.261 Erforderlichkeit, ebenso ILA, Sidney Conference (2018): Final Report, S. 11 f., 16 f.; überblickshalber Schweiger, LJIL 32 (2019), S. 741 (745). 258  Siehe etwa, wenngleich etwas anders gewendet, Lo Giacco, ZaöRV 77 (2017), S. 35 (36). 259  Schon dieses Erfordernis wird von den Chatham House Principles negiert, ICLQ 55 (2006), S. 963 (970): „The right to use force in self-defence is an inherent right and is not dependent upon any prior breach of international law by the State in the territory of which defensive force is used.“ Insofern a. a. O. auch nicht die staat­ liche Verantwortlichkeit für etwaige terroristische Akte vorausgesetzt wird, erscheint die Begründung des an sechster Stelle formulierten Prinzip (ebd., S. 969) vor dem Hintergrund von Art. 2 Nr. 4 UNCh recht apodiktisch. 260  Vgl. im Allgemeinen Fohr, ZaöRV 73 (2013), S. 37 (43); siehe Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (56); siehe überdies auch Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (32); ferner Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (149) mit dem Verweis, dass in der maßgeblichen Praxis der Fokus zunehmend auf staatliche Verpflichtungen zur Terrorismusbekämpfung gelegt worden sei: „What has changed is the character of responsibility incurred by the targeted State [der Territorialstaat, Anm. P. L.]“. 261  Statt vieler Schiffbauer, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 167 (178 f.); recht fraglich erscheint dagegen, ob die von dems., ebd., S. 178 (m. w. N.) vermittels Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHSt erwogenen Rechtsinstitute des nationalen Rechts, nämlich die Inanspruchnahme des Nichtstörers im Polizeiund Ordnungsrecht und der Aggressivnotstand im Straf- und Zivilrecht, für die Konstruktion der hier fraglichen Duldungspflicht, und sei es auch nur am Rande, entscheidend sein können. Gegen ersteres dürfte bereits das hierbei vorzufindende Subordinationsverhältnis sprechen. I. Ü. scheint eine Lösung im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 lit. a und b eher angezeigt zu sein, was auch im Verweis dess. a. a. O. auf die Staatenpraxis nachvollzogen werden mag.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

aa) Neutralitätsrecht Bisweilen werden im Neutralitätsrecht Ursprung oder Ausgangspunkt des unwilling or unable-Standards gesehen.262 Entsprechend wurde es vermehrt herangezogen, um in entsprechender bzw. analoger Anwendung eine Duldungspflicht des Territorialstaats zu begründen.263 Bevor hierauf näher eingegangen werden kann [(3)], werden mit der Begründung völkerrechtlicher Neutralität [(1)] und damit einhergehenden Pflichten [(2)] einige Grundlagen ausgewiesen. (1) Begründung gewöhnlicher und dauernder Neutralität Das der klassischen Völkerrechtsepoche entstammende Institut der Neutralität fand in jüngerer Vergangenheit v. a. im Hinblick auf seine problembehaftete Vereinbarkeit mit Mechanismen kollektiver Sicherheit Beachtung.264 262  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (497–501), dabei insb. unter Berufung auf E. de Vattel (a. a. O., S. 499). Die Neutralität eines Volkes wird bei Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle (1758 [1959]) bestimmt als seine Nichtteilnahme an einem Krieg, mit dessen Parteien es befreundet bleibt und dabei die Streitkräfte einer dieser Parteien nicht zum Schaden der jeweils anderen Partei begünstigt (Buch III, Kap. VII, § 103). Die hier maßgeblich rezipierte Pflicht formuliert Vattel, ebd. in Buch III, Kap. VII, § 133: „Wenn ein Nachbar meinen von mir bedrängten und vor mir flüchtenden Feinden Zuflucht gewähren sollte und ihnen Zeit ließe, sich zu erholen und eine Gelegenheit zum Versuch eines neuen Einfalls in mein Land zu erspähen, so wäre dies für meine Sicherheit und Interessen sehr schädliche Verhalten mit der Neutralität unvereinbar. Sollte sich also der Feind nach einer Niederlage zurückziehen und könnte ich ihm aus Gründen der Humanität Durchmarsch und Sicherheit nicht verweigern, so habe ich ihn so schnell wie möglich zum Abzug zu veranlassen und darf nicht dulden, daß er im Hinterhalt liegen bleibt, um seinen Gegner von neuem anzugreifen; andernfalls erlangt dieser das Recht, ihn auf meinem Gebiet aufzusuchen. Dies kann Nationen zustoßen, die außerstande sind, ihre Gebietshoheit zu wahren. Der Kriegsschauplatz verlagert sich bald in ihr Gebiet; man marschiert, lagert und kämpft, wie in einem Lande, das jedem offensteht.“ Siehe alternativ die Bearbeitung von Kapossy/Whatmore: E. de Vattel, The Law of Nations (1758 [2008]), S. 540, auch mit der charakteristischen Formulierung im vorletzten Satz: „Such treatment is often experienced by nations that are unable to command respect.“ 263  Siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 131 ff. (und letztlich S. 134); Krajewski, AVR 40 (2002), S. 183 (203); Bruha, AVR 40 (2002), S. 383 (408); Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 (475); Greenwood, SDILJ 4 (2003), S. 7 (24 f.); Travalio/Altenburg, Chicago JIL 4 (2003), S. 97 (111 f.). 264  Zu den histor. Ursprüngen siehe Oeter, ZaöRV 48 (1988), S. 447 und passim. Anlass für dieses Problem ist ein i. S. v. Art. 39 UNCh die Mitglieder der Vereinten Nationen gem. Art. 25 UNCh bindender Beschluss, auf dessen Grundlage auch militärische Sanktionen als Zwangsmaßnahmen ergriffen werden können (Art. 42 UNCh). Nach Art. 43 Abs. 1 UNCh sind die Mitglieder der Vereinten Nationen schließlich



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 211

Denn die zentrale und allgemeine Bedeutung der Neutralität liegt für einen Staat in der Nichtteilnahme an einem Konflikt zwischen anderen kriegführenden Staaten:265 Dies wird zumindest unter gewöhnlicher oder temporärer Neutralität verstanden, die gewisse Pflichten in militärischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zeitigt.266 Dauernde bzw. immerwährende Neutralität geht hierüber insofern hinaus, als sich ein Staat für einen beschränkten Zeitraum oder auf unbestimmte Zeit verpflichtet, sicherheitspolitische Zusammenschlüsse in Friedens- und Kriegszeiten nicht einzugehen, also im Friedenszustand mit allen anderen Staaten zu verbleiben.267 Dauernde Neu­ tralität gilt damit auch in Friedenszeiten.268 Probleme birgt dabei begrifflich die in der Alternität von Krieg und Frieden liegende Differenzierung, die sich nach G. Schwarzenberger „as an uncritically accepted remnant of a now merely historically relevant naturalist approach to the problem of peace and war“ erweise.269 Vorgeschlagen wurde daher ein als status mixtus firmierender Zustand,270 in dem Gewalt zwischen Streitparteien angewendet wird, eine Kriegserklärung und ein jeweiliger Kriegsführungswille indes fehlen bzw. nicht zu erkennen sind.271 Dem kann wohl insofern gefolgt werden, als es für die Anwendung des Neutralitätsrechts eher auf die Existenz eines internationalen bewaffneten Konflikts als auf das Vorliegen eines Krieges oder einer Kriegserklärung ankommt.272

(theoretisch) dazu verpflichtet, ihren Beitrag zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit auf Grundlage entsprechender Sonderabkommen dadurch gerecht zu werden, dass sie dem Sicherheitsrat auf Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen, Beistand leisten und etwa ein Durchmarschrecht gewähren, siehe hierzu Doehring, AVR 31 (1993), S. 193 (200 ff.). Ein ähnliches Problem bietet im Rahmen der EU Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 EUV, wonach die Mitgliedstaaten im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats diesem alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 UNCh schulden, hierzu Öhlinger, in: Frank/Matyas (Hrsg.), Strategie und Sicherheit 2014, S. 775 (780 ff.). Für die NATO siehe Art. 5 NATO-Vertrag. 265  Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 145. 266  Bindschedler, ZaöRV 17 (1956), S. 1 (1–3); Verosta, Die dauernde Neutralität (1967), S. 11. 267  Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 145; Bindschedler, ebd., S. 3; Verosta, ebd., S. 12, 15. 268  Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 66 Rn. 3. 269  Schwarzenberger, The Frontiers of International Law (1962), S. 247 f. 270  Schwarzenberger, ebd., S. 246; zuvor ders., AJIL 37 (1943), S. 460 (470). 271  Pieper, Neutralität von Staaten (1997), S. 10. Siehe auch Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 44 ff. und Oeter, Neutralität und Waffenhandel (1992), S. 142. 272  Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 66 Rn. 4, 6.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Gewöhnliche Neutralität tritt dadurch ein, dass sich ein unbeteiligter Drittstaat an einem internationalen Konflikt nicht beteiligt, wobei unter Verweis auf den status mixtus bisweilen eine besondere Entscheidung oder ausdrückliche Erklärung des unbeteiligten Staats dahingehend gefordert wird, dass neutralitätsrechtliche Regelungen im Verhältnis zu den Konfliktparteien anwendbar sein mögen.273 Diesen dürfte indes nur deklaratorische Bedeutung zukommen; konstitutiv ist dagegen das neutrale Verhalten des Drittstaats, das solange anzunehmen sein wird, bis dieser zu erkennen gibt, aktiv und unter Parteinahme im Konflikt zu partizipieren.274 In diesem Sinne begründet ein entsprechendes Nichthandeln die gewöhnliche Neutralität.275 Dauernde Neutralität lässt sich dagegen einerseits vertraglich unter Beteiligung des betroffenen Staats auf bi- oder multilateralem Wege begründen; andererseits durch eine Erklärung des fraglichen Staats als einseitiges Versprechen, zukünftig dauernd neutral zu sein, welches sodann von zumindest einem anderen Staat anerkannt werden müsste.276 (2) P  flichten nach den Haager Abkommen (1907) und die Folgen ihrer Verletzung Die zentrale Pflicht eines neutralen Staats ist es, die Konfliktparteien nicht zu unterstützen.277 Hierzu haben insb. das V.278 und XIII.279 Abkommen der Haager Friedenskonferenz aus dem Jahr 1907 nähere Regelungen getroffen. Für die hier interessierenden Pflichten des neutralen Staates ist zunächst auf Art. 10 Haager Abk. V zu verweisen, wonach die Tatsache, dass eine neutrale 273  So Pieper, Neutralität von Staaten (1997), S. 12–14; Oeter, Neutralität und Waffenhandel (1992), S. 86. Vgl. aber Heintschel von Heinegg, ebd, § 66 Rn. 4, wonach es auf eine Neutralitätserklärung nicht ankommen soll. 274  Köpfer, Die Neutralität im Wandel (1975), S. 94 f. und 96. 275  Köpfer, ebd., S. 98. 276  Pieper, Neutralität von Staaten (1997), S. 86–90; Verosta, Die dauernde Neu­ tralität (1967), S. 16; mit einem Überblick zur einseitigen Errichtung dauernder Neutralität und der – insofern relativierenden – abschließenden Annahme, Drittstaaten erwüchsen aus der Errichtung dauernder Neutralität keine Pflichten, die nicht schon Bestandteil des geltenden Völkerrechts wären, Rotter, Die dauernde Neutralität (1981), S. 46 ff. und 52; dagegen aber wiederum Pieper, ebd., S. 90. Siehe zur An­ ­ erkennung der dauernden Neutralität Turkmenistans UN-Generalversammlung, Res. 50/80-A, 12.12.1995, UN-Dok. A/RES/50/80. 277  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn. 111. 278  Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs v. 18.10.1907, RGBl. 1910 S. 151. 279  Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekriegs v. 18.10.1907, RGBl. 1910 S. 343.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 213

Macht eine Verletzung ihrer Neutralität mit Gewalt zurückweist, nicht als feindliche Handlung angesehen werden kann.280 Sollten Verwundete oder Kranke der kriegführenden Heere das neutrale Gebiet durchziehen, sieht Art. 14 Haager Abk. V vor, dass die neutrale Macht sicherstellen muss, dass diese Züge Kriegspersonal und -material nicht mit sich führen. Akzentuierter sind in diese Richtung gehende Pflichten neutraler Mächte im Haager Abk. XIII formuliert.281 So ist es nach Art. 6 Haager Abk. XIII neutralen Mächten nicht nur untersagt, unmittelbar oder mittelbar die Abgabe von Kriegsschiffen, Munition oder sonstigem Kriegsmaterial zu bewirken. Auch heißt es in Art. 8 Haager Abk. XIII: „Eine neutrale Regierung ist verpflichtet, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um in ihrem Hoheitsbereiche die Ausrüstung oder Bewaffnung jedes Schiffes zu verhindern, bei dem sie triftige Gründe für die Annahme hat, dass es zum Kreuzen oder zur Teilnahme an feindlichen Unternehmungen gegen eine Macht, mit der sie im Frieden lebt, bestimmt ist. Sie ist ferner verpflichtet, dieselbe Überwachung auszuüben, um zu verhindern, dass aus ihrem Hoheitsbereich irgend­ ein zum Kreuzen oder zur Teilnahme an feindlichen Unternehmungen bestimmtes Schiff ausläuft, das innerhalb ihres Hoheitsbereiches ganz oder teilweise zum Kriegsgebrauche hergerichtet worden ist.“

Ähnliches regeln Art. 3 und 21 Haager Abk. XIII zur Wegnahme von Schiffen innerhalb neutraler Küstengewässer bzw. zur Verbringung und Befreiung von Prisen in neutralen Häfen. Art. 25 Haager Abk. XIII sieht vor, dass eine neutrale Macht verpflichtet ist, nach Maßgabe der ihr zur Verfügung stehenden Mittel die erforderliche Aufsicht auszuüben, um innerhalb ihrer Häfen, Reeden und Gewässer jede Verletzung der vorstehenden Bestimmungen zu verhindern. Insb. die aus dem XIII. Abkommen der Haager Friedenskonferenz resultierenden Neutralitätspflichten werden als Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes behandelt,282 mithin nicht auf den Fall des Seekriegs limitiert. Der neutrale Staat hat also nach alldem nicht nur das Recht, von einem bewaffneten Konflikt unbehelligt zu sein, sondern damit korrespondierend auch die Pflicht, sich auf seinem Territorium ereignende kriegerische Maßnahmen im Rahmen des für ihn Zumutbaren zu unterbinden, seine Neutralität also zu verteidigen.283 280  Bereits hieraus wird gefolgert, dass der neutrale Staat seine Neutralität vor den Konfliktparteien zu verteidigen habe, Pieper, Neutralität von Staaten (1997), S. 19. So auch Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 114; hierzu auch sogleich. Siehe auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 99 (und ff.). 281  Siehe Bindschedler, ZaöRV 17 (1956), S. 1 (2). 282  Bindschedler, ebd., S. 2. 283  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn.  110 f.; Bindschedler, ebd., S. 2.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Eine (insb. der im 20. Jahrhundert nachfolgenden Staatenpraxis Rechnung tragende) Aktualisierung der Rechtslage in diesem Bereich erfolgte 1994 mit dem San Remo Manual on International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea.284 Dabei wurden den Haager Abkommen ähnlich bestimmte Neutralitätspflichten akzentuiert. So heißt es in Art. 15 San Remo Manual: „Within and over neutral waters, including neutral waters comprising and international strait and waters in which the right of archipelagic sea lanes passage may be exercised, hostile actions by belligerent forces are forbidden. A neutral State must take such measures as are consistent with Section II of this part, including the exercise of surveillance, as the means at its disposal allow, to prevent the violation of its neutrality by belligerent forces.“285

Hieran knüpft Art. 22 San Remo Manual an, worin es heißt: „Should a belligerent State be in violation of the regime of neutral waters, as set out in this document, the neutral State is under an obligation to take the measures necessary to terminate the violation. If the neutral State fails to terminate the violation of its neutral waters by a belligerent, the opposing belligerent must so notify the neutral State and give that neutral State a reasonable time to terminate the violation by the belligerent. If the violation of the neutrality of the State by the belligerent constitutes a serious and immediate threat to the security of the opposing belligerent and the violation is not terminated, then that belligerent may, in the absence of any feasible and timely alternative, use such force as is strictly necessary to respond to the threat posed by the violation.“286

Ausdrücklich wird damit für einen Fall staatlichen Versagens – durch Unwillen oder Unfähigkeit vermittelt – die Berechtigung des hierdurch bedrohten Staates formuliert, auf Gewalt zurückzugreifen. Dies wird allerdings mit Blick auf Art. 2 Nr. 4 UNCh, so die überwiegende Meinung, durch das in Art. 51 UNCh statuierte Selbstverteidigungsrecht überwölbt, sodass es sich nicht um einen eigenständigen Rechtfertigungstatbestand für militärische Maßnahmen im unwilligen oder unfähigen neutralen Staat handelt.287 Die Neutralitätsverletzung müsste demnach in ihren Auswirkungen eine einem bewaffneten Angriff vergleichbare Bedrohungs- bzw. Selbstverteidigungslage hervorrufen, um militärische Gewalt zu rechtfertigen.288

284  Doswald-Beck, AJIL 89 (1995), S. 192 (193 und passim); hierauf verweist auch Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 115 f. Der hier verwendete Text des San Remo-Handbuchs in: Auswärtiges Amt et al. (Hrsg.), Dokumente zum Humanitären Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, S. 829 ff. 285  Dokumente zum Humanitären Völkerrecht, ebd., S. 835. 286  Dokumente zum Humanitären Völkerrecht, ebd., S. 837. 287  Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 115. 288  Rotter, Die dauernde Neutralität (1981), S. 150 f.; Pieper, Neutralität von Staaten (1997), S. 19 f.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 215

(3) Übertragung Ein von den vorliegenden Konstellationen ausgehender Rückbezug auf das Neutralitätsrecht wird durchaus verbreitet für überzeugend gehalten.289 Wie auch dieses, so könnte man argumentieren, präge den unwilling or unableStandard eine Situation, in der sich der gefährdete Staat exterritorial verteidigen müsse, weil der Territorialstaat das Verhalten eines mit dem gefährdeten Staat im Konflikt stehenden (hier: nicht-staatlichen) Akteurs auf seinem Staatsgebiet nicht unterbunden habe. Zu klären bliebe dann, ob sich der Territorialstaat zur Ausübung seiner Pflicht, drittgefährdendes Verhalten zu verhindern, als unwillig oder unfähig erwiesen habe.290 Soll das Neutralitätsrecht aber parallel,291 entsprechend bzw. analog292 anwendbar sein, muss auch eine dem Neutralitätsrecht vergleichbare Konfliktform vorausgesetzt werden können, die die Übertragung der Rechtsfolgen eines neutralitätswidrigen Verhaltens rechtfertigt. Unter Außerachtlas289  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (501 f.) und unter Bezugnahme auf Lauterpacht, AJIL 22 (1928), S. 105 (126 f.). Weiterhin Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 134; Krajewski, AVR 40 (2002), S. 183 (203); Bruha, AVR 40 (2002), S. 383 (408); Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 (475); Greenwood, SDILJ 4 (2003), S. 7 (24 f.); Travalio/Altenburg, Chicago JIL 4 (2003), S. 97 (111 f.). Zurückhaltend noch Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 119. 290  Dabei kommt die Einbettung in den Anwendungsbereich von Art. 51 UNCh neutralen Staaten zugute, reicht doch eine bloße Neutralitätspflichtverletzung nicht mehr aus, vgl. Rotter, Die dauernde Neutralität (1981), S. 150. Vielmehr muss die hieraus resultierende Situation einen Fall des Selbstverteidigungsrechts darstellen, was einen bewaffneten Angriff voraussetzt. Entsprechend müsste im übertragenen Fall gelten, dass sich die Ergreifung entsprechender Maßnahmen allein nach der Bedrohungslage bemessen und damit unabhängig vom rechtswidrigen (oder rechtmäßigen) Verhalten des unwilligen oder unfähigen Staates stehen müsste, vgl. Rotter, ebd., S. 150, jedoch ohne Übertragung des klassischen Falls auf den unwilling or unableStandard. Dies hätte jedoch zur Konsequenz, dass außerhalb des direkt anwendbaren Neutralitätsrechts der Territorialstaat Selbstverteidigungsmaßnahmen zu dulden hätte, selbst wenn er als „entschlossen und fähig“ anzusehen wäre. Denn es ist ja durchaus denkbar, dass z. B. im Rahmen der Terrorismusbekämpfung ein Staat einen Anschlag auf dem Territorium eines anderen Staates schlicht nicht unterbinden kann, auch wenn er nicht als prinzipiell unwillig oder unfähig angesehen werden muss: Zu denken wäre an Vorbereitungshandlungen in Hamburg im Vorfeld des 11. Septembers, siehe zu dieser (wenngleich als übertrieben eingestuften) Vorstellung Wandscher, Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 253; das Bsp. vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem 11. September vglw. auch bei O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (221 f.). Diese Konsequenz indiziert gewisse Schwächen der fraglichen Übertragung. 291  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 134. 292  Z. B. Krajewski, AVR 40 (2002), S. 183 (203); siehe auch Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 (475).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

sung dauernder Neutralität ist dabei wohl in erster Linie charakteristisch, dass gewöhnliche Neutralität einen bestehenden Konflikt voraussetzt. Es steht den Staaten nämlich frei, ob sie neutral sein und damit einhergehende Pflichten freiwillig übernehmen wollen;293 andererseits endet die Neutralität mit der Teilnahme eines eigentlich neutralen Staates am Konflikt.294 Entstehung und Fortbestehen des zugrundeliegenden Konflikts sind m. a. W. unabhängig davon, ob ein neutraler Staat seinen Neutralitätspflichten nachkommt oder nicht. In einem übertragenen Sinne entsteht der „Konflikt“ im für den unwilling or unable-Standard typisierten Grundszenario allerdings erst mit der Verübung eines bewaffneten Angriffs durch einen nicht-staatlichen Akteur, was den gefährdeten Staat zur Ergreifung militärischer Maßnahmen provoziert, oder anders: mit einer vermeintlichen Pflichtverletzung des Territorialstaats. Darin liegt nun der wesentliche Unterschied zwischen der vorliegend typischen und der das Neutralitätsrecht prägenden Ausgangslage: Denn die Übertragung des neutralitätsrechtlichen Pflichtenprogramms auf Konstellationen des unwilling or unable-Standards würde das zeitliche Verhältnis von Konflikt und davon abhängiger Pflichtverletzungsmöglichkeit umkehren. Folglich würde es dem Territorialstaat mit Blick auf den „Konflikt“ zwischen nicht-staatlichem Akteur und gefährdetem Staat auch nicht freistehen, sich neutral zu verhalten, da seine „Pflichtverletzung“ gerade den Ursprung dieses Konflikts markieren würde.295 (4) Zwischenfazit Das Problem einer normativen Rückanbindung an das Neutralitätsrecht liegt darin, dass hierin der Versuch liegt, besondere Regeln im Allgemeinen zur Anwendung zu bringen. Der Analogie steht dabei der Rahmen der neu­ tralitätsspezifischen Pflicht zur Wahrung eigener Neutralität entgegen, der mit dem hier typisierten Grundszenario nicht vergleichbar ist.296 Daher lässt 293  Köpfer, 294  Pieper,

Die Neutralität im Wandel (1975), S. 98. Neutralität von Staaten (1997), S. 83; Verosta, Die dauernde Neutralität

(1967), S. 11. 295  In diesem Sinne auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (488); vgl. letztlich auch Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (631). 296  Siehe auch, u.  a. mit einem Verweis auf einen fehlenden Rückhalt in der ­Staatenpraxis, Wandscher, Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht (2006), S.  244 f.; O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against NonState Actors (2019), S. 174 (226) verweist darauf, dass das Völkerrecht bereits direkt anwendbare Regeln und Prinzipien zur staatlichen Gewaltanwendung gegen nichtstaatliche Akteure bereithalte.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 217

sich auf dieser Grundlage die hier fragliche territorialstaatliche Duldungspflicht nicht begründen. bb) Diplomaten- und Konsularrecht Anknüpfungspunkt für eine Berücksichtigung des Diplomaten- und Konsularrechts im Rahmen des unwilling or unable-Standards ist die IGH-Entscheidung in der Sache Diplomatic and Consular Staff in Tehran. Hier bejahte der IGH eine Verletzung diplomaten- und konsularrechtlicher Pflichten297 durch den Iran: „the Iranian Government failed altogether to take any ‚appropriate steps‘ to protect the premises, staff and archives of the United States’ mission against attack by the militants, and to take any steps either to prevent this attack or to stop it before it reached its completion. […] [T]hey show […] that the failure of the Iranian Government to take such steps was due to more than mere negligence or lack of appropriate means. The total inaction of the Iranian authorities on that date in face of urgent and repeated requests for help contrasts very sharply with its conduct on several other occasions of a similar kind.“298

Damit wird der Fall eines unwilligen Staates beschrieben. Zieht man hinzu, dass die USA ihren späteren, im Jahr 1980 gescheiterten Versuch zur Rettung des in Geiselhaft genommenen Personals auch vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh verorteten,299 wird eine entsprechende normative Rückanbindung zur Begründung der hier fraglichen empfangsstaatlichen Duldungspflicht immerhin diskutabel. Umstritten ist allerdings, ob Botschaften und Konsulate eines Entsendestaats selbstverteidigungsfähig sind.300 Befürworter:innen berufen sich etwa darauf, dass der IGH in Bezug auf die Übergriffe mehrmals den Begriff 297  Verwiesen wurde hier für das Diplomatenrecht auf Art. 22 (Unverletzlichkeit der Mission), 29 (Unverletzlichkeit des Diplomaten), 24 (Unverletzlichkeit der Archive und Schriftstücke) und 25–27 (Verkehrs- und Fortbewegungsfreiheiten) WÜD (Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen v. 18.4.1961, UNTS Bd. 500 S. 95 (BGBl. 1965 II S. 147)); für das Konsularrecht auf Art. 31 Abs. 3 (Unverletzlichkeit konsularischer Räumlichkeiten), 40 (Schutz von Konsularbeamten), 33 (Unverletzlichkeit der Archive und Schriftstücke), 28 und 34 f. (Verkehrs- und Fortbewegungsfreiheiten) WÜK (Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen v. 24.4.1963, UNTS Bd. 596 S. 261 (BGBl. 1971 II S. 1285)), IGH (Diplomatic and Consular Staff in Tehran), ICJ Rep. 1980, S. 3 (Ziff. 62). 298  IGH, ebd., Ziff. 63 f. 299  Siehe nur IGH, ebd., Ziff. 32. 300  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 88, 110. Befürwortend Paust, JTLP 19 (2010), S. 237 (238).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„armed attack“ verwendete, nachdem sich die USA für ihre misslungene Mission auf das Selbstverteidigungsrecht berufen hatten.301 Dass hierin ein Selbstverteidigungsfall liege, soll schließlich das abweichende Votum von Schwebel in Nicaragua zeigen.302 Auch wird auf nur zurückhaltende Proteste in der Staatengemeinschaft verwiesen, nachdem die USA in Reaktion auf die 1998 erfolgten Anschläge auf ihre Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salaam militärisch im Sudan und in Afghanistan intervenierten.303 Dagegen wurde jedoch überzeugend eingewandt, dass die Auslandsvertretungen eines Ent­ sendestaats nicht als Teil seines Territoriums anzusehen seien, es also an einer grenzüberschreitenden Gewaltanwendung fehle.304 Gerade diese wäre aber im Hinblick auf das Verhältnis von Art. 2 Nr. 4 zu Art. 51 UNCh als erforderlich anzusehen.305 Der IGH habe zudem in Diplomatic and Consular Staff in Tehran das von den USA behauptete Selbstverteidigungsrecht nicht geprüft.306 Auf dieser Grundlage kommen das Diplomaten- und Konsularrecht für eine normative Rückanbindung zur Konstruktion der vorliegend fraglichen Duldungspflicht mithin nicht in Betracht. cc) Völkerrechtlicher Regelungsbestand zur Terrorismusbekämpfung Vielversprechender für die Begründung einer zurechnungsunabhängigen territorialstaatlichen Duldungspflicht ist der sachbereichsnahe völkerrecht­ liche Regelungsbestand zur Terrorismusbekämpfung. Versuche, den Terrorismusbegriff handhabbar zu machen, wurden zahlreich unternommen.307 So nahm bspw. 2011 das Special Tribunal for Lebanon an, dass sich völkergewohnheitsrechtlich308 nunmehr drei prägende und kumulativ vorauszusetzende Begriffselemente herausgebildet hätten:

301  Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 565 f.; Stahn, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 827 (853); mit Hinweis auf diese Ansicht Dau, ebd., S. 88, 110; IGH (Diplomatic and Consular Staff in Tehran), ICJ Rep. 1980, S. 3 (Ziff. 32, zur Begründung der USA, Ziff. 57, 64, 91 i. Ü.). 302  Dinstein, ebd., Rn. 566; IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14, Dissenting Opinion of Judge Schwebel, Ziff. 65. 303  Stahn, in: Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge (2004), S. 827 (853). 304  Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7.  Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn. 12; Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 110 f.; Oelfke et al., Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (2018), Art. 22, S. 150. Dagegen jedoch Wedgwood, YJIL 24 (1999), S. 559 (564). 305  Dau, ebd., S. 110 f. 306  Dau, ebd., S. 88. 307  Umfangreich Diener, Terrorismusdefinition im Völkerrecht (2008), S. 209 f.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 219 „(i) the perpetration of a criminal act (such as murder, kidnapping, hostage-taking, arson, and so on), or threatening such an act; (ii.) the intent to spread fear among the population (which would generally entail the creation of public danger) or directly or indirectly coerce a national or international authority to take some action, or to refrain from taking it; (iii) when the act involves a transnational element.“309

Erschwert wird die Begriffsbildung durch Abgrenzungsschwierigkeiten im Hinblick auf Fälle des kämpferisch erstrittenen Selbstbestimmungsrechts, der organisierten Kriminalität310 und der Verortung von Staatsterrorismus.311 Eine für das Völkerrecht allgemeingültig operable Definition von Terrorismus liegt daher noch nicht vor.312 Vorliegend ist dies jedoch kaum hinderlich: Denn zum einen sind nicht wenige der dem unwilling or unable-Standard zuzuordnenden Fälle recht eindeutig im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zu verorten. Zum anderen sind terroristische Erscheinungsformen Gegenstand verschiedener völkervertraglicher Abkommen [(1)] geworden, während das Phänomen auf allgemein-universeller Ebene v. a. durch die Generalversammlung [(2)] und den Sicherheitsrat [(3)] in Angriff genommen wurde.313

308  Krit. hierzu Binder/Jackson, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 123 (131 f.). 309  STL (Appeals Chamber), Interlocutory Decision on the Applicalbe Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative Charging, 16.2.2011, Case No.: STL-11-01/I/AC/R176bis, Ziff. 85 (näher dazu auch im Ff.). Vgl. bspw. auch den entsprechenden Tatbestand im deutschen Strafrecht, §§ 129a f. StGB. 310  Näher hierzu Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S.  20 ff., 24 f. 311  Weigelt, ebd., S. 18 f., hier wurde auch die Frage nach einer Rechtspflicht zur Terrorismusbekämpfung in eine Nähe zum militärischen Menschenrechtsschutz gebracht, insofern über den Souveränitätsbegriff eine „responsibility to counter terrorism“ in eine Tradition mit der „responsibility to protect“ gestellt wurde, siehe auch ebd., S. 16, 132 ff.; i. Ü. auch Greene, ICLQ 66 (2017), S. 411 (413, 415). 312  Siehe nur Diener, Terrorismusdefinition im Völkerrecht (2008), S. 290; Weigelt, ebd., S. 17 (und ff.); vgl. auch Peterke/Noortmann, AVR 53 (2015), S. 1 (2 f.), wobei sich im ersten Zugriff transnationale kriminelle Organisationen primär durch das Motiv, finanzielle Vorteile auf deliktischem Wege zu erlangen, von Terrorgruppen unterschieden, ebd., S. 6 f. Greene, ebd., S. 412, 415 f., 431 f., 435 f., 438 ff. spricht sich dagegen (zwar maßgeblich auf Grundlage des britischen Rechts, aber auch mit Blick auf das Völkerrecht) für die Verwendung mehrerer Definitionen von Terrorismus aus. 313  Shaw, International Law, 8. Aufl. 2017, S. 884 f.; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 129 f. Siehe zu den Schwierigkeiten einer solchen allgemein-universellen Konvention etwa Franck/Lockwood, AJIL 68 (1974), S.  69 ff., passim.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

(1) Vertragsrechtliche Ansätze (a) Universales Völkervertragsrecht Es wurde angedeutet, dass mit der Terrorismusbekämpfung assoziierte Vertragswerke auf universaler Ebene eine Konzentration auf besondere Sachbereiche kennzeichnet.314 So haben entsprechende Regelungen Eingang in Konventionen zum völkerrechtlichen Luftfahrtrecht,315 zum besonderen völkerrechtlichen Status geschützter Personen,316 zum Schutz nuklearen Mate­ Shaw, ebd., S. 884 f.; Weigelt, ebd., S. 129 f. die Tokio-Konvention (Convention on Offences and Certain Other Acts Committed on Board Aircraft) v. 14.9.1963 (UNTS Bd. 704 S. 219), ergänzt durch das Montréaler-Protokoll v. 4.4.2014 (abrufbar unter: https://www.icao.int/secreta riat/legal/pages/treatycollection.aspx); die Den Haager-Konvention (Convention for the Suppression of Unlawful Seizure of Aircraft) v. 16.12.1970 (UNTS Bd. 860 S. 105, BGBl. 1972 II S. 1505); die Montréaler-Konvention (Convention for the Suppression of Unlawful Acts Against the Safety of Civil Aviation) v. 23.9.1971 (UNTS Bd. 974 S. 177, BGBl. 1977 II S. 1229), ergänzt durch das Protocol for the Suppression of Unlawful Acts of Violence at Airports Serving International Civil Aviation v. 24.2.1988 (UNTS Bd. 1589 S. 474, BGBl. 1993 II S. 866) sowie die Peking-Konvention (Convention on the Suppression of Unlawful Acts Relating to International Civil Aviation) v. 10.9.2010 (abrufbar unter: https://www.icao.int/secreta riat/legal/pages/treatycollection.aspx). Das Wort „Terrorismus“ wird darin vermieden. Im Fokus stehen vielmehr sachbereichsbezogene Verstöße gegen das Strafrecht, ferner Handlungen, die die Sicherheit des Flugzeugs, seiner Insassen und des Beförderungsguts gefährden (Art. 1 Tokio-Konvention, Art. 1 Nr. 1 lit. a Montréaler-Konvention) oder die unberechtigte Kontrollübernahme des Flugzeugs (Art. 1 Den Haager-Konvention). Während insofern wohl auch niederschwellige Vergehen erfasst sein dürften, umschreibt die Peking-Konvention, wie auch schon zuvor die Montréaler-Konvention, in Art. 1 lit. c immerhin einen Fall, der einen terroristischen Hintergrund impliziert: „Any person commits an offence if that person unlawfully and intentionally places or causes to be placed on an aircraft in service, by any means whatsoever, a device or substance which is likely to destroy that aircraft, or to cause damage to it which renders it incapable of flight or to cause damage to it which is likely to endanger its safety in flight“ (in diese Richtung auch lit. b und d beider Konventionen). Der Katalog fraglicher Vergehen ist in der Peking-Konvention dabei noch weiter gefasst als in den vorigen Verträgen, insofern darüber hinausgehend Art. 1 Nr. 1 lit. f–i: lit f. erfasst den Fall des Gebrauchs eines in Betrieb befindlichen Flugzeugs „for the purpose of causing death, serious bodily injury, or serious damage to property or the environment“. Übergreifend verpflichten sich die Vertragsstaaten diesbezüglich, die vorgesehenen Vergehen ihrer Jurisdiktion zu unterwerfen (vglb. Art. 3 Nr. 2 Tokio-Konvention, Art. 4 Den Haager-Konvention, Art. 5 Mon­ tréaler-Konvention, Art. 8 Peking-Konvention). Die Nichtergreifung entsprechender Maßnahmen wird nicht näher geregelt (zum Fall einer nicht erfolgten Auslieferung etwa Art. 7 Den Haager-Konvention, Art. 7 Montréaler-Konvention, Art. 10 PekingKonvention). 316  Siehe die Convention on the Prevention and Punishment of Crimes against Internationally Protected Persons, Including Diplomatic Agents v. 14.12.1973 (UNTS 314  Wieder 315  Siehe



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 221

rials,317 zur Sicherung maritimer Navigation318 oder zur Erkennung von Kunststoffsprengstoffen319 gefunden. Terroristische Bedrohungslagen werden dabei jedoch eher nur implizit erfasst. Ausdrücklicher adressiert werden dagegen bestimmte Ausprägungen des Terrorismus von der International Convention Against the Taking of Hos­ tages vom 17.12.1979,320 der International Convention for the Suppression Bd.  1035 S.  167, BGBl.  1976 II S.  1746), zugleich UN-Generalversammlung, Res. 3166 (XXVIII), 14.12.1973, UN-Dok. A/RES/3166 (XXVIII). Auch hier wird Terrorismus nicht ausdrücklich erwähnt; ferner Res. 66/12, 18.11.2011, UN-Dok. A/ RES/66/12. 317  Siehe die Convention on the Physical Protection of Nuclear Material v. 3.3.1980 (UNTS Bd. 1456 S. 101, BGBl. 1990 II S. 327). Das gefährdende Verhalten adressiert Art. 7; zur Ermöglichung staatlicher Jurisdiktion Art. 8. Nähere Regelungen zu einer Pflichtverletzung sind nicht vorgesehen. Während die Konvention v. 3.3.1980 auf die Gefahren des Terrorismus nicht näher eingeht, heißt es in der Präambel nach dem Amendment to the Convention on the Physical Protection of Nuclear Material v. 8.7.2005 (Registration No. 24631) nunmehr u. a.: „The States Parties to this Convention, deeply concerned by the worldwide escalation of acts of terrorism in all its forms and manifestations, and by the threats posed by international terrorism and organized crime […].“ 318  Siehe die Convention for the Suppression of Unlawful Acts against the Safety of Maritime Navigation v. 10.3.1988 (UNTS Bd. 1678 S. 201, BGBl. 1990 II S. 496). Bereits in der Präambel wird auf die Gefahr weltweit eskalierender Terroranschläge hingewiesen. Das relevante Vergehen regelt Art. 3; zur nationalen Strafverfolgung und Begründung staatlicher Jurisdiktion Art. 5 und 6; zur nationalen Strafverfolgung im Falle einer unterbliebenen Auslieferung Art. 10. Siehe in diesem Bereich auch das Protocol to the Convention of 10 March 1988 for the Suppression of Unlawful Acts against the Safety of Fixed Platforms located on the Continental Shelf v. 10.3.1988 (UNTS Bd. 1678 S. 304, BGBl. 1990 II S. 508). Zur entsprechenden Anwendbarkeit der hier erstgenannten Konvention Art. 1. Das fragliche Vergehen regelt Art. 2; zur Begründung staatlicher Jurisdiktion Art. 3. 319  Siehe die Convention on the Marking of Plastic Explosives for the Purpose of Detection v. 1.3.1991 (UNTS Bd. 2122 S. 359, BGBl. 1998 II S. 2301). Auch hier erklärt die Präambel ausdrücklich einen Bezug zum Terrorismus. Im Zentrum stehen hier insb. effektive Kontrollpflichten (Art. III und IV) sowie die Einrichtung einer Expertenkommission (Art. V). 320  UNTS Bd. 1316 S. 205, BGBl. 1980 II S. 1362 (nachfolgend: Hostages Conv.); der Bezug zum internationalen Terrorismus wird bereits in der Präambel verdeutlicht, so zeigen sich die Vertragsstaaten überzeugt, „that it is urgently necessary to develop international cooperation between States in devising and adopting effective measures for the prevention, prosecution and punishment of all acts of taking of hostages as manifestations of international terrorism“. Das Pflichtenprogramm ist dem des völkerrechtlichen Luftfahrtrechts nicht unähnlich, etwa zur Begründung von Jurisdiktion über die fraglichen Vergehen (Art. 4). Mit Blick auf die Konsequenzen denkbarer Pflichtverletzungen ist Art. 14 hervorzuheben: „Nothing in this Convention shall be construed as justifying the violation of the territorial integrity or political independence of a State in contravention of the Charter of the United Nations.“

222

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

of Terrorist Bombings vom 15.12.1997,321 der International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism vom 9.12.1999322 sowie der International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism vom 13.4.2005.323 Dabei sind Wortlaut, Aufbau, zu unterbindende Vergehen und daran anknüpfendes Pflichtenprogramm nicht nur im Verhältnis dieser Konventionen zueinander, sondern auch hinsichtlich der zuvor erwähnten Vertragswerke recht ähnlich:324 Zunächst wird jeweils die Straftat im Vertragssinne definiert,325 daraufhin werden Vorkehrungen zur internationalen Zusammenarbeit und Rechtshilfe getroffen326 und das vertragsstaatliche Pflichtenprogramm ausbuchstabiert: Dazu gehört z. B., sicherzustellen, dass eine staatliche Gerichtsbarkeit über die definierten Straftaten besteht,327 es zu entsprechenden Anpassungen des vertragsstaatlichen Straf- und Strafprozessrechts kommt,328 bei etwaigen Anhaltspunkten Sachverhaltsermittlungen angestrengt werden,329 Verdächtige, sofern es nicht zu einer Auslieferung 321  UNTS Bd. 2149 S. 256, BGBl. 2002 II S. 2507 (nachfolgend: Terrorist Bombings Convention); UN-Generalversammlung, Res. 52/164, 15.12.1997, UN-Dok. A/ RES/52/164. 322  UNTS Bd. 2178 S. 197, BGBl. 2003 II S. 1924 (nachfolgend: Terrorist Financing Convention); UN-Generalversammlung, Res. 54/109, 9.12.1999, UN-Dok. A/ RES/54/109. 323  UNTS Bd. 2445 S. 89, BGBl. 2007 II S. 1587 (nachfolgend: Nuclear Terrorism Convention); UN-Generalversammlung, Res. 59/290, 13.4.2005, UN-Dok. A/RES/ 59/290; siehe ferner auch Res. 60/73, 8.12.2005, UN-Dok. A/RES/60/73; Res. 60/78, 8.12.2005, UN-Dok. A/RES/60/78; Res. 61/86, 6.12.2006, UN-Dok. A/RES/61/86; Res. 62/33, 5.12.2007, UN-Dok. A/RES/62/33; Res. 62/46, 5.12.2007, UN-Dok. A/ RES/62/46; Res. 63/60, 2.12.2008, UN-Dok. A/RES/63/60; Res. 64/38, 2.12.2009, UN-Dok. A/RES/64/38; Res. 65/62, 8.12.2010, UN-Dok. A/RES/65/62; Res. 65/74, 8.12.2010, UN-Dok. A/RES/65/74; Res. 66/50, 2.12.2011, UN-Dok. A/RES/66/50; Res. 67/44, 3.12.2012, UN-Dok. A/RES/67/44; Res. 67/51, 3.12.2012, UN-Dok. A/ RES/67/51; Res. 68/41, 5.12.2013 UN-Dok. A/RES/68/41; Res. 69/39, 2.12.2014, UN-Dok. A/RES/69/39; Res. 69/50, 2.12.2014, UN-Dok. A/RES/69/50; Res. 70/36, 7.12.2015, UN-Dok. A/RES/70/36; Res. 71/38, 5.12.2016, UN-Dok. A/RES/71/38; Res. 71/66, 5.12.2016, UN-Dok. A/RES/71/66; Res. 72/42, 4.12.2017, UN-Dok. A/ RES/72/42; Res. 73/55, 5.12.2018, UN-Dok. A/RES/73/55; Res. 73/66, 5.12.2018, UN-Dok. A/RES/73/66. 324  Darauf weist auch Shaw, International Law, 8. Aufl. 2017, S. 885 hin; siehe ferner Fn. 315–319 zuvor. 325  Je Art. 2 der Terrorist Bombings, Terrorist Financing und Nuclear Terrorism Convention. 326  Art. 10 nebst 11 f., 15 Terrorist Bombings Convention; Art. 12 nebst 13 f., 18 Terrorist Financing Convention; Art. 7, 14 f. Nuclear Terrorism Convention. 327  Art. 6 Terrorist Bombings Convrntion; Art. 7 Terrorist Financing Convention; Art. 9 Nuclear Terrorism Convention. 328  Je Art. 4 der Terrorist Bombings und Terrorist Financing Convention; Art. 5, 7 Abs. 1 lit. b Nuclear Terrorism Convention.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 223

kommt, strafrechtlich verfolgt werden,330 und im Verfahren die Menschenrechte Geltung erlangen.331 Damit besteht zwar kein einheitliches Antiterrorvertragswerk, immerhin jedoch ein bereichsübergreifendes Geflecht aufeinander abgestimmter Regelungen bei hohem vertragsstaatlichen Beteiligungsgrad, das die Ambition, eine umfassende völkerrechtliche Antwort auf die Gefahren des Terrorismus zu finden, augenscheinlich macht. Für den Fall eines staatlichen Zurückbleibens hinter diesen konventionsrechtlichen Vorgaben sind nun im Rahmen der Terrorist Bombings, Terrorist Financing und Nuclear Terrorism Convention zwei Vorschriften hervorzuheben, die darauf hindeuten, dass die Umsetzung der Vertragspflichten streng den einzelnen Staaten vorbehalten sind und nicht ersatzhalber vorgenommen werden können. Wortlautgleich heißt es in diesen Konventionen: „The States Parties shall carry out their obligations under this Convention in a manner consistent with the principles of sovereign equality and territorial integrity of States and that of non-intervention in the domestic affairs of other States.“332

Daraufhin ist jeweils – mit nur marginalen Variationen im Wortlaut – vorgesehen: „Nothing in this Convention entitles a State Party to undertake in the territory of another State Party the exercise of jurisdiction and performance of functions which are exclusively reserved for the authorities of that other State Party by its domestic law.“333

Unbenommen davon sind, wie außer in der Nuclear Terrorism Convention eigens betont wird, anderweitige staatliche Rechte, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, insb. aus der UN-Charta.334 Daneben sieht Art. 19 Nr. 2 Terrorist Bombings Convention ausdrücklich vor: „[…] the activities undertaken by military forces of a State in the exercise of their official duties, inasmuch as they are governed by other rules of international law, are not governed by this Convention.“ 329  Art. 7 Terrorist Bombings Convention; Art. 9 Terrorist Financing Convention; vgl. Art. 7 Abs. 1 lit. b Nuclear Terrorism Convention. 330  Siehe etwa Art. 8–11 Terrorist Bombings Convention; Art. 10–14 Terrorist Financing Convention; Art. 11, 13–15 Nuclear Terrorism Convention. 331  Art. 14 Terrorist Bombings Convention; Art. 17 Terrorist Financing Convention; Art. 12 Nuclear Terrorism Convention. 332  Art. 17 Terrorist Bombings Convention; Art. 20 Terrorist Financing Convention; Art. 21 Nuclear Terrorism Convention. 333  Art. 18 Terrorist Bombings Convention; Art. 21 Terrorist Financing Convention (hier ist von „the exercise of jurisdiction or performance of functions“ [Hervorh. P. L.] die Rede), Art. 22 Nuclear Terrorism Convention (hier heißt es a. E. nicht „domestic“, sondern „national law“). 334  Art. 19 Nr. 1 Terrorist Bombings Convention, Art. 21 Terrorist Financing Convention.

224

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Insofern legen Vorkehrungen wie Art. 14 Hostages Convention, Art. 17 f. Terrorist Bombings Convention, Art. 20 f. Terrorist Financing Convention oder Art. 21 f. Nuclear Terrorism Convention nahe, dass ein Zurückbleiben hinter den vertraglichen Anforderungen als Pflichtverletzung anzusehen sein wird, einer umsetzungsorientierten Rückfallkompetenz zugunsten hierdurch gefährdeter (Vertrags-)Staaten aber Vorschub geleistet werden sollte. Dass also eine Pflichtverletzung in diesem Bereich gar den Ausschlag für exterritoriale militärische Maßnahmen des gefährdeten Staates gegen nicht-staat­ liche Akteure geben soll, erscheint unplausibel.335 (b) Regionales Völkervertragsrecht (aa) Europäischer Raum Im Hinblick auf regionale Abkommen zur Terrorismusbekämpfung336 ist für den europäischen Raum zunächst auf die European Convention on the Suppression of Terrorism vom 27.1.1977337 hinzuweisen: Diese nimmt in Art. 1 zu den Straftaten im Vertragssinne u. a. Bezug auf bereits damals existente völkerrechtliche Abkommen, während Art. 6 diesbezüglich die Begründung staatlicher Gerichtsbarkeit einfordert. Nach Art. 8 Abs. 1 gewähren die Vertragsstaaten einander schließlich „weitestgehend Rechtshilfe in Straf­ sachen“, wobei Abs. 2 Ablehnungsmöglichkeiten einräumt, etwa im Fall eines Diskriminierungsverdachts. Die Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism vom 16.5.2005338 regelt wiederum recht umfassend die von den Vertragsstaaten zu ergreifenden Maßnahmen und Sanktionen (etwa Art. 5 Abs. 2, 6 Abs. 2, 7 Abs. 2, 15; Art. 9 und 11), das Erfordernis internationaler Kooperation einschließlich Fragen der Rechtshilfe und Auslieferung (Art. 17–21) und fordert gleichfalls die Begründung staatlicher Gerichtsbarkeit über die fraglichen Straftaten (Art. 14).

335  Bei Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 129  f. werden die besprochenen Vertragswerke hingegen unter Einschränkungen des domaine réservé eingeordnet. Vgl. i. Ü. auch den vorsichtigen Hinweis bei Wolf, Die Haftung der Staaten für Privatpersonen nach Völkerrecht (1997), S. 437 f., der grundsätzlich den Staat als Primat der Terrorismusbekämpfung ausweist. 336  Siehe mit einem entsprechenden Überblick insb. Shaw, International Law, 8. Aufl. 2017, S. 888. 337  ETS No. 090, BGBl. 1978 II S. 322; siehe auch das Protocol Amending the European Convention on the Suppression of Terrorism v. 15.5.2003 (ETS No. 190, BGBl. 2010 II S. 1231). 338  CETS No. 196, BGBl. 2011 II S. 301.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 225

Dass nun der europäische Raum exterritorialen Maßnahmen skeptisch gegenübersteht, zeigt z. B. das Second Additional Protocol to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters vom 8.11.2001.339 Hier wurden in Art. 17 Vorkehrungen für grenzüberschreitenden Observationen getroffen. Diese sind grundsätzlich an die Zustimmung der jeweils anderen Vertragspartei gebunden (Abs. 1), wobei zumindest vom Erfordernis einer vorherigen Zustimmung in engen Grenzen und nur im Hinblick auf erheb­ liche Straftaten eine Ausnahme für besonders dringliche Angelegenheiten vorgesehenen wurde (Abs. 2, 3, 6); aber auch derartige Observationen sind nach Art. 17 Abs. 2 auf Verlangen der anderen Vertragspartei einzustellen und in Abwesenheit einer Zustimmung nicht länger als fünf Stunden zulässig. Für den europarechtlichen Bereich sei schließlich noch der Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung vom 13.6.2002 erwähnt.340 Dieser wurde durch Richtlinie 2017/541/EU ersetzt,341 welche u. a. umfangreich dezidiert terroristische und damit im Zusammenhang stehende Straf­ taten definiert (Art. 3–12, 14) und diesbezüglich bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Begründung staatlicher Gerichtsbarkeit treffen (Art. 19). (bb) Amerikanischer Raum Im amerikanischen Raum ist die Inter-American Convention Against Terrorism vom 3.6.2002342 zentral. Auch hier wird zu Beginn die Eliminierung von Terrorismus als Ziel festgelegt (Art. 1) und auf das bestehende Völkervertragsrecht Bezug genommen (Art. 2 f.). Schwerpunkte werden auf Fragen der Finanzierung von Terrorismus (Art. 4–6), die Kooperation der Vertragsstaaten (Art. 7–9) und individual- bzw. menschenrechtliche Gesichtspunkte (Art. 12–15) gelegt. Unter „exterritorialen Gesichtspunkten“ ist indes Art. 19 hervorzuheben: 339  ETS

No. 182, BGBl. 2015 II S. 520. EG 2002 L 164 S. 3–7; siehe auch den Rahmenbeschluss 2008/919/JI des Rates v. 28.11.2008 zur Änderung des Rahmenbeschlusses 2002/475 zur Terrorismusbekämpfung, ABl. EU 2008 L 330 S. 21–23; ferner Beschluss 2005/671/JI des Rates v. 20.9.2005 über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit betreffend terroristische Straftaten, ABl. EU 2005 L 253 S. 22–24. 341  Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates, ABl. EU 2017 L 88 S. 6–21. 342  OAS Treaty A-66, abrufbar unter: http://www.oas.org/juridico/english/sigs/ a-66.html. 340  ABl.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„Nothing in this Convention entitles a state party to undertake in the territory of another state party the exercise of jurisdiction or performance of functions that are exclusively reserved to the authorities of that other state party by its domestic law.“343

Dies erinnert an bereits ausgewiesene Vorschriften auf universaler Ebene, die die Umsetzung vertragsstaatlicher Pflichten streng den einzelnen Vertragsstaaten vorbehalten. Damit sind auch im amerikanischen Raum exterritoriale Ersatzvornahmen vertraglich praktisch ausgeschlossen. (cc) Süd- und südostasiatischer Raum Im südasiatischen Raum ist die SAARC Regional Convention on Suppression of Terrorism vom 4.11.1987344 hervorzuheben. Beachtlich ist dabei das Additional Protocol to the SAARC Regional Convention on Suppression of Terrorism vom 6.1.2004,345 das sich ausweislich der Präambel als Reaktion auf die mit Res. 1373 (2001) einhergehenden Pflichten346 versteht. Nach Festlegung der Vergehen (Art. 3), der insofern erforderlichen staatlichen Maßnahmen zur Prävention und Repression (Art. 4–8), des Erfordernisses von Kooperation und gegenseitiger Unterstützung einschließlich Auslieferungsfragen (Art. 9–12) betont Art. 17 Nr. 1: „State Parties shall carry out their obligations under this Additional Protocol in a manner consistent with the principles of sovereign equality and territorial integrity of states and that of non-intervention in the domestic affairs of other states.“

Art. 17 Nr. 2 unterstreicht dies nochmals mit der Formulierung: „Nothing in this Additional Protocol entitles a State Party to undertake in the territory of another State Party exercise of jurisdiction or performance of functions that are exclusively reserved for the authorities of that other State Party by its domestic law.“

343  Ähnlich restriktiv Art. 15 Nr. 2: „Nothing in this Convention shall be interpreted as affecting other rights and obligations of states and individuals under interna­ tional law, in particular the Charter of the [UN], the Charter of the [OAS], interna­ tional humanitarian law, international human rights law, and international refugee law.“ 344  Abrufbar unter: http://saarc-sec.org/digital_library/detail_menu/saarc-regionalconvention-on-suppression-of-terrorism. Das im vglw. kurzen Konventions­text festgelegte Pflichtenprogramm ähnelt anderen (universalen und regionalen) Abkommen in diesem Bereich. So legt Art. IV den Vertragsstaaten bei Ausbleiben einer beantragten Auslieferung die Befassung mit der Rechtssache auf. Art. VIII fordert ferner die Vertragsstaaten zu gegenseitiger Unterstützung und Kooperation auf. 345  Abrufbar unter: http://saarc-sec.org/digital_library/detail_menu/additional-proto col-to-the-saarc-regional-convention-on-suppression-of-terrorism. 346  Hierzu S.  235 ff.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 227

In dieser Hinsicht gleichen die Vorkehrungen den vorigen Abkommen auf universaler Ebene, die im Kern die Umsetzung des Pflichtenprogramms zur Terrorismusbekämpfung streng den einzelnen Staaten ohne Möglichkeit gewaltsamer Ersatzvornahmen vorbehalten.347 Nachvollziehbar ist dieser restriktive Kurs im südostasiatischen Raum in der ASEAN Convention on Counter Terrorism vom 13.1.2007.348 Nachdem Art. II unter Rückgriff auf diverse universale Abkommen das Vergehen im Konventionssinn festlegt, betont Art. III: „The Parties shall carry out their obligations under this Convention in a manner consistent with the principles of sovereign equality and territorial integrity of States and that of non-interference in the internal affairs of other Parties.“

Daraufhin sieht Art. IV vor: „Nothing in this Convention entitles a Party to undertake, in the territory of another Party, the exercise of jurisdiction or performance of functions which are exclusively reserved for the authorities of that other Party by its domestic laws.“

Wie auch an anderer Stelle werden daraufhin nähere Regelungen zur Kooperation und gegenseitigen Unterstützung (Art. VI, XII), zur Etablierung staatlicher Jurisdiktion (Art. VII) und zur Auslieferung (Art. XIII) getroffen. (dd) Arabischer Raum; überregionale islamische Zusammenarbeit Nicht unähnlich ist das Pflichtenprogramm gewisser Konventionen im Rahmen der LAS und OIC: der Arab Convention for the Suppression of Terrorism vom 22.4.1998349 und der Convention of the Organisation of the ­Islamic Conference on Combating International Terrorism vom 1.7.1999,350 wenngleich diese ausführlicher verfasst sind. Umfangreich werden im Rahmen ersterer etwa präventive und repressive Maßnahmen konkretisiert (Art. 3), das dahingehende Erfordernis arabischer Kooperation adressiert (Art. 4, ferner Art. 13  ff., 21) sowie Fragen der Auslieferung geregelt (Art. 5 ff., 22 ff.). Unter dem Gesichtspunkt sog. judicial delegations soll es 347  Soeben auf S. 220 ff. I. Ü. heißt es in Art. 18 des vorliegenden Zusatzprotokolls: „Nothing in this Additional Protocol shall be interpreted as affecting other rights and obligations and responsibilities of States and individuals under international law, in particular, the purposes and principles of the Charter of the United Nations, international humanitarian law, and international human rights law.“ 348  Abrufbar unter: https://asean.org/?static_post=asean-convention-on-counter-ter rorism. 349  Abrufbar unter: https://www.un-ilibrary.org/peacekeeping-and-security/inter national-instruments-related-to-the-prevention-and-suppression-of-international-terro rism_c749c0e3-en. 350  Abrufbar unter: https://www.oic-oci.org/page/?p_id=40&p_ref=16&lan=en.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

nach Art. 9 jedem Vertragsstaat (quasi stellvertretungsartig, siehe Art. 12 lit. a) möglich sein, „[to] request any other Contracting State to undertake in its territory and on its behalf any judicial procedure relating to an action arising out of a terrorist offence“,

wobei erläuternd und beispielartig u. a. auf Zeugenanhörungen, Durchsuchungen oder anderweitige Beweissichtungen hingewiesen wird. Solche judicial delegations soll nach Art. 10 jeder Vertragsstaat implementieren, wobei ein angefragter Staat seine Unterstützung ablehnen könne, „(a) [w]here the request relates to an offence that is subject to investigation or prosecution in the requested State“

und, wohl noch wichtiger, „(b) [w]here granting the request might be prejudicial to the sovereignty, security or public order of the requested State.“

Ähnliches ist in der Convention of the Organisation of the Islamic Conference on Combating International Terrorism zu finden. Wieder werden in Art. 3 präventive und repressive Maßnahmen ausführlich konkretisiert, wobei Art. 4 von islamischer Kooperation (ferner Art. 14 ff.) spricht. Anstelle von judicial delegations sind unter Rechtshilfegesichtspunkten funktional identische (Art. 13) rogatory commissions vorgesehen. So heißt es in Art. 9: „Each Contracting State shall request from any other Contracting State to undertake in its territory rogatory action with respect to any judicial procedures concerning an action involving a terrorist crime“.

Die Konkretisierungen (Art. 9 Nr. 1–5) und Ablehnungsmöglichkeiten (Art. 10, siehe aber Art. 12) auf Seiten des angefragten Staats gleichen dabei weitestgehend den vorbenannten. (ee) Afrikanischer Raum Im afrikanischen Raum enthält auch die OAU Convention on the Prevention and Combating of Terrorism vom 14.7.1999351 die für Antiterror­ vertragswerke bekannten Vorkehrungen: einen Maßnahmenkatalog zur Prävention und Repression (Art. 4 Nr. 2; siehe auch Art. 2), Vorkehrungen zur vertragsstaatlichen Kooperation (Art. 5), zur Etablierung staatlicher Jurisdiktion (Art. 6 f.) und zur Auslieferung angeklagter oder verurteilter Personen (Art. 8 ff.). Zur Rechtshilfe weist der unter „Extra-Territorial Investigations (Commission Rogatoire) and Mutual Legal Assistance“ firmierende fünfte 351  UNTS Bd.  2219 S.  179, siehe: https://au.int/en/treaties/oau-convention-pre vention-and-combating-terrorism.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 229

Abschnitt (Art. 14 ff.) Parallelen zu den besagten Vorkehrungen im Rahmen der LAS und OIC (judicial delegations bzw. rogatory commissions) auf. So heißt es in Art. 14 Nr. 1: „Any State Party may, while recognizing the sovereign rights of States Parties in matters of criminal investigation, request any other State Party to carry out, with its assistance and cooperation, on the latter’s territory, criminal investigations related to any judicial proceedings concerning alleged terrorist acts“.352

Hier wird die exterritoriale Dimension solcher Maßnahmen recht explizit gemacht. Zudem ist es nicht der angefragte Staat alleine, der entsprechende Maßnahmen vornimmt, werden doch – wie die Parenthese „with its assistance and cooperation“ in Art. 14 Nr. 1 zeigt – besagte Ermittlungen auf dem Territorium des angefragten Staats zusammen mit dem anfragenden Staat durchgeführt. Eine commission rogatoire kann nach Art. 15 indes abgelehnt werden, nämlich „(a)  where each of the States Parties has to execute a commission rogatoire relating to the same terrorist acts; (b)  if that request may affect efforts to expose crimes, impede investigations or the indictment of the accused in the country requesting the commission rogatoire; or (c) if the execution of the request would affect the sovereignty of the requested State, its security or public order.“

Dies verleiht dem angefragten Staat einen gewissen Spielraum zur Ablehnung entsprechender Anfragen, die sich nach Art. 16 S. 2 jedoch nicht auf die Vertraulichkeit von Bankgeschäften oder Finanzinstitutionen stützen können soll. Weiterhin wurde die in Art. 21 Nr. 1 vorgesehene Möglichkeit zur Ergänzung der Konvention im Rahmen der AU mit dem Protocol to the OAU Convention on the Prevention and Combating of Terrorism vom 8.7.2004 wahrgenommen.353 Hier ist v. a. die in Art. 3 Nr. 1 lit. b vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten hervorzuheben, „to prevent the entry into, and the training of terrorist groups on their territories“.

352  Als Regelbeispiele werden (den Konventionen im Rahmen der LAS und OIC vglb.) genannt: „(a) the examination of witnesses and transcripts of statements made as evidence; (b) the opening of judicial information; (c) the initiation of investigation processes; (d) the collection of documents and recordings or, in their absence, authenticated copies thereof; (e) conducting inspections and tracing of assets for evidentiary purposes; (f) executing searches and seizures; and (g) service of judicial documents.“ 353  Abrufbar unter: https://au.int/en/treaties/protocol-oau-convention-preventionand-combating-terrorism.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Entsprechend und grundsätzlicher mag auch darauf verwiesen werden, dass im Prinzipienkatalog des AU Constitutive Act354 die Ablehnung von Terrorakten und subversiven Aktivitäten zum Ausdruck gebracht wurde (Art. 4 lit. o).355 In diesem Zusammenhang ist ferner der AU Non-Aggression and Common Defence Pact vom 31.1.2005 einzuordnen.356 Dabei wurden in Art. 1 lit. c. diverse Aggressionsfälle antizipiert, darunter im Besonderen: „viii. the sending by, or on behalf of a Member State or the provision of any support to armed groups, mercenaries, and other organized trans-national criminal groups which may carry out hostile acts against a Member State, of such gravity as to amount to the acts listed above, or its substantial involvement therein“

sowie „xi. the encouragement, support, harbouring or provision of any assistance for the commission of terrorist acts and other violent trans-national organized crimes against a Member State.“

In eben diesem Sinne trifft Art. 5 Vorkehrungen zu Präventionsleistungen, die dem Schutz der anderen Mitgliedstaaten zu dienen bestimmt sind. Ausweislich Art. 2 lit. b soll der Pakt jedoch einen Rahmen schaffen, „under which the Union may intervene or authorise intervention, in preventing or addressing situations of aggression […]“.

Die insofern maßgebliche Rolle zur Umsetzung des Pakts kommt dabei gem. Art. 9 dem AU-Friedens- und Sicherheitsrat357 zu, der nach Art. 10 lit. a die Entscheidung über militärische Operationen trifft. (ff) Nordosteurasischer Raum Im nordosteurasischen Raum ist schließlich die Treaty on Cooperation among the States Members of the Commonwealth of Independent States in Combating Terrorism vom 4.6.1999 hervorzuheben.358 Hier findet sich in 354  Constitutive Act of the African Union v. 11.7.2000, UNTS Bd. 2158 S. 3, ­https://au.int/en/constitutive-act. 355  Siehe auch Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (261); jedoch setzt das (von ders. a. a. O. in die Gesamtschau eingestellte) Recht zur humanitären Intervention (Art. 4 lit. h) einen Unionsversammlungsbeschluss voraus und ist auch nur für Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgesehen. 356  Abrufbar unter: https://au.int/en/treaties/african-union-non-aggression-and-com mon-defence-pact; hierzu auch Reinold, ebd., S. 261 f. 357  Dieses Organ wurde mit dem Protocol Relating to the Establishment of the Peace and Security Council of the African Union v. 9.7.2002 (abrufbar unter: https:// au.int/en/treaties/protocol-relating-establishment-peace-and-security-council-africanunion) nachträglich i. S. v. Art. 5 Nr. 2 AU Constitutive Act geschaffen. 358  UNTS Bd. 2867 S. 41.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 231

Art. 12 Nr. 1 Abs. 1 eine Vorkehrung, die an Formen der Rechtshilfe im afrikanischen Raum erinnert: „The Parties may, at the request or with the consent of the Party concerned, send representatives of their competent authorities, including special anti-terrorist units, to provide procedural, advisory or practical aid in accordance with this Treaty.“

Daraufhin (Art. 12–15) werden Details solcher Missionen adressiert. Dazu gehören z. B. die Vorgabe, dass sich Antiterroreinheiten eines anderen Staats im Empfangsstaat nur mit einer Sondergenehmigung und unter der Kontrolle des je zuständigen Vertreters des Empfangsstaats bewegen können (Art. 12 Nr. 1 Abs. 3) und bürokratische Hürden abgebaut werden sollen (Art. 13 Nr. 1), Modalitäten des Grenzübertritts (Art. 12 Nr. 1 Abs. 2, Art. 13 Nr. 2 und 3) oder Fragen des Ausgleichs von Schäden, zu denen es im Empfangsstaat während solcher Missionen kommen mag (Art. 15). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Fragen der Kooperation und gegenseitigen Unterstützung (Art. 2, 4–9). Dabei soll die Kooperation nach Art. 7 Nr. 1 „on the basis of requests by an interested Party for assistance to be rendered, or on the initiative of a Party which believes such assistance to be of interest to another Party“

erfolgen. Art. 9 weist nun zwei Gründe aus, mit denen angefragte Vertragsparteien solche Unterstützungsleistungen ablehnen können, und zwar „1.  […] if the requested Party believes that fulfilment of the request may impair its sovereignty, security, social order or other vital interests or is in contravention of its legislation or international obligations. 2.  […] if the act in relation to which the request was made is not a crime under the legislation of the requested Party.“

Auch dem Antiterrorvertragswerk der CIS sind insofern gewisse exterritoriale Elemente zur Gewährleistung von Rechtshilfe nicht fremd; im Ergebnis lassen sich diese jedoch nicht unabhängig vom Einvernehmen des jeweiligen Territorialstaats realisieren. (gg) Zwischenfazit Auch regional bestehen mithin umfassende vertragliche Vorkehrungen zur Terrorismusbekämpfung. Während das essentielle Pflichtenprogramm dabei prinzipiell vergleichbar erscheint, fallen im arabischen, afrikanischen und nordosteurasischen Raum sowie im Rahmen der regional übergreifenden OIC gewisse, die Rechtshilfe betreffende exterritoriale Momente auf. Diesbezüglich bestehen jedoch Rückeinschränkungen, insofern etwa i. d. R. vorgesehen ist, dass exterritoriale Aktivitäten in diesem Bereich von der Einwilligung des Territorialstaats abhängen, dem ein weiter Spielraum zu ihrer Zurückweisung zukommt (z. B. für den Fall einer Gefährdung seiner Souve-

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

ränität). Ferner wurde im afrikanischen Raum dem AU-Friedens- und Sicherheitsrat eine zentrale Rolle zur Bekämpfung von im Terrorismuskontext stehenden Aggressionen zugewiesen, womit unilateralen Maßnahmen immerhin kein Vorschub geleistet wurde. Sehr deutlich betonen zuletzt die besagten regionalen Konventionen im amerikanischen, süd- und südostasiatischen Raum, in keiner Weise dazu zu berechtigen, staatliche Jurisdiktion im Territorium einer anderen Vertragspartei auszuüben. Damit setzt sich der auf universaler Ebene gewonnene Eindruck im Rahmen des regionalen Völkervertragsrechts fort: Auch hier sind deutliche Tendenzen zu verzeichnen, die der exterritorialen Ergreifung unilateraler Militärmaßnahmen gegen nicht-staat­ liche Akteure nach etwaigen (territorialstaatlichen) Pflichtverletzungen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung entgegenstehen. (2) UN-Generalversammlung Die UN-Generalversammlung hat die Staatengemeinschaft mehrmals dazu aufgefordert, effektive Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung zu ergreifen. Dabei ist zunächst auf Bemühungen in den 1970er- und 1980er-Jahren zu verweisen, wobei 1972 das Ad Hoc Committee on International Terrorism errichtet wurde.359 In weiteren Resolutionen wurden die Staaten i. d. R. dazu aufgefordert, an entsprechenden Konventionen zu partizipieren, miteinander zu kooperieren und auf nationaler Ebene alle Maßnahmen zu ergreifen, um den internationalen Terrorismus zu eliminieren.360 Hieran knüpfte die Generalversammlung in den 1990er-Jahren (mit zunehmender Berücksichtigung des Menschenrechtsschutzes) an;361 1994 wurde schließlich ein Maßnahmen-

359  UN-Generalversammlung, Res. 3034 (XXVII), 18.12.1972, UN-Dok. A/RES/ 3034 (XXVII); Report of the Ad Hoc Committee on International Terrorism, GAOR 28th Session, Supplement No. 28 (A/9028), 1973; Franck/Lockwood, AJIL 68 (1974), S. 69 (72). 360  Siehe etwa UN-Generalversammlung, Res. 31/102, 15.12.1976, UN-Dok. A/ RES/31/102; Res. 32/147, 16.12.1977, UN-Dok. A/RES/32/147; Res. 34/145, 17.12. 1979, UN-Dok. A/RES/34/145; Res. 36/109, 10.12.1981, UN-Dok. A/RES/36/109; Res. 38/130, 19.12.1983, UN-Dok. A/RES/38/130; grundsätzlich auch Res. 39/159, 17.12.1984, UN-Dok. A/RES/39/159; Res. 40/61, 9.12.1985, UN-Dok. A/RES/40/61; Res. 42/159, 7.12.1987, UN-Dok. A/RES/42/159; Res. 44/29, 4.12.1989, UN-Dok. A/ RES/44/29. 361  Siehe UN-Generalversammlung, Res.  46/51, 9.12.1991, UN-Dok. A/RES/ 46/51; Res. 48/122, 20.12.1993, UN-Dok. A/RES/48/122; Res. 49/185, 23.12.1994, UN-Dok. A/RES/49/185; Res. 50/53, 11.12.1995, UN-Dok. A/RES/50/53; Res. 50/186, 22.12.1995, UN-Dok. A/RES/50/186; Res. 52/133, 12.12.1997, UN-Dok. A/RES/ 52/133; Res. 52/165, 15.12.1997, UN-Dok. A/RES/52/165; Res. 53/108, 8.12.1998, UN-Dok. A/RES/53/108.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 233

katalog zur Eliminierung des internationalen Terrorismus erklärt.362 Darin wurden die Staaten angehalten, terroristische Akte in keiner Weise zu unterstützen und nicht zu entsprechenden Aktivitäten in ihren Territorien zu ermutigen.363 Dabei hieß es für die hier relevanten Fälle: „States must also fulfill their obligation under the Charter of the United Nations and other provisions of international law with respect to combating international terrorism and are urged to take effective and resolute measures […] for the […] elimination of international terrorism, in particular: […] to take appropriate practical measures to ensure that their respective territories are not used for terrorist installations or training camps, or for the preparation or organization of terrorist acts intended to be committed against other States or their citizens“.364

In den 2000er-Jahren nahm die Resolutionspraxis der Generalversammlung zu: Sie widmete sich dabei u. a. der Unterbindung sicherer Zufluchtsorte, suchte den Menschenrechtsschutz im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zu stärken und strebte eine einheitliche Kodifikation und umfassende Vertragspartizipation an.365 Hervorzuheben sind zunächst ihre Reaktionen

362  UN-Generalversammlung, Res. 49/60, 9.12.1994, UN-Dok. A/RES/49/60; ergänzt durch die Declaration to Supplement the 1994 Declaration on Measures to Eliminate International Terrorism, siehe Res. 51/210, 17.12.1996, UN-Dok. A/RES/ 51/210 (Annex); dabei auch mit der Errichtung eines Ad Hoc Committee zur Ausarbeitung entsprechender Konventionen (im Resolutionstext ebd. unter Ziff. III/9). 363  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/49/60, Annex: Ziff. 4. 364  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/49/60, Annex: Ziff. 5, lit. a. 365  Siehe insg. UN-Generalversammlung, Res. 54/110, 9.12.1999, UN-Dok. A/ RES/54/110; Res.  54/164, 17.12.1999, UN-Dok. A/RES/54/164; Res.  55/158, 12.12.2000, UN-Dok. A/RES/55/158; Res.  56/24/T, 29.11.2001, UN-Dok. A/ RES/56/24, S. 34 f.; Res. 56/160, 19.12.2001, UN-Dok. A/RES/56/160; Res. 57/27, 19.11.2002, UN-Dok. A/RES/57/27; Res. 57/83, 22.11.2002, UN-Dok. A/RES/57/83; Res. 57/219, 18.12.2002, UN-Dok. A/RES/57/219; Res. 58/48, 8.12.2003, UN-Dok. A/RES/58/48; Res. 58/81, 9.12.2003, UN-Dok. A/RES/58/81; Res. 58/136, 22.12. 2003, UN-Dok. A/RES/58/136; Res. 58/174, 22.12.2003, UN-Dok. A/RES/58/174; Res. 58/187, 22.12.2003, UN-Dok. A/RES/58/187; Res. 59/46, 2.12.2004, UN-Dok. A/RES/59/46; Res. 59/80, 3.12.2004, UN-Dok. A/RES/59/80; Res. 59/153, 20.12. 2004, UN-Dok. A/RES/59/153; Res. 59/191, 20.12.2004, UN-Dok. A/RES/59/191; Res. 59/195, 20.12.2004, UN-Dok. A/RES/59/195; Res. 60/43, 8.12.2005, UN-Dok. A/RES/60/43; Res.  60/158, 16.12.2005, UN-Dok. A/RES/60/158; Res.  61/40, 4.12.2006, UN-Dok. A/RES/61/40; Res. 61/171, 19.12.2006, UN-Dok. A/RES/61/171; Res. 62/71, 6.12.2007, UN-Dok. A/RES/62/71; Res. 62/159, 18.12.2007, UN-Dok. A/ RES/62/159; Res.  62/172, 18.12.2007, UN-Dok. A/RES/62/172; Res.  62/272, 5.9.2008, UN-Dok. A/RES/62/272; Res. 63/129, 11.12.2008, UN-Dok. A/RES/63/129; Res. 63/185, 18.12.2008, UN-Dok. A/RES/63/185; Res. 64/118, 16.12.2009, UNDok. A/RES/64/118; Res. 64/168, 18.12.2009, UN-Dok. A/RES/64/168; Res. 64/177, 18.12.2009, UN-Dok. A/RES/64/177; Res. 64/235, 24.12.2009, UN-Dok. A/RES/ 64/235.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

auf die Anschläge vom 11. September.366 Knapp fünf Jahre später wurde die United Nations Global Counter-Terrorism Strategy angenommen.367 Darin wurde bekräftigt, eine umfassende Konvention zur Terrorismusbekämpfung erreichen zu wollen,368 sich in jeder Hinsicht aus terroristischen Aktivitäten herauszuhalten369 und sichere Zufluchtsorte zu unterbinden.370 Dies müsse gegebenenfalls durch ein (den Privatsektor und internationale Organisationen wie die Weltbank oder den IWF einschließendes) „capacity-building“ ermöglicht und gestützt werden,371 was gewissermaßen an den Menschenrechtsschutz erinnert, der sich ausweislich des vierten und letzten Abschnitts des Strategiepapiers als Komplementär der Terrorismusbekämpfung erweise.372 Unter diesem Gesichtspunkt wurde schließlich, bestehenden Konventionen in diesem Bereich nicht unähnlich, auf eine u. U. erforderliche Anpassung des nationalen Strafrechts verwiesen, das entsprechende Vergehen erfassen müsse.373 Hieran knüpfte die Generalversammlung auch unter dem Eindruck zunehmender Anschläge des ISIL in den 2010er-Jahren an.374 Der Rückgriff 366  Siehe dazu UN-Generalversammlung, Res.  56/1, 12.9.2001, UN-Dok. A/ RES/56/1; Res. 56/88, 12.12.2001, UN-Dok. A/RES/56/88; Res. 56/288, 27.6.2002, UN-Dok. A/RES/56/288. 367  Siehe UN-Generalversammlung, Res. 60/288, 8.9.2006, UN-Dok. A/RES/60/ 288 (Annex, S. 3 ff.). 368  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, ebd., S. 2. 369  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, Annex: S. 5 Ziff. 1, dies folgt dem Wortlaut des Maßnahmenkatalogs aus dem Jahr 1994. 370  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, Annex: S. 5 Ziff. 2. 371  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, Annex: S. 7 f. (dabei insb. Ziff. 1 und 8). 372  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, Annex: S. 9. 373  UN-Generalversammlung, ebd., UN-Dok. A/RES/60/288, Annex: S. 9 Ziff. 4; siehe S. 220 ff. zuvor. 374  Siehe insg. UN-Generalversammlung, Res.  64/297, 8.9.2010, UN-Dok. A/ RES/64/297; Res. 65/34, 6.12.2010, UN-Dok. A/RES/65/34; Res. 65/221, 21.12.2010, UN-Dok. A/RES/65/221; Res. 66/10, 18.11.2011, UN-Dok. A/RES/66/10; Res. 66/105, 9.12.2011, UN-Dok. A/RES/66/105; Res. 66/171, 19.12.2011, UN-Dok. A/RES/66/ 171; Res. 66/178, 19.12.2011, UN-Dok. A/RES/66/178; Res. 66/282, 29.6.2012, UNDok. A/RES/66/282; Res. 67/99, 14.12.2012, UN-Dok. A/RES/67/99; Res. 68/119, 16.12.2013, UN-Dok. A/RES/68/119; Res. 68/178, 18.12.2013, UN-Dok. A/RES/68/ 178; Res. 68/187, 18.12.2013, UN-Dok. A/RES/68/187; Res. 68/276, 13.6.2014, UNDok. A/RES/68/276; Res. 69/127, 10.12.2014, UN-Dok. A/RES/69/127; Res. 70/120, 14.12.2015, UN-Dok. A/RES/70/120; Res. 70/148, 17.12.2015, UN-Dok. A/RES/70/ 148; Res. 70/177, 17.12.2015, UN-Dok. A/RES/70/177; Res. 70/291, 1.7.2016, UNDok. A/RES/70/291; Res. 71/151, 13.12.2016, UN-Dok. A/RES/71/151; Res. 71/291, 15.6.2017, UN-Dok. A/RES/71/291; Res. 72/17, 1.12.2017, UN-Dok. A/RES/72/17; Res. 72/123, 7.12.2017, UN-Dok. A/RES/72/123; Res. 72/180, 19.12.2017, UN-Dok. A/RES/72/180; Res.  72/194, 19.12.2017, UN-Dok. A/RES/72/194; Res.  72/246, 24.12.2017, UN-Dok. A/RES/72/246; Res. 72/284, 26.6.2018, UN-Dok. A/RES/72/



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 235

auf militärische Gewalt wurde jedoch eher zurückhaltend am Rande behandelt.375 Anders als der Sicherheitsrat ist die Generalversammlung nun aber nicht imstande, Zwangsmaßnahmen verbindlich anzuordnen.376 Kontinuität und Umfang ihrer Resolutionspraxis bestätigen indes eine völkerrechtliche Verpflichtung der Staaten zur Terrorismusbekämpfung.377 Diese folgt jedoch weniger aus ihren Resolutionen, sondern besteht, wie es üblicherweise heißt, „under relevant international conventions and protocols and Security Council resolutions, including Council resolution 1373 (2001), to ensure that perpetrators of terrorist acts are brought to justice“.378

Dabei liegt es, wie zuvor auch zum Vertragsrecht festgestellt wurde, zunächst bei den Staaten, die Eliminierung des Terrorismus effektiv zu verfolgen.379 (3) UN-Sicherheitsrat Die vom Sicherheitsrat ergriffenen Maßnahmen sind nicht nur deshalb bedeutsam, weil sie von der Generalversammlung immer wieder aufgegriffen wurden;380 vielmehr sind nach Art. 25 UNCh seine Beschlüsse (decisions), anders als solche der Generalversammlung, für die Mitglieder der Vereinten Nationen bindend [(a)]. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob seine Resolutionspraxis eine eigenständige Pflicht zur Terrorismusbekämpfung hervor284; Res. 73/174, 17.12.2018, UN-Dok. A/RES/73/174; Res. 73/211, 20.12.2018, UN-Dok. A/RES/73/211. 375  So O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S.  174 (191  f.) unter Bezugnahme auf UN-Generalversammlung, Res. 70/291, 1.7.2016, UN-Dok. A/RES/70/291, Ziff. 21, worin die Generalversammlung die Staaten anhielt, „to ensure that any measures taken or means employed to counter terrorism, including the use of remotely piloted aircraft, comply with their obligations under international law, including the Charter […]“; neben dieser Verweisung auf andere normative Grundlagen stellt Ziff. 8 a. a. O. zudem fest, dass militärische Gewalt alleine nicht ausreiche, um den Terrorismus zu besiegen. 376  Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 8 Rn. 138 und ferner 136 f. 377  Entsprechend Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 129. 378  Statt vieler UN-Generalversammlung, Res. 72/123, 7.12.2017, UN-Dok. A/ RES/72/123, Ziff. 12; Res. 62/71, 6.12.2007, UN-Dok. A/RES/62/71, Ziff. 9. 379  Siehe nur UN-Generalversammlung, Res. 64/297, 8.9.2010, UN-Dok. A/RES/ 64/297, Ziff. 5 im Hinblick auf die UN Global Counter-Terrorism Strategy. Maßnahmen wie „capacity building“ werden a. a. O. ausdrücklich von einem Ersuchen des jeweiligen Mitgliedstaats abhängig gemacht. 380  Jüngst z. B. UN-Generalversammlung, Res. 72/123, 7.12.2017, UN-Dok. A/ RES/72/123, S. 2 und 5 Ziff. 12.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

gebracht hat [(b)], und welchen Einfluss diese auf eine etwaige, vorliegend in Frage stehende zurechnungsunabhängige territorialstaatliche Duldungspflicht nehmen könnte [(c)]. (a) Vorbemerkung zu Art. 25 UNCh Vom Sicherheitsrat angenommene Beschlüsse firmieren i. d. R. weder als Entscheidungen noch als (etwaig den Eindruck der Unverbindlichkeit vermittelnde) Empfehlungen, sondern als Resolutionen; dies wirft die Frage auf, wann Resolutionen bindend i. S. v. Art. 25 UNCh sind.381 Ein bestimmter Anwendungsbereich, etwa Kap. VII UNCh, ist dabei angesichts des Wortlauts und der systematischen Stellung von Art. 25 UNCh im V. Kapitel, nicht zuletzt unter Berücksichtigung von Art. 48 f. UNCh, nicht von Bedeutung.382 Entscheidend ist vielmehr eine im Einzelfall vorzunehmende Gesamtschau der jeweiligen Resolution, was ihren Wortlaut, die zur Annahme führenden Diskussionen, in der Sache herangezogene Vorschriften der UN-Charta und überhaupt „all circumstances that might assist in determining the legal consequences of the resolution“ umfasst.383 Insofern wird die Auslegung von Sicherheitsratsresolutionen von den Unsicherheiten begleitet, die für Gesetzes- und Vertragstexte bekannt sind. So geht auch der IGH davon aus, dass Art. 31 und 32 WÜV Orientierung geben können, gleichwohl aber den Besonderheiten von Sicherheitsratsresolutionen Rechnung zu tragen sei. U. U. müssten daher auch Stellungnahmen von Vertretern der Sicherheitsratsmitglieder zur Zeit der Resolutionsannahme, andere Sicherheitsratsresolutionen zur Sache, die anschließende Praxis relevanter UN-Organe und diejenige von resolutionsbetroffenen Staaten berücksichtigt werden.384

381  Peters, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 9, 24 ff. 382  IGH (Continued Presence of South Africa in Namibia), ICJ Rep. 1971, S. 16 (Ziff. 113); Peters, ebd., Art. 25 Rn. 11 f. 383  IGH, ebd., Ziff. 114; Peters, ebd., Art. 25 Rn. 9. Als offensichtliches Beispiel mag die der besagten Advisory Opinion zugrundeliegende Res. 269 (1969) des UNSicherheitsrats, 12.8.1969, UN-Dok. S/RES/269 (1969) dienen, worin sich der ­Sicherheitsrat „[m]indful of its responsibility to take necessary action to secure strict compliance with the obligations entered into by States Members of the United Nations under the provisions of Article 25 of the Charter of the [UN]“ zeigte (ebenfalls bei IGH, ebd., Ziff. 115). 384  IGH (Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo), ICJ Rep. 2010, S. 403 (Ziff. 94); krit. hierzu Peters, ebd., Art. 25 Rn. 26.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 237

(b) Überblick zur Resolutionspraxis Inwiefern die Resolutionspraxis des UN-Sicherheitsrats eine eigenständige Pflicht zur Terrorismusbekämpfung hervorgebracht hat, kann mit einem Blick auf mit dem Ende der 1990er-Jahre einsetzende Entwicklungen veranschaulicht werden, wurden doch in der Folgezeit diverse umfangreiche und verbindliche Sanktionen ergriffen, z. B. gegen das Talibanregime, gegen alQaida und Osama bin Laden sowie jüngst gegen den ISIL.385 So betonte der Sicherheitsrat 1998 nach den Anschlägen auf die Botschaften der USA in Nairobi (Kenia) und Dar-es-Salaam (Tansania) die Pflicht der Mitgliedstaaten, sich nicht in terroristische Aktivitäten zu verstricken, und hob zugleich die Notwendigkeit einer engeren internationalen Zusammenarbeit in Sicherheitsangelegenheiten hervor.386 In diesem Rahmen rief er ein Jahr später die Staaten dazu auf, innerhalb ihrer Territorien die Vorbereitung und Finanzierung terroristischer Akte zu verhindern und insb. sichere Zufluchtsorte zu verwehren.387 Drei zentrale Resolutionen folgten nach den Anschlägen vom 11. September:388 Auch hier wurde die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit sowie die Implementierung vorhandener Konventionen gefor-

385  Siehe überblickshalber etwa UN-Sicherheitsrat, Res. 1267 (1999), 15.10.1999, UN-Dok. S/RES/1267 (1999); Res. 1333 (2000), 19.12.2000, UN-Dok. S/RES/1333 (2000); Res. 1390 (2002), 28.1.2002, UN-Dok. S/RES/1390 (2002); Res. 1452 (2002), 20.12.2002, UN-Dok. S/RES/1452 (2002); Res. 1455 (2003), 17.1.2003, UN-Dok. S/ RES/1455 (2003); Res. 1526 (2004), 30.1.2004, UN-Dok. S/RES/1526 (2004); Res. 1617 (2005), 29.7.2005, UN-Dok. S/RES/1617 (2005); Res. 1735 (2006), 22.12.2006, UN-Dok. S/RES/1735 (2006); Res. 1822 (2008), 30.6.2008, UN-Dok. S/ RES/1822 (2008); Res. 1904 (2009), 17.12.2009, UN-Dok. S/RES/1904 (2009); Res. 1988 (2011), 17.6.2011, UN-Dok. S/RES/1988 (2011); Res. 1989 (2011), 17.6.2011, UN-Dok. S/RES/1989 (2011); Res. 2082 (2012), 17.12.2012, UN-Dok. S/ RES/2082 (2012); Res. 2083 (2012), 17.12.2012, UN-Dok. S/RES/2083 (2012); Res. 2160 (2014), 17.6.2014, UN-Dok. S/RES/2160 (2014); Res. 2161 (2014), 17.6.2014, UN-Dok. S/RES/2161 (2014); Res. 2199 (2015), 12.2.2015, UN-Dok. S/ RES/2199 (2015); Res. 2255 (2015), 22.12.2015, UN-Dok. S/RES/2255 (2015); Res. 2253 (2015), 17.12.2015, UN-Dok. S/RES/2253 (2015); Res. 2368 (2017), 20.7.2017, UN-Dok. S/RES/2368 (2017). 386  UN-Sicherheitsrat, Res. 1189 (1998), 13.8.1998, UN-Dok. S/RES/1189 (1998), S. 1 und 2 Ziff. 5; zuvor S. 130 f. 387  UN-Sicherheitsrat, Res. 1269 (1999), 19.10.1999, UN-Dok. S/RES/1269 (1999), Ziff. 4. 388  UN-Sicherheitsrat, Res. 1368 (2001), 12.9.2001, UN-Dok. S/RES/1368 (2001); Res. 1373 (2001), 28.9.2001, UN-Dok. S/RES/1373 (2001); Res. 1377 (2001), 12.11.2001, UN-Dok. S/RES/1377 (2001).

238

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

dert389 und auf noch eher unbestimmte Art betont, dass Unterstützer und Täter der Anschläge zur Verantwortung gezogen werden müssten.390 In Res. 1373 (2001) wurde sodann über das Erfordernis einer weiteren Zusammenarbeit hinaus betont, dass zusätzliche Maßnahmen seitens der Staaten getroffen werden müssten, um in ihren Territorien die Finanzierung und Vorbereitung von Terrorakten zu verhindern.391 Der Kap. VII UNCh unterstellte operative Teil konkretisierte dies zunächst in finanzieller Hinsicht,392 wofür die Terrorist Financing Convention den maßgeblichen Rahmen bereithalten sollte. Beachtlicher erscheint dagegen die Entscheidung, „that all States shall: […] (c)  Deny safe haven to those who finance, plan, support, or commit terrorist acts, or provide safe havens; (d)  Prevent those who finance, plan facilitate or commit terrorist acts from using their respective territories for those purposes against other States or their citizens“.393

Dies wurde von Res. 1377 (2001) unterstrichen, in deren angehängter Erklärung von „the obligation on States to deny financial and all other forms of support and safe haven to terrorists and those supporting terrorism“394

die Rede ist. Der hierdurch zum Ausdruck gebrachte Verbindlichkeitsgrad unterscheidet sich insofern deutlich von früheren Resolutionen: So wurden z. B. in Res. 1269 (1999) einige der vorstehenden Aspekte noch mit der zurückhaltenden Formulierung eingeleitet: „The Security Council […] [c]alls upon all States to take, inter alia, in the context of such cooperation and coordination, appropriate steps […].“395

389  UN-Sicherheitsrat, Res.  1368 (2001), 12.9.2001, UN-Dok. S/RES/1368 (2001), Ziff. 4. 390  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/1368 (2001), Ziff. 3. 391  UN-Sicherheitsrat, Res.  1373 (2001), 28.9.2001, UN-Dok. S/RES/1373 (2001), Präambel Abs. 8, Ziff. 2 lit. b. 392  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/1373 (2001), Ziff. 1, 2 lit. d–f, 3 lit. d. 393  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/1373 (2001), Ziff. 2 lit. c und d. Siehe auch den Hinweis von Hartwig, ZaöRV 77 (2017), S. 43 (43), dass mit dieser Resolution das „harbouring“ von Terroristen als völkerrechtswidriges Verhalten eingeführt wurde. 394  UN-Sicherheitsrat, Res.  1377 (2001), 12.11.2001, UN-Dok. S/RES/1377 (2011), S. 2 (Annex). 395  UN-Sicherheitsrat, Res.  1269 (1999), 19.10.1999, UN-Dok. S/RES/1269 (1999), Ziff. 4; siehe entsprechend auch Res. 1189 (1998), 13.8.1998, UN-Dok. S/ RES/1189 (1998), Ziff. 5.



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 239

So drängte der Sicherheitsrat auch in den Folgejahren, angesichts weiterer Anschläge und Geiselnahmen, die Staaten zu engerer Zusammenarbeit, wobei er wiederholt an ihre „obligations under resolution 1373 (2001)“ erinnerte.396 Entsprechend hieß es auch 2003 in einer grundsätzlichen Erklärung zur Terrorismusbekämpfung: „States must bring to justice those who finance, plan, support or commit terrorist acts or provide safe havens, in accordance with international law, in particular on the basis of the principle to extradite or prosecute“,397

was der Sicherheitsrat auch 2004 im Rahmen einer Kap. VII UNCh unterstellten Resolution wiederholte398 und auch in den Folgejahren betonte.399 Mit Res. 2170 (2014) rückte sodann der ISIL ins Augenmerk des Sicherheitsrats: Auf diesen wurden die bereits für al-Qaida bestehenden Sanktionen erstreckt,400 Res. 1373 (2001) bekräftigt401 und die Staaten dazu aufgerufen, sämtliche erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Terrorakte und Anstif-

396  UN-Sicherheitsrat, Res.  1438 (2002), 14.10.2002, UN-Dok. S/RES/1438 (2002), Ziff. 3; Res. 1440 (2002), 24.10.2002, UN-Dok. S/RES/1440 (2002), Ziff. 4; Res. 1450 (2002), 13.12.2002, UN-Dok. S/RES/1450 (2002), Ziff. 3; Res. 1465 (2003), 13.2.2003, UN-Dok. S/RES/1465 (2003), Ziff.  3; Res.  1516 (2003), 20.11.2003, UN-Dok. S/RES/1516 (2003); Res. 1530 (2004), 11.3.2004, UN-Dok. S/ RES/1530 (2004), Ziff. 3; Res. 1611 (2005), 7.7.2005, UN-Dok. S/RES/1611 (2005); Res. 1618 (2005), 4.8.2005, UN-Dok. S/RES/1618 (2005); siehe daneben auch Res. 2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1 und 2 Ziff. 1. 397  UN-Sicherheitsrat, Res.  1456 (2003), 20.1.2003, UN-Dok. S/RES/1456 (2003), Annex, Ziff. 3, Ziff. 5 im Hinblick auf Res. 1373 (2001). 398  UN-Sicherheitsrat, Res. 1566 (2004), 8.10.2004, UN-Dok. S/RES/1566 (2004), Ziff. 2: „The Security Council, […] [a]cting under Chapter VII of the Charter of the United Nations, […] [c]alls upon States to cooperate fully in the fight against terrorism, especially with those States where or against whose citizens terrorist acts are committed, in accordance with their obligations under international law, in order to find, deny safe haven and bring to justice, on the basis of the principle to extradite or prosecute, any person who supports, facilitates, participates or attempts to participate in the financing, planning, preparation or commission of terrorist acts or provide safe havens“. 399  Mit ausgreifender Inbezugnahme vorangegangener Resolutionen UN-Sicherheitsrat, Res. 1618 (2005), 4.8.2005, UN-Dok. S/RES/1618 (2005), Ziff. 6; Res. 1963 (2010), 20.12.2010, UN-Dok. S/RES/1963 (2010), S. 2, u. a. auch mit der „obligation of Member States to prevent the movement of terrorist groups by, inter alia, effective border controls, and, in this context, to […] improve cooperation amongst competent authorities to prevent the movement of terrorists and terrorist groups to and from their territories“. Ferner Res. 2129 (2013), 17.12.2013, UN-Dok. S/RES/2129 (2013), S. 2 f.; Res. 2133 (2014), 27.1.2014, UN-Dok. S/RES/2133 (2014), Ziff. 1–5. 400  UN-Sicherheitsrat, Res. 2170 (2014), 15.8.2014, UN-Dok. S/RES/2170 (2014), S. 1 und 5 Ziff. 18 ff. 401  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/2170 (2014), Ziff. 5.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

tungen hierzu zu unterbinden.402 Ein gutes Jahr später wurde der ISIL schließlich als „a global and unprecedented threat to international peace and security“ eingestuft.403 Dabei wurden Mitgliedstaaten mit entsprechenden Kapazitäten dazu aufgerufen, „to take all necessary measures, in compliance with international law, […] on the territory under the control of ISIL also known as Daʼesh, in Syria and Iraq, to redouble and coordinate their efforts to prevent and suppress terrorist acts committed specifically by ISIL also known as Daʼesh as well as ANF, and all other individuals, groups, undertakings, and entities associated with Al Qaeda, and other terrorist groups, […] and to eradicate the safe haven they have established over significant parts of Iraq and Syria“.404

Wie die diesen Passus einleitende Formulierung („[t]he Security Council […] calls upon Member States“) zeigt, dürfte hiermit wohl eher eine unverbindliche Aufforderung als die Konkretisierung einer grundsätzlichen völkerrechtlichen Pflicht zur Terrorismusbekämpfung einhergehen. Auch wird Res. 1373 (2001) nicht im operativen Teil der Resolution zitiert, sondern nur zu Beginn der Präambel bekräftigt.405 Nichtsdestotrotz betonte der Sicherheitsrat auch noch in jüngerer Vergangenheit das sich aus Res. 1373 (2001) ergebende Pflichtenprogramm, z. B.: „The Security Council […] calls upon Member States, emphasizing that they are obliged, in accordance with resolution 1373, to ensure that any person who participates in the financing, planning, preparation or perpetration of terrorist acts or in supporting terrorist acts is brought to justice, to develop and implement comprehensive and tailored prosecution, rehabilitation, and reintegration strategies and protocols, in accordance with their obligations under international law“.406 402  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/2170 (2014), S.  3 (Präambel), Ziff. 6, wobei letzteres als Appell an nationale Maßnahmen zu verstehen sein wird, wie der Verweis auf die zu verhindernde „subversion of educational, cultural, and religious institutions by terrorists and their supporters“ andeutet. Weiterhin Res. 2178 (2014), 24.9.2014, UN-Dok. S/RES/2178 (2014), Ziff. 2, 4–6, 8, 11 ff. 403  UN-Sicherheitsrat, Res.  2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1. 404  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/2249 (2015), Ziff. 5. 405  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1. Eine andere Frage liegt wiederum darin, ob der Sicherheitsrat hiermit eine eigenständige Rechtsgrundlage für militärische Interventionen in den fraglichen Gebieten geschaffen hat, siehe Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (888 f.); insofern zurückhaltend Hilpold, Indian JIL 55 (2015), S. 535 (539 ff., 554 insb. unter Fn. 60); mit einem weiteren Überblick und teils als Rezension ders., QIL 24 (2016), S. 15 (31 und passim). In der Tat erscheint dies diskutabel. Eine restriktive Haltung des Sicherheitsrats zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus kann hierin jedoch kaum erkannt werden, vgl. Hilpold, QIL 24 (2016), S. 15 (33). Siehe hierzu auch noch S.  315 ff., 328 ff. 406  UN-Sicherheitsrat, Res.  2396 (2017), 21.12.2017, UN-Dok. S/RES/2396 (2017), Ziff. 30 (in diesem Sinne auch Ziff. 17 ebd.). Siehe ferner Res. 2341 (2017),



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 241

Insofern erweist sich Res. 1373 (2001), über die besonderen Umstände des 11. Septembers hinauswirkend, als maßgeblicher Referenzpunkt für eine eigenständige, neben das bestehende Völkervertragsrecht tretende staatliche Verpflichtung407 zur präventiven und repressiven Terrorismusbekämpfung auf effektive Weise und mit angemessener Sorgfalt.408 (c) Implikationen einer Pflichtverletzung Auf dieser Grundlage kann durchaus angenommen werden, dass zur Terrorismusbekämpfung zwar fähige, aber unwillige Staaten gegen diese sie bindenden Beschlüsse des Sicherheitsrats verstoßen, sich also völkerrechtswidrig verhalten werden.409 Schwieriger wird dies hingegen für den Fall eines gewillten, aber unfähigen Staates.410 So wurde etwa schon von der Generalversammlung ausdrücklich das in diesem Zusammenhang bestehende Erfor13.2.2017, UN-Dok. S/RES/2341 (2017), Ziff. 3; Res. 2370 (2017), 2.8.2017, UNDok. S/RES/2370 (2017), Ziff. 1. Speziell für den Bereich des Luftrechts siehe Res. 2309 (2016), 22.9.2016, UN-Dok. S/RES/2309 (2016). 407  Dies mag einerseits der Wortlaut der Resolution zeigen, so heißt es zu den Anschlägen vom 11. September in UN-Sicherheitsrat, Res. 1373 (2001), 28.9.2001, UN-Dok. S/RES/1373 (2001), S. 1: „The Security Council […] [r]eaffirming further that such acts, like any act of international terrorism, constitute a threat to interna­ tional peace and security“. Darüber hinaus deutet darauf die fortlaufende Bezugnahme des Sicherheitsrats auf diese Resolution hin, etwa mit der Betonung, dass die Staaten danach verpflichtet seien, ihr nationales Recht auf die Bekämpfung des Terrorismus anzupassen, UN-Sicherheitsrat, Res. 2396 (2017), 21.12.2017, UN-Dok. S/ RES/2396 (2017), Ziff. 17 und 30, ohne Beschränkung auf einen bestimmten Sachbereich. 408  Siehe Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (476, 479 f., 482, 494). Brandl, AVR 53 (2015), S. 279 (315 f.), dies. geht zudem innerhalb einer umfangreichen Unter­ suchung zur Auslegung von Sicherheitsratsresolutionen davon aus, dass eine recht­ setzende Resolution, wie Res. 1373 (2001) eine ist, unter Heranziehung der vertragsrechtlichen Auslegungsregeln zu interpretieren sei, „da sich die Umsetzung der ­Verpflichtungen aus diesen Resolutionen kaum von der Erfüllung von Vertragsverpflichtungen […] unterscheidet.“ Ferner Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 130. 409  Siehe Starski, ebd., S. 480 f. zu Umständen, die je nach den Fähigkeiten des Territorialstaats in variabler Weise auf seine due diligence-Verpflichtungen einwirken und ausdrücklich auf S. 483. 410  Starski, ebd., S. 481 mit Verweis auf IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 (Ziff. 301): „However, […] the Court cannot conclude that the absence of action by Zaire’s Government against the rebel groups in the border area is tantamount to ‚tolerating‘ or ‚acquiescing‘ in their activities. Thus, the part of Uganda’s first counter-claim alleging the Congolese responsibility for tolerating the rebel groups prior to May 1997 cannot be upheld.“ Siehe auch Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (792 f.). Anders hingegen Antonopoulos, J. Arm. Confl. L. 1 (1996), S. 33 (47 f.).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

dernis eines capacity building anerkannt, bei welchem Territorialstaaten u. U. unterstützt werden müssten.411 Geht man zudem, orientiert am Wortlaut der maßgeblichen Sicherheitsratsresolutionen, davon aus, dass die insoweit begründeten Pflichten weniger im garantierten Erfolg der Verhinderung terroristischer Übergriffe liegen, sondern viel eher auf die Ergreifung dagegen gerichteter, angemessen sorgfältiger staatlicher Maßnahmen abzielen (due diligence412), würde für den zur Erfolgsverhütung bloß unfähigen Staat in der Tat die Annahme eines völkerrechtswidrigen Verhaltens schwer fallen.413 Zwar wurde gerade für solche Fälle häufiger der Vorschlag unterbreitet, dass Territorialstaaten eben den Maßnahmen gefährdeter Staaten zustimmen müssten, um nicht als unwillig zu gelten.414 Treffend wurde gegen eine derart umfassende – in dieser Form weder durch das Völkervertragsrecht noch durch die Resolutionspraxis von Generalversammlung und Sicherheitsrat indizierte – Kooperationspflicht von P. Starski indes eingewendet: „between a duty to cooperate and a duty to consent to foreign operations lie not only quantitative but qualitative differences.“415

411  Hierzu

S.  232 ff. konziser Überblick zur völkerrechtlichen Rolle von due diligence, auch unter Berücksichtigung der IGH-Rspr., bei McDonald, ICLQ 68 (2019), S. 1041 ff. (1044 ff. und passim). 413  Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (478 ff., insb. 482 f., 485 und 490, 492, 495), dabei auch mit Verweis auf UN-Sicherheitsrat, Res. 1373 (2001), 28.9.2001, UNDok. S/RES/1373 (2001), Ziff. 2 lit. b, womit der Sicherheitsrat entschied, „that all States shall […] [t]ake the necessary steps to prevent the commission of terrorist acts“, sowie auf Res. 1624 (2005), 14.9.2005, UN-Dok. S/RES/1624 (2005), Ziff. 1, womit ders. alle Staaten dazu aufforderte, „to adopt such measures as may be necessary and appropriate with their obligations under international law to: (a) Prohibit by law incitement to commit a terrorist act or acts; (b) Prevent such conduct; (c) Deny safe haven to any persons with respect to whom there is credible and relevant information giving serious reasons for considering that they have been guilty of such conduct“. Insofern öffnet die einleitende Wendung (siehe Starski, ebd., S. 482) wie auch Ziff. 1 lit. c einen flexiblen Raum zur Bewertung, ob ein Staat seine Pflichten erfüllt hat oder nicht. Weiterhin spricht hierfür das sowohl von der Generalversammlung als auch vom Sicherheitsrat anerkannte Erfordernis einer Konvergenz von Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz (siehe S. 232 ff., 235 ff. zuvor): Wäre an dieser Stelle eine bedingungslose Erfolgsverhütung gewollt, müsste der Menschenrechtsschutz in Zweifelsfällen prinzipiell zurückstehen, was sich aus dem vorzufindenden Regelwerk so jedoch kaum ableiten lässt. In diesem Sinne auch Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (793) unter Zugrundelegung der Friendly Relations Declaration; vgl. auch de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (27), m. w. N.; ferner auch Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (89). 414  Etwa Martin, Vand. JTL 52 (2019), S. 387 (434  f.); Bethlehem, AJIL 106 (2012), S. 770 (776, Prinzip 12). 415  Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (491), insg. krit. zu diesem Vorschlag und i. Ü. m. w. N. ebd., S.  490 f. 412  Ein



B. Lösungsansätze in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 243

Letztlich hat die Staatenpraxis jedoch auch gezeigt, dass reine Unwillensoder Unfähigkeitskonstellation doch eher selten vorzufinden sind. Umso ausgeprägter sich im Einzelfall also Elemente eines staatlichen Unwillens zeigen sollten, desto schwieriger wird der Vorwurf eines völkerrechtswidrigen Verhaltens des Territorialstaats von der Hand zu weisen sein. Doch auch dann wären gefährdete Staaten noch nicht per se dazu berechtigt, unilaterale militärische Maßnahmen im Territorialstaat zu ergreifen. Denn im vorliegenden Zusammenhang wurde durch die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats für den Fall des Zurückbleibens eines Staats hinter dem skizzierten Pflichtenprogramm eine zur Terrorismusbekämpfung „ersatzhalber bestehende Rückfallkompetenz“ zugunsten gefährdeter Staaten nirgends begründet.416 Dies ist auch kaum überraschend, da der Sicherheitsrat schließlich von Fall zu Fall selbst eine Entscheidung über die Autorisierung militärischer Zwangsmaßnahmen treffen kann.417 Damit kann auch die vorliegend in Frage stehende territorialstaatliche Duldungspflicht nicht unter Bezugnahme auf einen etwaigen Verstoß gegen Pflichten begründet werden, die durch die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats begründet wurden. dd) Fazit Es bleibt also festzuhalten, dass eine etwaig mit dem unwilling or unableStandard formulierte zurechnungsunabhängige Pflicht des Territorialstaats, der Selbstverteidigung dienende militärische Maßnahmen des gefährdeten Staats gegen nicht-staatliche Akteure auf seinem Staatsgebiet zu dulden, eingedenk der zugrundeliegenden Interessenkollision,418 weder durch eine normative Rückanbindung an das Neutralitätsrecht noch an das Diplomaten- und Konsularrecht begründet werden kann. Zwar mag eine Anknüpfung an den völkerrechtlichen Regelungsbestand zur Terrorismusbekämpfung vielversprechend erscheinen. Doch während an dieser Stelle vertragsrechtlich entweder die Folgen einer Pflichtverletzung nicht näher ausbuchstabiert werden,419 oder exterritorialen Maßnahmen dezidiert entgegenstehende Vorkehrungen 416  So auch eine Annahme von Tladi, AJIL 107 (2013), S. 570 (575) mit Blick auf Res. 1368 und 1373 des Jahres 2001. Siehe auch O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (191, 205), wonach auf UN-Ebene Terrorismus seit jeher mehr als Verbrechen und weniger als Angelegenheit militärischen Zwangs bzw. bewaffneten Konflikts kategorisiert worden sei; vgl. letztlich auch McDonnell, Geo. Wash. ILR 44 (2012), S. 243 (268 f.). 417  Die Rolle des Sicherheitsrats betont ebenfalls Starski, ZaöRV 75 (2015), S.  455 (496 f.). 418  Hierzu S.  206 ff. 419  Siehe S.  220 ff.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

vorzufinden sind,420 wurde gefährdeten Staaten in der Resolu­tionspraxis des Sicherheitsrats eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende und autorisierungsunabhängige Berechtigung, exterritoriale militärische Maßnahmen im Falle einer Pflichtverletzung des Territorialstaats zu ergreifen, nicht eingeräumt. Folglich lässt sich auch auf Grundlage des völkerrechtlichen Regelungsbestands zur Terrorismusbekämpfung die hier fragliche zurechnungsunabhängige territorialstaatliche Duldungspflicht nicht begründen. Mithin kann auch eine entsprechende Verortung des unwilling or unable-Standards nicht hinreichend dogmatisch plausibilisiert werden.

C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts Wie bereits angedeutet wurde, könnte sich der unwilling or unable-Standard auch außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts niederschlagen. In diesem Sinne legt die relevante Staatenpraxis eine nähere Betrachtung des völkerrechtlichen Notstands (I.), des Rechts der Gegenmaßnahmen (II.) sowie der etwaigen Möglichkeit einer Herausnahme des Territorialstaats aus dem Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots (III.) nahe.

I. Der völkerrechtliche Notstand Staatenpraktisch ist ein ausdrücklicher Rückgriff auf den völkerrechtlichen Notstand selten nachvollziehbar. Doch gerade die zuvor verzeichneten Schwierigkeiten, den unwilling or unable-Standard eindeutig und plausibel in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts umzusetzen, mögen ein Ausweichen auf dieses Institut attraktiv erscheinen lassen. 1. Argument Dass der unwilling or unable-Standard im Rahmen des völkerrechtlichen Notstands verortet werden könnte, mag der Fall einer türkischen Intervention im Irak Mitte der 1990er-Jahre indizieren.421 Hier betonte die Türkei im Hinblick auf Schwächungen der irakischen Gebietshoheit: 420  Siehe

S.  220 ff., 224 ff. dieser Einordnung auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 38; diese Möglichkeit zeigt, letztlich ausgehend vom Tripolaritätsproblem (zuvor, S. 206 ff.), auch Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 1125 auf, wobei i. E. eine entsprechende Verortung des unwilling or unable-Standards als höchst problematisch angesehen wird; vgl. ferner Gazzini, JCSL 13 (2008), S. 25 (28); siehe zuvor S.  109 ff. 421  Zu



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 245 „[…] it becomes inevitable for a country to resort to necessary and appropriate force to protect itself from attacks from a neighbouring country, if the neighbouring State is unwilling or unable to prevent the use of its territory for such attacks. […] Under these circumstances, Turkey’s resort to measures imperative to its own security originating from the principle of self-preservation and necessities, cannot be regarded as a violation of Iraq’s sovereignty.“422

Maßgeblich für diese Verortung ist der Verweis auf das Prinzip der Selbsterhaltung („self-preservation“) sowie auf Gründe der Notwendigkeit („necessities“), womit gewaltsame exterritoriale Maßnahmen gerechtfertigt werden sollen. Einzuräumen ist jedoch, dass sich Fragen der Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit auch für das als ultima ratio anwendbare Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UNCh) stellen,423 wie bereits die Webster-Formel mit der Formulierung einer „necessity of self-defence“424 zeigt. Berücksichtigt man jedoch, dass der Grat zwischen Selbstverteidigungs- und Notstandsrecht ein durchaus schmaler sein kann,425 ist eine Festlegung der besagten türkischen Erklärung auf das Selbstverteidigungsrecht wenigstens nicht zwingend und eine nähere Auseinandersetzung mit dem völkerrechtlichen Notstand umso mehr gerechtfertigt.

422  UN-Sicherheitsrat, Identical letters from the Chargé dʼAffaires a.i. of the Permanent Mission of Turkey to the UN (Annex), 2.7.1996, UN-Dok. S/1996/479, S. 2 [Hervorh. P. L.]. 423  Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (248) mit der Differenzierung zwischen proportionality als Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen angesichts der Intensität eines bewaffneten Angriffs und necessity als das besagte letzte Mittel nach Erschöpfung anderweitiger friedlicher Alternativen; dies nunmehr in Bezug auf Dinstein, War, Aggression, and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 653– 658, 743 ff.; siehe auch Trapp, ICLQ 56 (2007), S. 141 (146). Nicht umsonst wird der Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht praktisch von Formulierungen begleitet wie „necessary and proportionate military actions in Syria in order to eliminate the on­ going ISIL threat to Iraq“ (UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United States of America to the UN addressed to the Secretary-General, 23.9.2014, UN-Dok. S/2014/695), oder auf „necessary measures of self-defence“ Bezug genommen (UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé dʼaffaires a.i. of the Permanent Mission of Germany to the UN addressed to the President of the Security Council, 10.12.2015, UN-Dok. S/2015/946; Letter from the Permanent Representative of Belgium to the UN addressed to the President of the Security Council, 9.6.2016, UN-Dok. S/2016/523). 424  Nach Wolf, The Caroline Case (2012), S. 194 ff.; Bothe, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, 8. Abschn. Rn. 19, unter Fn. 86. 425  Siehe z. B. die zuvor auf S. 29 angedeutete Argumentation von Bowett, SelfDefence in International Law (1958), S. 56–64.

246

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

2. Plausibilität Ob der unwilling or unable-Standard in plausibler Weise im Rahmen des völkerrechtlichen Notstands umgesetzt werden kann, setzt zunächst [a)] eine völkerrechtsdogmatische Verortung dieses Instituts voraus. Auf dieser Grundlage stellt sich dann [b)] die Frage, wie in diesem Kontext Art. 2 Nr. 4 UNCh betreffende Maßnahmen zu bewerten sind. a) Notstand im Völkerrecht Im deutschen Zivil- und Strafrecht fungiert der Notstand als Rechtfer­ tigungs-426 bzw. Schuldausschließungsgrund.427 Während seine Verortung und Anwendung im bürgerlichen Recht kaum erhebliche Schwierigkeiten birgt, erweist sich seine verfassungsrechtliche Einhegung428 vor dem Hintergrund der rechtsdogmatisch umstrittenen Möglichkeit der Positivierung des Ausnahmezustands und der damit einhergehenden prominenten Rolle der Exekutive als ungemein problematischer.429 Die hier meistens zugrundeliegende Befürchtung eines Machtmissbrauchs stellt sich im Strafrecht so zwar nicht, gleichfalls bereitet das Institut auch hier rechtsdogmatische und -philo-

426  Siehe §§ 228, 904 BGB (in der Fassung der Bekanntmachung v. 2.1.2002, BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738) sowie § 34 StGB (in der Fassung der Bekanntmachung v. 13.11.1998, BGBl. I S. 3322). 427  Siehe § 35 StGB. 428  Das Grundgesetz unterscheidet zwischen äußerem (Art. 80a Abs. 1, 2 [Spannungs- und Zustimmungsfall] sowie Abs. 3 GG [Bündnisfall, nicht für einen Streitkräfteeinsatz, sondern für die durch das NATO-System ausgelöste „zivile Teilmobilmachung“, BVerfGE 90, 286 (386)]; Art. 115a GG [Verteidigungsfall]) und innerem (Art. 35 Abs. 2, 3 GG [Notfall]; Art. 91 GG [Innenpolitischer Notstand]; Art. 20 Abs. 4 GG [Widerstandsfall]) Notstand. Ein instruktiver Überblick hierzu bei Kersten, JuS 2016, S. 193 ff. 429  Für die Unmöglichkeit siehe die dezisionistische Suspendierung der bestehenden Rechtsordnung als Geltungsvoraussetzung des Rechts, die Ausnahme mithin als „das nicht Subsumierbare“, bei Schmitt, Politische Theologie (1922 [2015]), S. 13, 18 f. Gegen den hierin vorausgesetzten Dualismus von Staat und Recht und für die radikale Verdrängung der Souveränitätsvorstellung Kelsen, Reine Rechtslehre (1960 [2000]), S.  288 f., 319 f.; ders., Das Problem der Souveränität (1928 [1981]), S. 320. Auf der Grenze von Recht und Politik lässt sich der Ausnahmezustand, soll er mit C. Schmitt die gültige Ordnung suspendieren, auch als Scheinlücke begreifen, nicht innerhalb eines Gesetzes, sondern im Verhältnis des Gesetzes zur Wirklichkeit, Agamben, Ausnahmezustand (2014), S. 41; siehe ebd. auch insb. S. 32 f. zur Charakterisierung des Ausnahmezustands und der Schwierigkeit seiner Positivierung. Einführend und m. w. N. Frankenberg, Staatstechnik (2010), S. 92 ff., 104 ff., 130 ff., 145 ff., 149 ff., 176 ff.



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 247

sophische Probleme.430 Diese mithin v. a. im Öffentlichen Recht präsenten Spannungslagen – Gefahr des Machtmissbrauchs und moral-dilemmatische Interessenabwägungen – prägen im Ausgang auch das Notstandsrecht im Völkerrecht,431 obgleich dessen Akteure weniger als Subordinierte denn als Gleichgeordnete auftreten. Seine Existenz auf dieser Ebene ist dabei ohne weiteres anzunehmen: So bestätigte der IGH unter Bezugnahme auf die ­Arbeiten der UN-Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit in der Sache Gabčíkovo-Nagymaros Project, dass die aus ILC-Entwurfsartikel 33 (später Art. 25 ILC-Artikel) folgenden Bedingungen Völkergewohnheitsrecht reflektierten,432 woran er auch im Mauer-Gutachten festhielt.433 Im Recht der Staatenverantwortlichkeit fungiert der Notstand nach Art. 25 ILCArtikel („necessity“) schließlich als circumstance precluding wrongfulness. Zunächst [aa)] soll nun auf einige funktionale Aspekte des Notstands eingegangen werden; hierauf folgt [bb)] ein Überblick über seine wesentlichen tatbestandlichen Voraussetzungen. aa) Funktion des Notstands Gewisse Unklarheiten bestehen zunächst im Hinblick auf die Frage, welche Rechtsfolge durch Art. 25 ILC-Artikel ausgelöst wird, bzw. genauer: ob das Verhalten im Notstand einen gänzlichen Unrechtsausschluss bedeuten oder lediglich einen Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrund vermitteln soll.434 Der fünfte (und letzte) Sonderberichterstatter der UN-Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit, J. Crawford, ging davon aus, dass die ILC-Artikel dies speziell nicht klärten, wies jedoch darauf hin, dass es nicht der Fall sei, „that, where wrongfulness is precluded, the conduct in question ‚conforms‘ with the obligation. It does not. […] The impression is thereby given of a sort of ‚wrong-

430  Erinnert sei bspw. an die (fragliche) Lösung des Trolley-Problems außerhalb der §§ 34, 35 StGB über den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand, siehe etwa Neumann, in: Kindhäuser et al. (Hrsg), StGB, 5. Aufl. 2017, § 35 Rn. 54–56. Rechtsphilosophisch wird diese Frage unter utilitaristischen Gesichtspunkten diskutiert, siehe Volkmann, Rechtsphilosophie (2018), § 1 Rn. 168. 431  Vgl. YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 72. 432  IGH (Gabčíkovo-Nagymaros Project), ICJ Rep. 1997, S. 7 (Ziff. 52). 433  IGH (Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory), ICJ Rep. 2004, S. 136 (Ziff. 140). 434  Siehe Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (349 ff., 352 ff.): entweder geht es um eine justification oder um eine excuse. Grundsätzlich hierzu, und sich für letztere aussprechend, Lowe, EJIL 10 (1999), S. 405 ff.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

fulness in the abstract‘ […]. It is as if responsibility is precluded rather than wrongfulness.“435

Aber auch dies gelte nicht einheitlich im gesamten fünften Kapitel der ILC-Artikel: So stelle sich etwa die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts (Art. 21 ILC-Artikel) bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 51 UNCh eben als Recht dar, während ein Verhalten im Notstand nur einem überwiegenden Eigeninteresse diene, für sich genommen aber nicht richtig sei.436 Auf dieser Grundlage erscheine Selbstverteidigung als unrechtsausschließende justification, der Notstand hingegen als excuse.437 Mit Blick auf erstere (justification) führte J. Crawford noch eine weitere Differenzierung ein, und zwar zwischen „intrinsic conditions for wrongful conduct, which are part of the primary rule“ und „extrinsic general justifications for what would otherwise be wrongful conduct, such as self-defense.“438 Intrinsische Bedingungen rechtswidrigen Verhaltens würden danach aus dem Gehalt von Primärnormen – z. B. spezifische vertragliche Rechte oder Pflichten – folgen, während Selbstverteidigung in Abgrenzung hiervon nun insofern als extrinsisch zu verstehen sei, als sie normativ in Bezug zu anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen (insb. dem völkerrechtlichen Gewaltverbot) stehe, von deren spezifischen Anwendungsbereich sie aber tatbestandlich nicht umfasst sei.439 M. a. W. würde die rechtmäßige Ausübung des Selbstverteidigungsrechts bei Vorliegen eines bewaffneten Angriffs nicht bedeuten, dass keine Gewalt i. S. v. Art. 2 Nr. 4 UNCh vorliegen würde. Vielmehr wird in den Grenzen von Art. 51 UNCh die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise gerechtfertigt. Ob nun mit der funktionalen Differenzierung zwischen Notstand als excuse und Selbstverteidigung als extrinsic general justification tatsächlich etwas gewonnen werden kann, mag dahinstehen. Festhalten lässt sich allerdings, dass der Notstand letztlich eine dem Rechtfertigungsgrund des Selbstverteidigungsrechts praktisch durchaus vergleichbare Funktion einnimmt.440 bb) Voraussetzungen Inwiefern Maßnahmen im Notstand möglich sind, beschreibt Art. 25 ILCArtikel wie folgt: 435  Crawford,

EJIL 10 (1999), S. 435 (443 f. [das Zitat auf S. 444]). ebd., S. 444 – auch unter Bezugnahme auf V. Lowe. 437  Crawford, ebd., S. 444. 438  Crawford, ebd., S. 444. 439  Vgl. Crawford, ebd., S. 445. 440  Vgl. Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S.  266 f. 436  Crawford,



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 249 „1.  Necessity may not be invoked by a State as a ground for precluding the wrongfulness of an act not in conformity with an international obligation of that State unless the act: (a)  is the only way for the State to safeguard an essential interest against a grave and imminent peril; and (b) does not seriously impair an essential interest of the State or States towards which the obligation exists, or of the international community as a whole. 2.  In any case, necessity may not be invoked by a State as a ground for precluding wrongfulness if: (a)  the international obligation in question excludes the possibility of invoking necessity; or (b)  the State has contributed to the situation of necessity.“

Die negative Formulierung impliziert bereits, dass es sich um einen Ausnahmetatbestand handelt, auf welchen überhaupt nur in engen Grenzen zurückgegriffen werden kann.441 So muss zunächst (Art. 25 Nr. 1 lit. a) ein essentielles Staatsinteresse betroffen sein, wobei es auf eine Gesamtschau im Einzelfall ankommt.442 Näher beschrieben wurde das fragliche Interesse eines Staates z. B. als „lebenswichtig“;443 es ist jedoch durchaus möglich, dass sich dieses auch auf solche seiner Staatsbürger oder gar der internationalen Gemeinschaft erstreckt.444 Die hierfür bestehende Gefahr darf nicht nur bloße Möglichkeit, sondern muss objektiv nachvollziehbar sein; sie muss als schwer einzustufen sein und der befürchtete Schaden unmittelbar bevor­ stehen.445 Eine Maßnahme im Notstand ist damit, wie lit. a anfangs betont, ultima ratio, ihr sind andere rechtmäßige Maßnahmen vorzuziehen, auch wenn sie teurer oder weniger praktikabel sein mögen.446 Ferner (Art. 25 Nr. 1 lit. b) muss das die Notstandsmaßnahme bedingende Interesse nicht nur die entgegenstehenden, aus der zu derogierenden Verpflichtung resultierenden Interessen eines anderen Staates oder anderer Staaten überwiegen, sondern 441  Siehe zur negativen Formulierung die ursprüngliche Kommentierung von ILCEntwurfsartikel 33 bei YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff. Ziff. 40; ferner ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 1–3; sowie O’Meara, ICLQ 66 (2017), S. 441 (462). 442  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 15. 443  Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3.  Aufl. 1984 [2010], §  1290 (S. 871). 444  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 15. 445  ILC, ebd., Art. 25 Ziff. 15 (und f. zu gewissen prognostischen Unsicherheiten in dieser Hinsicht). 446  ILC, ebd., Art. 25 Ziff. 15.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

letztlich alle relevanten Interessen.447 Weitere Einschränkungen sieht Art. 25 Nr. 2 vor. Zuletzt entbindet der Rekurs auf Notstand nicht von der Einhaltung zwingenden Völkerrechts (Art. 26 ILC-Artikel).448 b) Notstand, Selbstverteidigung und Gewaltanwendung Anders als das Selbstverteidigungsrecht ist der völkerrechtliche Notstand auf einen bestimmten Sachbereich des Völkerrechts nicht limitiert. Relevant wurde das Institut z. B. in Fällen säumiger Staatsschulden,449 im Rahmen des Umwelt-450 und Tierschutzes451 oder im Fall der zeitweiligen Deroga447  ILC, ebd., Art. 25 Ziff. 17. Siehe insofern die Formulierung a. E.: „or of the international community as a whole“. 448  Hierzu auch sogleich auf S. 254 ff. 449  Siehe etwa PCA, Russian Claim for Interest on Indemnities (Damages Claimed by Russia for Delay in Payment of Compensation Owed to Russians Injured During the War of 1877–1878): Russia v. Turkey, 11.11.1912, Case No. 1910-02; sowie PCIJ, Société Commerciale de Belgique, Urt. v. 15.6.1939, Series A. B., Fascicule No. 78, S. 160 ff. Hierzu YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 22, 28; YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 7, 10; ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 7 f. 450  Etwa der Torrey Canyon-Fall, in welchem das gleichnamige Schiff im Jahr 1967 vor der Küste Englands havarierte, was dazu führte, dass enorme Mengen Öl austraten und die englische Küste zu erreichen drohten. Um dies zu verhindern, bombardierte Großbritannien die Überreste des Tankers, wodurch das ausgetretene Öl verbrannt werden konnte, siehe YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13  ff., Ziff. 35  f.; YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34  ff., Ziff.  15 f.; ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 9. Unter diesen Umständen ließe sich der Fall prinzipiell auch im Rahmen des Gewaltverbots einordnen, vgl. Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (344 f.). Trotz der Anwendung von Waffengewalt steht hier jedoch der Umweltschutz im Vordergrund, siehe entsprechend die International Convention Relating to Intervention on the High Seas in Cases of Oil Pollution Casualties v. 6.5.1975 (UNTS Bd. 970 S. 211), darin insb. Art. I, III und V. Ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt ist die Entscheidung des IGH in der Sache Gabčíkovo-Nagymaros Project, ICJ Rep. 1997, S. 7 ff. einzuordnen, siehe a. a. O. etwa Ziff. 32 f., 41, 44, 53 f. Ferner Johnstone, ebd., S. 343; ILC, ebd., Art. 25 Ziff. 11. 451  Ein frühes Beispiel stellt die 1893 von Russland befürchtete Überfischung von Robben durch britische und nordamerikanische Fischer in der Nähe seiner Territorialgewässer dar. Ein hierauf reagierendes Verbot von Seiten Russlands erstreckte sich dabei über Gewässer der Hohen See; die Angelegenheit konnte mit Großbritannien vertraglich gelöst werden, siehe YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 33 (und f. zu einem ähnlich gelagerten Fall zur selben Zeit); YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 14; ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 6. Ferner verweist ILC, ebd., Art. 25 Ziff. 12 hierzu auf IGH (Fisheries Jurisdiction Case), ICJ Rep. 1998,



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 251

tion von vertraglichen Verpflichtungen zum Menschenrechtsschutz.452 Dagegen steht hier, nach einer Abgrenzung vom Selbstverteidigungsrecht [aa)], die Frage im Fokus, ob ein Rekurs auf Notstandsmaßnahmen auch im Anwendungsbereich des völkerrechtlichen Gewaltverbots in Betracht kommt [bb)]. aa) Abgrenzung vom Selbstverteidigungsrecht Zwischen Notstands- und Selbstverteidigungsrecht bestehen, wie bereits angedeutet wurde, durchaus gewisse Ähnlichkeiten: Denn letztlich werden jeweils hiermit Maßnahmen getroffen, die sich zumindest im Ergebnis als eine berechtigte Abweichung von einem völkerrechtlich geforderten Verhalten darstellen. Während das Selbstverteidigungsrecht nun als Ausnahme von Art. 2 Nr. 4 UNCh anerkannt ist,453 ist eben dies für Maßnahmen im Notstand fraglich. So verwundert es auch nicht, wenn zuweilen gefordert wird, Notstand und Selbstverteidigung als nicht voneinander zu unterscheidende Institute zu behandeln. Y. Dinstein z. B. hält ihre Differenzierung für künstlich und feh­ lerhaft und führt dies auf die Bedeutung des Caroline-Falls für das Selbstverteidigungsrecht zurück, einen Fall, den die Völkerrechtskommission irrigerweise als Beispiel des Notstands eingestuft hätte.454 In historischer Fort­ führung dieses vermeintlichen Präzedenzfalls firmiert der unwilling or unable-Standard nach Y. Dinstein dann als „[e]xtra-territorial law enforcement [as] a form of self-defence“455. Zurückgegriffen werde hierauf S. 432 (Ziff. 20), worin Kanada eine Überfischung des Schwarzen Heilbutts durch spanische Fischer befürchtete. 452  Einführend Ashauer, AVR 45 (2007), S. 400  ff. (403 f. und passim); Brinkmeier, in: Klein/Volger (Hrsg.), Potsdamer UNO-Konferenzen 3 (2002), S. 98 ff., passim. Für Beispiele zu Derogationsklauseln im Rahmen des vertraglichen Menschenrechtsschutzes siehe etwa Art. 4 IPbürgR; Art. 15 EMRK; Art. 27 AMRK (v. 22.11.1969, OASTS No. 36, UNTS Bd. 1144 S. 123). 453  Siehe S.  36 ff. 454  Dinstein, War, Aggression and Self-Defense, 6. Aufl. 2017, Rn. 766 f., prägnant etwa Rn. 767 a. a. O.: „There is no way to cut retrospectively the historical umbilical cord of the Caroline incident to self-defence.“ Siehe für die UN-Völkerrechtskommission: YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 57, 106, 113; YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 24, S. 52 ff., Ziff. 16; ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 5. 455  Dinstein, ebd., Rn. 768. Begrüßend rezipiert von Tsagourias, LJIL 29 (2016), S. 801 (812 f.), der den unwilling or unable-Standard in Anlehnung an Y. Dinstein als „a jurisdictional test of who has primary and who has secondary jurisdiction to enforce international law“ auffasst. Einordnend und mit dem Verweis auf ein Moment

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„by Utopia solely against non-State actors inside Arcadian territory, in response to an armed attack unleashed by them from that territory. Utopia is entitled to enforce international law extra-territorially if and when Arcadia is unable or unwilling to suppress armed attacks by non-State actors from within its territory against Utopia.“456

In eine ähnliche Richtung weist der im Ausgang auf Art. 51 S. 2 UNCh abstellende Ansatz von M. Scholz. Insofern hier von „[m]easures taken by Members in the exercise of this right of self-defence“ gesprochen werde, könnten alle im notwendigen Selbstverteidigungszusammenhang stehenden Handlungen erfasst werden, also nicht nur Maßnahmen gegen den Angreifer, sondern auch gegen Dritte gerichtete und „für die Ausübung dieser Maßnahme unabdingbar notwendige Gewalt“.457 Zurückgeführt wird dies auf den von der UN-Charta nicht angetasteten historischen Bestand des Selbstverteidigungsrechts, dem – wie der Caroline-Fall zeige – die hier typische Dreieckskonstellation nicht fremd gewesen sei.458 Und auch E. de Wet hat in dieser Hinsicht (letztlich einschränkend) angeregt, dass u. U. bei nicht-staatlichen bewaffneten Angriffen, die gerade unfähigen Staaten nicht zurechenbar seien, zur Bewertung der Notwendigkeit exterritorialer Selbstverteidider „Substitution“ auch Starski, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 237 (244). Grundsätzliche Argumente gegen die Konzeption einer exterritorialen Rechtsdurchsetzung außerhalb des Selbstverteidigungsrechts auch bei ders., ZaöRV 75 (2015), S. 455 (495 f.): Dies sei nur auf Grundlage einer Zustimmung des Territorialstaats oder eines Mandats des Sicherheitsrats vorstellbar. 456  Dinstein, ebd., Rn.  768 [Hervorh. P. L.]. Seine Notwendigkeit wird nach dems., ebd., Rn. 778 u. a. durch folgende Kriterien indiziert: Ein bewaffneter Angriff, auf den die Maßnahmen reagieren, müsste von nicht-staatlichen Akteuren bereits verübt worden sein, und nicht nur antizipiert werden; insofern müsste eine Wiederholungsgefahr bestehen; der gefährdete Staat müsste den Territorialstaat dazu anregen, entsprechend notwendige Maßnahmen im Staatsgebiet vorzunehmen; daraufhin müsste nach Möglichkeit die Zustimmung des Territorialstaats zur Durchführung eigener exterritorialer militärischer Maßnahmen eingeholt werden; auf eine Zustimmung komme es dabei nicht an, „if Arcadia is either unable or unwilling to take the necessary action against the non-State actors within ist territory“; in diesem Fall treffe den gefährdeten Staat schließlich die Pflicht, nachzuweisen, dass alternativ geeignete und zugleich weniger eingreifende Mittel nicht zur Verfügung standen. 457  Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 112. 458  Scholz, ebd., S. 112. Ähnlich die Einordnung bei Wolf, Die Haftung der Staaten für Privatpersonen nach Völkerrecht (1997), S. 419, worin das Selbsthilferecht unterhalb der Schwelle bewaffneter Angriffe als Fall der Selbstverteidigung angesehen wird. Auf dieser Grundlage dürfe der gefährdete Staat nun „nur ausführen, was der [Territorialstaat, Ersetzung P. L.] zur Verhinderung ihrer Entstehung und Durchführung deliktisch unterläßt. Bewaffnete Selbsthilfemaßnahmen sind das äußerste Mittel von Staaten im Verteidigungsnotstand.“ (ebd., S. 423). Einschränkend-krit. zur Rezeption des damaligen Völkergewohnheitsrechts Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 470.



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 253

gungsmaßnahmen auf Art. 25 Nr. 1 lit. a ILC-Artikel zurückgegriffen werden könnte.459 Aufgegriffen wurde die Einordnung Y. Dinsteins in Ansätzen nun auch in den Sondervoten von Kooijmans und Simma in der IGH-Entscheidung zum Armed Activities-Fall.460 Beiden ging es jedoch weniger um die Verortung des von Y. Dinstein und M. Scholz befürworteten Standards als vom Selbstverteidigungsrecht umfasster Notstandskonstellation, sondern um eine extensive Lesart des bewaffneten Angriffs i. S. v. Art. 51 UNCh.461 Die damit einhergehenden Fragen – um welches „Recht“ es etwa genau geht, das extraterritorial vollstreckt werden soll, und ob ein einzelner Staat hierzu überhaupt berufen sein kann – sind jedoch selbstverteidigungsspezifisch und wurden bereits an anderer Stelle behandelt.462 Ob nun die historische Autorität des Caroline-Falls zur hier interessierenden Einordnung des Notstands als besonderer Fall des Selbstverteidigungsrechts zwingt, erscheint überdies zweifelhaft, zumal an dieser Stelle kaum Einigkeit besteht.463 Vielmehr ist mit der IGH-Rechtsprechung und mit Blick auf Art. 21, 25 ILC-Artikel davon auszugehen, dass mit dem Recht zur Selbstverteidigung und dem völkerrechtlichen Notstand zwei unabhängig voneinander zu behandelnde Rechtsinstitute bestehen.464 Damit ist auch die 459  de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (107–109), i. E. jedoch zurückhaltend, wobei diese Frage zu allerletzt schließlich auch noch kurz für Konstellationen staatlichen Unwillens aufgeworfen wird. 460  IGH (Armed Activities), ICJ Rep. 2005, S. 168 ff., Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 30 f. und Separate Opinion of Judge Simma, Ziff. 11–13; Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 769. 461  IGH, ebd., Separate Opinion of Judge Kooijmans, Ziff. 30 sowie Separate Opinion of Judge Simma, Ziff. 11. 462  Siehe insofern S. 189 ff. 463  Radke, Der Staatsnotstand im modernen Friedensvölkerrecht (1998), S. 92 hält z. B. bereits die Berücksichtigung des Caroline-Falls für den Nachweis einer allgemeinen Übung zum Notstand in Abwesenheit von Stellungnahmen Dritter für „methodisch unhaltbar“. Vgl. auch Tladi, AJIL 107 (2013), S. 570 (573), wobei unter Bezugnahme auf I. Brownlie die nur bedingte Aussagekraft eines prä-Charta-Falls für aktuelle Fragen angenommen wird; siehe auch ders., in: Peters/Marxsen, Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (22 f., 53 f.); so auch O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 174 (214–218); vgl. ferner de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (36). 464  IGH (Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory), ICJ Rep. 2004, S. 136 (Ziff. 139 f., 142); IGH (Gabčíkovo-Nagymaros Project), ICJ Rep. 1997, S. 7 (Ziff. 52). Zur vorliegend vertretenen Einordnung auch Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S. 264, die darauf hinweist, dass anders als bei Art. 51 UNCh dem von Notstandsmaßnahmen belasteten Staat ein völkerrechtsdeliktisches Handeln nicht zwingend vorzuwerfen sein muss. I. Ü. kann die bei Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 174 einschließlich Fn. 406 an-

254

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

normative Zuordnung besagter Notstandsbefugnisse – entweder zu Art. 51 UNCh oder zu einem vom Selbstverteidigungsrecht unabhängigen Gewohnheitsrecht – mitnichten nur eine nachrangige dogmatische Frage.465 bb) Notstand als Rechtfertigungsgrund für die Anwendung von Gewalt Fraglich bleibt, ob zur Anwendung von Art. 2 Nr. 4 UNCh unterfallender Gewalt auf den völkerrechtlichen Notstand zurückgegriffen werden kann. Hier könnte, teleologisch veranlagt, zunächst angenommen werden, dass die Unfähigkeit oder der Unwille des Territorialstaats zur Einhaltung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zulasten eines anderen Staates gehen dürfe.466 Diesem prinzipiell nachvollziehbaren Interesse steht jedoch die in Art. 26 ILC-Artikel enthaltene Wertung entgegen, wonach entsprechende Maßnahmen stets mit ius cogens vereinbar sein müssen, worunter auch das völkerrechtliche Gewaltverbot fällt.467 Es liegt damit näher, der Frage systematisch nachzugehen. Unter diesem Gesichtspunkt stellte die UN-Völkerrechtskommission 1980 zunächst das Offensichtliche fest: dass nämlich Aggressionen jedweder Art – etwa Annexionen oder Okkupationen – nicht gerechtfertigt werden könnten, da sie einen Angriff „on the very existence of another State or on the integrity of its territory or the independent exercise of its sovereignty“ darstellten.468 Problematischer erschienen der Kommission dagegen nicht als Aggressionen einzustufende Beeinträchtigungen der territorialen Integrität eines Staates, die nicht als mit ius cogens unvereinbar anzusehen seien müssten, also

genommene Anerkennung eines an Art. 51 UNCh gekoppelten Notstandsrechts auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage unter Verweisung auf die Rspr. des IGH nicht überzeugen. 465  So aber Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2.  Aufl. 2012, §  38 Ziff.  113. Schließlich sehen schon beide Institute unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen vor, die gerade im Fall des Notstands sehr eng gezogen sind. 466  Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S. 263; diese Argumentation wird letztlich wieder von souveränitätstheoretischen Annahmen geprägt, vgl. ebd., S. 268. Ähnlich Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 121 f.; vgl. auch Gazzini, JCSL 13 (2008), S. 25 (28). 467  Epiney versucht ebd., S. 266, den Anwendungsbereich von Art. 2 Nr. 4 UNCh zu verkürzen; zu damit einhergehenden Schwierigkeiten siehe bereits S. 36 ff. und sogleich S.  262 ff. 468  YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 22; siehe auch YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 55.



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 255 „certain actions by States in the territory of other States which, although they may […] be of a coercive nature, serve only limited intentions and purposes […]. These would include […] some incursions into foreign territory to forestall harmful operations by an armed group which was preparing to attack the territory of the State, or in pursuit of an armed band or gang of criminals who had crossed the frontier and perhaps had their base in that foreign territory, or to protect the lives of nationals or other persons attacked or detained by hostile forces or groups not under the authority and control of the State […]. The common feature of these cases is […] the existence of grave and imminent danger to the State, to some of its nationals or simply to human beings – a danger of which the territory of the foreign State is either the theatre or the place of origin, and which the foreign State has a duty to avert by its own actions, but which its unwillingness or inability to act allows to continue. […]“469

Die Abschichtung dieser Fallgruppen von „echten Aggressionen“ hilft jedoch nicht weiter, da sich der Begriff von Gewalt i. S. v. Art. 2 Nr. 4 UNCh nicht im Begriff der Aggression erschöpft, sondern darüber hinausgeht,470 sodass sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit zwingendem Völkerrecht unverändert stellt. Der Bericht betont gleichwohl nochmals den Zusammenhang zwischen dem völkerrechtlichen Notstand und dem unwilling or un­ able-Konzept.471 Nun gab der Kommission zu diesem Problem auch die Staatenpraxis keinen rechten Aufschluss: Im Ausgang konnte zwar noch auf den CarolineFall472 verwiesen werden, in der Zeit ab 1945 jedoch nur noch auf die bel469  YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 23 [Hervorh. P. L.]; ferner YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 56. 470  Siehe nur Randelzhofer/Dörr, in: Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN: Bd. 1, 3. Aufl. 2012, Article 2 (4) Ziff. 20; vgl. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 230; gegen eine Intensitätsschwelle i. R. v. Art. 2 Nr. 4 UNCh Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (171 und passim), im Verhältnis zum Selbstverteidigungsrecht zudem ebd., S. 181 f., wobei T. Ruys für im Sinne der Nicaragua-Entscheidung des IGH vglw. unterschwellige Gewaltanwendungen (siehe S. 191 ff. zuvor) eng umgrenzte „on-the-spot reactions in self-defense“ vorschlägt, zurückgehend auf Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 685 ff. Siehe allg. auch Krugmann, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht (2004), S. 18 f.; ferner auch S. 158 ff. Dies verkennt indes Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S. 266 mit der Limitierung des Gewaltverbots auf dauerhafte Annexionen, Eroberungen und willkürliche Aggressionen. 471  Nachvollziehbar auch bei Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 125. 472  R. Ago wies in seinem achten Bericht zur Staatenverantwortlichkeit ausdrücklich noch auf Spannungen an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze in der Zeit von 1836–1896 (hierzu bereits S. 91 ff., 93 f. zuvor) sowie auf Maßnahmen zum Schutz italienischer und österreichischer Staatsbürger in Thessaloniki im Jahr 1876 hin, YILC 1980 Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.), S. 13 ff., Ziff. 57.

256

2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

gische Intervention im Kongo 1960473.474 Sie führte dies darauf zurück, dass sich intervenierende Staaten häufiger auf ihr Selbstverteidigungsrecht oder die Zustimmung des Territorialstaats zurückzögen,475 was auch die hier relevante Staatenpraxis zeigt.476 Es ist gerade auch in diesem Licht systematisch zweifelhaft, ob der völkerrechtliche Rückgriff auf Gewalt außerhalb von Art. 39 i. V. m. 42 UNCh und Art. 51 UNCh überhaupt möglich sein soll.477 Immerhin die Systematik der Art. 21 und 25 zu Art. 26 ILC-Artikel legt dies jedoch nahe: Denn nicht nur ist die Funktion beider Rechtsinstitute praktisch vergleichbar, vielmehr gilt

473  Die sog. Kongo-Krise ereignete sich von ca. 1960–1964: Kurz nachdem der Kongo am 30.6.1960 seine Unabhängigkeit erlangte, kam es zu erheblichen Störungen der öffentlichen Ordnung, begleitet von meuternden Militäreinheiten und einem umfassenden Ausbruch an Gewalttätigkeiten, dem auch belgische Staatsangehörige zum Opfer fielen. In der Folge intervenierten noch im Kongo stationierte belgische Einheiten ohne kongolesische Zustimmung; am 10.7.1960 griffen ferner belgische Fallschirm­jäger ein und evakuierten belgische und weitere Staatsangehörige aus europäischen Staaten. Gegen Ende Juli 1960, nachdem der Sicherheitsrat aktiv wurde, hatte sich der Großteil der belgischen Truppen zurückgezogen. Der Sachverhalt nach Kolb, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 76 (76 f.); Ronzitti, Rescuing Nationals Abroad (1985), S. 30 (und ff.); siehe ferner Franck, Law & Contemp. P. 27 (1962), S. 632 ff., passim; UN-Sicherheitsrat, Res. 143 (1960), 14.7.1960, UNDok. S/RES/143 (1960); Res. 145 (1960), 22.7.1960, UN-Dok. S/RES/145 (1960) jeweils in Ziff. 1 des operativen Teils mit der an Belgien gerichteten Aufforderung, seine Truppen vom kongolesischen Territorium zurückzuziehen; ferner Res. 146 (1960), 9.8.1960, UN-Dok. S/RES/146 (1960). 474  YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 25 (und f.; siehe bei Ziff. 26 insb. noch Fn. 161, 162 zur Einordnung weiterer Fälle, nämlich die deutsche Intervention in Somalia 1977, die ägyptische Intervention in Zypern 1978 sowie die israelische Intervention im ugandischen Entebbe 1976. 475  YILC 1980 Vol. II Part 2, S. 34 ff., Ziff. 26. Die Kommission bemühte sich jedoch klarzustellen, dass dies nicht zwingend „gegen“ den Notstand sprechen müsse, so heißt es a. a. O.: „It may […] be, that the preference for other ‚justifications‘ than that of necessity was due […] to an intention of bringing out more clearly certain alleged aspects of the case, such as the non-innocence of the State against which the act was committed, or to a belief that it was not possible to prove that all the particularly strict conditions for the existence of a genuine state of necessity were fulfilled.“ Ob dies freilich ein starkes Argument „für“ den Notstand ist, sei einmal dahingestellt. 476  Siehe insofern S. 97 ff. 477  So sah sich die UN-Völkerrechtskommission 1980 noch außer Stande, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Hierfür erklärte sie sich unzuständig: „The Commission considered that it was not called upon to take a position on this question. The task of interpreting the provisions of the Charter devolves on other organs of the United Nations.“, YILC Vol. II Part. 2, S. 34 ff., Ziff. 24; krit. hierzu und mit dem Hinweis auf kommissionsinterne Unstimmigkeiten Malanczuk, ZaöRV 43 (1983), S. 705 (783); gegen die Anwendbarkeit des Notstands mit Blick auf Art. 2 Nr. 4 UNCh Schmitz-Elvenich, Targeted Killing (2008), S. 163 f.



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 257

Art. 26 ILC-Artikel auch gleichermaßen für Art. 21 ILC-Artikel.478 Ein notstandsbedingter Rekurs auf Art. 2 Nr. 4 UNCh betreffende Gewalt erscheint damit rechtstechnisch möglich und nicht per se systemwidrig zu sein. Die engen Voraussetzungen des Notstands können dies jedoch nur in äußersten Ausnahme- oder Extremfällen ermöglichen.479 Wenn dem Notstand aber im Hinblick auf Art. 2 Nr. 4 UNCh ein Anwendungsbereich verbleiben soll, ist fraglich, um welche Ausnahmefälle es überhaupt gehen soll, wenn schon im Jahr 1980 die Staatenpraxis der Kommission hierüber keine wirkliche Antwort geben konnte. Immerhin erwägenswert erscheinen an dieser Stelle jedoch [(1)] militärische humanitäre Interventionen480 sowie [(2)] militärische Antiterrormaßnahmen.481 (1) Militärische humanitäre Intervention Im Rahmen der Art. 39 ff. UNCh bestehen gegen den militärischen Menschenrechtsschutz keine grundsätzlichen Bedenken. Anders steht es jedoch um unilaterale Maßnahmen einzelner Staaten bei Nichteingreifen des Sicherheitsrats. Diese Form der „humanitären Intervention“ findet nicht nur uni­ versal-vertraglich keine Erwähnung, zugleich ist ihr Bestehen auf völkergewohnheitsrechtsrechtlicher Grundlage zweifelhaft.482 Bemerkenswert ist gleichwohl ihre Erwähnung in der Kommentierung von Art. 25 ILC-Artikel. Hier heißt es: S. 246 ff. I. E. anders Schmitz-Elvenich, ebd., S. 163. auch Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten (1992), S. 263, 268; dies auch zugleich als Instrument zum Ausschluss von Missbräuchen, ebd., S. 265; siehe auch Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 34 Rn. 33 f. Grundsätzlich gegen diese Rechtfertigungsmöglichkeit, auch unter Berücksichtigung der Restriktion auf äußerste Ausnahmefälle, Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit (2001), S. 329 (ders. spricht sich a. a. O. jedoch gegen die Anwendung dieser mit dem ius cogens einhergehenden Grenze auf Maßnahmen des Sicherheitsrats aus und führt dies maßgeblich auf den kollektiven Entscheidungshintergrund dieser Institution zurück); so auch Ruys/Verhoeven, JCSL 10 (2005), S. 289 (308 f.), die davon ausgehen, dass auf Notstand fußende bewaffnete Maßnahmen gegen Privatpersonen nur auf Hoher See oder im darüber liegenden Luftraum möglich seien (ebd., S. 309); sowie Ruys, AJIL 108 (2014), S. 159 (161 f., im Weiteren insb. auch S. 196 f.), u. a. mit Verweis auf Art. 25 Nr. 2 lit. a ILC-Artikel. Zurückhaltend auch de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 (499), insofern nur geringfügige „Verletzungen“ (violations) des Gewaltverbots auf dieser Grundlage gerechtfertigt werden könnten. Dagegen wohl auch Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (543) sowie Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (99). 480  Ausführlicher hierzu S. 45 ff. 481  Nach Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (357 ff. und passim). 482  Hierzu S.  46 ff. 478  Hierzu 479  Siehe

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

„[T]he plea of necessity is not intended to cover conduct which is in principle regulated by the primary obligations. This has a particular importance in relation to the rules relating to the use of force in international relations and to the question of ‚military necessity‘. It is true that in a few cases, the plea of necessity has been invoked to excuse military action abroad […]. The question whether measures of forcible humanitarian intervention, not sanctioned pursuant to Chapters VII or VIII of the Charter of the United Nations, may be lawful under modern international law is not covered by article 25.“483

Die Völkerrechtskommission hat damit die unilaterale humanitäre Intervention als Anwendungsfall des völkerrechtlichen Notstands nicht eindeutig bestätigt, aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen.484 Ein gewisser Spielraum mag damit zukünftig bestehen.485 Nicht zuletzt dürfte gerade auch die humanitäre Intervention wegen ihrer moral-dilemmatischen Struktur einen äußersten Ausnahmefall darstellen und damit einen für den Notstand besonders prädestinierten Fall darstellen: Was außer einem sich abzeichnenden Genozid, könnte man fragen, würde ansonsten eine erhebliche und unmittelbare Gefahr für ein essentielles staatliches Interesse bedeuten?486 Auf sicherer normativer Grundlage stehen derartige Einordnungen allerdings nicht. (2) Militärische Antiterrormaßnahmen Konnte schon die militärische humanitäre Intervention nicht als klarer Anwendungsfall des völkerrechtlichen Notstands im Rahmen von Art. 2 Nr. 4 UNCh ausgemacht werden, scheint dies auf den ersten Blick erst recht für militärische Antiterrormaßnahmen gelten zu müssen.487 Das Bedürfnis eines entsprechenden Rückgriffs dürfte an dieser Stelle jedoch maßgeblich von der Auslegung von Art. 51 UNCh gesteuert werden: Würde nämlich voraus­gesetzt, dass ein bewaffneter Angriff grundsätzlich ein staatlicher sein muss, und sollte die Zurechnung nicht-staatlichen Handelns im Einzelfall nicht gelingen,488 sähe sich der gefährdete Staat völkerrechtlich zur Selbstverteidigung außer Stande. An dieser Stelle mag nun der Notstand einsetzen, „der den mangels effektiver Staatsgewalt nicht mehr handlungs- und deliktsfähigen ‚failed state‘ oder den zur effektiven Terrorbekämpfung unwilligen ‚rogue state‘ auch ohne eigene völkerrechtliche Verantwortlichkeit für von seinem Territorium 483  ILC, Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries (2001), Art. 25 Ziff. 21. 484  Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (342, 347 f.). 485  Vgl. Laursen, Vand. JTL 37 (2004), S. 485 (512 f.). 486  Vgl. Johnstone, Col. J. Transnatʼl L. 43 (2005), S. 337 (361). 487  In diesem Sinne auch Laursen, Vand. JTL 37 (2004), S. 485 (523). 488  Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2. Aufl. 2012, § 38 Rn. 111.



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 259 ausgehende terroristische Akte zur Duldung von […] Abwehrmaßnahmen des […] betroffenen Staates auf seinem Staatsgebiet“

verpflichten soll.489 Dagegen ist einzuwenden, dass der weit überwiegende Teil der hier relevanten Staatenpraxis nicht auf den Notstand, sondern auf das Selbstverteidigungsrecht abstellt, was wiederum eine Lösung in der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts vorzugswürdig490 und den Rückgriff auf den Notstand als vom Selbstverteidigungsrecht verschiedenes Rechtsinstitut kontraintuitiv erscheinen lässt.491 Überdies wären weitere Unklarheiten in einem ohnehin schon von erheblichen Unsicherheiten geprägten Rechtsbereich zu befürchten.492 Vermittelnd wurde jedoch vorgeschlagen, in diesem Zusammenhang wenigstens äußerste Extremfälle zu berücksichtigen, etwa eine sich anbahnende Erlangung von Massenvernichtungswaffen durch terroristische Gruppen. Damit würde zumindest den engen Voraussetzungen von Art. 25 ILC-Artikel Rechnung getragen werden.493 Es trifft jedoch – wie von A. Laursen angenommen wurde – zu, dass der Notstand nur in Ausnahme- und Notfällen ein Abweichen von völkerrechtlichen Verpflichtungen ermöglichen soll, insofern also nur ad hoc wirken könne, während sich terroristische Gefahren, bestätigt durch dogmatische Ansätze wie die accumulation of events-Doktrin, als geradezu systemisch erwiesen.494 Für die „gewöhnliche“ Terrorismusbekämpfung, wie sie sich in der hier relevanten Staatenpraxis zeigt, erweist sich der völkerrechtliche Notstand daher als widerspruchsvoller und dogmatisch untauglicher Rahmen.495 3. Fazit Dass der unwilling or unable-Standard in einem Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Notstand steht, liegt nicht an einer sonderlich ausgereiften Staatenpraxis, sondern ist auf diverse das Selbstverteidigungsrecht betreffende Unsicherheiten zurückzuführen. Diese wirken mit einem gewissen phantomhaften Automatismus auf die Einordnung des Notstands im Spannungsfeld zum Gewaltverbot fort, das sich kaum ohne Referenzen auf das 489  Kempen/Hillgruber,

ebd., Rn. 112. S. 156 ff. und das 3. Kapitel sogleich. 491  Die dogmatische Einordnung erachten B. Kempen und C. Hillgruber, wie bereits erwähnt, für nachrangig, dies., Völkerrecht, 2. Aufl. 2012, § 38 Rn. 113; siehe auch S. 247 f. zuvor. 492  In diesem Sinne Schmitz-Elvenich, Targeted Killing (2008), S. 164. 493  Laursen, Vand. JTL 37 (2004), S. 485 (524, 526). 494  Laursen, ebd., S. 522 f., 526. 495  Laursen, ebd., S. 526. 490  Hierzu

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Selbstverteidigungsrecht behandeln lässt. So entsteht bisweilen der Eindruck, der Notstand solle in Abwesenheit eines staatlich zurechenbaren bewaffneten Angriffs als Lückenfüller fungieren.496 Hier artikuliert der unwilling or unable-Standard das Interesse gefährdeter Staaten, sich schützen zu müssen. Sollte dieser Standard auf Notstandserwägungen beruhen, müsste er in Einklang mit dem engen Anwendungsbereich dieses Instituts gebracht werden, wobei der Notstand gerade insofern ultima ratio ist, als er grundsätzlich nicht zur Anwendung gebracht werden soll.497 Dies muss einen Rückgriff nur in Abwesenheit der Voraussetzungen eines anderen Rechtfertigungsgrundes (hier: des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts) verbieten, da ein Verhältnis der Spezialität und Generalität zwischen Selbstverteidigungs- und Notstandsrecht nicht besteht. Nur weil Art. 51 UNCh also gewisse Bedrohungslagen nicht erfasst, kann das durchaus berechtigte Interesse, auch diese Gefahren abzuwehren, nicht den Notstand zur unilateralen Durchsetzung von Völkerrecht („to enforce“) in Anspruch nehmen,498 da es im Rahmen der von Art. 25 ILC-Artikel geforderten Einzelfallprüfung das Interesse des Territorialstaats auf Achtung seiner territorialen Integrität (Art. 25 Nr. 1 lit. b ILCArtikel) immerhin abstrakt nicht überwiegt. Im Rahmen des völkerrechtlichen Gewaltverbots bedeutet dies eine enorme Restriktion von Notstandsmaßnahmen. Beachtet man daneben die zuvor skizzierten dogmatischen Schwierigkeiten, die der Notstand im Hinblick auf Art. 2 Nr. 4 UNCh und Art. 51 UNCh aufwirft, wurde zu Recht auf die Unsicherheiten hingewiesen, die die Begründung einer territorialstaatlichen Duldungspflicht auf dieser Grundlage bedeuten würden.499 All dies suggeriert, dass der unwilling or unable-Standard nicht in plausibler Weise im Rahmen des völkerrechtlichen Notstands umgesetzt werden kann.

496  Illustrativ in diesem Sinne das Vorgehen von de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (107 ff.). Nochmals sei die dogmatische Trennung beider Institute (S. 251 ff. zuvor) hervorgehoben, auf deren Grundlage eine Inkorporierung des Notstandsgedankens in Art. 51 UNCh unterhalb der Schwelle des bewaffneten Angriffs nicht verfangen kann. 497  Hierzu S.  248 ff. 498  Indes Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 766 ff.; dazu Starski, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 237 (244); ferner dies., ZaöRV 75 (2015), S. 455 (495 f.). 499  Siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 126; Ruys/Verhoeven, JCSL 10 (2005), S. 289 (309).



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 261

II. Das Recht der Gegenmaßnahmen Das Recht der Gegenmaßnahmen spielt für die dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards, wenn überhaupt, eine nur untergeordnete Rolle. Entsprechende Assoziationen am Rande mag gleichwohl eine Erklärung Israels wecken, die im Zusammenhang mit seinem militärischen Vorgehen gegen die PLO im Libanon Anfang der 1980er-Jahre getroffen wurde: „If Lebanon is either unwilling or unable to prevent the harbouring, training and financing of PLO terrorists openly operating from Lebanese territory with a view to harassing Israel, Israelis and Jews world-wide, then Lebanon surely must be prepared to face the risk of Israelʼs taking the necessary countermeasures to stop such operations.“500

Während nun vereinzelt gewaltsame Gegenmaßnahmen in Gestalt von sog. „defensive armed reprisals“ noch als Subkategorie des Selbstverteidigungsrechts rubriziert werden,501 wird wohl überwiegend vor dem Hintergrund des durch die UN-Charta konstituierten ius contra bellum die Unabhängigkeit beider Institute hervorgehoben.502 Dabei wird mit Gegenmaßnahmen503 – eigentlich völkerrechtswidrige, ausnahmsweise aber gerechtfertigte Akte – auf die Setzung eines Unrechtstatbestandes reagiert, um den hiermit adressierten Staat zur Unterlassung oder zur Wiedergutmachung eines schädigenden Verhaltens zu bewegen (vgl. auch Art. 22, 49 Nr. 1 und 3 ILCArtikel).504 Diese Figur zugunsten des gefährdeten Staates auf das vorliegend typisierte Grundszenario zu übertragen, birgt jedoch Probleme. Denn im Rekurs auf Gegenmaßnahmen müssen Staaten gerade auf militärische bzw. gewaltsame Mittel verzichten:505 So sollen Gegenmaßnahmen ausweislich Art. 50 Nr. 1 lit. a ILC-Artikel auch nicht „the obligation to refrain from the threat or use of force as embodied in the Charter of the United Nations“ berühren dürfen. Dies gibt nicht zuletzt die Resolutionspraxis der

SCOR 37th Year, 2374th Meeting: 5.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2374, Ziff. 78 [Hervorh. P. L.]. 501  Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6. Aufl. 2017, Rn. 692. 502  Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (467 f.); vgl. Darcy, in: Weller (Hrsg.), The Use of Force in IL (2015), S. 879 (879 f., 886 f.); vgl. Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 59 Rn. 6. 503  Auch: Repressalien, Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, § 5 Rn. 421. 504  Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 1342; Tomuschat, ZaöRV 33 (1973), S. 179 (185 f.); Aust/Payandeh, JZ 73 (2018), S. 633 (636). 505  Aust/Payandeh, ebd., S. 636; Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (467 f.); Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl. 2019, § 59 Rn. 6; vgl. auch Tomuschat, ZaöRV 79 (2019), S. 579 (595 f.). 500  UN-Sicherheitsrat,

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Generalversammlung506 sowie die Rechtsprechung des IGH507 zu erkennen.508 Da der vorliegenden Staatenpraxis jedoch ausnahmslos exterritoriale militärische Maßnahmen gefährdeter Staaten gegenständlich sind, kann der unwilling or unable-Standard nicht im Recht der Gegenmaßnahmen verortet werden.

III. Modifizierungen des völkerrechtlichen Gewaltverbots Zuletzt könnte im Rekurs auf den unwilling or unable-Standard der Versuch liegen, die Herausnahme eines Territorialstaats aus dem Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 UNCh) zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich dabei um einen Schritt von besonderer Tragweite, der – vorweggenommen – auch nur vergleichsweise selten nachvollziehbar ist. 1. Argument Die Relevanz einer solchen Modifizierung des Gewaltverbots legen zwei Beispiele der vorliegend relevanten Staatenpraxis nahe. So betonte Israel etwa im Hinblick auf eine gegen die Hisbollah gerichtete militärische Intervention im Libanon 1996: „The Lebanese Government was told time and time again: control the Hezbollah. If you are, as you claim, the sovereign Government of Lebanon, then this is your 506  UN-Generalversammlung, Res.  2625 (XXV), 24.10.1970, UN-Dok. A/ RES/2625 (XXV), Annex: Prinzip 1 Abs. 6: „States have a duty to refrain from acts of reprisal involving the use of force.“ Ferner die Pflichten nach Res. 36/103, 9.12.1981, UN-Dok. A/RES/36/103, Annex: Declaration on the Inadmissibility of Intervention and Interference in the Internal Affairs of States, Abschn. II lit. c: „The duty of a State to refrain from […] any act of military, political or economic interference in the internal affairs of another State, including acts of reprisal involving the use of force“. 507  IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 249, nebst 211): „While an armed attack would give rise to an entitlement to collective self-defence, a use of force of a lesser degree of gravity cannot […] produce any entitlement to take collective counter-measures involving the use of force. The acts of which Nicaragua is accused, even assuming them to have been established and imputable to that State, could only have justified proportionate counter-measures on the part of the State which had been the victim of these acts […]. They could not justify counter-measures taken by a third State […] and particularly could not justify intervention involving the use of force.“ IGH (Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons), ICJ Rep. 1996, S. 226 (Ziff. 46): „The Court does not have to examine […] the question of armed reprisals in time of peace, which are considered to be unlawful.“ 508  Zum Vorstehenden mit Nachweisen und Zitationen Darcy, in: Weller (Hrsg.), The Use of Force in IL (2015), S. 879 (889–891); Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (468); Aust/Payandeh, JZ 73 (2018), S. 633 (636).



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 263 obligation. It is interesting that the Lebanese Government disarmed all the militias which had operated within its territory, but never Hezbollah. It was very strange to hear from the Prime Minister of Lebanon, just last night, ‚It is not within our ability to do this‘. Please decide; either his is the sovereign Government, or it is not within its ability.“509

In dieselbe Richtung weist wiederum eine Stellungnahme Israels, die im Zusammenhang mit den 1985 in Tunesien ergriffenen militärischen Maßnahmen abgegeben wurde: „[…] [A] country cannot claim the protection of sovereignty when it knowingly offers a piece of its territory for terrorist activity against other nations […]. Tunisia, then, actually provided a base for murderous activity against another State […]. The protection of sovereignty cannot be claimed by any Government when it makes available such facilities, especially against the State that must protect itself.“510

Wenngleich die Erklärung von 1996 eine derartige Modifizierung – insofern sie staatliche Souveränität nur ansatzweise in ein Alternativverhältnis zur staatlichen Fähigkeit setzte, etwaige völkerrechtliche Pflichten zu erfüllen – noch nicht mit letzter Konsequenz explizit machte, geht dies doch recht deutlich aus der Erklärung des Jahres 1985 hervor: Unter den hier umschriebenen Umständen (staatlichen Unwillens) sollte sich der Territorialstaat nicht auf den durch seine Souveränität vermittelten Schutz berufen können. Es wurde nun bereits gezeigt, dass dieser Schutz insb. durch Art. 2 Nr. 4 UNCh als Ermöglichungsvoraussetzung souveräner Staatengleichheit (Art. 2 Nr. 1 UNCh) vermittelt wird.511 Wenn also Territorialstaaten in den hier interessierenden Fallkonstellationen dieser Schutz verwehrt werden soll, legt dies nahe, dass sie sich im selben Zuge auch nicht mehr auf Art. 2 Nr. 4 UNCh berufen können sollen. 2. Plausibilität Die Plausibilität einer Modifizierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots hängt letztlich von zwei Aspekten ab: Zunächst müsste dieser Ansatz methodisch erklärt werden können [a)]. Vor allem wird hiermit jedoch an Grundsätzlichem gerührt, insofern – abseits der in der UN-Charta anerkannten Ausnahmen des Gewaltverbots (Art. 39 ff. und 51) – auf einen bestimmten Gehalt staatlicher Souveränität aufgebaut wird, dessen Voraussetzbarkeit fraglich erscheint [b)].512 509  UN-Sicherheitsrat,

51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653,

S. 6 [Hervorh. P. L.]. 510  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 193 [Hervorh. P. L.]; siehe auch UNYB 39 (1985), S. 288. 511  Siehe S.  36 ff. 512  Siehe bereits S. 32 ff.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

a) Methodische Verortung Vorgeschlagen wurde nun etwa, dass sich der vermittels der Durchführung eines bewaffneten Angriffs partiell völkerrechtsunmittelbare nicht-staatliche Akteur aus dem „Souveränitätsschild“ des Territorialstaats löse, was letzterer auch billige, wenn er gegen den nicht-staatlichen Akteur nicht vorgehen würde.513 Gegen eine solche teleologische Reduktion des Gewaltverbots514 wurde jedoch überzeugend eingewendet, dass der partielle Verlust der Gebietshoheit vom (ausdrücklichen) Willen des Territorialstaats abhängig ist.515 Dass hiermit jedoch typischerweise nicht zu rechnen ist, zeigen bereits sämtliche Fälle der vorliegend relevanten Staatenpraxis.516 Ein hiermit verwandter, aber tiefergehender Ansatz läuft auf die Frage hinaus, ob ein Staat u. U. den Schutz des Gewaltverbots verwirken könnte.517 Verwirkung wird dabei, vom zeitlichen Moment entkleidet, nicht als Rechtsverlust durch übermäßigen Gebrauch eines prinzipiell zustehenden Rechts, sondern infolge eines Verhaltens verstanden, das durch andere Normen verboten wird.518 Ausgegangen wird dabei vom Vorliegen eines subsidiär anwendbaren allgemeinen Rechtsgrundsatzes (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHSt).519 Dies hat auch durchaus seinen Reiz, vergegenwärtigt man sich die an dieser 513  Krajewski,

AVR 40 (2002), S. 183 (204). Begriff auch bei Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (494). 515  Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 123 f.; Wandscher, Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht (2006), S. 125  f. Siehe auch zuvor S. 39 ff. 516  Siehe die Stellungnahmen der jeweiligen Territorialstaaten auf S. 97 ff. 517  Insb. hierzu Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (332); grundlegend und in Anknüpfung hieran Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 ff.; Kokott, in: FS Bernhardt (1995), S. 135 ff.; Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S.  125 f.; Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 122 ff.; im Überblick Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (494) und dies., in: Kulick/ Goldhammer, Der Terrorist als Feind? (2020), S. 237 (244). Zumindest andeutungshalber Levenfeld, Col. J. Transnatʼl L. 21 (1982), S. 1 (11 f.): „Lebanonʼs admitted inability to control the fedayeen may constitute a partial relinquishment of its right to territorial integrity in deference to Israel, the injured state.“ Die folgende Argumentation scheint in letzter Konsequenz aber der Lesart des Selbstverteidigungsrechts zu entspringen. 518  Kokott, ebd., S. 139 f.; Doehring, ebd., S. 51–53; es fehlt an dieser Stelle überdies an einer die Verwirkung herbeiführenden lex specialis, ders., ZaöRV 67 (2007), S.  385 (386 f., 387 ff.). 519  Kokott, ebd., S. 140  f.; siehe auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 125 f.; Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 122 f. und m. w. N.; siehe i. Ü. Doehring, ZaöRV 67 (2007), S. 385 (387 ff.). Ob in diesem Sinne die nicht rechtsvergleichende, sondern völkerrechtsunmittelbare Ableitung des Instituts unter Bezugnahme auf Art. 60 Abs. 1 WÜV überzeugen kann (siehe Kokott, ebd., S. 141) sei dahingestellt, ist es hier doch die erhebliche Verlet514  Der



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 265

Stelle diskutierten Extremfälle: etwa die sich als „Mörderbande“ gerierende Botschaft im Diplomatenrecht oder gar eine als solche figurierende Staatsgewalt, wie sie z. B. den Nürnberger Prozessen gegenständlich war.520 So nachvollziehbar das dahinterstehende Interesse aber auch sein mag, stellt sich im Hinblick auf das Gewaltverbot das Problem, dass es sich hierbei um grundsätzlich nicht verwirkbares ius cogens handelt.521 J. Kokott hat daher (im Anschluss an C. Tomuschat522) erwogen, dass ein Staat seinen Status weniger dispositiv, sondern aus seiner Stellung als Objekt des Gewaltverbots heraus verwirken könnte.523 Ob diese doch eher umwegige524 Differenzierung überzeugt, ist zweifelhaft. Und es überzeugt auch kaum, dass es insofern nicht um den Verlust von Ansprüchen, sondern um die Versagung der Berufung auf ein Souveränitätsrecht gehen soll.525 Denn das Gewaltverbot fungiert ja nicht nur als bloße staatssubjektive Rechtsposition, sondern mit Blick auf Art. 2 Nr. 1 UNCh auch als Ermöglichungsvoraussetzung völkerrechtsunmittelbarer Staatlichkeit überhaupt. Damit einher geht wiederum ein gewisser Absolutheitsanspruch, der durch seine Einstufung als ius cogens gerade abgesichert werden soll.526 Auch überzeugt in dieser Hinsicht nicht die in eine ähnliche Richtung zielende Annahme, der rechtswidrige Aggressor verwirke das Recht, sich darauf zu berufen, dass der von ihm angegriffene bzw. gefährdete Staat das Gewaltverbot einzuhalten habe.527 Zu Selbstverteidigungsmaßnahmen ist der gefährdete Staat nämlich im Grunde gerade nicht berechtigt, weil er das zung eines zweiseitigen Vertrags, die zu seiner Beendigung oder Suspendierung geltend gemacht werden kann und nicht etwa ein vertragsexterner Grund. 520  Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (55–57), wobei auf abstrakter Ebene die Statusverwirkung, in Abgrenzung zum bloßen Delikt, für das international crime vorgeschlagen wird (dies auf S. 55). Bei Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (330–332) werden sachbereichlich Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger, Verletzungen der diplomatischen Integrität und die Duldung bewaffneter Gruppen auf dem Staatsgebiet zum Zweck des (kolonialen) Befreiungskampfes erwähnt. Dabei müssten spätestens Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen zur Beugung des Willens eines anderen Staates die Frage aufwerfen, ob nicht ein derart vorgehender Staat den Schutz des Gewaltverbots verwirkt habe. 521  Kokott, in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (142); Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 123. 522  Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (332). 523  Kokott, in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (149); dies aufgreifend Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 126. 524  Siehe Dau, Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure (2018), S. 123 f. 525  Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 126, mit Bezugnahme auf Kokott, in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (138 f.). 526  Siehe hierzu bereits S. 36 ff. 527  Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (58).

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

Gewaltverbot dem Territorialstaat gegenüber nun nicht mehr einzuhalten habe, sondern weil ihm mit Art. 51 UNCh hierzu ausnahmsweise ein Rechtfertigungsgrund zur Verfügung steht. Wenn also die Verwirkung als allgemeiner Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHSt anerkannt wird, besteht zumindest im Hinblick auf das völkerrechtliche Gewaltverbot prinzipiell kein Anlass, die damit einhergehende Schutzfunktion als nicht vom ius cogens erfasst anzusehen oder das zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht bestehende Regel-Ausnahme-Verhältnis zu relativieren. Im Falle exterritorialer militärischer Maßnahmen gilt das völkerrechtliche Gewaltverbot mithin unvermindert. b) Souveränitätsrhetorische und -theoretische Implikationen Diese Schlussfolgerung mag nun dazu verleiten, auf einer viel grundsätz­ licheren Ebene, „tiefer“ – wie es bei C. Tomuschat heißt528 – anzusetzen: nämlich bei Staat und Souveränität. Dies zeigt schon der von J. Kokott vorgeschlagene, nicht ohne souveränitätstheoretische Vorannahmen auskommende Versuch, die Verwirkung des Gewaltverbots anhand der Stellung des Staates als Objekt des Gewaltverbots zu begründen.529 So verhielte sich nämlich ein auf Teilen seines Territoriums keine Herrschaftsgewalt mehr ausübender Staat, was von dort ausgehende Angriffe bewaffneter Banden auf Nachbarstaaten ermöglichen würde, nicht mehr wie ein Staat.530 Diese noch 528  Tomuschat,

EA 36 (1981), S. 325 (331). in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (149). 530  Kokott, ebd., S. 149 f., wobei auch hier auf Ausnahmesituationen verwiesen wird, um das Bedürfnis nach einem Rückgriff auf das Institut der Verwirkung zu plausibilisieren. Die Ausnahmesituationen verweisen jedoch weniger auf äußerste Extremfälle, wie sie zuvor mit der sog. „Mörderbande“ umschrieben wurden. Vielmehr stützt sich die Argumentation für den subsidiären Rückgriff auf die Verwirkung auf das schiere Nichtvorliegen des Tatbestands des Selbstverteidigungsrechts. So wird für die in Bezug genommenen Fälle gewisser Angriffe bewaffneter Banden auf nicht dem Selbstverteidigungsrecht unterfallende low intensity conflicts verwiesen (Kokott, ebd., S. 149 und f.). Eine Verwirkung des Gewaltverbots wird dabei a. a. O. noch in Betracht gezogen, in den Schlussfolgerungen als denkbare Fallgruppe der Verwirkung aber interessanterweise nicht mehr erwähnt, siehe ebd., S. 151. Vgl. auch Kokott, ZaöRV 64 (2004), S. 517 ff.: Hier wird der klassisch staatszentrierte Gehalt souveräner Staatengleichheit, verstanden als Gleichwertigkeit der Staaten, vor dem Hintergrund gewisser Transnationalisierungserscheinungen und entgegenstehender fundamentaler Werte des modernen Völkerrechts (insb. des Menschenrechtsschutzes) in Frage gestellt (S. 519–521, 525, 529). Im Hinblick auf die zunehmende Anerkennung des Individuums als Völkerrechtssubjekt (S. 530 f.) wird schließlich die staatliche Achtung der politischen Partizipationsrechte der jeweiligen Bevölkerung dem Bereich innerer Angelegenheiten entzogen, da letztlich (nur) Zustimmungsakte der Individuen Aufschluss über die Legitimität der sie vertretenden 529  Kokott,



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 267

vorsichtig formulierte Annahme geht auf C. Tomuschat zurück, der vor einer Interessenabwägungen ausschließenden Fetischisierung der Souveränität warnte: „Souveränität und Selbstbestimmung werden von der unausgesprochenen Grundannahme aus respektiert, daß jeder Staat innerhalb seiner Grenzen als seinem natür­ lichen Jurisdiktionsbereich zumindest Frieden, Sicherheit und Ordnung gewährleisten werde. Vergeht die Regierung eines Landes sich in schwerwiegender Weise gegen ihre elementaren Pflichten, so stellt sich daher unabweisbar die Frage, ob sie auch unter solchen Umständen den vollen Schutz der allgemeinen Regeln über die Unantastbarkeit ihres Herrschaftsbereichs beanspruchen kann.“531

Auch insofern werden Souveränitätsrechte in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Einhaltung gewisser, immerhin elementarer völkerrechtlicher Pflichten gestellt. Welche Konsequenzen ein solches Verständnis aber entfalten kann, lässt sich bei K. Doehring nachvollziehen: Grundlegend ist hier die Annahme, dass das Staatsmerkmal der Staatsgewalt den völkerrechtlichen Anforderungen nur dann genüge, wenn sie (die Staatsgewalt) willens und in der Lage sei, das Völkerrecht zu respektieren.532 Durch ein bloß völkerrechtswidriges Verhalten werde dieser Status zwar nicht verwirkt; könne aber schon gar Verbände gäben (siehe S. 531, auch unter Bezugnahme auf einen Wortbeitrag von R. Higgins zu den Proceedings of the 88th Annual Meeting of the ASIL: „The Transformation of Sovereignty“ (Roundtable), in: ASIL-Proceedings 88 (1994), S. 71 (73 f.), welche a. a. O. eine Erosion der Souveränitätskonzeption im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz und u. U. die humanitäre Intervention konstatierte). Souveräne Gleichheit der Mitglieder der Vereinten Nationen (Art. 2 Nr. 1 UNCh) müsse nun (betont) „staatsrechtlich“ im Sinne der dem Demokratieprinzip entsprechenden Volkssouveränität gelesen werden (dritte Schlussfolgerung, S. 533), was zur vierten und letzten Schlussfolgerung führt: „Staaten – mit effektiver und legitimer Staatsgewalt – sind und bleiben die Exekutive des Völkerrechts. Wesentlicher Legitimitätsmaßstab ist die Achtung der Menschenrechte und good governance“ (S. 533). Dies darf schon insofern bezweifelt werden, als die Zuspitzung auf „wesentlichste Aufgaben des Völkerrechts“ (S. 525) nicht ohne Vorannahmen auskommt und wohl stets im Zeichen der Zeit stehen wird. Unter diesem Gesichtspunkt wird festzustellen sein, dass die menschenrechtlich vermittelte Rolle von Demokratie, spätestens mit Blick auf Spruchkörper wie den EGMR und den IAGMR, auf regionaler Ebene deutlich stärker ausgeprägt ist als auf universeller Ebene. Schließlich werden auch die hieraus resultierenden Konsequenzen kaum hinreichend gewürdigt, wenn es mit Blick auf Art. 2 Nr. 4 UNCh heißt: „hinsichtlich des dem Weltfrieden dienenden Gewaltverbots ist der erlaubte Durchgriff durch die Staatensouveränität hingegen nur ein Abwägungsfaktor im Rahmen anderweitiger, potentieller Rechtfertigungsgründe“ (S. 532). 531  Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (330). 532  Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (56). Missverständlicherweise wird a. a. O. auf Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1975, S. 115 ff. verwiesen. Hier findet sich ein guter Überblick über den Staat als Völkerrechtssubjekt und eine Auseinandersetzung seiner Merkmale, jedoch nichts Ausführ­ licheres zu einem etwaigen, sich unmittelbar auf das Bestehen der Staatsgewalt auswirkenden unwilling or unable-Standard, wie ihn K. Doehring a. a. O. formuliert.

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

nicht mehr erwartet werden, dass sich ein Staat zukünftig wieder völkerrechtskonform verhalten wolle, er für sein deliktisches Verhalten nicht einmal Rechtfertigungsgründe bemühen und insofern jeglichen Respekt für die Regeln des Völkerrechts radikal aufgeben würde, sei nicht nur die Verwirkung des Status der Regierung als Staatsgewalt, sondern der Staatlichkeit überhaupt denkbar.533 Dies ist freilich die äußerst vorstellbare Konsequenz, welche K. Doehring der bereits erwähnten Ausnahme einer sich als „Mörderbande“ darstellenden Staatsgewalt vorbehält.534 Diesen Annahmen ist gemein, dass sie weniger dogmatisch begründet als staats- bzw. souveränitätstheoretisch erklärt bzw. postuliert werden können: nicht umsonst ist schließlich von „unausgesprochenen Grundannahmen“535 die Rede.536 Worin sich ein Staat auszeichnet, soll nun nicht mehr verhandelt werden. Es reicht aber zu betonen, dass in sämtlichen Fällen der hier relevanten Staatenpraxis das von militärischen Maßnahmen betroffene Gebiet unumstritten einem Staat zugeordnet werden konnte. Und ferner wurde zuvor als Kriterium für den Wegfall von Staatlichkeit angesichts diverser Schwächungen der effektiven Staatsgewalt festgelegt, dass keine Aussicht mehr auf Wiederherstellung der Staatsgewalt bestehen dürfte.537 Dahinter steht in Orientierung an Art. 2 Nr. 1 UNCh letztlich das Verständnis eines (derzeit) formalisierten und daher normativ-absoluten Souveränitätsbegriffs, der schwerlich eine konkretere Verwendung finden könnte als die Beschreibung staat­ licher Völkerrechtsunmittelbarkeit.538 533  Doehring,

ebd., S. 56. ebd., S. 56 f. sowie ders., ZaöRV 67 (2007), S. 385 (390); dieser Gedanke ist freilich, wie angedeutet, auch auf andere Bereiche übertragbar, insofern z. B. der Fall einer als „Mörderbande“ auftretenden Botschaft natürlich nicht den Verlust der Staatlichkeit des Entsendestaats bedingen, sondern den Verlust des Status der Botschaft als diplomatische Vertretung im Rechtssinne zeitigen soll, ebd., S. 55. Für den rechtswidrigen Angreifer wird ebenfalls auf den bloßen Eintritt der Rechtsfolgen wegen verbotener Aggression verwiesen, ebd., S. 56. Dies eröffnet in erster Linie aber die Möglichkeit zu Selbstverteidigungsmaßnahmen und bedingt für sich genommen nicht automatisch eine Verwirkung des Gewaltverbots. Siehe ferner Tomuschat, EA 36 (1981), S. 325 (332). 535  Tomuschat, ebd., S. 330. 536  So besteht das Risiko der Artikulation eigener Vorannahmen und Vorverständnisse, nicht umsonst hat F. Berber den Souveränitätsbegriff als „vieldeutig [schillernd], historisch [belastet], teilweise [veraltet] und scharf [umkämpft]“ beschrieben, ders., Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1975, S. 124, S. 121 verweist auf Bindschedler, FS Guggenheim (1968), S. 167 (167): „In der Tat handelt es sich bei der Souveränität um einen schillernden und emotionell geladenen Begriff, der deshalb zum Schlagwort und Werkzeug der Politik werden kann.“ 537  In Anlehnung an Herdegen, BDGV 34 (1996), S. 49 (50); hierzu im Vorigen S.  39 ff. 538  Zu alldem bereits S. 32 ff., 36 ff. 534  Doehring,



C. Lösungsansätze außerhalb der Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts 269

Anderes würde für die hier relevanten Fälle auch handfeste praktische Probleme bergen: Ausgangspunkt hierfür ist wieder das – in Orientierung an den zugrunde gelegten Souveränitätsbegriff absolut verstandene und lediglich Charta-immanente Ausnahmen kennende – Gewaltverbot. Auf seine Lesart müsste nun ein entgegengesetztes Verständnis „materialisierter Souveränität“ fortwirken, das erst die Annahme einer ausnahmsweisen Verwirkung ermöglicht.539 Dann stellt sich jedoch die Frage nach dem Umfang einer Verwirkung, insb. ob sie erga omnes-Wirkung haben kann.540 Dies kann im Ausgang noch damit begründet werden, dass ein Staat, von dessen Staatsgebiet Angriffe auf andere Staaten ausgehen, selbst gegen das Gewaltverbot als zwingendes Völkerrecht verstoßen541 oder mit der Durchführung eines verbotenen Angriffs ein international crime begehen würde.542 In der Konsequenz müsste die Verwirkung dann jedoch alle Mitglieder der Staatengemeinschaft zum gewaltsamen Einschreiten berechtigen.543 Vorbehaltlos aufrechterhalten wird diese Konsequenz jedoch nicht. So meint auch K. Doeh­ ring: „Dennoch zögert man, diese Rechtsfolge konsequent zu billigen, und es scheint wohl die Auffassung ebenso gut vertretbar, wonach die Berufung auf das Gewaltverbot durch den Aggressor nur gegenüber dem angegriffenen Staat verwirkt ist.“544

Die Überlegung, die eigentlich konsequente Verwirkung des Gewaltverbots mit Wirkung erga omnes teleologisch nun doch auf das Verhältnis zum gefährdeten Staat zu reduzieren zeichnet letztlich aber schlicht die bereits im Regel-Ausnahme-Verhältnis von Art. 2 Nr. 4 zu Art. 51 UNCh angelegte Wertung nach. Damit ist letztlich im vorliegend typisierten Grundszenario ein Rekurs auf den Rechtsgrundsatz der Verwirkung dogmatisch nicht indiziert. 3. Fazit Die Versuche einer Modifizierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots können im Ergebnis nicht überzeugen.545 Hierfür mangelt es nicht nur am 539  Siehe

auch ebd. hierzu. in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (150); Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (59 f.). 541  Kokott, ebd., S. 150. 542  Doehring, in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (59). 543  So zunächst Kokott, in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (150); Doehring, ebd., S. 59. 544  Doehring, ebd., S. 59; mit derselben Relativierung Kokott, ebd., S. 150. 545  So letztlich auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (495). 540  Kokott,

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2. Kap.: Dogmatische Einordnung des unwilling or unable-Standards

dogmatischen Bedürfnis. Vielmehr scheinen schon die für den unwilling or unable-Standard typischen Fälle nicht mit den konzeptionell für eine Verwirkung antizipierten Extremfällen zu korrelieren. Dabei lässt sich auch kaum präzise festlegen, wie erheblich das fragliche völkerrechtswidrige Verhalten sein muss, um diese Rechtsfolge auszulösen: Muss etwa ein international crime vorliegen?546 Oder reicht es aus, dass vom unwilligen oder unfähigen Staat Angriffe auf andere Staaten schlicht ausgehen, dieser also selbst nicht notwendigerweise Aggressor sein muss?547 Je nachdem mag hierfür auf (staatstheoretisch bestimmte) elementare Pflichten verwiesen werden, zu deren Einhaltung ein Verband willens und fähig sein muss, um als Staat angesehen und fortgelten zu können.548 Dies birgt jedoch nicht nur ein kaum absehbares Maß an Rechtsunsicherheit,549 sondern wird in dieser Grundsätzlichkeit durch die hier maßgebliche Staatenpraxis nicht provoziert. Eine durch den unwilling or unable-Standard vermittelte Herausnahme des Territorialstaats aus dem Schutz des in diesem Sinne zu modifizierenden völkerrechtlichen Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 UNCh) lässt sich mithin nicht in hinreichender Weise plausibilisieren.

546  Doehring,

in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 51 (59). in: FS Bernhardt (1995), S. 135 (140, 150). 548  Außerordentlich treffend, wenngleich eher unter „schurkenstaatlichen Gesichtspunkten“ verortet (siehe hierzu noch die Schlussfolgerungen), wird bei Mégret, KJ 35 (2002), S. 157 (169) von einer reductio ad mare liberum gesprochen, womit man gleichermaßen die Kritik an einer Herausnahme des Staats aus dem Schutzumfang des völkerrechtlichen Gewaltverbots bündeln könnte. 549  So auch Doehring, ZaöRV 67 (2007), S. 385 (391): „Der Status des souveränen Staates ist auch dann nicht verwirkt, wenn dieser Staat das Völkerrecht nachhaltig missachtet, weil die Völkergemeinschaft andernfalls ihre Organisationsstruktur gefährden würde, vor allem ihr Interesse an der Friedenswahrung.“ 547  Kokott,

3. Kapitel

Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards? Nachdem in Anlehnung an die vorliegend relevante Staatenpraxis die Begriffe des Unwillens und der Unfähigkeit abgegrenzt und mögliche dogmatische Funktionen der unwilling or unable-Standards eruiert wurden, stellt sich abschließend die Frage, ob dieses völkervertraglich nicht fixierte Konzept als Teil des universell geltenden Völkerrechts anzusehen ist. Begrifflich wurde zuvor eine beachtliche Weite konstatiert: Staatliche Unfähigkeit verweist danach auf Schwächungen der effektiven Staatsgewalt, die in einem noch gering ausgeprägten Sinne durch die Errichtung sicherer Zufluchtsorte indiziert werden, im Extremfall aber im vollkommenen Zusammenbruch der Staatsgewalt liegen. Staatlicher Unwille nimmt dagegen Bezug auf potentiell drittschädigende Kollusionen zwischen einem Territorialstaat und nicht-staatlichen Akteuren, erfasst mit der sog. safe haven oder safe harbour-Doktrin assoziierte Fälle und verleiht ganz allgemein der Vorstellung Ausdruck, dass Staaten nicht sehenden Auges effektive Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung unterlassen dürfen sollten.1 Funktional-dogmatisch erschien schließlich ebenso wenig eine Umsetzung des unwilling or unable-Standards im Rahmen des völkerrechtlichen Notstands plausibel wie eine hiermit verfolgte Modifizierung des völkerrecht­ lichen Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 UNCh). Dagegen konnte immerhin für gewisse Unwillenskonstellationen mit Art. 3 lit. g der Aggressionsdefinition unter dem Gesichtspunkt „wesentlicher Beteiligung“ vom Bestehen einer prinzipiell gangbaren, nun zurechnungsbegründenden Einordnungsmöglichkeit ausgegangen werden, deren staatenpraktische Rezeption allerdings nur geringfügig ausgeprägt ist.2 Schwieriger plausibilisieren ließ sich umgekehrt die v. a. in Unfähigkeitskonstellationen präsente Formulierung einer zurechnungsunabhängigen Duldungspflicht – wonach der unwilling or un­ able-Standard als abwägungsleitendes Moment in der Struktur von Art. 51 UNCh fungieren soll –, da die vorauszusetzende Möglichkeit eines originär 1  Nach

S.  150 ff., m. w. N. S. 159 ff. Siehe auch die Konzession von de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (104), einer eigentlichen Befürworterin dieser Verortung des unwilling or unableStandards. 2  Hierzu

272

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

nicht-staatlichen bewaffneten Angriffs nicht zum Zurücktreten der nach wie vor schützenswerten territorialen Integrität des Territorialstaats führt.3 Die besagte Praxis könnte nun einerseits einen Anhaltspunkt dafür geben, dass der unwilling or unable-Standard auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt) zu verorten ist.4 Ginge man hingegen davon aus, dass hiermit eine neue Lesart des Selbstverteidigungsrechts formuliert wird, mag die dargelegte Praxis auch als eine Art. 51 UNCh betreffende spätere Übung i. S. v. Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV aufgefasst werden5.6 Je nachdem variiert der an die Frage nach der Geltung des unwilling or unable-Standards anzulegende methodologische Maßstab (A.). Unabdingbar ist hiernach in jedem Fall eine Auswertung der Reaktionen anderer Völkerrechtsakteure auf die ausgewiesene Praxis (B.). Erst auf dieser Grundlage kann sich zeigen, ob der unwilling or unable-Standard völkerrechtliche Geltung beansprucht (C.).

A. Methodologischer Maßstab I. Völkergewohnheitsrecht Maßstabsbildende Anhaltspunkte für die Feststellung von Völkergewohnheitsrecht wurden durch die IGH-Rechtsprechung und die Arbeiten der UNVölkerrechtskommission7 skizziert. Insofern müsste sich die Staatenpraxis 3  Hierzu S.  206 ff. Vgl. Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (620); siehe auch Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 107, 128; ferner Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (487 f., 494); vgl. Christopher Greenwood, MPEPIL: „Self-Defence“ (April 2011), Rn. 18; vgl. auch Stahn, Fl. F. World Aff. 27/2 (2003), S. 35 (44, 47). 4  Vgl. Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (49); siehe auch Williams, ebd., S. 630. 5  Vgl. Tladi, ebd., S. 49. 6  Siehe insg. hierzu auch de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (40); ferner Marxsen/Peters, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 1 (11). 7  Siehe die 2012 unter dem Titel „Formation and evidenve of customary international law“ aufgenommenen und seit 2013 als „Identification of customary international law“ firmierenden Arbeiten der Kommission, ein Überblick bei http://legal.un.org/ilc/ summaries/1_13.shtml. Maßgeblich in Bezug genommen werden die Draft conclusions on identification of customary international law, welche durch ILC, 70th Session (first part), 3412th Meeting: 25.5.2018, UN-Dok. A/CN.4/SR.3412, S. 3–9 in zweiter Lesung angenommen wurden sowie die entsprechenden Kommentierungen hierzu, siehe zu alldem den Bericht der ILC: UN, GAOR 73rd Session, Supplement No. 10, UN-Dok. A/73/10, S.  117 ff.; UN-Generalversammlung, Res. 73/203, 20.12.2018, UN-Dok. A/ RES/73/203. Mit Verweis hierauf Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (50 ff.).



A. Methodologischer Maßstab273

zum unwilling or unable-Standard8 als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt) erweisen, was mit ILCConcl. 3 Abs. 1 (Cust. IL) eine „the overall context, the nature of the rule, and the particular circumstances in which the evidence in question is to be found“

einschließende Bewertung erfordert. Den normativen Rahmen des soweit skizzierten Fallmaterials, das mit Unterbrechungen von den späten 1950erJahren bis in die heutige Zeit reicht, bildet dabei im Schwerpunkt das Verhältnis des völkerrechtlichen Gewaltverbots zum Recht der Selbstverteidigung.9 Für das objektive Merkmal internationalen Gewohnheitsrechts (die Praxis) forderte der IGH nun unabhängig von der Dauer des zu untersuchenden Zeitraums: „[…] State practice, including that of States whose interests are specially affected, should have been both extensive and virtually uniform in the sense of the provision invoked; – and should moreover have occurred in such a way as to show a general recognition that a rule of law or legal obligation is involved.“10

In Anknüpfung hieran sprach auch die ILC vom Erfordernis eines nahezu uniformen praktischen Gebrauchs der fraglichen Regel,11 erachtete jedoch zugleich mit dem IGH eine sich ganzheitlich konsistent und widerspruchslos vollziehende Praxis nicht unbedingt für erforderlich.12 Maßgeblich bleibt also eine Einzelfallbetrachtung, welche u. U. Abstriche vom Erfordernis der weiten Verbreitung und Repräsentativität der Übung zulassen kann.13 Die mit der Feststellung des korrelierenden subjektiven Elements internationalen Gewohnheitsrechts (opinio iuris) einhergehenden Anforderungen beschrieb der IGH folgendermaßen: „Not only must the acts concerned amount to a settled practice, but they must also be such, or be carried out in such a way, as to be evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law requiring it. The 8  Siehe

S. 97 ff. Vgl. auch ILC-Concl. 4 Abs. 1 (Cust. IL). zu diesem Bereich IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 188). Zu den hieran anknüpfenden methodischen Unklarheiten Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht (2012), S. 489 f., auch m. w. N. 10  IGH (Continental Shelf), ICJ Rep. 1969, S. 3 (Ziff. 74). 11  ILC, Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Concl. 8 Ziff. 2. 12  ILC, ebd., Concl. 8 Ziff. 7; IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 186). 13  ILC, ebd., Concl. 8 Ziff. 3, auch mit dem Hinweis, dass natürlich eine universelle Partizipation an der fraglichen Übung nicht vonnöten ist. Siehe zu den sich an diese Liberalisierungstendenz der IGH-Rspr. anschließenden Problemen Ackermann/ Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (768–770). 9  Siehe

274

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

need for such a belief, i. e., the existence of a subjective element, is implicit in the very notion of the opinio juris sive necessitates. The States concerned must therefore feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation. The frequency, or even habitual character of the acts is not in itself enough.“14

In diesem Sinne müssten zunächst die unmittelbar an der Praxis beteiligten Staaten ihr eigenes Verhalten vor dem Hintergrund eines ihnen (vermeintlich) zustehenden Rechts oder einer sie (etwaig) treffenden Verpflichtung verortet und als verbindlich erachtet haben.15 Darüber hinaus sind für die Anerkennung dieses Verhaltens als Recht auch Staaten zu berücksichtigen, die sich „in a position to react to it“ befinden.16 Nun ist auch auf dieser Ebene nicht vorausgesetzt, dass alle Staaten die fragliche Regel als Recht anerkennen müssten, sehr wohl aber „broad and representative acceptance, together with no or little objection“.17 Zu berücksichtigen ist dabei nicht nur das Vorliegen einer allgemeinen Übung im eigentlichen Sinne des Wortes; erfasst werden kann prinzipiell auch ein nur passives Verhalten bzw. eine widerspruchslose Duldung.18 Letzteres – die vergleichsweise problematische Kategorie19 – wurde durch ILC-Concl. 10 Abs. 3 (Cust. IL) in Rückbindung an die für die Bestimmung der opinio iuris maßgeblichen Akteure präzisiert, hier heißt es: „Failure to react over time to a practice may serve as evidence of acceptance as law (opinio juris), provided that States were in a position to react and the circumstances called for some reaction.“

Die basale Voraussetzung für die Berücksichtigungsfähigkeit eines entsprechend passiven staatlichen Verhaltens im Rahmen der opinio iuris liegt dabei zuerst in der konkreten Kenntnis bzw. im umstandsbezogenen Kennenmüssen der Praxis.20 Daneben setzen die Kommentierungen von ILC14  IGH

(Continental Shelf), ICJ Rep. 1969, S. 3 (Ziff. 77). Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Concl. 9 Ziff. 2. 16  ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 5; dabei mit Verweis auf IGH (Nicaragua), ICJ Rep. 1986, S. 14 (Ziff. 207) und (vglw.) IGH (Continental Shelf), ICJ Rep. 1969, S. 3 (Ziff. 74). 17  ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 5; dabei mit Verweis auf IGH (Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons), ICJ Rep. 1996, S. 226 (Ziff. 67). 18  Siehe Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], §§ 519, 557, 569; dabei in Bezug genommen IGH (Fisheries Case), ICJ Rep. 1951, S. 116 (139), insofern darin von der „general toleration of the international community“ die Rede ist. 19  Siehe Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, passim. 20  ILC, Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Concl. 10 Ziff. 8. 15  ILC,



A. Methodologischer Maßstab275

Concl. 10 (Cust. IL) voraus, „that a reaction to the practice in question would have been called for“.21

II. Auslegung im Sinne nachfolgender praktischer Übereinstimmung Denkbar ist auch, dass sich die vorliegende Staatenpraxis als spätere Übung darstellt, welche nunmehr zu einer unterschiedlichen Auslegung von Art. 51 UNCh bewegen müsste.22 In diesem Sinne ist nach Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV23 bei der Auslegung von Verträgen außer dem Zusammenhang in gleicher Weise zu berücksichtigen: „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht.“24

Dabei würde im Prinzip zunächst eine (nicht notwendig universelle) Übung einiger UN-Mitglieder ausreichen, wenn die anderen Mitgliedstaaten dieser zustimmen sollten.25 Zur Präzisierung dieses Rahmens lässt sich wieder auf die (v. a. jüngeren) Arbeiten der ILC zurückgreifen.26 Relativ allgemein ist hier noch der Definitionsansatz einer solchen späteren Übung in ILC-Concl. 4 Abs. 2 (Subs. A./P.) gefasst: 21  ILC, ebd., Concl. 10 Ziff. 8, u. a. mit Verweis auf IGH (Pedra Branca/Pulau Batu Puteh), ICJ Rep. 2008, S. 12 (Ziff. 121) hinsichtlich einer Formulierung zum Konzept stillschweigender Zustimmung: „silence may also speak, but only if the conduct of the other State calls for a response.“ Siehe Schweiger, LJIL 32 (2019), S. 741 (750 ff.). 22  Siehe Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (51). 23  Zur Anwendbarkeit dieser Norm auf Art.  51 UNCh siehe ILC-Concl. 12 Abs. 1 (Subs. A. P.) einschließlich ILC, Draft conclusions on subs. agreements and subs. practice [Comm.] (2018), Concl. 12 Ziff. 5–9. 24  Im englischsprachigen Text: „There shall be taken into account, together with the context: […] any subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation“. 25  Starski, DÖV 2018, S. 85 (87); de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (40). 26  Diese firmierten ursprünglich unter dem Titel „Treaties over time“, welcher 2012 in „Subsequent agreements and subsequent practice in relation to interpretation of treaties“ geändert wurde; sie sind unter: http://legal.un.org/ilc/texts/1_11.shtml einsehbar. Maßgeblich herangezogenen werden insofern (einschließlich ihrer Kommentierungen) die Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, die durch ILC, 70th Session (first part), 3406th Meeting: 3.7.2018, UN-Dok. A/CN.4/SR.3406, S. 3–12, in zweiter Lesung angenommen wurden, insg. hierzu der Bericht der ILC bei UN, GAOR 73rd Session, Supplement No.  10, UN-Dok. A/73/10, S.  11  ff.; UN-Generalversammlung, Res. 73/202, 20.12.2018, UN-Dok. A/RES/73/202. Siehe hierzu auch Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (126 ff.).

276

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

„A subsequent practice as an authentic means of interpretation […] consists of conduct in the application of a treaty, after its conclusion, which establishes the agreement of the parties regarding the interpretation of the treaty.“27

Ein Verhalten in diesem Sinne liegt dabei nicht nur in tatsächlichen Handlungen,28 sondern schließt auch Unterlassungen ein.29 Inwieweit dieses letztlich ins Gewicht fällt, hängt nach ILC-Concl. 9 Abs. 1 (Subs. A./P.) u. a. von seiner Klarheit und Spezifität („clarity and specifity“) ab, was im Einzelfall einen gewissen Interpretationsraum schafft und die Berücksichtigung weiterer Kriterien zulässt.30 Ergänzend erklärt ILC-Concl. 9 Abs. 2 (Subs. A./P.): „[…] the weight of subsequent practice under [Art. 31 Abs. 3 lit. b] depends, inter alia, on whether and how it is repeated.“

Mit diesem Zusatz sollen zur Bewertung der Wiederholung der Übung temporäre und durchführungsspezifische Gesichtspunkte hervorgehoben werden.31 Ausgehend von in dieser Hinsicht bestehenden Unterschieden zwischen verschiedenen völkerrechtlichen Spruchkörpern nahm die Kommission nun an, dass dabei eine Orientierung am kumulativen Vorliegen einer konkordanten, verbreiteten und konsistenten Übung („concordant, common and consistent“) durchaus nützlich sein könne, dies letztlich jedoch wohl zu hohe Anforderungen stelle und als nicht hinreichend etabliert angesehen werden könne.32 Zur Orientierung wurden daher eher Faktoren wie z. B. die Konsistenz und Breite („consistency and breadth“) der Übung hervorgehoben.33 Der diesen Kriterien in letzter Konsequenz zugrundeliegende Maßstab lässt sich dabei mit Blick auf die Entwurfsphase der WÜV klarifizieren: Hier sah ILC-Entwurfsart. 69 Abs. 3 lit. b im Rahmen allgemeiner Auslegungsregeln noch vor, „[t]here shall also be taken into account, together with the context: […] Any subsequent practice in the application of the treaty which clearly establishes the understanding of all the parties regarding its interpretation.“34 27  Als ergänzendes Auslegungsmittel i. S. v. Art. 32 WÜV soll nach ILC-Concl. 4 Abs. 3 (Subs. A. P.) schließlich auch eine spätere Übung von nur einer oder immerhin mehreren Vertragsparteien berücksichtigt werden können, siehe auch Tams, ebd., S.  126 f. 28  ILC-Concl. 6 Abs. 2 (Subs. A. P.) spricht insofern von einer „variety of forms“, welche die spätere Übung annehmen könne, insb.: „not only externally oriented conduct, such as official acts, statements and voting at the international level, but also internal legislative, executive and judicial acts […]“, ILC, Draft conclusions on subs. agreements and subs. practice [Comm.] (2018), Concl. 6 Ziff. 22. 29  ILC, ebd., Concl. 4 Ziff. 17, Concl. 6 Ziff. 22. 30  ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 2 ff. 31  ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 6. 32  ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 7–11, insb. 11. 33  Vgl. ILC, ebd., Concl. 9 Ziff. 11 f.



A. Methodologischer Maßstab277

Dieser Verweis auf „alle“ Vertragsparteien war zwar bereits im hierauf folgenden ILC-Entwurfsart. 27 Abs. 3 lit. b des Jahres 1966 nicht mehr enthalten; zurückgeführt wurde dies indes nicht auf ein anderes Regelverständnis, sondern auf die Annahme, „[…] that the phrase ‚the understanding of the parties‘ necessarily means ‚the parties as a whole‘. It [die ILC, Anm. P. L.] omitted the word ‚all‘ merely to avoid any possible misconception that every party must individually have engaged in the practice where it suffices that it should have accepted the practice.“35

Letztlich muss die fragliche Übung also einen objektiven Nachweis für das vertragliche Begriffsverständnis liefern können, m. a. W. also verbreitet bzw. gemein („common“) sein.36 Vor diesem Hintergrund kann man auch ILC-Concl. 10 Abs. 1 S. 1 (Subs. A./P.) verorten: „An agreement under [Art. 31 Abs. 3 lit. a, b WÜV] requires a common understanding regarding the interpretation of a treaty which the parties are aware of and accept.“

Speziell für die Übereinstimmung i. S. v. Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV und in Anknüpfung an das Fehlen einer aktiven Partizipation aller Vertragsparteien an der fraglichen Übung sieht ILC-Concl. 10 Abs. 2 (Subs. A./P.) nun vor: „The number of parties that must actively engage in subsequent practice in order to establish an agreement […] may vary. Silence on the part of one or more parties may constitute acceptance of the subsequent practice when the circumstances call for some reaction.“

In diesem Rahmen sollen nun vereinzelte Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien das Zustandekommen einer entsprechenden Übereinstimmung nicht unbedingt hindern.37 Doch nicht nur insofern, sondern auch was das Schweigen und die Inaktivität i. S. v. ILC-Concl. 10 Abs. 2 S. 2 (Subs. A./P.) angeht, bedarf es letztlich einer Bewertung im konkreten Ein34  YILC 1964 Vol. II: Documents of the 16th session including the report of the commission to the General Assembly, UN-Dok. A/CN.4/SER.A/1964/ADD.1, S. 174 ff. (199) [Hervorh. P. L.], die dazugehörige Kommentierung findet sich a. a. O. auf S.  203 f. 35  YILC 1966 Vol. II: Documents of the second part of the 17th session and of the 18th session including the reports of the Commission to the General Assembly, UNDok. A/CN.4/SER.A/1966/Add.1, S. 173 ff. (222), der zuvor in Bezug genommene Entwurfsart. 27 findet sich a. a. O. auf S. 217 f. 36  YILC 1966 Vol. II, ebd., S. 221 f.; siehe auch YILC 1964 Vol. II: Documents of the 16th session including the report of the commission to the General Assembly, UNDok. A/CN.4/SER.A/1964/ADD.1, S. 174 ff. (203); ferner die Bezugnahme hierauf bei ILC, Draft conclusions on subs. agreements and subs. practice [Comm.] (2018), Concl. 9 Ziff. 11. 37  ILC, ebd., Concl. 10 Ziff. 5.

278

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

zelfall unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen normativen Kontexts.38

III. Zusammenführende Anmerkungen Für die zugrundeliegende Praxis39 lässt sich zunächst festhalten, dass die maßgeblichen Erklärungen für sich genommen zwar nur wenig Vertieftes und in einer übergreifenden Gesamtschau vielleicht sogar widersprüchliche Annahmen über die Wirkungsweise des unwilling or unable-Standards offenbaren.40 Recht deutlich gaben die an der Praxis beteiligten Staaten indes zu erkennen, dass sie zu ihrem Verhalten – i. d. R. vor dem Hintergrund von Art. 51 UNCh – berechtigt gewesen seien.41 Dies kann einerseits als die Überzeugung eines Staates verstanden werden, auf Grundlage eines ihm zustehenden Rechts gehandelt zu haben (opinio iuris), andererseits aber auch als spätere Übung bei der Anwendung von Art. 51 UNCh i. S. v. Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV eingeordnet werden. In beiden Fällen ist jedoch ein näherer Blick auf die durch die Praxis provozierten Reaktionen anderer Staaten erforderlich. Stets ist dabei der Anwendungsbereich des als ius cogens einzustufenden Gewaltverbots betroffen, wobei der unwilling or unable-Standard eine deutliche Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts bewirken soll: Für das Völkergewohnheitsrecht gesprochen kann mithin der Kreis der Staaten, „whose interests are specially affected“,42 nicht auf Territorial- und gefährdeten Staat beschränkt werden; das fragliche Anliegen ist vielmehr universeller Natur, sodass die erforder­ liche Rechtsüberzeugung gleichfalls universeller Natur sein muss.43 Ähn­ 38  Siehe

ILC, ebd., Concl. 10 Ziff. 5, 12, 14, 16 f. und insb. 18.

39  S.  97 ff. 40  Siehe

S. 150 ff. und näher dann im 2. Kapitel. werden dagegen für die Syrien-Krise (S. 114 ff.) von Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (781 f. und m. w. N.) angesichts einer Kehrtwende in den außenpolitischen Ansichten von Australien und Kanada angemeldet; ähnlich Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (635) für die militärischen Maßnahmen der Türkei in den 1990er-Jahren (siehe S. 109 ff.). 42  IGH (Continental Shelf), ICJ Rep. 1969, S. 3 (Ziff. 74, sowie Ziff. 73). 43  Vgl. Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 25; dies., DÖV 2018, S. 85 (95 f.); O’Connell, in: Peters/ Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (226 f., unter Fn. 252); siehe auch Schweiger, LJIL 32 (2019), S. 741 (753). Vgl. zu den erhöhten Voraussetzungen an die Durchsetzungskraft einer (neuinterpretierenden) Übung in diesem durchaus als fundamental anzusehenden Regelungsbereich der UN-Charta Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (763, 790 f., 800–802, 806 f.). Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (797 f.) verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 53 WÜV. 41  Zweifel



A. Methodologischer Maßstab279

liches gilt im Rahmen der Auslegung von Art. 51 UNCh: Der Mitglieder­ umfang der Vereinten Nationen beläuft sich auf 193 Staaten, sodass die vorliegende Übung zur Berücksichtigung in Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV eine durchaus vergleichbar umfangreiche Übereinstimmung der Vertragsparteien erfordert, welche quantitativ über die Zahl der auf den unwilling or unableStandard zurückgreifenden Staaten hinausgeht. In diesem Drittbezug kann eine methodologische Annäherung beider Kontexte nachvollzogen werden: Jeweils muss anderen Staaten die vorliegende Praxis bekannt sein; und jeweils ist bei Schweigen eines Staates fraglich, ob es angesichts der Umstände einer Reaktion bedurft hätte.44 Fraglich ist damit, ob der unwilling or un­ableStandard auf „broad and representative acceptance, together with no or little objection“45 stößt bzw. von einer gemeinen Praxis getragen wird, die zum objektiven Nachweis eines geteilten Begriffsverständnisses von Art. 51 UNCh geeignet ist46. Die methodologischen Maßstäbe weisen m. a. W. letztlich also durchaus gewisse Ähnlichkeiten auf.47 Verfahren wird nachfolgend im Rahmen einer induktiven Analyse der Bewertung der bereits ausgewiesenen militärischen Einsätze.48 Das im ­ 44  Umfassend Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 14 ff., dabei S. 18 f. und passim. 45  ILC, Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Concl. 9 Ziff. 5; IGH (Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons), ICJ Rep. 1996, S. 226 (Ziff. 67). 46  YILC 1966 Vol. II: Documents of the second part of the 17th session and of the 18th session including the reports of the Commission to the General Assembly, UNDok. A/CN.4/SER.A/1966/Add.1, S.  173 ff. (221 f.); ILC, Draft conclusions on subs. agreements and subs. practice [Comm.] (2018), Concl. 9 Ziff. 11. 47  Vgl. letztlich auch van Steenberghe, LJIL29 (2016), S. 43 (62, vertieft 58–64 insg.); vgl. Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (52); weiterhin auch Starski, DÖV 2018, S. 85 (86 f.); etwas anders gewandt bei de Hoogh, LJIL 29 (2016), S. 19 (40). 48  Zum Völkergewohnheitsrecht IGH (Gulf of Maine), ICJ Rep. 1984, S. 246 (Ziff. 111), das als Rechtsquelle beschrieben wird, „which in fact comprises a limited set of norms for ensuring the co-existence and vital co-operation of the members of the international community, together with a set of customary rules whose presence in the opinio juris of States can be tested by induction based on the analysis of a sufficiently extensive and convincing practice, and not by deduction from preconceived ideas.“ Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984 [2010], § 559; zu methodischen Unklarheiten in der Rspr. des IGH Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (772 ff.); ferner Talmon, EJIL 26 (2015), S. 417 (419–423, 434 ff., 441). Erste Orientierung für die Erfolgsaussichten der gewohnheitsrechtlichen Etablierung einer Regel liegen in Fragen der Art, ob sie über staatliche Sonderinteressen hinausgeht oder nicht auf die systematische Einbettung in ein rechtstechnisch komplexes Regelungssystem angewiesen ist, Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht (2012), S. 490 f. M. a. W. steigen, im Gegensatz zum „rechtsfreien Raum“, die Anforderungen an Intensität und Widerspruchsfreiheit einer Übung, mit der bis-

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Schwerpunkt, jedoch nicht ausschließlich konsultierte Forum ist dabei der UN-Sicherheitsrat.

B. Reaktionen der Staatengemeinschaft In diesem Sinne ist nun chronologisch auf Erklärungen dritter völkerrechtlicher Akteure einzugehen, die sich mit der unter dem Geltungsbereich der UN-Charta maßgeblichen Staatenpraxis auseinandersetzten. Dabei kann wegen der überwiegend einheitlichen Verwendung des Begriffspaars auf eine Unterteilung von „Unwillens-“ und „Unfähigkeitsfällen“ verzichtet werden.

I. Späte 1950er-Jahre: Frankreichs Interventionen in Tunesien Die im Zusammenhang mit Frankreichs Interventionen in Tunesien angedeuteten Formen eines Unwillens (der Vorwurf der Kollusion) und einer Unfähigkeit (die mangelnde Sicherstellung der Kontrolle über die eigene Grenze) des Territorialstaats wurden von dritter Seite äußerst zurückhaltend rezipiert. Zwar verwies Israel 14 Jahre später im Rahmen der Auseinandersetzungen um seine Interventionen im Libanon u. a. auf diesen Fall,49 was auf eine gewisse Präzedenzwirkung hindeuten mag. Im Fokus der damaligen Diskussion im Sicherheitsrat stand jedoch die friedliche Beilegung der Streitigkeiten nach Art. 33 UNCh, sodass sich gerade das Vereinigte Königreich und die USA, die jeweils ihre good offices angeboten hatten, stark zurückhielten.50 Eine deutliche Position bezog jedoch der Irak, der das Eingreifen Frankreichs als Aggression einstufte51 und auf die Beachtung des tunesischen Selbstbestimmungsrechts Wert legte,52 um sodann die französischen Interventionen vor dem Hintergrund des Algerienkriegs zu delegitilang anerkannte Regeln des Völkerrechts abgelöst werden sollen, Verdross/Simma, ebd., § 572. 49  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2391st Meeting: 6.8.1982, UN-Dok. S/ PV.2391, Ziff. 69–71; hierzu S. 100 ff. 50  Siehe nur UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 811th Meeting: 18.2.1958, UNDok. S/PV.811, Ziff. 6 ff. (USA), Ziff. 10 ff. (Vereinigtes Königreich), mit derselben Zurückhaltung z. B. auch Schweden (ebd., Ziff. 13 f.) und Panama (ebd., Ziff. 31 ff.); ferner SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff. 95 ff. (Vereinigtes Königreich), Ziff. 99 ff. (USA). 51  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 811th Meeting: 18.2.1958, UN-Dok. S/ PV.811, Ziff. 20; SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff.  71 f. 52  UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/ PV.820, Ziff. 68.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft281

mieren.53 Auf dieser Grundlage lassen sich nur schwerlich Schlussfolgerungen für eine Akzeptanz oder Ablehnung des unwilling or unable-Standards ziehen.

II. Ende der 1960er- bis frühe 1980er-Jahre: Israels Interventionen im Libanon Vom Ende der 1960er- bis zu den frühen 1980er-Jahren sind v. a. die auf die PLO abzielenden Militärmaßnahmen Israels im Libanon hervorzuheben. Der Sicherheitsrat nahm diesbezüglich im maßgeblichen Zeitraum eine einheitliche Position ein: Die Interventionen wurden regelmäßig als Verstoß gegen die UN-Charta und als Verletzung der territorialen Integrität und Souveränität Libanons verurteilt, wobei Israel üblicherweise noch dazu aufgefordert wurde, seine bewaffneten Streitkräfte vom Staatsgebiet des Libanon zurückzuziehen.54 Dies zeigen auch die Debatten im Sicherheitsrat: 1. Grundsätzliche Kritik Einige Staaten – darunter Ägypten,55 Algerien,56 Jordanien,57 Jemen,58 Irak,59 Katar,60 Kuwait,61 Libyen,62 Pakistan,63 Syrien,64 Saudi-Arabien,65 der 53  Vgl. UN-Sicherheitsrat, SCOR 13th Year, 820th Meeting: 2.6.1958, UN-Dok. S/PV.820, Ziff. 77, 83 f.; dagegen wiederum Frankreich ebd., Ziff. 80. 54  Siehe UN-Sicherheitsrat, Res. 262 (1968), 31.12.1968, UN-Dok. S/RES/262 (1968), Ziff. 1; Res. 270 (1969), 26.8.1969, UN-Dok. S/RES/270 (1969), Ziff. 1; Res. 279 (1970), 12.5.1970, UN-Dok. S/RES/279 (1970); Res. 280 (1970), 19.5.1970, UN-Dok. S/RES/280 (1970), Ziff. 1–3; Res. 285 (1970), 5.9.1970, UN-Dok. S/ RES/285 (1970); Res. 313 (1972), 28.2.1972, UN-Dok. S/RES/313 (1972); Res. 316 (1972), 26.6.1972, UN-Dok. S/RES/316 (1972), Ziff. 1 f.; Res. 332 (1973), 21.4.1973, UN-Dok. S/RES 332 (1973), Ziff. 2 f.; Res. 337 (1973), 15.8.1973, UN-Dok. S/ RES/337 (1973), Ziff. 1  f., 3; Res. 347 (1974), 24.4.1974, UN-Dok. S/RES/347 (1974), Ziff. 1, 4; Res. 425 (1978), 19.3.1978, UN-Dok. S/RES/425 (1978), Ziff. 1 f.; Res. 450 (1979), 14.6.1979, UN-Dok. S/RES/450 (1979), Ziff. 2; Res. 467 (1980), 24.4.1980, UN-Dok. S/RES/467 (1980), Ziff. 2 lit. b; Res. 498 (1981), 18.12.1981, UN-Dok. S/RES/498 (1981), Ziff. 1 lit. b; Res. 501 (1982), 25.2.1982, UN-Dok. S/ RES/501 (1982), Ziff. 1; Res. 509 (1982), 6.6.1982, UN-Dok. S/RES/509 (1982), Ziff. 1; Res. 517 (1982), 4.8.1982, UN-Dok. S/RES/517 (1982), Ziff. 3; Res. 520 (1982), 17.9.1982, UN-Dok. S/RES/520 (1982), Ziff. 1–4; siehe prinzipiell auch Res. 587 (1986), 23.9.1986, UN-Dok. S/RES/587 (1986), Ziff. 7. 55  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 181. UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2072nd  Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/PV.2072, Ziff.  15  ff.; SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/PV.2375, Ziff. 139, 145; vglw. moderat SCOR 37th Year, 2384th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/PV.2384, Ziff. 32; SCOR 37th Year, 2388th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/PV.2388, Ziff. 44; SCOR 37th Year, 2392nd Meeting: 12.8.1982, UN-Dok. S/PV.2392 and Corr. 1, Ziff. 33.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Sudan 66 und Vietnam67 – sprachen Israel regelmäßig die Berechtigung zu Selbstverteidigungsmaßnahmen ab und verurteilten seine Interventionen als Aggressionen, indem sie vor dem Hintergrund der ohnehin angespannten Lage im Nahen Osten68 einerseits die territoriale Integrität und politische Unabhän56  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), ebd., UN-Dok. A/9002, Ziff. 176. 57  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 77; SCOR 35th Year, 2214th Meeting: 14.4.1980, UN-Dok. S/PV.2214, Ziff. 32; SCOR 37th Year, 2384th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/PV.2384, Ziff. 54, 56, 58, 66. 58  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2072nd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2072, Ziff. 77, 83 f. 59  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2074, Ziff.  143 f. 60  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2074, Ziff. 130. 61  UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2147th Meeting: 12.6.1979, UN-Dok. S/ PV.2147, Ziff. 44; SCOR 37th Year, 2394th Meeting: 16.9.1982, UN-Dok. S/PV.2394, Ziff. 54 f., 58; SCOR 33rd Year, 2072nd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/PV.2072, Ziff. 33. 62  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 116; SCOR 34th Year, 2147th Meeting: 12.6.1979, UN-Dok. S/PV.2174, Ziff. 130. 63  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2385th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/ PV.2385, Ziff. 17, 19. 64  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 91, 93; SCOR 35th Year, 2215th Meeting: 15.4.1980, UN-Dok. S/ PV.2215, Ziff. 78. 65  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 119; UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2218th Meeting: 24.4.1980, UN-Dok. S/PV.2218, Ziff. 45. 66  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 179. 67  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2072nd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2072, Ziff.  72 ff. 68  Dies kann zurückgeführt werden auf den UN-Teilungsplan für Palästina, siehe hierzu v. a. UN-Generalversammlung, Res 181 (II), 29.11.1947, UN-Dok. A/RES/181 (II). Die Haltung der UdSSR lässt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Blockbildung im kalten Krieg erklären; den USA wurden im Zusammenhang mit den hier fraglichen Interventionen nicht zuletzt gewisse Unterstützungen im Hintergrund vorgeworfen, bspw. und u. a. nachvollziehbar bei UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2147th Meeting: 12.6.1979, UN-Dok. S/PV.2147, Ziff. 148 f. Letztlich ist auch eine Stellungnahme der Bewegung Blockfreier Staaten zu berücksichtigen, die Israel 1978 eine expansionistische Politik vorwarf. Dabei wurde die Intervention Israels im Libanon als Aggression verurteilt und demgegenüber das palästinensische Selbstbestimmungsrecht betont, Letter from the Permanent Representative of Sri Lanka to the UN addressed to the Secretary-General, 17.3.1978, UN-Dok. A/33/70 resp. S/12609, An-



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft283

gigkeit Libanons betonten und andererseits auf das palästinensische Selbstbestimmungsrecht verwiesen. Vergleiche wurden dabei vereinzelt auch zum militärischen Vorgehen Südafrikas in anderen afrikanischen Staaten gezogen.69 Die besagten Staaten kritisierten dabei das Vorgehen Israels regelmäßig in aller Schärfe, mitunter auch als Staatsterrorismus.70 Die Kritik erscheint insofern derart umfassend, wie spätestens diverse (äußerst überspitzte) historische Vergleiche zeigen,71 dass sie den exterritorialen Maßnahmen Israels jegliche Legitimität absprechen sollte. Im Zusammenhang mit dieser ablehnenden Haltung im arabischen und weiteren asiatischen Raum sind regelmäßig Stellungnahmen der UdSSR72 und der VR China73 zu verorten, vereinzelt auch von Seiten Burundis,74

nex (S. 2): Communiqué by the Co-ordinating Bureau of Non-Aligned Countries, Ziff. 2, 5. 69  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2072nd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2072, Ziff. 53–55 (Nigeria), wobei von der Existenz einer „Pretoria-Tel AvivAchse“ die Rede ist (Ziff. 55). SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/PV.2074, Ziff. 83 (Sudan). Ferner SCOR 35th Year, 2215th Meeting: 15.4.1980, UNDok. S/PV.2215, Ziff. 26, 28, 30 (Sambia). 70  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 177 (Syrien). SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/PV.2071, Ziff. 145 (Kuwait). 71  Zu nennen wäre der Vergleich Syriens zwischen der Außenpolitik Israels unter Menachem Begin und derjenigen des nationalsozialistischen Dritten Reichs, UN-­ Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2148th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2148, Ziff. 100 f. Als weiteres Bsp. die 1982 getätigte Ausführung von Hazem Nuseibeh, der das Vorgehen Israels im Libanon als „the second holocaust“ und als „the IsraeliNazi holocaust“ bezeichnete, SCOR 37th Year, 2388th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/ PV.2388, Ziff. 104. 72  UNYB 26 (1972), S. 158 f.; UN, Report of the Security Council (16.6.1971– 15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 118; Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 178 mit dem Verweis auf eine „imperialistische und koloniale Aggression“. UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2073rd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/PV.2073, Ziff. 43; SCOR 34th Year, 2149th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2149, Ziff. 127; SCOR 35th Year, 2217th Meeting: 18.4.1980, UNDok. S/PV.2217, Ziff. 57; SCOR 37th Year, 2374th Meeting: 5.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2374, Ziff. 59, 64; SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2375, Ziff. 109  ff.; SCOR 37th Year, 2385th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/ PV.2385, Ziff. 138. 73  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 126; Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff.  182  ff.; SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/PV.2074, Ziff. 71; SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/PV.2375, Ziff. 103 ff.; SCOR 37th Year, 2388th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/PV.2388, Ziff. 49, 53; SCOR

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Guineas,75 Guyanas,76 Indonesiens,77 Japans,78 Jugoslawiens,79 Mexikos,80 der Mongolischen Volksrepublik,81 Nigers,82 Polens,83 Somalias,84 Spaniens,85 der Tschechoslowakei,86 Ungarns87 und Ugandas.88

37th Year, 2391th  Meeting: 6.8.1982, UN-Dok. S/PV.2391, Ziff. 31; SCOR 37th Year, 2395th Meeting: 17.9.1982, UN-Dok. S/PV.2395, Ziff. 26. 74  UN, Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 141. 75  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 130. 76  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2375, Ziff.  97 f. 77  UN, Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 356 mit dem Verweis auf israelischen Staatsterrorismus und der Befürchtung, dass entsprechende Aktionen zur Rechtslosigkeit in den internationalen Beziehungen führen würden. 78  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2377th Meeting: 8.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2377, Ziff. 41; SCOR 37th Year, 2389th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/PV.2389, Ziff. 20. 79  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 180. 80  UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2218th Meeting: 24.4.1980, UN-Dok. S/ PV.2218, Ziff. 55. 81  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2074, Ziff.  90 f. 82  UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2216th Meeting: 16.4.1980, UN-Dok. S/ PV.2216, Ziff. 27; SCOR 35th Year, 2217th Meeting: 18.4.1980, UN-Dok. S/PV.2217, Ziff. 59. 83  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2388th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/ PV.2388, Ziff. 59 mit einem Vergleich zur Zerstörung Warschaus im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Truppen. 84  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 127. 85  UN, Report of the Security Council (16.6.1970–15.6.1971), GAOR 26th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8402, Ziff. 24, 27; Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 91; UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2377th Meeting: 8.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2377, Ziff. 4, 6–9, 13. 86  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2074, Ziff. 43; SCOR 34th Year, 2147th Meeting: 12.6.1979, UN-Dok. S/PV.2174, Ziff.  61 f. 87  UN, Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 77. 88  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2392nd Meeting: 12.8.1982, UN-Dok. S/ PV.2392 and Corr. 1, Ziff. 60; SCOR 37th Year, 2395th Meeting: 17.9.1982, UN-Dok. S/PV.2395, Ziff. 42, 44 f.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft285

2. Rechtsdogmatische Kritik Eine Reihe anderer Staaten kritisierte Israel zwar im Ton weniger scharf, wies aber grundsätzlich auf einen ihrer Ansicht nach völkerrechtswidrigen Rekurs auf Waffengewalt hin. Bemerkenswert ist dabei eine Stellungnahme des indischen Repräsentanten im Sicherheitsrat: „Israel naturally has the right, like all other sovereign States, to defend its own territory and its own citizens in its own State. If, however, a citizen of Israel […] is put in jeopardy in a foreign country or by a foreign country, Israel has of course every right to seek redress for such a citizen through the usual process of bilateral arrangements or such international law as may apply in any particular instance. But does it have the right to protect its citizens in another country by force of arms or by similar violent methods? It seems to us that any claim to such right or rights flatly contradicts both the Charter of the United Nations and the usual rule of international law. […] Israel […] has every right to suppress terrorism or any other kind of lawlessness inside its own State, but cannot exercise such a right outside it, and particularly to the detriment of the rights of other States.“89

Damit wird der unwilling or unable-Standard zwar nicht ausdrücklich adressiert, durchaus aber eine seiner wesentlichen Vorannahmen kategorisch in Zweifel gezogen: nämlich die Möglichkeit, militärische Selbstverteidigungsmaßnahmen exterritorial gegen nicht-staatliche Akteure vornehmen zu ­können. In der Sache vergleichbare, sich an der Dogmatik von Art. 51 UNCh orientierende Stellungnahmen lassen sich im Übrigen auch mehr oder minder ausgeprägt für Ägypten,90 Argentinien,91 Bangladesch,92 Jordanien,93 89  UN-Sicherheitsrat, SCOR 28th Year, 1709th Meeting: 18.4.1973, UN-Dok. S/ PV.1709, Ziff. 20 f., 28; UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 194. Entsprechend auch Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 52: „Israel had no right to take violent and illegal actions on the territories of other States nor to enforce what it conceived to be international law.“ Entsprechend auch SCOR 33rd Year, 2073rd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/PV.2073, Ziff. 25; vglb., aber mit weniger ausdrücklichem Bezug auf das Selbstverteidigungsrecht, SCOR 27th Year, 1644th Meeting: 27./28.2.1972, UN-Dok. S/PV.1644, Ziff. 118. 90  Ägypten erklärte 1979: „[t]he scope of self-defence […] certainly could in no circumstances be stretched and abused to cover the Israeli aggressive acts against Lebanon“, UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2148th Meeting: 14.6.1979, UNDok. S/PV.2148, Ziff. 9, siehe Ziff. 10 ebd. zu einem Rückgriff auf die WebsterFormel. 91  Beachtlich UN-Sicherheitsrat, SCOR 27th Year, 1644th Meeting: 27. 28.2.1972, UN-Dok. S/PV.1644, Ziff. 23–29, insofern Argentinien zunächst darauf hinwies, dass der Libanon dazu verpflichtet sei, von seinem Territorium ausgehende grenzüberschreitende Übergriffe zu verhindern (Ziff. 23). Den israelischen Maßnahmen wurden jedoch Erforderlichkeit (Ziff. 25) und Verhältnismäßigkeit abgesprochen (Ziff. 26,

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Kuwait,94 Panama,95 Pakistan,96 Polen97 und bisweilen auch für Frankreich98 nachvollziehen. 3. Vorsichtige Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts Die Kritik an besagten Interventionen richtete sich zudem nicht selten gegen die USA, die Israel in gewisser Weise unterstützten. Insofern überrascht es nicht, dass die USA das Vorgehen Israels nie einseitig verurteilten. Das zeigt nicht zuletzt das Abstimmungsverhalten der USA, die sich bei den ­besagten Sicherheitsratsresolutionen99 häufig enthielten. Vielmehr betonten die USA regelmäßig auch eine gewisse Verantwortlichkeit auf Seiten des Libanon, was immerhin in übertragenem Sinne das Selbstverteidigungsrecht 29). Es wurde bemerkt, dass die Strafverfolgung der fedayeen auf israelischem Territorium nur polizeiliche Maßnahmen erfordert hätte (Ziff. 28). 92  Der Repräsentant Bangladeschs meinte: „It is even more ironical that Israel should take refuge in international law to rationalize its actions and should with verbal sophistry subvert and interpret international law to suit its own purpose.“, UNSicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2149th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2149, Ziff. 11. 93  In UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2148th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/ PV.2148, Ziff. 80 ergänzte der Repräsentant Jordaniens: „I should like to remind the [representative of Israel] that his own concept of international law providing for the occupation of other peoples’ land is invalid in civilized international law.“ 94  Kuwait bezeichnete etwa 1979 Israels Rekurs auf Art. 51 UNCh als „bold misinterpretation of the Charter“, UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2147th Meeting: 12.6.1979, UN-Dok. S/PV.2147, Ziff. 44. 95  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 195. 96  Beachtlich etwa der Hinweis Pakistans: „Article 51 of the Charter was not designed to give licence to any State to violate the territorial integrity of its neighbours. Any other interpretation of these principles is a perversion and would seriously undermine the whole system of security which the United Nations and the Charter are seeking to establish.“, UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2074th Meeting: 19.3.1978, UN-Dok. S/PV.2074, Ziff. 122. 97  UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2375, Ziff. 121: „one cannot but wonder for how long the Council will allow Israel to trample with impunity upon the provisions of the Charter of the United Nations, and in particular of its Article 2, paragraph 4 […].“ 98  In diese Richtung weist auch eine Stellungnahme Frankreichs in UN, Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 359: „[France] condemned such acts of violence as that carried out by the Palestinian commando group at Kiryat Shmona, but also condemned the raids and reprisals undertaken by Israeli forces on Lebanese soil. The acts of more or less uncontrolled groups could not be equated with those of a Government.“ [Hervorh. P. L.]. 99  Siehe unter Fn. 54.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft287

Is­raels plausibilisierte. So meinten die USA im April 1973 unter Berücksichtigung der Friendly Relations Declaration: „While we are aware of the political realities which are usually cited to excuse action or inaction on the part of certain Governments, it is the duty of each State not to condone or abet or close its eyes to these acts of terrorism. Indeed, it is the duty of every State actively to prevent the organization or instigation of such acts on its territory, whether they are directed against its own citizens or against the citizens of other countries. […] No Member State should attack another. Any such action only breeds further violence. Neither should any State allow its territory to be used for the launching of terrorist attacks outside its territory. No State should harbour elements which attack other States, or nationals of that State, wherever they may be.“100

Darin lässt sich, auch mit Blick auf das Abstimmungsverhalten, zwar keine unvoreingenommene Unterstützung des von Israel behaupteten Selbstverteidigungsrechts erkennen,101 durchaus aber wohl eine latente Sympathie hierfür. Mit dieser Haltung waren die USA keineswegs vollkommen isoliert, sie wurde aber auch nur von vergleichsweise wenigen Staaten geteilt.102

100  UN-Sicherheitsrat, SCOR 28th Year, 1708th Meeting: 17.4.1973, UN-Dok. S/ PV.1708, Ziff. 71, 75. UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 190. Entsprechend auch die Erklärung, dass es ein Doppelstandard sei, anzunehmen, dass Staaten ihre eigenen Streitkräfte kontrollieren müssten, nicht aber sich auf ihrem Staatsgebiet aufhaltende Irreguläre, UNYB 26 (1972), S. 168. Ähnlich UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2389th Meeting: 4.8.1982, UN-Dok. S/PV.2389, Ziff. 33 (und 16), wobei es mit Blick auf die Enthaltung der USA zu Res. 517 (1982) heißt: „the resolution now before us has one fatal flaw: it does not explicitly and unequivocally call for the withdrawal of the PLO from Lebanon.“ Ähnlich, aber mit dem Verweis der Streitparteien auf international Foren zur Klärung von Grenzstreitigkeiten moderater, SCOR 27th Year, 1644th Meeting: 27., 28.2.1972, UN-Dok. S/PV.1644, Ziff. 127 f. 101  Krit. etwa UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2073rd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/PV.2073, Ziff. 13. 102  Siehe z. B. die Erklärung Belgiens bei UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 38: „[Belgium] had never ceased to repudiate the military reprisal actions by Israel against Lebanon, but at the same time had asked Lebanon to contain and effectively control the activities of the Palestinian fighters and prevent acts of sabotage and ambush against civilian targets from being organized from its territory.“ Ähnlich Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 125. In Ansätzen Argentinien: UN-Sicherheitsrat, SCOR 27th Year, 1644th Meeting: 27., 28.2.1972, UN-Dok. S/PV.1644, Ziff. 23: „it is obvious that the Government of Lebanon has an obligation to prevent incursions […] from its territory.“

288

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

4. Moderierend-kritische Stellungnahmen Einer größeren Zahl war schließlich ein zwischen den Interessen moderierender, aber nicht indifferenter Ton eigen. Übergreifend wurde hier die Sorge über die Konfliktfolgen artikuliert, wobei die von Israel vorgetragene Reichweite des Selbstverteidigungsrechts mehrheitlich kritisch angesehen wurde. Zu nennen sind hier v. a. einige Staaten aus dem europäischen Raum, insb. Deutschland,103 Irland,104 Italien,105 Frankreich,106 Groß­britannien,107 die Niederlande,108 Norwegen,109 Österreich110 und Portugal.111 Ähnliches ist weiterhin für Fidschi,112 Kanada113 und Nepal114 festzuhalten. 103  UN-Sicherheitsrat,

SCOR 33rd Year, 2073rd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/

PV.2073, Ziff. 21. 104  Vgl. UN-Sicherheitsrat, SCOR 37th Year, 2374th Meeting: 5.6.1982, UN-Dok. S/PV.2374, Ziff. 35; SCOR 37th Year, 2375th Meeting: 6.6.1982, UN-Dok. S/PV.2375, Ziff. 15 f.; die Aussichtslosigkeit der Spirale der Gewalt ausdrückend SCOR 37th Year, 2377th Meeting: 8.6.1982, UN-Dok. S/PV.2377, Ziff. 34. 105  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 124; UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2215th Session: 15.4.1980, UN-Dok. S/PV.2215, Ziff. 64. 106  UN, Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 47 a. E.; Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 46; UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2213th Meeting: 14.4.1980, UN-Dok. S/PV.2213, Ziff. 34; SCOR 37th Year, 2384th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/PV.2384, Ziff. 7. 107  UN, Report of the Security Council (16.6.1971–15.6.1972), GAOR 27th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8702, Ziff. 123; Report of the Security Council (16.6.1972–15.6.1973), GAOR 28th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9002, Ziff. 44; Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No.  2, UN-Dok. A/9602, Ziff.  45, 358. UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2148th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/PV.2148, Ziff. 34, 36. Mit deutlicher Kritik an der israelischen Intervention, auch im Hinblick auf das Attentat auf Schlomo Argov am 3.6.1982, SCOR 37th Year, 2374th Meeting: 5.6.1982, UN-Dok. S/ PV.2374, Ziff. 31; SCOR 37th Year, 2385th Meeting: 29.7.1982, UN-Dok. S/PV.2385, Ziff. 29, 35 mit zunächst resoluter Verurteilung der israelischen „Invasion“ und anschließender Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen Israels und des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts. Drastischer SCOR 37th Year, 2391th  Meeting: 6.8.1982, UN-Dok. S/PV.2391, Ziff. 25. 108  UN-Sicherheitsrat, SCOR 34th Year, 2148th Meeting: 14.6.1979, UN-Dok. S/ PV.2148, Ziff. 45. 109  UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2215th Meeting: 15.4.1980, UN-Dok. S/ PV.2215, Ziff. 9. 110  UN, Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 55. 111  UN-Sicherheitsrat, SCOR 35th Year, 2216th Meeting: 16.4.1980, UN-Dok. S/ PV.2216, Ziff. 34.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft289

Konkret auf den unwilling or unable-Standard bezogene Ausdifferenzierungen sind letztlich jedoch eher selten vorzufinden. Entsprechende Implikationen zeigten sich jedoch in einer Ausführung des französischen Repräsentanten im Sicherheitsrat: „We should, however, draw a distinction between, on the one hand, Palestinian terrorism, which is the result of more or less uncontrollable elements, even if they do derive from openly avowed political movements, and, on the other hand, Israeli counter-terrorism organized and controlled by […] a Member of the United Nations and hence bound to respect the norms of international law and the rules of our Organization. […] [I]t is really asking the impossible to expect that Lebanon, with its modest resources, should itself be able to control the legitimate aspirations of some 300,000 refugees it accepted into its territory as a result of the events of 1967.“115

Dies kann durchaus dahingehend verstanden werden, dass bloße territo­ rialstaatliche Unfähigkeit noch keine Rechtsfolgen zeitigen muss, insb. wenn dem Territorialstaat dabei Unmögliches abverlangt wird.116 Entsprechend hieß es auch schon 1972 von französischer Seite: „We have no doubt that the Lebanese Government is doing everything it can to control the activities of the fedayeen in its territory. But it cannot be held responsible for what happens in Israeli territory. […] If it is true that the Israeli authorities have asked Beirut to provide them with information on the whereabouts of the fedayeen in order ‚to be able to strike with minimum damage being involved for the population‘, what a Government worthy of the name could agree to such a demand, which is contrary both to law and to political realities?“117

Auch eine auf die Folgen des von Israel formulierten Völkerrechtsverständnisses konzentrierte Stellungnahme des libyschen Repräsentanten mag in diesem Sinne eingeordnet werden: Israels Sichtweise sei als (überkomme112  UN-Sicherheitsrat,

SCOR 35th Year, 2218th Meeting: 24.4.1980, UN-Dok. S/

PV.2218, Ziff. 17. 113  UN-Sicherheitsrat, SCOR 33rd Year, 2073rd Meeting: 18.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2073, Ziff. 5. 114  UN, Report of the Security Council (16.7.1969–15.6.1970), GAOR 25th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/8002, Ziff. 80, wobei die vermeintliche Berechtigung zu exterritorialen Selbstverteidigungsmaßnahmen nicht vertieft, gleichwohl aber zu Bedenken gegeben wurde, „that no acts of reprisals had any justification; nor could a Government be absolved of its responsibility for attacks from its territory.“ 115  UN-Sicherheitsrat, SCOR 28th Year, 1709th Meeting: 18.4.1973, UN-Dok. S/ PV.1709, Ziff. 51. 116  Ähnlich der Irak bei UN, Report of the Security Council (16.6.1973–15.6.1974), GAOR 29th Session, Supplement No. 2, UN-Dok. A/9602, Ziff. 364: „Lebanon, with its limited security forces, could not be held responsible for the incident of Kiryat Shmona, whether or not the three attackers had in fact come from Lebanon.“ 117  UN-Sicherheitsrat, SCOR 27th Year, 1643rd Meeting: 26.2.1972, UN-Dok. S/ PV.1643, Ziff. 119.

290

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

ner) Vorwand für Angriffskriege anzusehen und würde, sollte es sich um geltendes Recht handeln, auf zahlreiche Konflikte in der Welt Anwendung finden.118 5. Zwischenfazit Die Interventionen Israels im Libanon wurden in der Zeit vom Ende der 1960er-Jahre bis zur Mitte der 1980er-Jahre überwiegend kritisch bewertet. Nur ausnahmsweise lassen sich drittseitig affirmative Andeutungen eines Rechts zur Selbstverteidigung nachvollziehen. Die entsprechenden Debatten waren überwiegend politisch geprägt, sodass etwa Fragen der israelischen Besetzung arabischer Gebiete oder das Problem der Apartheid stärkeren Einfluss nahmen als dezidiert rechtsdogmatische Erwägungen. Insofern sich solche nachvollziehen lassen, wurden eher (wie z. B. von Argentinien) Aspekte der Verhältnismäßigkeit betont oder (von Indien) die Möglichkeit in Frage gestellt, auf Grundlage von Art. 51 UNCh exterritorial militärisch tätig zu werden. Demgegenüber steht etwa der von US-amerikanischer Seite bemühte Verweis auf die Friendly Relations Declaration. Auf Gesichtspunkte territorialstaatlicher Unfähigkeit nahmen nur wenige Stellungnahmen (wie z. B. diejenigen Frankreichs und Libyens) näheren Bezug. Die überwiegend politischen, aber auch das palästinensische Selbstbestimmungsrecht betonenden Stellungnahmen von Staaten in der näheren Region lassen sich schließlich allenfalls insofern auf den unwilling or un­able-Standard (und seine vermeintlichen Parameter) beziehen,119 als hierin der Vorwurf liegt, Israel hätte die bestehende Gefahr selbst verursacht. Dass aber allein die territorialstaatliche Unfähigkeit spezifische rechtliche Konsequenzen im hier untersuchten Sinne zeitigen soll, ist ganz überwiegend nicht zu erkennen.

SCOR 33rd Year, 2071st Meeting: 17.3.1978, UN-Dok. S/ PV.2071, Ziff. 113 f. A. a. O. wird darauf verwiesen, dass auf derselben Grundlage etwa das Vereinigte Königreich in Irland (militärisch) intervenieren könnte. Damit wird implizit schon die spätere Kritik am unwilling or unable-Standard als eine nur auf gewisse, v. a. nicht-westliche Staaten anwendbare Regel angedeutet, hierzu auch die Schlussfolgerung. 119  Vgl. etwa die normkonzeptionellen Erwägungen von Deeks, VJIL 52 (2012), S.  483 (506 ff.). 118  UN-Sicherheitsrat,



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft291

III. Mitte der 1980er-Jahre: Israelische Militärschläge in Tunesien Im Oktober 1985 intervenierte Israel vor dem Hintergrund der fortwährenden Auseinandersetzung mit der PLO nun militärisch in Tunesien.120 Der Sicherheitsrat reagierte hierauf mit Res. 573 (1985) und verurteilte „the act of armed aggression perpetrated by Israel against Tunisian territory in flagrant violation of the Charter of the United Nations, international law and norms of conduct.“121

Entsprechend spiegelte sich dies auch in den Sicherheitsratsdebatten wider. Hier wurde das Vorgehen Israels von einigen Staaten (v. a., aber nicht nur aus dem arabischen Raum) als Aggression bezeichnet und in einen Zusammenhang mit Staatsterrorismus und Kolonialbestrebungen gestellt. Hierzu ge­ hören Ägypten,122 Afghanistan,123 Algerien,124 der Iran,125 Jemen,126 Jorda­ nien,127 Kuwait,128 Libyen,129 Marokko,130 Saudi-Arabien131 und Syrien;132

120  Siehe

hierzu S. 128 f. Res. 573 (1985), 4.10.1985, UN-Dok. S/RES/573 (1985), Ziff. 1, ferner Ziff. 2. 122  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2610th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2610, Ziff. 67, 70. 123  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff.  161 f. 124  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 79 f. mit einem Verweis auf die frühere Intervention Frankreichs in Tunesien (hierzu S. 97 ff.), ferner 83, 87 f. und 89 mit einem Vergleich zum Vorgehen Südafrikas in anderen Fällen. 125  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 42, 52. 126  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 67 f., 70. 127  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 136–141. 128  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2610th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2610, Ziff. 30–34, 39, 43 f., 48. 129  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 76, 79, 172, 80. 130  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 122, 124, 126, 128, 131. 131  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff.  146 ff. 132  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 8–11; SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 202. 121  UN-Sicherheitsrat,

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

entsprechend positionierte sich die Liga der Arabischen Staaten.133 Für den weiteren asiatischen Raum ist auf vergleichbare Äußerungen Bangladeschs,134 Chinas,135 Indiens,136 Indonesiens,137 Pakistans, das von einem völkerrechtswidrigen Angriff und Fall von Staatsterrorismus ausging,138 Thailands139 und Vietnams140 hinzuweisen. Auch das Non-Aligned Movement kritisierte Israels Vorgehen als ungerechtfertigten Angriff und Aggression gegen Tunesien.141 Von einer Aggression gingen im süd- und mittelamerikanischen sowie im karibischen Raum Kuba,142 Nicaragua,143 Peru144 und Trinidad und Tobago145 aus. Auch in allen weiteren Stellungnahmen aus dem afrikanischen Raum wurde das israelische Vorgehen als Aggression verurteilt, zu nennen sind hierbei Burkina Faso,146 Lesotho,147 Mauretanien148 und der Senegal,149 SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 47 und ff.; siehe auch SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 228. 134  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 132, 134 f., 137. 135  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 23. 136  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2610th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2610, Ziff. 52, 54 f. 137  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 59–61. 138  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 152 f., 155. 139  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff. 44, 47. 140  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff.  174 ff. 141  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of India to the UN addressed to the Secretary-General, 2.10.1985, UN-Dok. A/40/699 und S/17518, S. 2 (Annex: Text of the special communiqué adopted by the Meeting of Ministers and Heads of Delegation of Non-Aligned Countries to the fortieth session of the United Nations General Assembly). 142  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 117, 119, 124. 143  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 71, 75, 78–80 sowie 77, wobei ein staatsterroristischer Vergleich zu Südafrika und den USA gezogen wird. 144  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 28, 30. 145  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 104–106. 146  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2613, Ziff. 37 und 38 vglw. zum Vorgehen Südafrikas gegen Angola. 133  UN-Sicherheitsrat,



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft293

ferner auch Madagaskar.150 Nigeria verurteilte schließlich für die Gruppe afrikanischer Staaten bei der UN das Vorgehen Israels als ungerechtfertigten Angriff gegen Tunesien.151 Für Australien152 und den europäischen Raum ist dagegen eine gewisse Zurückhaltung bei der Annahme einer Aggression nachzuvollziehen. Von einem immerhin völkerrechtswidrigen Verhalten Israels ging jedoch die EG mit Dänemark,153 Frankreich,154 dem Vereinigten Königreich,155 Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Irland und Griechenland samt Spanien und Portugal aus.156 Ausdrücklich bejahten das Vorliegen einer Aggression Griechenland,157 Jugoslawien158 und Malta.159 Zuletzt gingen auch die UdSSR160 und die Türkei161 von einer Aggression aus. Letztere sah dabei nur die hypothetische Forderung Israels nach einer 147  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2613, Ziff. 150, 152–155, wobei angenommen wurde, dass die Auswirkungen des Vorgehens Israels v. a. für kleinere Staaten Gefahren bergen würden. 148  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 120–124. 149  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 135 f., 141. 150  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff. 16, 18 mit einer deutlichen Absage an eine territorialstaatliche Verantwortlichkeit im Sinne des unwilling or unable-Standards, schließlich Ziff. 21 mit Verweis auf Israel bereits nach Art. 25 UNCh bindende Resolutionen. 151  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 9. 152  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 50–52. 153  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff. 17 f. 154  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff.  9  f.; SCOR 40th Year, th 2615  Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 247. 155  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff. 107, 109, 111 f. 156  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Luxembourg to the UN addressed to the Secretary-General, 2.10.1985, UN-Dok. A/40/700 und S/17520, S. 2 (Annex: Declaration adopted in Luxembourg by the Ministers of Foreign Affairs of the member countries of the European Community). 157  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2613th Meeting: 3.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2613, Ziff.  114 f. 158  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2615, Ziff. 28–31. 159  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 110. 160  UN-Sicherheitsrat, SCOR 40th Year, 2611th Meeting: 2.10.1985, UN-Dok. S/ PV.2611, Ziff. 94, 96 und 101 mit Verweis auf bereits i. R. v. Art. 25 UNCh bestehende Verpflichtungen Israels. 161  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff. 35–41.

294

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Strafverfolgung der für den vorangegangenen Terrorakt Verantwortlichen in Zypern als gerechtfertigt an.162 Die USA erklärten schließlich ihre Enthaltung bei der Abstimmung zu Res. 573 (1985) damit, dass die eigentliche und vornehmliche Gefahr für zivilisierte Völker im Terrorismus (nicht-staatlicher Akteure) liege und nicht etwa in den hierauf ergriffenen Reaktionen.163 Formuliert wurde auf dieser Grundlage das Prinzip, „that a State subjected to continuing terrorist attacks may respond with appropriate use of force to defend itself against further attacks. This is an aspect of the inherent right of self-defence recognized in the Charter of the United Nations.“

Dies konkretisierten die USA sodann durch ein gewisses Pflichtenprogramm der Staaten und Staatengemeinschaft; so hieß es im Folgenden: „It is the collective responsibility of sovereign States to see that terrorism enjoys no sanctuary, no safe haven, and that those who practise it have no immunity from the responses their acts warrant. Moreover, it is the responsibility of each State to take appropriate steps to prevent persons or groups within its sovereign territory from perpetrating such acts.“164

Dies wiederum korreliert insofern mit den prinzipiellen Grundelementen des unwilling or unable-Standards, als das Selbstverteidigungsrecht in einen Zusammenhang mit einer territorialstaatlich defizitären Terrorismusbekämpfung bei hieraus resultierenden Gefahren für Dritte gestellt wird. Mit dieser Haltung waren die USA und Israel letztlich jedoch isoliert. Hinzuweisen ist schließlich noch auf Res. 611 (1988), worin der Sicherheitsrat mit Blick auf die Tötung von Chalil al-Wazir am 16.4.1988, dem damals stellvertretenden Chef der PLO, Israel wegen einer neuerlichen Aggression gegen Tunesien verurteilte.165 Hierzu bezog Israel zunächst nicht näher Stellung; das Stimmungsbild im Sicherheitsrat ist jedoch mit dem von 1985 vergleichbar, verschieden allenfalls insofern, als mitunter Unklarheiten über den Verlauf der Ereignisse einige Staaten an einer eindeutigen Verantwortungszuweisung hinderten.166

162  UN-Sicherheitsrat, 163  UN-Sicherheitsrat,

ebd., UN-Dok. S/PV.2611, Ziff. 40. SCOR 40th Year, 2615th Meeting: 4.10.1985, UN-Dok. S/

PV.2615, Ziff. 250–252. 164  Beide Zitate: UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.2615, Ziff. 252. 165  UN-Sicherheitsrat, Res. 611 (1988), 25.4.1988, UN.-Dok. S/RES/611 (1988), Präambel Abs. 1, 3, 4 und Ziff. 1. 166  Siehe hierzu die Provisional Verbatim Records zu UN-Sicherheitsrat, 2807th Meeting: 21.4.1988, UN-Dok. S/PV.2807; 2808th Meeting: 22.4.1988, UNDok. S/PV.2808; 2809th Meeting: 22.4.1988, UN-Dok. S/PV.2809; 2810th Meeting: 25.4.1988, UN-Dok. S/PV.2810, je passim.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft295

IV. Entwicklungen zum Ende der 1990er-Jahre hin: Interventionen Israels im Libanon Nachdem es 1982 zu größeren Eskalationen im israelisch-libanesischen Verhältnis kam, verlief die Zeit bis zum Beginn der 1990er-Jahre ohne Konflikte der vorigen Größenordnung, wenngleich auch nicht spannungsfrei. Entsprechend beschränkte sich die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats von 1986 bis zum Beginn der 1990er-Jahre auf die Verlängerung des UNIFILMandats, wobei stets die Bedeutung der territorialen Integrität des Libanon hervorgehoben wurde.167 1. Zum Jahr 1993 Dies ist zunächst auch für das Jahr 1993 nachzuvollziehen, in welchem Israel im Rahmen einer größer angelegten Operation im Libanon gegen die Hisbollah vorging.168 Diese fand jedoch – obwohl von Seiten Libanons am 26.7.1993 beantragt – nicht Eingang in die Tagesordnung der 3258. Sitzung des Sicherheitsrats am 28.7.1993, sodass weder das Sitzungsprotokoll noch Res. 852 (1993) hierauf ausdrücklich Bezug nahmen.169 Zwar erklärte David Hannay als damaliger Präsident des Sicherheitsrats im Namen des Rates, dass alle Staaten auf gegen die territoriale Integrität des Libanon gerichtete Androhungen oder Anwendungen von Gewalt verzichten sollten,170 jedoch fehlte hier ein ausdrücklicher Verweis auf Israel. Deutliche Kritik an der

167  UN-Sicherheitsrat, Res. 586 (1986), 18.7.1986, UN-Dok. S/RES/586 (1986), Ziff. 1 f.; Res. 594 (1987), 15.1.1987, UN-Dok. S/RES/594 (1987), Ziff. 1 f.; Res. 599 (1987), 31.7.1987, UN-Dok. S/RES/599 (1987), Ziff. 1 f.; Res. 609 (1988), 29.1.1988, UN-Dok. S/RES/609 (1988), Ziff. 1 f.; Res. 617 (1988), 29.7.1988, UN-Dok. S/ RES/617 (1988), Ziff. 1 f.; Res. 630 (1989), 30.1.1989, UN-Dok. S/RES/630 (1989), Ziff. 1 f.; Res. 639 (1989), 31.7.1989, UN-Dok. S/RES/639 (1989), Ziff. 1 f.; Res. 648 (1990), 31.1.1990, UN-Dok. S/RES/648 (1990), Ziff. 1 f.; Res. 659 (1990), 31.7.1990, UN-Dok. S/RES/659 (1990), Ziff. 1 f.; Res. 684 (1991), 30.1.1991, UN-Dok. S/ RES/684 (1991), Ziff. 1 f.; Res. 701 (1991), 31.7.1991, UN-Dok. S/RES/701 (1991), Ziff. 1 f.; Res. 734 (1992), 29.1.1992, UN-Dok. S/RES/734 (1992), Ziff. 1, 5; Res. 768 (1992), 30.7.1992, UN-Dok. S/RES/768 (1992), Ziff. 1 f. 168  Hierzu unter S. 104  ff.; i. Ü. UN-Sicherheitsrat, Res. 803 (1993), 28.1.1993, UN-Dok. S/RES/803 (1993), Ziff. 1 f. sowie Res. 852 (1993), 28.7.1993, UN-Dok. S/ RES/852 (1993), die besagte Operationen nicht ausdrücklich erwähnen. 169  Der Antrag Libanons bei UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Lebanon to the UN addressed to the President of the Security Council, 26.7.1993, UN-Dok. S/26151; 3258th Meeting: 28.7.1993, UN-Dok. S/PV.3258. 170  UN-Sicherheitsrat, Note by the President of the Security Council, 28.7.1993, UN-Dok. S/26183.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

israelischen Operation wurde indes von Seiten der Arabischen Liga in einer an den Sicherheitsrat gerichteten Erklärung geübt: Hier wurden vor dem Hintergrund von Res. 425 (1978) die Maßnahmen Israels im Südlibanon als „attacks“ bezeichnet und die Vereinten Nationen dazu aufgefordert, diese zu unterbinden.171 Auch die EG forderte die vollständige Umsetzung der besagten Resolution, zeigte sich jedoch – im Ton moderat – grundsätzlich besorgt über die neuerlichen Gewaltausbrüche an der Grenze, „whether they concern operations by the Israeli army in Lebanon or attacks against Israel emanating from Lebanon“172,

sodass ihrerseits nicht eindeutig von einer einseitigen Verurteilung oder grundsätzlichen Befürwortung der Operationen gesprochen werden kann. 2. Weitere (das Jahr 1996 einschließende) Entwicklungen Die sich in der Folgezeit zuspitzende und 1996 zu einem nächsten Höhepunkt zwischenstaatlicher Eskalation führende Situation deutete sich in der Resolutionspraxis des Sicherheitsrats bereits 1995 an, worin zunächst die Zunahme von Gewaltakten insb. gegen die UNIFIL verurteilt wurde.173 Am Höhepunkt des Konflikts im Jahr 1996 zu verorten ist schließlich Res. 1052 (1996): Hier forderte der Sicherheitsrat zwar die allseitige Einstellung der Feindseligkeiten und rief alle Beteiligten zur Respektierung der territorialen Integrität, Souveränität und politischen Unabhängigkeit Libanons auf;174 nicht mehr wurde dabei jedoch – wie noch vom Ende der 1960er- bis zum Beginn der 1980er-Jahre – das Vorgehen Israels als Verstoß gegen die UN-

171  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the United Arab Emirates to the UN addressed to the President of the Security Council, 26.7.1993, UN-Dok. S/26153, S. 2 (Annex: Statement issued by the secretariat of the League of Arab States, 25.7.1993). Auf eine Aggression verweist Letter from the Permanent Observer of Palestine to the UN addressed to the Secretary-General, 28.7.1993, UN-Dok. S/26191 (A/48/284), S. 1 f. 172  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Belgium to the UN addressed to the President of the Security Council, 27.7.1993, UN-Dok. S/26175, S. 2 (Annex: Statement on the Situation in Lebanon); im Hinblick auf die Gefahren für die Zivilbevölkerung forderten ihre Mitgliedstaaten indes einen Stopp aller gegen die Souveränität, territoriale Integrität und Unabhängigkeit des Libanon gerichteten Maßnahmen, ebd. 173  UN-Sicherheitsrat, Res.  1006 (1995), 28.7.1995, UN-Dok. S/RES/1006 (1995), Ziff. 5; Res. 1939 (1996), 29.1.1996, UN-Dok. S/RES/1039 (1996), Ziff. 5; Res. 1068 (1996), 30.7.1996, UN-Dok. S/RES/1068 (1996), Ziff. 5. 174  UN-Sicherheitsrat, Res. 1052 (1996), 18.4.1996, UN-Dok. S/RES/1052 (1996), Ziff. 1, 3.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft297

Charta eingestuft und Israel zum Rückzug aufgefordert. Ein genaueres Bild über die Rechtsansichten dritter Staaten können daher die Diskussionen im Sicherheitsrat geben. a) Annahme einer Aggression oder eines Verstoßes gegen Art. 2 Nr. 4 UNCh Eine Gruppe von Staaten verurteilte das Vorgehen Israels in vergleichbarer Weise als Aggression, bekräftigte das Selbstverteidigungsrecht des Libanon und ging neben einem allgemein formulierten Verstoß gegen den Grundsatz staatlicher Souveränität zusätzlich von einem gegen Res. 425 (1978) aus. Auf dieser Grundlage wurde Israel zum Rückzug aufgefordert, wobei u. a. auch der Vorwurf artikuliert wurde, Israel okkupiere den Süden Libanons und betreibe Staatsterrorismus. Zur Gruppe dieser Staaten gehören Ägypten,175 Algerien,176 der Iran,177 Jordanien,178 Kuwait,179 Libyen,180 Pakistan,181 Saudi-Arabien,182 Syrien,183 Tunesien,184 die Vereinigten Arabischen Emi­ rate;185 i. Ü. auch Kuba186 und Malaysia.187 Hervorzuheben ist dabei eine Stellungnahme Saudi-Arabiens zur Verantwortlichkeit Libanons: „Lebanon cannot be responsible for what happens in the south. It cannot be responsible for all these operations of resistance to Israeli occupation in that part of Lebanon unless the Lebanese army is allowed to enter the south to impose order and to complete Lebanon’s sovereignty over all its territories. […]“188

175  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S. 14 f., wobei auch noch auf die Reichweite des Selbstverteidigungsrechts und die Webster-Formel abgestellt wurde; ferner SCOR 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 3 (und f.). 176  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S. 22. 177  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 24 f. 178  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 27. 179  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 20 f. 180  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 21 f. 181  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 28 f. 182  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 17 f. 183  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 18 f. 184  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 25 f. 185  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 16 f. 186  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 19 f. 187  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 26. 188  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 18.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Daneben lassen sich Stellungnahmen verorten, die Israels Vorgehen vergleichsweise scharf kritisierten, aber auf die ausdrückliche Annahme einer Aggression verzichteten. So ging etwa Afghanistan davon aus, dass die militärischen Maßnahmen Israels nicht mit Res. 425 (1978) vereinbar, die Beschränkungen des Selbstverteidigungsrechts ferner überschritten worden seien und Israel zudem gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen habe.189 In einem ähnlichen Sinne wurde mit der Annahme Marokkos, die militärischen Aktionen würden gegen die Souveränität und territoriale Inte­grität des Libanon verstoßen, zugleich ihre Unvereinbarkeit mit Art. 2 Nr. 4 UNCh ­artikuliert.190 In diesem Zusammenhang, und unter Berücksichtigung der besagten Resolutionspraxis, sind schließlich auch Stellungnahmen von Hon­ duras,191 Indonesien192 und Kolumbien193 einzuordnen. b) Vorwiegende Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts Die USA auf der anderen Seite konzentrierten sich ohne größere Kritik am Vorgehen Israels vornehmlich auf von der Hisbollah ausgehende Angriffe („attacks“) auf Israel und zeichneten insofern das berechtigte Interesse Israels nach, sich selbst zu verteidigen und seine Bevölkerung vor direkten, vom libanesischen Territorium ausgehenden Gefahren zu schützen.194 c) Moderierende Stellungnahmen Hiervon unterscheiden sich einer einseitigen Einordnung entziehende, zurückhaltend formulierte Stellungnahmen, die Terrorakte gegen Israel verur-

189  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 22 f. mit Verweis auf Art. 33 Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 (IV. Genfer Konvention), UNTS Bd. 75 S. 287 (BGBl. 1954 II S. 917, ber. 1956 II S. 1586). 190  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 23 (und f.). 191  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 5. 192  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S. 8; 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 5. 193  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 28. 194  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 12 f.; ferner die Betonung: „Those who allow Hezbollahʼs militia to act with impunity in Lebanon must bear responsibility for the consequences.“ Mit Fokus auf ursprüngliche Militärschläge der Hisbollah auch 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 12.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft299

teilten, zugleich aber auch die militärischen Maßnahmen Israels kritisierten, insofern sie Leid in der libanesischen Zivilbevölkerung verursachten. Zu erwähnen sind in diesem Sinne v. a. Japan,195 Südkorea196 und Kanada.197 Für den europäischen Raum ist auf Polen mit der Verurteilung sämtlicher militärischer Maßnahmen zu verweisen;198 Frankreich bekräftigte gleichfalls das Interesse der beteiligten Staaten, für Sicherheit zu sorgen und rief allgemein zu einem Stopp aller Gewaltakte auf.199 Vergleichbar äußerte sich zudem Italien für die EU mitsamt Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn200 sowie Irland;201 auch die Bundesrepublik Deutschland unterstützte die italienische Erklärung.202 Auffällig ist hier die wiederkehrende Forderung nach einer gesamtheitlichen Implementierung von Res. 425 (1978). Nicht unähnlich beließen es auch andere Staaten bei einem grundsätzlich moderierenden Ton, gaben in Ansätzen aber durchaus Hinweise auf ein mögliches Fehlen der Völkerrechtskonformität besagter Operationen. So rief etwa China alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf, hielt aber Israel auch ausdrücklich zur Einstellung aller militärischen Maßnahmen an.203 Vergleichbar räumte Botswana ein, dass von Israel zwar nicht erwartet werden könne, bei fortdauernden Übergriffen der Hisbollah untätig zu bleiben, dieser Umstand aber nicht zum Vorgehen gegen das libanesische Volk berechtige, sodass eine Verletzung der territorialen Integrität Libanons angenommen werden müs-

195  UN-Sicherheitsrat,

S. 16.

51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654,

196  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S.  10 f. 197  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 15. 198  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S.  13 (und f.). 199  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 7. 200  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 12. 201  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S.  15 f. 202  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S. 9: Hier wurde bemerkt, dass die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren müsse und nicht gegen Art. 33 IV. Genfer Konvention verstoßen werden dürfe. Andererseits seien die territoriale Integrität, Souveränität und politische Unabhängigkeit des Libanon, wie in Res. 425 (1978) zum Ausdruck gebracht, zu beachten. 203  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S.  9  f.; deutlicher noch bei 51st Year, 3654th Meeting: 18.4.1996, UN-Dok. S/PV.3654, S. 6, womit große Sorge über die Offensive zum Ausdruck gebracht wurde.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

se.204 Guinea-Bissau erachtete die gegen Städte gerichteten militärischen Maßnahmen Israels als Verstoß gegen Res. 425 (1978).205 In diesem Zusammenhang ist auch die Aufforderung Chiles zur Einhaltung der Verhältnismäßigkeit zu verstehen, wenn diese gerade insofern an Res. 425 (1978) erinnerte, als hierin der Rückzug Israels vom Staatsgebiet des Libanon gefordert wurde.206 Auch Russland207 und Norwegen208 sprachen den israelischen Maßnahmen die Verhältnismäßigkeit ab. Quasi auf der anderen Seite der Interessensmoderation zu verorten sind schließlich Stellungnahmen, die eher die Position Israels zu stärken schienen, sei es weil sie wie das Vereinigte Königreich in erster Linie die Angriffe der Hisbollah auf Israel verurteilten,209 oder wie die Türkei den Kampf gegen Terrorismus als essentiell für den Friedensprozess erachteten.210 3. Zwischenfazit Auch in den 1990er-Jahren änderten sich die hier grundlegenden Ansichten des Territorial- und gefährdeten Staats nicht: Wie auch in der Vergangenheit ging der Libanon davon aus, dass Israel Aggressionen verübe und Teile seines Staatsgebiets okkupiere, was sich letztlich als staatlicher Terrorismus darstelle;211 Israel widersprach hingegen der Annahme eines wie auch immer gearteten Gebietsanspruchs und verwies angesichts diverser Übergriffe der

204  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 11 f.; prägnanter ebd., UNDok. S/PV.3654, S. 8: „The Israeli military actions have definitely gone beyond the limits of Israel’s legitimate right to self-defence. The […] activities in Lebanon constitute an outright invasion of that country.“ 205  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 15, i. Ü. aber zurückhaltend: ebd., UN-Dok. S/PV.3654, S. 6 f. 206  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S.  16. Ebd., UN-Dok. S/ PV.3654, S. 12 ist von „attacks in Lebanon“ die Rede. 207  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 10. Entschiedener ebd., UNDok. S/PV.3654, S. 10, wobei die Maßnahmen Israels als Unterminierung der libanesischen Souveränität eingestuft wurden. Beachtlich ist hier gleichwohl das an einer Balancierung ausgerichtete Abstimmungsverhalten Russlands, das auf die Sicherheitsinteressen aller Staaten Wert legte und insofern auch eine Adressierung extremistischer, vom libanesischen Staatsgebiet ausgehender Aktionen forderte (ebd., S. 11). Darin zeigt sich eine recht deutliche Abkehr von der Praxis der UdSSR in der Zeit von den 1970er- bis zu den 1980er-Jahren. 208  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3654, S. 14. 209  UN-Sicherheitsrat, 51st Year, 3653rd Meeting: 15.4.1996, UN-Dok. S/PV.3653, S. 13. 210  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 28. 211  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 2, 4 f.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft301

Hisbollah auf sein Selbstverteidigungsrecht unter Hinzuziehung des unwilling or unable-Standards.212 Doch auch in der Zeit von 1993 bis 1996 ist eine explizit-elaborierte Auseinandersetzung von dritter Seite mit dem untersuchungsgegenständlichen, hier von Israel formulierten Standard nicht nachvollziehbar. Dies liegt maßgeblich daran, dass die Staaten v. a. Hisbollah verurteilten, diesen Umstand jedoch überwiegend nicht in eine spezifische Verantwortlichkeit des Libanon überführten.213 Es bleiben damit die vergleichsweise allgemein gehaltenen Stellungnahmen zur Völkerrechtskonformität der israelischen Maßnahmen. Dabei ist zu konstatieren, dass der Sicherheitsrat das Vorgehen Israels nicht mehr in einer den 1970er- und 1980er-Jahren vergleichbaren Weise kritisierte. Auch China, Russland und Frankreich kritisierten Israel weniger eindringlich und trugen dem israelischen Sicherheitsinteresse Rechnung. Entsprechend stand in weiten Teilen auch nicht in Frage, ob Israel überhaupt Selbstverteidigungsmaßnahmen ­ergreifen durfte, sondern eher die Art und Weise ihrer Ausübung: im Be­ sonderen unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit. Insofern wurde gleichwohl häufig angenommen, dass Israel die Grenzen des Selbstverteidigungsrechts überschritten habe. Daneben schienen einzig die USA die Rechtsansicht Israels mitzutragen, während nicht wenige Staaten vom Vorliegen einer Aggression oder einem Verstoß gegen das Gewaltverbot ausgingen. In dieser Entwicklung mag sich also durchaus ein zunehmendes Bewusstsein in der Staatengemeinschaft zeigen, terroristische Gefahren effektiv zu unterbinden. Eine wenn schon nicht ausdrückliche, dann immerhin implizitpartielle Akzeptanz des unwilling or unable-Standards lässt sich jedoch aus dem bloßen Umstand, dass weniger „das Ob“ als die Art und Weise von Selbstverteidigungsmaßnahmen im Zentrum der Diskussion stand, wohl nur schwerlich ableiten.

212  UN-Sicherheitsrat,

ebd., UN-Dok. S/PV.3653, S. 6 (und f.). stellt etwa die anfangs ausgewiesene Erklärung Saudi-Arabiens dar; diese nahm jedoch vornehmlich auf die vermeintlich völkerrechtswidrige Okkupation des Südlibanon Bezug und ließ sich insofern, spätestens nach der Annahme einer Aggression, nicht ausdrücklich zum fraglichen Standard ein. 213  Eine Ausnahme

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

V. Jahrtausendwende: Russische Antiterror-Maßnahmen in Georgien Vom Ende der 1990er- bis zum Beginn der 2000er-Jahre ereigneten sich in Georgien mehrere Interventionen Russlands, die dem Muster des unwilling or unable-Standards folgten.214 Eine allzu große drittseitige Aufmerksamkeit erfuhren diese jedoch nicht.215 Zumindest die USA kritisierten Russland und betonten die Bedeutung der Souveränität Georgiens.216 Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch eine Empfehlung der Beratenden Versammlung des Europarats, die Georgien einerseits dazu anhielt, „to co-operate with all states concerned as regards the fight against terrorism and to take the necessary measures to ensure the rule of law on all parts of the territory of Georgia“217,

auf der anderen Seite aber gleichfalls betonte: „Article 51 of the [UNCh] and Resolution 1269 (1999) of the UN Security Council on international terrorism, as well as Resolution 1368 (2001) of the UN Security Council […] do not authorize the use of military force by the Russian Federation or any other state on Georgian territory.“218

In diesem Sinne wurde Russland auch dazu aufgefordert, sich in keiner Weise in die inneren Angelegenheiten Georgiens einzumischen, wobei zugleich die seitens Russlands erwogene Möglichkeit weiterer Militärschläge kritisiert wurde, wie sie Putin im Zusammenhang mit dem Rekurs auf den unwilling or unable-Standard formulierte.219 Anzumerken ist hier gleich214  Hierzu

S.  137 ff. Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (256 f.); Hakimi, Int. L. Stud. 91 (2015), S. 1 (14). 216  Vgl. The Guardian, v. 26.8.2002: US rebukes Russia for Pankisi raid, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/world/2002/aug/26/chechnya.nickpatonwalsh; beispielhaft auch die Stellungnahme des damaligen Deputy Chief der US-Mission bei der OSZE, Douglas Davidson, der zwar auf die Nachvollziehbarkeit des russischen Interesses hinwies, jedoch auch davon ausging, dass die fraglichen Probleme von der georgischen Regierung gelöst werden müssten, abrufbar unter: https://2001-2009. state.gov/p/eur/rls/rm/2002/14111.htm; ferner Reinold, ebd., S.  256 f. m. w. N. 217  Council of Europe, Parliamentary Assembly, Recomendation 1580 (2002): Situation in Georgia and the consequences for the stability of the Caucasus region, 28th Sitting, 25.9.2002, Ziff. 9, eingebracht durch das gleichnamige Dok.-Nr. 9564 des Political Affairs Committee v. 24.9.2002. 218  Council of Europe, Parliamentary Assembly, Recomendation 1580 (2002), ebd., Ziff. 5. 219  Council of Europe, Parliamentary Assembly, Recomendation 1580 (2002), ebd., Ziff. 11; im Zusammenhang zu lesen mit UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of the Russian Federation to the UN addressed to the Secretary-General (Annex), 12.9.2002, UN-Dok. S/2002/1012, S. 2 ff. 215  Siehe



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft303

wohl, dass der rechtsquellentechnische Stellenwert von Empfehlungen der Beratenden Versammlung, die sich im Schwerpunkt aus parlamentarisch bestimmten Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt, wohl nicht zu überschätzen ist.220 Gleichwohl drückte das Minister-Komitee im Folgejahr seine Unterstützung für die Empfehlung unter Berücksichtigung der darin artikulierten Sorgen um den Schutz der georgischen Souveränität aus.221 Dies – bei untergeordneter Berücksichtigung der Debatte in der Beratenden Versammlung222 – berechtigt zu der Annahme, dass immerhin auf regional-europäischer Ebene die russischen Interventionen für nicht völkerrechtskonform erachtet wurden.

VI. Mitte der 2000er-Jahre: Abermalige Interventionen Israels im Libanon Nach den Krisen im israelisch-libanesischen Verhältnis in den 1990erJahren kam es in der Folgezeit wieder zu einer überwiegend von Entspannung geprägten Phase. So beschränkte sich auch zum Ende der 1990erJahre die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats wieder auf die Verlängerung des UNIFIL-Mandats.223 Anfang 2001 wurde in Res. 1337 (2001) festge220  Siehe Art. 22 ff., darunter insb. Art. 25 Satzung des Europarates, ETS No. 001 (BGBl. 1950 S. 263), Art. 24.2.e., 25.1.a. 2. 3. Geschäftsordnung der Versammlung, beides zugleich abrufbar unter: https://www.bundestag.de/europa_internationales/ international/europarat/Auf_einen_Blick-244702. 221  Council of Europe, Parliamentary Assembly, The situation in Georgia and its consequences for the stability of the Caucasus region (Recommendation 1580 (2002)), Reply from the Committee of Ministers, adopted at the 832nd Meeting of the Ministers’ Deputies (19.3.2003), 21.3.2003, Dok.-Nr. 9747, Ziff. 1. 222  Siehe Council of Europe, Parliamentary Assembly, 2002 Ordinary Session (Fourth Part), 28th Sitting, 25.9.2002: Verbatim Records 10.10–13.10 (siehe daneben auch Add. II) zur „Situation in Georgia and the consequences for the stability of the Caucasus region“, in den Verbatim Records (abrufbar unter: http://assembly.coe.int/ ASP/Doc/nwCRListingSession_EN.asp) a. a. O. unter Sitzungspunkt 9: In dieser Debatte war Russland mit seiner Haltung isoliert. Der ungarische Vertreter Eörsi betonte zwar, dass vor dem Hintergrund des 11.9.2001 Georgien dafür verantwortlich sei, seine Grenzen zu kontrollieren, kritisierte jedoch die russischen Maßnahmen. Entsprechend sind auch die Stellungnahmen der eidgenössischen Vertreter Gross und Vermot-Mangold zu verstehen. Beachtenswert ist der Hinweis des polnischen Vertreters Klich, dass der von den USA initiierte Kampf gegen Terrorismus zu einer paradigmatischen Verschiebung in den internationalen Beziehungen – weg von Diplomatie, hin zum Rekurs auf Waffengewalt – geführt habe und insofern eine Entschuldigung für stärkere Staaten mit sich bringe, „to impose their will on weaker ones under the pretext of combating terrorism.“ Krit. Stellungnahmen zum Agieren Russlands auch von deutscher, slowenischer, litauischer und rumänischer Seite (diese im Add. II ebd.). 223  Siehe UN-Sicherheitsrat, Res. 1095 (1997), 28.1.1997, UN-Dok. S/RES/1095 (1997), Ziff. 1 (ferner 2, 4); Res. 1122 (1997), 29.7.1997, UN-Dok. S/RES/1122

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

stellt, dass sich Israel in Übereinstimmung mit Res. 425 (1978) vom libanesischen Staatsgebiet zurückgezogen habe und die libanesische Regierung dazu aufgefordert, in den südlichen Gebieten effektive Hoheitsgewalt wiederherzustellen, insb. durch die Abstellung von Streitkräften.224 In Res. 1559 (2004) zeigte sich der Sicherheitsrat alsbald jedoch wieder besorgt über die andauernde Präsenz bewaffneter Milizen im Libanon, welche die Regierung von der Ausübung allumfassender effektiver Hoheitsgewalt abhielten.225 Die Intensivierung der Spannungen von hier an bis zum Vorabend des Julikriegs 2006 zeichnen auch die zwischenzeitlichen Resolutionen wieder, in welchen der Sicherheitsrat seine Sorge über fortdauernde Spannungen und Gewalt entlang der Blue Line ausdrückte226 sowie Feindseligkeiten der His(1997), Ziff. 1 (ferner 2, 4); Res. 1151 (1998), 30.1.1998, UN-Dok. S/RES/1151 (1998), Ziff. 1 (ferner 2, 4); Res. 1188 (1998), 30.7.1998, UN-Dok. S/RES/1188 (1998), Ziff. 1 (ferner 2, 4); Res. 1223 (1999), 28.1.1999, UN-Dok. S/RES/1223 (1999), Ziff. 1 (ferner 2, 4); Res. 1254 (1999), 30.7.1999, UN-Dok. S/RES/1254 (1999), Ziff. 1 (ferner 2, 4). 224  UN-Sicherheitsrat, Res.  1337 (2001), 30.1.2001, UN-Dok. S/RES/1337 (2001), Präambel Abs. 3, Ziff. 5. Hieran knüpft an Res. 1365 (2001), 31.7.2001, UNDok. S/RES/1365 (2001), siehe insb. Ziff. 5, 7. Ferner Res. 1391 (2002), 28.1.2001, UN-Dok. S/RES/1391 (2002), Ziff. 5, 7; Res. 1428 (2002), 30.7.2002, UN-Dok. S/ RES/1428 (2002), Ziff. 5 (nunmehr lediglich als Empfehlung formuliert) und 7; Res. 1461 (2003), 30.1.2003, UN-Dok. S/RES/1461 (2003), Ziff. 5; goutierend Res. 1496 (2003), 31.7.2003, UN-Dok. S/RES/1496 (2003), Ziff. 4; Res. 1525 (2004), 30.1.2004, UN-Dok. S/RES/1525 (2004), Ziff. 4; Res. 1553 (2004), 29.7.2004, UNDok. S/RES/1553 (2004), Ziff. 4. 225  UN-Sicherheitsrat, Res. 1559 (2004), 2.9.2004, UN-Dok. S/RES/1559 (2004), Präambel Abs. 4 (und 5 f.), ferner Ziff. 2–4. Die Resolution steht v. a. vor dem Hintergrund der Sorge um externe Einflussnahmen auf die damals anstehenden Präsidentschaftswahlen im Libanon; der Libanon beklagte eine Einmischung in seine inneren Zuständigkeiten (vgl. Art. 2 Nr. 7 UNCh) und bestritt die Existenz von Milizen im Sinne des Resolutionstexts, 59th Year, 5028th Meeting: 2.9.2004, UN-Dok. S/PV.5028, S. 2 f. Siehe auch in eine ähnliche Richtung weisende Stellungnahmen von China, Algerien, Pakistan, Russland, Brasilien und den Philippinen, ebd., S. 5–7. 226  UN-Sicherheitsrat, Res. 1583 (2005), 28.1.2005, UN-Dok. S/RES/1583 (2005), Präambel Abs. 4; die bisher beobachteten Probleme im Umgang mit nicht-staatlichen Akteuren waren auch präsent bei 60th Year, 5117th Meeting: 28.1.2005, UN-Dok. S/ PV.5117. Die USA meinten etwa (ebd., S. 3): „the failure of the Lebanese Government to deploy its armed forces in sufficient numbers to ensure a calm environment throughout the area poses a grave threat to peace and security there“. Ein „spectre of armed militias in southern Lebanon, coupled with the Lebanese Government’s unwillingness to assert its sole and effective control over all its territory“, so heißt es a. a. O. weiter, würde die Erfüllung des UNIFIL-Mandats maßgeblich behindern. Siehe auch die Stellungnahmen Frankreichs (ebd., S. 2) und Brasiliens (ebd., S. 4) zur Notwendigkeit einer effektiven Kontrollausübung der libanesischen Regierung. Russland wies andererseits (ebd., S. 5) darauf hin, dass Res. 1583 (2005) v. a. darauf ausge­ richtet sei, Druck auf die libanesische Regierung auszuüben, indem diese zur Lösung von Problemen verpflichtet werde, „that – because of objective reasons and because



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft305

bollah und wiederholte Verletzungen des libanesischen Luftraums durch Israel adressierte.227 Unter dem direkten Eindruck des Julikrieges steht schließlich Res. 1697 (2006), die in erster Linie Mandat und Rolle der UNIFIL betrifft.228 In Res. 1701 (2006) drückte der Sicherheitsrat höchste Besorgnis angesichts der eskalierenden Feindseligkeiten im Libanon und in Israel „since Hizbollah’s attack on Israel on 12 July 2006“ aus.229 In diesem Zuge wurde die Hisbollah zur unverzüglichen Einstellung sämtlicher Angriffe, Israel zur Einstellung seiner militärischen Operationen und zum Rückzug aus dem Süden Libanons aufgefordert, wobei zugleich die Bedeutung der über das gesamte libanesische Staatsgebiet ausgeübten Hoheits­ gewalt der libanesischen Regierung betont wurde.230 Dies ist wieder vergleichbar mit der Resolutionspraxis der 1990er-Jahre, wobei sicherlich die im Hinblick auf das Verhalten eines nicht-staatlichen Akteurs getroffene Annahme eines „Angriffs“ auf einen anderen Staat nennenswert ist.231 Für den unwilling or unable-Standards gibt dies indes keinen näheren Aufschluss, sodass auf die begleitenden Diskussionen im Sicherheitsrat zurückzukommen ist. 1. Aggression und Völkerrechtsverstoß Wie auch in den bisherigen Fällen zum israelisch-libanesischen Verhältnis kritisierte eine Gruppe verschiedener Staaten ausdrücklich das Vorgehen Israels. Verortet wurde diese Kritik nicht selten vor dem Hintergrund vermeintlicher Hegemonialbestrebungen Israels, das Teile des Libanon okkupiere und – so bisweilen der Vorwurf – Staatsterrorismus betreibe. In näherer Orientierung an den damaligen Gegebenheiten wurden zwar die Beteiligten gesamtheitlich zur Zurückhaltung aufgefordert, in erster Linie aber das von Israel behauptete Selbstverteidigungsrecht in Frage gestellt, wenn nicht sogar als bloßer Vorwand oder unilateraler Definitionsansatz bezeichnet, und das Vorliegen einer Aggression gegen den Libanon angenommen. Ergänzend wurde dabei mitunter auch auf Res. 1559 (2004) verwiesen oder ein Verstoß

of the overall situation in the Middle East – it simply cannot resolve.“ Zu vergleichbaren Vorbehalten Frankreichs vgl. zuvor S. 289. Siehe ferner Res. 1614 (2005), 29.7.2005, UN-Dok. S/RES/1614 (2005), Präambel Abs. 5. 227  UN-Sicherheitsrat, Res. 1655 (2006), 31.1.2006, UN-Dok. S/RES/1655 (2006), Präambel Abs. 5. 228  UN-Sicherheitsrat, Res. 1697 (2006), 31.7.2006, UN-Dok. S/RES/1697 (2006). 229  UN-Sicherheitsrat, Res. 1701 (2006), 11.8.2006, UN-Dok. S/RES/1701 (2006), Präambel Abs. 2. 230  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/1701 (2006), Ziff. 1–3. 231  Es ist wohlgemerkt nur von „attacks“ und nicht von „armed attacks“ die Rede.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

gegen das humanitäre Völkerrecht angenommen. Elemente dieser Sichtweise lassen sich im Grunde, wenngleich auch mit einzelnen Abstrichen, für Ägypten,232 Algerien,233 den Iran,234 Jordanien,235 Katar,236 Marok­ko,237 Pakistan,238 Saudi-Arabien,239 den Sudan,240 Syrien241 und die Vereinigten Arabischen Emirate242 nachvollziehen. Auch die Arabische Liga ging von einer Aggression Israels aus.243 Ebenfalls in diesem Zusammenhang sind schließlich Kuba244 und China zu verorten. Zwar kritisierte China die Angriffe der Hisbollah auf Israel ausdrücklich, stufte die Maßnahmen des israelischen Militärs jedoch nicht nur als unverhältnismäßig, sondern auch als „armed aggression“ ein.245 Vergleichsweise unterschwellig äußerte sich Indonesien, das zwar nicht von einer Aggression, aber von einem Verstoß gegen das Völkerrecht sprach.246 Erwähnenswert ist auch die Republik Dschibuti, die in die ver232  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 22. 233  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 21 f. Im Nachgang 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 35. 234  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 30 (und f.), zusätzlich auch mit der Annahme mehrerer Kriegsverbrechen. Im Nachgang ebd., UNDok. S/PV.5515, S. 30 f. 235  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 24. 236  UN-Sicherheitsrat, SCOR 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/ PV.5489, S. 10 f.; 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493, S. 14 f.; siehe auch 61st Year, 5508th Meeting: 8.8.2006, UN-Dok. S/PV.5508, S. 7; 61st Year, 5511th Meeting: 11.8.2006, UN-Dok. S/PV.5511, S. 8. Im Nachgang 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 18 f. 237  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 29. 238  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 44. Siehe im Nachgang 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 36. 239  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 19–21; SaudiArabien verortete ebd., S. 20 seine Kritik insb. vor dem Hintergrund der IGH-Rspr. 240  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 38 (und f.). Ergänzend auch im Nachgang (zugleich für die Gruppe arabischer Staaten) 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 34. 241  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 12–14, auf S. 12 ebd. die Annahme von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, abschließend S. 15. Siehe im Nachgang ebd., UN-Dok. S/PV.5515, S. 38 f. 242  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 42 f. 243  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 26 (und f.). 244  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 37 f. 245  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 11; zurückhaltender bei 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493, S.  19 f.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft307

breitete Kritik der Unverhältnismäßigkeit der israelischen Maßnahmen einstimmte, jedoch von einer so exzessiven, destruktiven und unmenschlichen Überreaktion ausging, „as to bring into question the real motives of Is­ rael.“247 2. Vermittelnde Stellungnahmen im Schwerpunkt Das Gros der Staaten nahm dagegen eine vermittelnd-moderierende Haltung ein. So wurden einerseits die Übergriffe der Hisbollah auf Israel entschieden kritisiert, das Erfordernis effektiver libanesischer Hoheitsgewalt aufgegriffen und das Selbstverteidigungsrecht Israels bestätigt bzw. nicht prinzipiell in Frage gestellt. Andererseits wurden auch humanitäre Bedenken geäußert und deutlich gemacht, dass die israelischen Maßnahmen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit konfligierten und, wenn auch nur vereinzelt, als Gefahr für die territoriale Integrität Libanons und den Frieden und die Sicherheit in der Region anzusehen seien. Diesem Rahmen sind (in Grundzügen und mit Abstrichen) zuzuordnen: im süd- und mittelamerika­ nischen Raum Argentinien,248 Brasilien,249 Chile,250 Mexiko251 und Peru;252 im afrikanischen Raum Ghana,253 der Kongo254 und Tansania;255 im asiati-

246  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 25. 247  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 32. 248  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 9; 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 9; im Nachgang 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 5 f. 249  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 19. 250  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 35, wobei die Annahme betonenswert ist, dass die libanesische Regierung ihre Souveränität auf dem gesamten Staatsgebiet ausüben müsse, die Hilfe der internationalen Gemeinschaft jedoch (nur) in Betracht komme, „if Beirut so requests“. 251  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 45 (und f.). 252  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5488th Meeting: 13.7.2006, UN-Dok. S/PV.5488, S.  3 f.; 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 14; mit deutlicherem, sich jedoch bereits zuvor andeutendem Fokus auf die Hisbollah, deren Verhalten als Aggression eingestuft wurde, und der eher schlichten Erinnerung Israels, die UN-Charta zu beachten, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/ PV.5493 (Resum. 1), S. 3 f. 253  Insb. UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 8 (und f.); siehe zuvor in moderatem Ton ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S. 8 f. 254  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S. 13; sehr zurückhaltend wiederum ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 10 f. 255  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S. 13 f.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

schen und australisch-ozeanischen Raum Indien,256 Japan257 und Neuseeland.258 Hierzu gehören auch die Türkei259 und Russland260 neben einigen europäischen Staaten, darunter Griechenland,261 Norwegen,262 die Schweiz263 und die Slowakei.264 Frankreich betonte, dass Israel angegriffen worden und somit zur Selbstverteidigung berechtigt sei, verurteilte aber deutlich die ­Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen.265 Finnland erklärte für die EU, dass diese das Selbstverteidigungsrecht Israels anerkenne, Israel jedoch Zurückhaltung üben müsse und nicht auf unverhältnismäßige Maßnahmen zurückgreifen solle; der Libanon wurde dabei zur Wiederherstellung seiner Souveränität und im Hinblick auf die Angriffe der Hisbollah aufgefordert, „to do its utmost to prevent such attacks“.266 Malaysia erklärte für das Non-Aligned Movement vergleichsweise allgemein, alle 256  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 34. 257  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 11 f.; mit größerer Zurückhaltung auch 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UNDok. S/PV.5493, S. 18. 258  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 33. 259  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 28. 260  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 7 f.; sehr zurückhaltend ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 2. 261  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S.  16  f.; ebd., UN-Dok. S/ PV.5493 (Resum. 1), S. 2  f.; 61st Year, 5511th Meeting: 11.8.2006, UN-Dok. S/ PV.5511, S. 10. 262  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 23. Siehe im Nachgang auch 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 27. 263  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 18. 264  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 16; siehe im Nachgang 61st Year, 5515th Meeting: 22.8.2006, UN-Dok. S/PV.5515, S. 17  f.; zurückhaltender bei 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/ PV.5493, S.  18 f. 265  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S. 17; mit Blick auf die Übergriffe der Hisbollah heißt es dabei: „The Lebanese Government has dissociated itself from this […] provocation, but it must shoulder its responsibilities and abide by the commitments it has taken before this Council by working effectively to restore its authority throughout its territory.“ Dies dürfte weniger eine unterschwellige Befürwortung des unwilling or unable-Standards als ein Verweis auf die bestehende Resolutionspraxis des Sicherheitsrats sein; weiterhin 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 11 f.; im Nachgang ebd., UN-Dok. S/PV.5515, S. 12. 266  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 16. Getragen wurde diese Erklärung zudem ausdrücklich von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Island, Kroatien, der Republik Mazedonien, der Republik Moldau, Rumänien, Serbien, der Türkei und der Ukraine, ebd.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft309

Akte des Terrors, der Gewalt und der Zerstörung zu verurteilen.267 Dies unterstützten Guatemala,268 Venezuela,269 Südafrika270 und Vietnam.271 Dieser moderierend-vermittelnde Ton wurde auch vom damaligen UNGeneralsekretär Kofi Annan angeschlagen, der die Angriffe der Hisbollah als Auslöser der Krise ansah, insofern das israelische Selbstverteidigungsrecht i. S. v. Art. 51 UNCh bestätigte, allerdings Israels Gebrauch von Waffengewalt für unverhältnismäßig hielt.272 3. Vorwiegende Betonung des israelischen Selbstverteidigungsrechts Mit nur graduellem Unterschied zur vorstehenden Gruppe trugen wenige Staaten nun die grundsätzliche Berechtigung Israels zur Ergreifung von Selbstverteidigungsmaßnahmen etwas prononcierter vor. Dies wird insb. dadurch indiziert, dass Israel hier nur in allgemeiner Manier zur Zurückhaltung und zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit angehalten wurde, der Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit jedoch eher vermieden wurde. Dies gilt für das Vereinigte Königreich, das zudem Art und Umfang der erforderlichen effektiven libanesischen Hoheitsgewalt durchaus nennenswert definierte als: „exercising and being able to exercise its full authority throughout Lebanese territory.“273 In ungefähr diesem Sinne einzuordnen sind auch Dänemark274 und Kanada, das ein die Souveränität Israels verletzendes Verhalten der Hisbollah annahm.275 Ihre Steigerung findet diese Tendenz in vereinzelten Stellungnahmen, die erst gar nicht auf Fragen der Verhältnismäßigkeit eingingen. Die USA betonten etwa staatsstrukturelle Schwächen Libanons, was zur Gefährdung Israels 267  UN-Sicherheitsrat, 268  UN-Sicherheitsrat, 269  UN-Sicherheitsrat, 270  UN-Sicherheitsrat, 271  UN-Sicherheitsrat, 272  UN-Sicherheitsrat,

S. 3.

ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 17. ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 40 f. ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 36. ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 43 f. ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 45. 61st Year, 5492nd Meeting: 20.7.2006, UN-Dok. S/PV.5492,

61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 12 f. [Hervorh. P. L.]. Siehe darüber hinaus 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 6; 61st Year, 5511th Meeting: 11.8.2006, UN-Dok. S/PV.5511, S. 11. 274  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5489, S.  15; ebd., UN-Dok. S/ PV.5493 (Resum. 1), S. 7. Deutlich mahnender, den Kampf Israels gegen die Hisbollah auf libanesischem Staatsgebiet jedoch für wohl grundsätzlich legitim haltend, ebd., UN-Dok. S/PV.5511, S. 12. 275  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 39. 273  UN-Sicherheitsrat,

310

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

durch terroristische Gruppen geführt habe und durch die Umsetzung von Res. 1559 (2004) verhindert werden könnte.276 Dabei wurde Israel in seinem Rekurs auf Gewalt zwar zu äußerster Vorsicht gemahnt, aber auch betont: „There is no moral equivalence between acts of terrorism and Israel’s exercise of its legitimate right to self-defence.“277

In diesem Zusammenhang ist auch Australien zu verorten, das sich überblicksartig auf die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats der letzten Jahrzehnte konzentrierte und für ihre vollkommene Umsetzung ausdrücklich nur auf solche Elemente verwies, „that address the disbanding and disarmament of all Lebanese and non-Lebanese militias and the extension of the control of the Government of Lebanon over all Lebanese territory.“278

4. Zwischenfazit Die nachvollzogenen Stellungnahmen repräsentieren im Kern die Ansichten, die auch in den Vorjahren artikuliert wurden. So stuften weite Teile des arabischen Raums, zusammen mit einigen anderen Staaten, Israels Vorgehen als Aggression ein, während sich diesbezüglich eine weitgehend vorbehaltlose Unterstützung wohl nur für die USA und Australien nachweisen lässt. Der Großteil der an den Debatten beteiligten Staaten lässt sich nicht mit einer solchen Klarheit einordnen: Im Rahmen dieser vermittelnd-mode­ rierenden Gruppe ist nun auffällig, dass – stärker noch als in den 1990erJahren – das grundsätzliche Recht Israels zur Selbstverteidigung gegen von nicht-staatlichen Akteuren ausgehende Angriffe279 bejaht wurde; kritisiert wurde Israel aber überwiegend unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten.280 Gleichwohl sind auch in dieser Fallgruppe die relevanten Stellungnahmen meist so abstrakt gefasst, dass sie sich kaum als wirkliche Auseinandersetzung mit den hier fraglichen Implikationen des unwilling or unable-Standards UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/ PV.5489, S. 10; 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493, S. 16 f. Siehe weiterhin 61st Year, 5511th Meeting: 11.8.2006, UN-Dok. S/PV.5511, S. 5 f. 277  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.5493, S. 17; dabei wurden Fragen der Verhältnismäßigkeit nicht näher thematisiert. 278  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 27 f. Ähnlich wie bei den USA ist auch hier ein näherer Verweis auf Fragen der Verhältnismäßigkeit nicht ersichtlich. 279  Mehrmals wurde insofern von „attacks“ gesprochen. 280  Siehe auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (99). 276  Siehe



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft311

verstehen lassen. In diesem Sinne hielt Israel die libanesische Regierung angesichts diverser terroristischer Übergriffe auf sein Staatsgebiet für verantwortlich.281 Dies schien in dieser Form jedoch kaum Anklang zu finden. Zwar wurde wiederkehrend auf eine Stärkung der effektiven Hoheitsgewalt der libanesischen Regierung gepocht; dieses Erfordernis wurde jedoch, ähnlich wie zuvor, maßgeblich aus Sicherheitsratsresolutionen abgeleitet282 und führte überwiegend auch eher nicht zu einer Vereinnahmung des Libanon für die Übergriffe der Hisbollah auf Israel. Für die territorialstaatliche Rolle blieb es damit bei vereinzelten Annahmen, wie z. B. die von der EU artikulierte Aufforderung an den Libanon, „to do its utmost to prevent such attacks“,283 oder die vom Vereinigten Königreich formulierten Anforderungen an die effektive libanesische Regierungsgewalt („exercising and being able to exercise its full authority throughout Lebanese territory“284). Mit diesen Annahmen sind jedoch nicht nur verschiedene Indikatoren staat­licher Fähigkeit verbunden, vielmehr stehen diese schon nicht in einem konkreten Zusammenhang mit dem Selbstverteidigungsrecht.

VII. Militärische Maßnahmen der Türkei im Irak (vom Ende der 2000er-Jahre an) Die militärischen Maßnahmen der Türkei im Norden Iraks fanden, wie mehrmals bemerkt wurde,285 sowohl in den 1990er-286 als auch in den 281  Siehe als Zusammenfassung UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 6, auch mit dem Verweis auf „inaction and ineptitude“; siehe auch nochmals 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493, S. 11, sowohl mit dem Verweis auf „Lebanon’s failure“ als auch mit der Annahme einer Integration terroristischer Strukturen in die libanesische Gesellschaft. Letzteres wird wiederholt bei 61st Year, 5498th Meeting: 30.7.2006, UN-Dok. S/PV.5498, S. 5 sowie bei 61st Year, 5508th Meeting: 8.8.2006, UN-Dok. S/PV.5508, S. 8. 282  Die Bezugnahme auf die Resolutionspraxis des Sicherheitsrats, hier v.  a. Res. 1559 (2004), erfolgt jedoch teils uneinheitlich und erschöpft sich bisweilen in eigenen interpretatorischen Schwerpunkten. 283  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5493rd Meeting: 21.7.2006, UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 16. Getragen wurde diese Erklärung zudem ausdrücklich von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Island, Kroatien, der Republik Mazedonien, der Republik Moldau, Rumänien, Serbien, der Türkei und der Ukraine, ebd. 284  UN-Sicherheitsrat, 61st Year, 5489th Meeting: 14.7.2006, UN-Dok. S/PV.5489, S. 12 f. [Hervorh. P. L.]. Siehe darüber hinaus ebd., UN-Dok. S/PV.5493 (Resum. 1), S. 6; 61st Year, 5511th Meeting: 11.8.2006, UN-Dok. S/PV.5511, S. 11. 285  Siehe van Steenberghe, LJIL 23 (2010), S. 183 (193 f.); vgl. auch Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (270); Trapp, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 689 (694). 286  Siehe seitens Libyens die Qualifizierung des türkischen Vorgehens als Aggression, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Chargé d’Affaires a.i. of the Permanent

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

2000er-Jahren287 eine vergleichsweise zurückhaltende, wenngleich auch nicht unkritische Rezeption in der Staatengemeinschaft. Angesichts der 2007 zunehmenden Spannungen wurden innerhalb der EU die Übergriffe der PKK scharf verurteilt und das Interesse der Türkei nachvollzogen, ihre Bürger zu schützen, andererseits aber auch das Erfordernis einer kooperativen Problemlösung unter Berücksichtigung des Völkerrechts betont.288 Ähnlich und im Grunde durchaus verständig für die türkischen Interessen äußerten sich anlässlich der Operation Sun im Februar 2008 Belgien, wobei das zielgerichtete Vorgehen gegen PKK-Ziele hervorgehoben wurde,289 und die Niederlande.290 Diese den bestehenden Konflikt intensivierende militärische Intervention wurde von der EU zwar als nicht unbedingt beste Antwort auf die Übergriffe der PKK bezeichnet, zugleich wurde aber auch deutlich gemacht, dass dies ohne Einfluss auf die türkischen Beitrittsge-

Mission of the Libyan Arab Jamahiriya to the UN addressed to the President of the Security Council, 12.7.1995, UN-Dok. S/1995/566; ebd. auch der Hinweis darauf, dass die USA von einer Ausübung des türkischen Selbstverteidigungsrechts ausgingen. Mit dem Hinweis auf das Fehlen einer Unterstützung von Seiten der EU für die türkischen Operationen im Jahr 1995 und diesbezüglich uneinheitlichen Äußerungen von US-amerikanischer Seite, Antonopoulos, J. Arm. Confl. L. 1 (1996), S. 33 (33 f.). Die Liga Arabischer Staaten nahm 1996 eine Verletzung der irakischen territorialen Integrität durch die Türkei an, UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Observer for the League of Arab States to the UN addressed to the Secretary-General, Annex 1: Statement adopted by the Council of the League of Arab States (14 September 1996) concerning the situation in Iraq, 26.9.1996, UN-Dok. S/1996/796, Ziff. 1. 287  Nennenswert die Verurteilung militärischer Maßnahmen der Türkei im Irak als Verletzung seiner territorialen Integrität einschließlich der Ablehnung sog. hot pursuits seitens des NAM: Letter from the Permanent Representative of South Africa to the UN addressed to the Secretary-General, Annex: Final Document of the 13th Ministerial Conference of the Movement of Non-Aligned Countries, 16.6.2000, UN-Dok. A/54/917-S/2000/580, Ziff. 137; siehe de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (99). 288  Deutsche Welle v. 22.10.2007: Europe Again Warns Against Turkish Intervention in Iraq, abrufbar unter: https://www.dw.com/en/europe-again-warns-against-tur kish-intervention-in-iraq/a-2834888. 289  Chambre des Représentants de Belgique, Questions et réponses écrites, QRVA 52 010, 25-2-2008, Réponse du ministre des Affaires étrangères du 21 février 2008, à la question n°15 de M. Dirk Van der Maelen du 15 janvier 2008, S. 1357 f.; mit Hinweis Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S. 334 (355 f., 362). 290  Ruys, ebd., S. 356 weist auf eine Stellungnahme des damaligen niederländischen Außenministers Maxime Verhagen hin, der das Vorgehen der Türkei im Grunde als legitime Selbstverteidigung einstufte und hierfür auf das Scheitern Iraks bei der effektiven Bekämpfung von vom irakischen Staatsgebiet ausgehenden terroristischen Angriffen – eine „primäre“ Verpflichtung des Irak – abstellte; für die letztere, den unwilling or unable-Standard andeutende Präzisierung siehe a. a. O. Fn. 135.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft313

spräche mit der EU bleibe.291 Ferner hieß es in einem Common Foreign and Security Policy-Statement der EU-Ratspräsidentschaft: „While recognizing Turkey’s need to protect its population from terrorism, the Presidency calls on Turkey to refrain from taking any disproportionate military action and to respect Iraq’s territorial integrity […]. It also calls on Turkey to limit its military activities to those which are absolutely necessary for achieving its main purpose – the protection of the Turkish population from terrorism.“

Zugleich wurde mit Blick auf die Rolle des Irak betont: „The Presidency reiterates its call on the Iraqi Government and the Kurdistan Regional Government to take appropriate measures and ensure that the Iraqi territory is not used for violent action against Iraq’s neighbours.“292

Ähnlich moderierend äußerten sich in diesem Kontext China293 und Russland, das eine politische Lösung als ebenso bedeutend hervorhob wie das Ergreifen der erforderlichen Maßnahmen von irakischer Seite zur Unterbindung drittgefährdender terroristischer Aktivitäten auf seinem Territorium;294 Japan mahnte die Türkei zu äußerster Zurückhaltung und hielt den Irak dazu an, terroristische Aktivitäten von PKK-Angehörigen im Nordirak zu unterbinden.295 Entsprechend äußerte sich 2007 der damalige UN-Generalsekretär 291  Ruys, ebd., S. 344, der insb. letzteren Aspekt hervorhebt, da sich die EU gegenüber der Türkei in nationalpolitischen und menschenrechtlichen Fragen durchaus krit. gezeigt habe; dabei auch mit Verweis auf United Press International v. 26.2.2008: Analysis: Turkey’s risky PKK war (Stefan Nicola), abrufbar unter https://www.upi. com/Emerging_Threats/2008/02/26/Analysis-Turkeys-risky-PKK-war/74401204060 244/. 292  Siehe für beide Wortlautzitate Slovenian Presidency of the EU 2008, EU Presidency Statement on the Military Action Undertaken by Turkey in Iraqi Territory, abrufbar unter: http://www.eu2008.si/en/News_and_Documents/CFSP_Statements/ February/0225MZZturkey.html. Siehe auch Ruys, ebd., S. 343 f. 293  Botschaft der Volksrepublik China in der Bundesrepublik Deutschland, Foreign Ministry Spokesperson Liu Jianchao’s Regular Press Conference on 23 October 2007, 30.10.2007, abrufbar unter: http://www.china-botschaft.de/det/fyrth/t376640.htm. In Bezug auf die Frage, ob – vor dem Übergriff der PKK auf türkische Soldaten – die PKK als Terrororganisation anzusehen sei, wurde lediglich die Besorgnis über die Spannungen und die Hoffnung auf einen konstruktiven Dialog artikuliert. 294  Permanent Mission of the Russian Federation to the United Nations, Russian MFA Spokesman Mikhail Kamynin Answers a Media Question Regarding Situation on Turkish-Iraqi Border, 22.2.2008, abrufbar unter: http://russiaun.ru/en/news/ 200802221998. 295  Ministry of Foreign Affairs of Japan, Statement by Press Secretary/DirectorGeneral for Press and Public Relations, Ministry of Foreign Affairs, on the Recent Situation on Attacks by the Kurdistan Workers’ Party (PKK), 22.10.2007, abrufbar unter: https://www.mofa.go.jp/announce/announce/2007/10/1175847_836.html; dass., Press Conference, 26 February 2008 zu I. (Statements on the Turkish incursion into the Republic of Iraq […]) und IX. (Question concerning the Turkish incursion into

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Ban Ki-moon.296 Die USA, deren Haltung teils als mehrdeutig eingestuft wurde,297 betonten mit Blick auf die Operation Sun, dass die Türkei bei der Erreichung ihrer Ziele und ihrem Rückzug zügig vorgehen solle.298 In diesen Stellungnahmen mag nun eine gewisse Sympathie für den unwilling or unable-Standard unter selbstverteidigungsrechtlichen Gesichtspunkten durchscheinen,299 so z. B. wenn der Irak dazu aufgefordert wurde, effektive Antiterror-Maßnahmen zu ergreifen. Dezidierte Positionierungen zu den rechtlichen Konsequenzen eines Scheiterns entsprechender Bemühungen sind jedoch kaum zu verzeichnen. Überdies steht diesen doch eher nur vereinzelten Stellungnahmen der sich hierzu überhaupt nicht einlassende Großteil der Staatengemeinschaft gegenüber. Mit Blick auf das spätere gegen die PKK gerichtete militärische Vorgehen der Türkei im Irak, während der durch den ISIL hervorgerufenen Spannungen in der Region,300 ging nun die Liga der Arabischen Staaten von einem Völkerrechtsverstoß der Türkei aus, die dazu aufgefordert wurde, ihre Streitkräfte vom irakischen Staatsgebiet zurückzuziehen.301 Ansonsten scheint sich hier eine gewisse Teilnahmslosigkeit der Staatengemeinschaft fortzusetzen.302

the Republic of Iraq), abrufbar unter https://www.mofa.go.jp/announce/press/ 2008/2/0226.html. 296  UN News, Secretary-General concerned at Turkish move on attacking Kurdish targets in Iraq, 19.10.2007, abrufbar unter: https://news.un.org/en/story/2007/10/ 236572-secretary-general-concerned-turkish-move-attacking-kurdish-targets-iraq. 297  Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (271). 298  BBC News v. 28.2.2008: Turkey must end Iraq raid – Bush, http://news.bbc. co.uk/2/hi/europe/7268345.stm. 299  So wohl auch die überwiegende Ansicht, siehe etwa Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S.  334 (355 f.); Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (271); Trapp, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 689 (700 f.); van Steenberghe, LJIL 23 (2010), S. 183 (193 f., 206 f.); Tams/Devaney, Isr. L. Rev. 45 (2012), S. 91 (93 f.). 300  Siehe S. 113 f.; zur Auseinandersetzung mit dem ISIL S. 315 ff. 301  UN-Sicherheitsrat, Letter from the Permanent Representative of Egypt to the UN addressed to the President of the Security Council, 11.1.2016, UN-Dok. S/2016/16, S. 2 f.: Annex (Unified Arab position on the violation by Turkish forces of the sovereignty of Iraq, gleichzeitig Res. 7987 des Rates), S. 2 Ziff. 1–4. 302  Im Allg. Ruys, Melb. JIL 9 (2008), S. 334 (345, 355); vgl. Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (270); Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against NonState Actors (2019), S. 14 (70 f.) folgert, dass auch wenn die Gewaltakte der nichtstaatlichen Akteure verurteilt wurden, eine staatengemeinschaftliche Rechtsansicht, ausgerichtet auf das Zurückstehen des aufenthaltsstaatlichen Interesses auf Achtung der eigenen territorialen Integrität, insofern nicht angenommen werden könne.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft315

VIII. 2010er-Jahre: Globale Anstrengungen zur Bekämpfung des ISIL In den 2010er-Jahren stand der „Kampf gegen Terrorismus“ v. a. im Zeichen zahlreicher gegen den ISIL gerichteter Militärmaßnahmen, zu deren Rechtfertigung vermehrt auf den unwilling or unable-Standard zurückgegriffen wurde. 1. Einheitliche Verurteilung des ISIL in der Staatengemeinschaft Diese Präsenz des unwilling or unable-Standards mag in einem ersten Zugriff mit den außerordentlich umfangreichen völkerrechtlichen Bemühungen erklärt werden, die zur Bekämpfung des ISIL ergriffen wurden. Nachdem sich die Action Group for Syria 2012 noch gegen eine weitere Militarisierung des Konflikts aussprach,303 formierte sich mit der Global Coalition Against Daesh im September 2014 ein Verbund, an dem sich neben der Liga der Arabischen Staaten, der Gemeinschaft der Sahel-Sahara-Staaten, Interpol, der NATO und der EU 75 Staaten, auch militärisch, beteiligen. Vornehmlich304 sind dabei Staaten aus dem nordamerikanischen, europäischen, arabischen und afrikanischen Raum präsent.305 Ihr Engagement beschreibt die Koalition folgendermaßen: „The Coalition’s 80 members are committed to tackling Daesh on all fronts, to dismantling its networks and countering its global ambitions. Beyond the military campaign in Iraq and Syria, the coalition is committed to: tackling Daesh’s financing and economic infrastructure; preventing the flow of foreign terrorist fighters across borders; supporting stabilization and the restoration of essential public services to areas liberated from Daesh; and countering the group’s propaganda“.306

Offen wurde damit das Erfordernis militärischer Maßnahmen gegen nichtstaatliche Akteure, auch ohne territorialstaatliches Einverständnis, wie der Verweis auf Syrien zeigt, anerkannt. Insofern nahm auch der damalige UN303  UN-Generalversammlung, 66th Session, Agenda item 34, Identical letters from the Secretary General addressed to the President of the General Assembly and the President of the Security Council, 6.7.2012, UN-Dok. A/66/865–S/2012/522, S. 2 ff.: Annex (Final communiqué of the Action Group for Syria, 30.6.2012), Ziff. 12 lit. b. Die Mitglieder der Gruppe sind unter Ziff. 1 genannt; zur Sorge über die Situation in Syrien, Ziff. 2; zur Betonung der Souveränität, Unabhängigkeit, nationalen Einheit und territorialen Integrität Syriens, Ziff. 3; weiterhin passim. 304  Als Ausnahmen: Panama, Afghanistan, Malaysia, die Philippinen, Taiwan, Japan, Australien und Neuseeland. 305  Siehe die Webpräsenz der Global Coalition, https://theglobalcoalition.org/en/; näheres zu den hieran beteiligten Akteuren unter https://theglobalcoalition.org/en/ partners/. 306  Siehe Global Coalition, https://theglobalcoalition.org/en/mission/.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Generalsekretär Ban Ki-moon eine befürwortende, für die Grundlage militärischer Maßnahmen jedoch unspezifische Position ein: „[…] The parties involved in this campaign must abide by international humanitarian law and take all necessary precautions to avoid and minimize civilian casualties. I am aware that today’s strikes were not carried out at the direct request of the Syrian Government, but I note that the Government was informed beforehand. I also note that the strikes took place in areas no longer under the effective control of that Government.“307

Im Zusammenhang mit der Bildung der globalen Koalition sind zudem drei Stellungnahmen zu auswärtigen Sicherheitsangelegenheiten hervorzuheben. Zuerst verurteilte die NATO in der Wales Summit Declaration vom 5.9.2014 die Gewaltakte des ISIL und betonte: „If the security of any Ally is threatened, we will not hesitate to take all necessary steps to ensure our collective defence.“308 Knapp eine Woche später, am 11.9.2014, erklärten die Mitglieder des Golf-Kooperationsrats (Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, SaudiArabien und die Vereinigten Arabischen Emirate), Ägypten, Irak, Jordanien, der Libanon und die USA im Jeddah Communiqué, eine Strategie zur Zerstörung des ISIL diskutiert zu haben, „wherever it is, including in both Iraq and Syria“. Hierzu wurden auch koordinierte Militärmaßnahmen gezählt.309 Im Rahmen der kurz darauf folgenden Pariser International Conference on Peace and Security in Iraq wurde der irakischen Regierung hingegen lediglich militärische Unterstützung in ihrem Kampf gegen den ISIL zugesagt.310 Diese Entwicklung zeigt sich ebenfalls in der Praxis des Sicherheitsrats. In zahlreichen Resolutionen verurteilte dieser den ISIL und ergriff verschiedene Zwangsmaßnahmen.311 Dabei ist zunächst, auch hinsichtlich exterritorialer 307  UN, Remarks at the Climate Summit press conference (including comments on Syria): Ban Ki-moon, 23.9.2014, abrufbar unter: https://www.un.org/sg/en/content/ sg/speeches/2014-09-23/remarks-climate-summit-press-conference-including-com ments-syria. 308  NATO, Wales Summit Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales, 5.9.2014, Ziff.  33, abrufbar unter: https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964. htm#daesh. 309  U.S. Department of State, Jeddah Communique, 11.9.2014, Abs. 3, 5, abrufbar unter: https://2009-2017.state.gov/r/pa/prs/ps/2014/09/231496.htm. Die Türkei nahm zwar an dem Treffen teil, trug die Erklärung aber wohl in Sorge um 49 vom ISIL in Geiselhaft genommene Staatsbürger nicht mit, siehe BBC v. 12.9.2014: Islamic State crisis: Arab states join US fight, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/worldmiddle-east-29166372. 310  Gouvernement de la République française, International Conference on Peace and Security in Iraq; Conclusions, 15.9.2014, Ziff. 4, abrufbar unter: https://www. gouvernement.fr/en/international-conference-on-peace-and-security-in-iraq. 311  Siehe überblickshalber nur UN-Sicherheitsrat, Res. 2199 (2015), 12.2.2015, UN-Dok. S/RES/2199 (2015); Res. 2253 (2015), 17.12.2015, UN-Dok. S/RES/2253



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft317

Maßnahmen in Syrien, Res. 2170 (2014) hervorzuheben, worin im Rahmen von Kap. VII UNCh der Aufruf an alle Staaten wiederholt wurde, „to take all measures as may be necessary and appropriate and in accordance with their obligations under international law to counter incitement of terrorist acts motivated by extremism and intolerance perpetrated by individuals or entities associated with ISIL, ANF and Al-Qaida and to prevent the subversion of educational, cultural, and religious institutions by terrorists and their supporters“.312

Mögen hierin noch gewisse Restriktionen liegen, liest sich die unter dem Eindruck der Pariser Anschläge vom 13.11.2015 angenommene Res. 2249 (2015) entschiedener. Hier findet sich im nicht Kap. VII UNCh unterstellten operativen Teil die Aufforderung an die Mitgliedstaaten „that have the capacity to do so to take all necessary measures, in compliance with international law […], on the territory under the control of ISIL […], in Syria and Iraq, to redouble and coordinate their efforts to prevent and suppress terrorist acts committed specifically by ISIL […] as well as ANF and all other individuals, groups, undertakings and entities associated with Al Qaeda […] and to eradicate the safe haven they have established over significant parts of Iraq and Syria“.313

Entscheidend ist hierfür die Annahme, dass der ISIL eine globale und beispiellose Gefahr für internationalen Frieden und Sicherheit berge.314 Entsprechend wurde auch schon Ende Mai 2015 in einer Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten bekräftigt, „alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um […] terroristischen Gruppen die Möglichkeit zu verwehren, Wurzeln zu schlagen und sichere Zufluchtsorte zu schaffen“.315 (2015); Res. 2322 (2016), 12.12.2016, UN-Dok. S/RES/2322 (2016); Res. 2354 (2017), 24.5.2017, UN-Dok. S/RES/2354 (2017); Res. 2368 (2017), 20.7.2017, UNDok. S/RES/2368 (2017); Res. 2370 (2017), 2.8.2017, UN-Dok. S/RES/2370 (2017); Res. 2395 (2017), 21.12.2017, UN-Dok. S/RES/2395 (2017); Res. 2396 (2017), 21.12.2017, UN-Dok. S/RES/2396 (2017); Res. 2401 (2018), 24.2.2018, UN-Dok. S/ RES/2401 (2018), insb. Ziff. 2; Res. 2449 (2018), 13.12.2018, UN-Dok. S/RES/2449 (2018); Res. 2462 (2019), 28.3.2019, UN-Dok. S/RES/2462 (2019), Ziff. 12. 312  UN-Sicherheitsrat, Res. 2170 (2014), 15.8.2014, UN-Dok. S/RES/2170 (2014), Ziff. 6; Ziff. 5 ebd. schon mit Verweis auf die unter Res. 1373 (2001) bestehenden Verpflichtungen; in der Präambel hingegen die Betonung der den Mitgliedstaaten primär zukommenden Aufgabe, entsprechend ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen die Zivilbevölkerung in ihren Territorien zu schützen, ebd., S. 2. 313  UN-Sicherheitsrat, Res.  2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), Ziff. 5 [Hervorh. P. L.]; nochmals in Res. 2254 (2015), 18.12.2015, UN-Dok. S/RES/2254 (2015), Ziff. 8; wohl auch bekräftigt durch Res. 2368, 20.7.2017, UNDok. S/RES/2368 (2017), S. 2. 314  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/RES/2249 (2015), S. 1. 315  UN-Sicherheitsrat, Statement by the President of the Security Council, 29.5.2015, UN-Dok. S/PRST/2015/11, S. 1.

318

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Auf dieser Grundlage ist der Eindruck einer gewissen Einigkeit der Staatengemeinschaft, gerade in einem so sensiblen Bereich wie der (gewaltsamen) Terrorismusbekämpfung, durchaus beachtlich.316 Dabei mag gerade der fast schon generalklauselartig formulierte Teil von Res. 2249 (2015) den Eindruck erwecken, dass weite Teile der ab Ende 2015 getroffenen exterritorialen Militärmaßnahmen in Syrien nicht als Völkerrechtsverstoß anzusehen sind.317 Fraglich bleibt aber, woraus genau diese Legitimation eigentlich folgen soll: aus einem etwaigen Recht zur (kollektiven) Selbstverteidigung nach Maßgabe des unwilling or unable-Standards, aus der Resolutionspraxis des Sicherheitsrats selbst, oder aus gänzlich anderen Gründen. Ausdrücklich forderte der Resolutionstext nämlich, dass entsprechende Maßnahmen völkerrechtskonform sein müssten. Diesen Unklarheiten soll mit einem Blick auf die maßgeblichen Sicherheitsratsdebatten nachgegangen werden; diese können zugleich Aufschluss darüber geben, wie konsentiert der fragliche Einsatz militärischer Gewalt in der Staatengemeinschaft tatsächlich war. 2. Behandlung im UN-Sicherheitsrat a) Skepsis und Ablehnung Einige Staaten zeigten sich insofern zunächst skeptisch bis ablehnend. Algerien bezeichnete etwa den Rückgriff auf gewaltsame Mittel als kontraproduktiv und verwies stattdessen auf friedliche bzw. diplomatische Mittel.318 Indonesien erklärte die Diplomatie zur einzigen Konfliktlösungsmöglichkeit und distanzierte sich vorsichtig vom sog. „hard-power approach“.319 Weißrussland kritisierte die Fragmentierung der ergriffenen Maßnahmen und ­erkannte als entsprechende Handlungsgrundlage einzig Sicherheitsratsresolutionen an.320 Argentinien warnte mit Blick auf die jüngere irakische Geschichte vor unilateralen Maßnahmen, verwies auf die Maßgaben von Res. 2170 (2014) und betonte das Erfordernis, im Kampf gegen den ISIL völkerrechtliche Normen einzuhalten.321 Brasilien wiederum betonte vor dem Hintergrund der Geschichte im Nahen Osten die negativen Auswirkungen, auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (489). jedoch eher hypothetisch und weniger als Ansicht des Autors formuliert – Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (889). 318  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 57. 319  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 58 f. 320  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 65. 321  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 15; diesbezüglich etwas zurückhaltender 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 9. 316  Vgl.

317  Siehe –



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft319

die mit einer extensiven Auslegung der zu militärischen Interventionen berechtigenden Rechtsgrundlagen einhergingen, und mahnte, dass der Gebrauch von Sanktionen und militärischem Zwang stets das letzte Mittel sein müsse.322 Indien sprach sich grundsätzlicher gegen militärische Lösungen aus und kritisierte einen interventionistischen Trend, der humanitäre Erwägungen als Vorwand gebrauche.323 Nicht unähnlich äußerte sich zudem der Iran, der vor dem Hintergrund vergangener Interventionen jedoch das Erfordernis eines im Ursprung regionalen Kooperationsansatzes betonte.324 Mag in diesen Stellungnahmen vielleicht noch ausnahmsweise ein kleiner Raum für den Einsatz militärischer Mittel verbleiben, äußerte sich Russland 2014 unmissverständlich ablehnend: „An international anti-terrorist operation should be conducted either with the consent of the sovereign Governments or sanctioned by the Security Council. We consider other options to be unlawful and detrimental to international and regional stability. […] The publicly expressed intentions to strike ISIL’s positions on Syrian territory without the cooperation of the Government in Damascus are extremely disturbing. That would not only be a gross violation of the fundamental norms of international law, but could also have destructive practical consequences“.325

Ähnlich resolut, zugleich aber deutlich politischer, äußerte sich im Jahr darauf Venezuela. Hier wurde erklärt, dass die hegemonialen Machtzentren der Welt die Lektionen vergangener Interventionen noch nicht gelernt hätten und sich das abermalige Eingreifen zur Terrorbekämpfung als imperialistischer Vorwand erweise. In diesem Sinne seien nur die Ursachen für Terrorismus, nicht jedoch seine Konsequenzen zu bekämpfen und Prinzipien wie 322  Vgl. UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/ PV.7527, S.  48 f. 323  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 77. 324  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 35 und f.; krit. zu internationaler Koalition und arabischen Nachbarstaaten ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 36. 325  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 19. Zurückhaltender hingegen 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 16 f. Zumindest dieser Grundtenor lässt sich auch ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 3–5 nachvollziehen: als Rechtsgrundlage für ein militärisches Tätigwerden Russlands in Syrien wurde die Intervention auf Einladung ausgewiesen (S. 4) und i. Ü. betont, dass die in der Region angestrebten Maßnahmen dem Grundsatz souveräner Staatengleichheit und dem ­Interventionsverbot Rechnung tragen müssten (vgl. S. 5). Zur Stützung der AssadRegierung UN-Generalversammlung, GAOR, 70th Session, 13th Plenary Meeting: 28.9.2015, UN-Dok. A/70/PV.13, S. 25. Von der Bildung einer breiten „international counterterrorism coalition“ ist dagegen kurz nach den Pariser Anschlägen vom 13.11.2015 die Rede, UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UNDok. S/PV.7565, S. 5.

320

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

nationale Selbstbestimmung, territoriale Integrität und (staatliche) Souveränität zu respektieren.326 Zuletzt ist – wohl in diesem Zusammenhang – zu bemerken, dass das Non-Aligned Movement den ISIL zwar u. U. als Bedrohung für die gesamte Welt ansah, jedoch vornehmlich auf die Umsetzung entsprechender Sicherheitsratsresolutionen verwies327 und zugleich eine res­triktive Lesart von Art. 51 UNCh im Sinne der Rechtsprechung des IGH befürwortete.328 b) Befürwortung militärischer Maßnahmen Gleichfalls sind auf der anderen Seite entschiedene Stellungnahmen nachzuvollziehen, mit welchen ausdrücklich oder indirekt militärische Maßnahmen in Syrien begrüßt wurden. Häufiger fehlte es hier aber an näheren rechtlichen Begründungen. Zu erwähnen sind (neben den Staaten, die ihr militärisches Agieren in Syrien ohnehin ausdrücklich erklärten329): spätere Erklärungen der EU,330 ferner Stellungnahmen Luxemburgs,331 der Nieder­ lande,332 Österreichs,333 der Tschechischen Republik,334 der Ukraine,335 Un326  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 16 f. Vgl. schon 70th Year, 7508th Meeting: 20.8.2015, UN-Dok. S/PV.7508, S. 16. Siehe aber auch ebd., UN-Dok. S/PV.7565, S. 7 f. 327  NAM, 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document, Ziff. 258.29, 258.30. 328  NAM, 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document, Ziff. 25.2, hier heißt es zuletzt: „In addition, and consistent with the practice of the UN and international law, as pronounced by the ICJ, Article 51 of the UN Charter is restrictive and should not be re-written or re-interpreted.“ Siehe auch die entsprechende Erklärung auf ministerieller Ebene zwei Jahre zuvor, UN-Generalversammlung, Letter dated 1 August 2014 from the Chargé d’affaires a.i. of the Permanent Mission of the Islamic Republic of Iran to the UN addressed to the Secretary-General, Annex I: XVII Ministerial Conference of the Non-Aligned Movement (Algiers, Algeria, 26.–29.5.2014), Final Document, UN-Dok. A/68/966 bzw. S/2014/573, Ziff. 25.2. 329  Das Nähere hierzu auf S. 114 ff. Doch auch diesbezüglich wird das Vorliegen der opinio iuris von Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (785) bezweifelt. 330  Bei UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/ PV.7527, S. 33 wird Verständnis für militärische Maßnahmen auch in Syrien ausgedrückt. In diesem Sinne mag auch die Aktivierung der Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV gedeutet werden, siehe Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (56 ff., 64). 331  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 44. 332  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 28; siehe grundsätzlich auch, wenngleich mit Blick auf Syrien weniger eindeutig, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 25 sowie ebd., UNDok. S/PV.7527, S. 68 f. 333  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 64 f.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft321

garns336 sowie (recht unspezifische) Äußerungen Griechenlands337 und Kroa­ tiens.338 Estland erklärte, dass direkte Maßnahmen, die auch Militärschläge umfassen könnten, gegen „terrorists’ safe havens“ getroffen werden müss­ ten,339 was angesichts der gebietsübergreifenden Kontrolle des ISIL nicht als nur den Irak betreffend zu verstehen ist.340 c) Zurückhaltende Begrüßung militärischer Maßnahmen Hiervon hebt sich eine Reihe von Staaten ab, die militärischen Maßnahmen gegenüber prinzipiell nicht abgeneigt schien, sich aber in letzter Konsequenz bedeckt hielt. So wurden teils militärische Maßnahmen als (nicht allein) zu ergreifende Mittel anerkannt und Erklärungen wie das Jeddah Communiqué oder die Koalitionsbildung unter US-amerikanischer Führung wohlwollend aufgenommen. In gewisser Weise kann also angenommen werden, dass dann auch damit einhergehende Entschlüsse, einschließlich militärischer Maßnahmen, begrüßt worden sein müssten. Vorzufinden sind daneben regelmäßig allgemein gehaltene Ausführungen zu Krisenursachen und weitergehenden Handlungsanforderungen. Prägend erscheint jedoch die Abwesenheit einer eigenständigen Präzisierung der prinzipiell begrüßten militäri334  Ein Vertreter des tschechischen Verteidigungsministeriums indizierte, dass der unwilling or unable-Test im Selbstverteidigungsrecht zur Geltung kommen könne, wies jedoch darauf hin, dass eine uniforme Staatenpraxis zur Bewertung der Kriterien des Unwillens und der Unfähigkeit nicht bestehe, in: Dorsey/Paulussen, Towards a European Position on Armed Drones and Targeted Killing, ICCT Research Paper (April 2015), S. 12; siehe auch Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (799). 335  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 73, insofern a. a. O. alle möglichen Schritte der „internationalen Koalition“ unterstützt werden, einschließlich auf die Beseitigung der Terrorgefahr aus der Region gerichtete militärische Operationen gegen den ISIL. 336  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 54, etwa mit der Formulierung: „We have to take back t[h]e territory that ISIS has occupied.“ 337  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 51 mit der Betonung, dass militärische Mittel zur Bekämpfung des ISIL alleine nicht ausreichen würden, und insofern mit Blick auf den Krieg in Syrien die Notwendigkeit einer „grand alliance for peace“ formuliert wurde. 338  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 43 mit der Differenzierung zwischen einem zu erreichenden Stopp der Kämpfe und dem letztendlichen Frieden. Militärische Maßnahmen werden damit allenfalls indirekt angesprochen; dass diese stattfinden, wird aber mit einem gewissen Fatalismus hingenommen (ebd., S. 44). 339  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 35. 340  Siehe überdies auch UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 61, wenngleich vglw. etwas zurückhaltender.

322

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

schen Maßnahmen, v. a. hinsichtlich ihrer Anwendung auf syrischem Staatsgebiet. Mit letzter Sicherheit können sie damit entweder nur auf die irakische Lage bezogen werden, oder sie erscheinen zur Verwertung für den Fall ­Syriens als nicht hinreichend bestimmt. Einzuordnen sind in diesem Zusammenhang für den afrikanischen Raum Nigeria341 und Ruanda.342 Im asiatischen Raum sind Malaysia,343 Pakistan344 und Singapur345 sowie – mit vergleichsweise größerer Zurückhaltung – China346 und Japan347 zu erwähnen, im europäischen Raum hingegen die EU, zumindest anfänglich,348 Alba­ nien,349 Finnland,350 Georgien,351 Italien,352 zunächst Litauen353 und Luxem­

69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 18; klarer 70  Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 5. 342  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 8 f.; 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 10. 343  Andeutungshalber bei UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7272, S. 42. 344  Insb. UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/ PV.7527, S. 74, wonach Terrorismus ausgemerzt werden, der Kampf hiergegen aber mehr als militärische Mittel vorsehen müsse. 345  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S.  36 f. 346  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7272, S. 17 mit dem Verweis, dass militärische Maßnahmen mit der UN-Charta und Sicherheitsratsresolutionen übereinstimmen müssten. Zurückhaltender noch 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UNDok. S/PV.7271, S. 20; zurückhaltend auch 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 5 ff., im obigen Sinne allenfalls die Aufforderung, dass die internationale Gemeinschaft angesichts der Syrien-Krise weder unbeteiligt zusehen noch willkürlich intervenieren dürfe (ebd., S. 6). 347  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 36, womit die japanische Regierung betont erklärte, den Kampf gegen Terrorismus durch die irakische Regierung und andere Staaten zu unterstützen. Mit Fokus auf den Sicherheitsrat, ansonsten aber sehr zurückhaltend, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 80. 348  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 28; Europäischer Rat, Special Meeting of the European Council: 30.8.2014 – Conclusions, Dok. EUCO 163/14, Ziff. 17 mit recht offenkundigem Verständnis für militärische Maßnahmen. 349  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 42; ebd., UN-Dok. S/PV.7272, S. 34 f. 350  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S.  38  f.; weniger deutlich 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 61 f. 351  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 33. 352  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 27 f.; 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 38. 353  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 21; siehe auch 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 8 sowie 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 6. 341  UN-Sicherheitsrat, th



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft323

burg,354 Polen,355 die Schweiz,356 Serbien,357 bis zu den Pariser Anschlägen im November 2015 wohl auch noch Spanien358 und darüber hinaus auch Slowenien.359 Für den australisch-ozeanischen Raum ist Neuseeland zu erwähnen.360 Im südamerikanischen Raum betonte Chile, dass rechtzeitig effektive und völkerrechtskonforme Zwangsmaßnahmen ergriffen werden müssten,361 während Uruguay einen dringenden Handlungsbedarf erkannte, allerdings nur auf den Gebrauch von UN-Charta-konformen Mitteln ver­ wies;362 zu nennen ist weiterhin Guatemala.363 d) Rechtsansichten im arabischen Raum und weiteren Nahen Osten Besonders zu beachten sind schließlich diverse Stellungnahmen aus dem arabischen Raum und weiteren Nahen Osten, gibt doch z. B. das Jeddah Communiqué durchaus Anlass zu der Annahme, dass einige dieser Staaten militärische Maßnahmen auch auf syrischem Staatsgebiet für völkerrechtskonform erachteten. Bereits 2013 wurde zudem im Rahmen der Doha Declaration – diese beschloss das 24. Gipfeltreffen der Liga der Arabischen Staaten – erklärt, dass ihre Mitgliedstaaten das Recht hätten, der syrischen Bevöl354  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 12; mit stärkerem Bezug auf den eigenen nationalen Raum ebd., UN-Dok. S/PV.7272, S. 16. 355  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 41; siehe auch 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 63. 356  Diese kritisierte die in Syrien ergriffenen Militärmaßnahmen als mangelhaft koordiniert und forderte den Sicherheitsrat dazu auf, eine führende Rolle zu übernehmen, UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 55. 357  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 30. 358  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 25; jedenfalls wohl 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 14. Nach den Anschlägen von Paris am 13.11.2015 entschiedener, 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 3: „It is time once again for the citizens of the entire world to mobilize our battalions against those who have come to slit our throats. It is time for victory.“ 359  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 51. 360  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 42; auch nach den Anschlägen vom 13.11.2015 bei 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S. 7 recht allg. 361  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 12; siehe auch 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 25 zum nicht alleinig zureichenden Rückgriff auf Waffengewalt. Vglw. allg. und zurückhaltend fällt auch die Stellungnahme nach den Pariser Anschlägen vom 13.11.2015 aus, ebd., UN-Dok. S/PV.7565, S. 7. 362  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 58. 363  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 60 f.

324

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

kerung militärische Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Regierung Assads zukommen zu lassen. Dabei wurden diese Leistungen sowohl in Beziehung zur „steadfastness of the Syrian people“364 als auch zur bevölkerungsseitigen „self-defense against the Assad regime“365 gesetzt. Dies weckt jedoch eher Assoziationen mit dem Topos der humanitären Intervention. Doch wie zuvor ernüchtert auch hier der Blick auf die Stellungnahmen einzelner Staaten.366 Elaborierte Ausführungen zur Rechtsgrundlage militärischer Maßnahmen oder zu ihrer räumlichen Anwendbarkeit finden sich kaum bzw. allenfalls andeutungshalber: So sprach Ägypten etwa von der Notwendigkeit internationaler Anstrengungen, „that can take unified action against […] [ISIL] and other terrorist groups both in Iraq and throughout the region“,367 wozu etwas später auch ausdrücklich Syrien gezählt wurde.368 Bahrain erwähnte im Zusammenhang mit dem erklärten Ziel, den ISIL komplett zu vernichten, nun gerade auch den Rückgriff auf militärische Mittel, schien insofern jedoch zunächst einen ausdrücklichen Bezug auf das Staatsgebiet Syriens zu vermeiden.369 Jordanien begrüßte, zunächst ohne nähere Einlassungen zum Umfang militärischer Maßnahmen, die Formierung der internationalen Koalition370 und betonte, dass die internationale Gemeinschaft ihre Verantwortung annehmen müsse und dabei insb. die maßgeblichen Sicherheitsratsresolutionen umzusetzen seien.371 Nach Annahme von Res. 2249 (2015) betonte Jordanien die Notwendigkeit, militärische Anstrengungen „on all fronts“ zu unternehmen.372 Katar konzentrierte sich eher darauf, die syrische Regierung und die seiner Ansicht nach dysfunk364  Siehe (auch zum Vorigen) http://arableaguesummit2013.qatarconferences.org/ news/news-details-17.html. 365  Hierzu und zum Vorigen The Embassy of the Kingdom of Saudi Arabia (Washington, DC), 24th Arab Summit Issues Doha Declaration, 27.3.2013, abrufbar unter: https://saudiembassy.net/news/24th-arab-summit-issues-doha-declaration. 366  Siehe auch Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (783 f.). 367  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 29. 368  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 43; in diesem Sinne auch 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/ PV.7527, S. 32. 369  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 30, implizit a. a. O. die Formulierung, „Bahrain stands ready to join its allies in the region and the world to contribute its share to the necessary fight against Daesh.“ 370  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 11. 371  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 8. 372  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7565th Meeting: 20.11.2015, UN-Dok. S/PV.7565, S.  6 f.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft325

tionalen internationalen Sicherheitsmechanismen zu kritisieren,373 meinte jedoch bereits früh, dass militärische Mittel allein nicht ausreichen würden.374 Eher zurückhaltend fasste sich Kuwait in einer Erklärung im Namen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, indem v. a. die Komplikationen der Krise beschrieben wurden.375 Der Libanon betonte, dass militärische Operatio­ nen allein nicht ausreichen würden, präzisierte diese Annahme zunächst jedoch im Hinblick auf ihren räumlichen Anwendungsbereich nicht näher.376 Der Oman brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Anstrengungen der internationalen Koalition in ihrem Kampf gegen Terrorgruppen erfolgreich enden mögen.377 Saudi-Arabien beschrieb die syrische Regierung und den ISIL als verschiedene Seiten derselben Medaille, rief zur Unterstützung der syrischen Oppositionskräfte auf378 und hob seine Teilnahme am Kampf der internationalen Koalition hervor.379 Die Vereinigten Arabischen Emirate erklärten schließlich, auch in Bezug auf das Jeddah Communiqué: „ISIS must be prevented from establishing a safe haven for extremists in our region“,380 zeigten sich später aber durchaus grundsätzlicher interventionsskeptisch.381 Weniger eindeutig positionierten sich schließlich Libyen382 und Marokko.383

373  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 41  f.; zurückhaltend zur Reichweite militärischer Maßnahmen auch 69th Year, st 7271  Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 31. 374  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok S/PV.7272, S. 21. 375  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 28 f., aber ohne nähere Einlassung zu den sich zutragenden Interventionen. 376  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 40. Später zeigte sich der Libanon gewaltsamen Lösungsansätzen gegenüber durchaus skeptisch, siehe ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 38. 377  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 32. 378  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7271, S. 40. 379  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 76, zugleich mit Kritik an militärischen Maßnahmen Russlands in Syrien. 380  UN-Sicherheitsrat, 69th Year, 7271st Meeting: 19.9.2014, UN-Dok. S/PV.7271, S. 33; zurückhaltend in dieser Hinsicht wiederum bei 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 38 f. 381  UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 53: „we must […] respect the principles of the Charter on respect for sovereignty and non-interference, and refrain from any [a]ctions that could undermine the security and stability of countries.“ Gleichwohl wurde mit Blick auf Syrien der Sicherheitsrat zur Einleitung eines politischen Übergangsprozesses aufgefordert und die Bildung einer (neuen) Regierung angeregt, ebd., S. 52. 382  UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 39 f. 383  Siehe etwa UN-Sicherheitsrat, ebd., UN-Dok. S/PV.7527, S. 77–79.

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

e) Randbemerkung zu militärischen Maßnahmen gegen kurdische Gruppen Die von der Türkei im Jahr 2018 gegen kurdische Organisationen ergriffenen militärischen Maßnahmen auf syrischem Staatsgebiet wurden wiederum zurückhaltender rezipiert:384 Hier erkannte etwa Deutschland grundsätzliche türkische Sicherheitsinteressen an, kritisierte jedoch die humanitären Auswirkungen der Operation.385 Letzteres betonte auch das Europäische Parlament, das zur Einstellung der Offensive aufforderte und hervorhob, dass gerade UN-gelistete terroristische Vereinigungen zu besiegen seien.386 Die im Rahmen der Operation Peace Spring des Jahres 2019 ergriffenen militärischen Maßnahmen wurden etwa vom Rat der EU387 sowie von Griechenland388 verurteilt.389 3. Zwischenfazit a) Einheitlich wahrgenommene Gefahrenlage: Erfordernis militärischer Maßnahmen Die herangezogenen Stellungnahmen zeigen, dass der ISIL raumübergreifend als beispiellose und nahezu alle Staaten betreffende Gefahr wahrge­ nommen wurde.390 Dabei schienen vergleichsweise viele Staaten auch den S. 121 f.; de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (102). Wet, ebd., S. 102 m. w. N. 386  Europäisches Parlament, Lage in Syrien: Entschließung des Europäischen Parlaments v. 15.3.2018 zur Lage in Syrien, Dok. 2018/2626(RSP), Präambel unter F. sowie Ziff. 6. Siehe auch de Wet, ebd., S. 102 einschließlich w. N. zu kritischen Äußerungen auf Seiten des Iran zum türkischen Vorgehen. 387  Council of the EU, North East Syria: Council adopts conclusion, Press Release 657/19, 14.10.2019, unter: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/ 2019/10/14/council-conclusions-on-north-east-syria/. 388  Hellenic Republic: Ministry of Foreign Affairs, Ministry of Foreign Affairs announcement on Turkey’s military operations in Syria, 10.10.2019, abrufbar unter: https://www.mfa.gr/en/current-affairs/statements-speeches/ministry-of-foreign-affairsannouncement-on-turkeys-military-operations-in-syria.html. 389  Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Ausarbeitung: Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien, 17.10.2019, Az. WD 2 – 3000 – 116/19, S. 5 (unter Fn. 5); Janik, Research Services of German Bundestag Rejects Turkey’s Syria Invasion: Illegal, but Who Cares?, OpinioJuris: 23.10.2019. Zur Kritik an der Offensive aus dem nordamerikanischen, europäischen und arabischen Raum, FAS v. 13.10.2019, S. 1 und 8: Erdogans Unsicherheitszone (Livia Gerster). 390  Siehe auch Ruys/Ferro, ICLQ 65 (2016), S. 61 (91); vgl. Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (489). 384  Siehe 385  de



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft327

Rückgriff auf militärische Mittel auf syrischem Staatsgebiet, wenn schon nicht zu akzeptierten, dann immerhin in Kauf zu nehmen. Es handelt sich dabei vornehmlich um Staaten aus dem nordamerikanischen, europäischen und arabischen, in Teilen auch aus dem asiatischen, afrikanischen sowie australisch-ozeanischen Raum, wohingegen im südamerikanischen Raum eine größere Zurückhaltung festzustellen ist. Mit Fortschreiten der Krise, spätestens aber nach den Pariser Anschlägen im November 2015, ist sodann eine zunehmende Tendenz zur Akzeptanz entsprechender Maßnahmen zu beobachten. So formulierten z. B. Russland und Venezuela, zunächst ausgesprochene Gegner militärischer Maßnahmen gegen den Willen der syrischen Regierung, ihre Kritik am Vorgehen der internationalen Koalition ab November 2015 weniger explizit. Im Vergleich mit früheren Fällen kann hier also prinzipiell festgestellt werden, dass exterritoriale militärische Aktivitäten gegen den Willen des Territorialstaats von dritter Seite nur auffallend geringfügig kritisiert wurden. So mag das Ausmaß der Krise ein besonderes konsensförderndes Moment, einen geteilten politischen Willen der Staatengemeinschaft zur Bekämpfung des ISIL hervorgebracht haben, welcher den Gebrauch militärischer Mittel einschloss. b) Vorherrschen unbestimmter Erklärungen Bemerkenswert ist aber, dass die hierfür maßgeblichen Erklärungen dezidierte Stellungnahmen zu Rechtsgrund und Umfang militärischer Maßnahmen in Syrien ohne oder gegen den Willen der Regierung vermissen lassen. Sie dürfen daher in weiten Teilen als unbestimmt beschrieben werden. Dies ist gerade mit Blick auf die weitgehende Hinnahme militärischer Maßnahmen auffallend, welche eine steigende Akzeptanz des unwilling or unableStandards indizieren könnte. Zu beachten ist aber, dass es sich hierbei um ein recht spezifisches Rechtfertigungsmodell handelt, das – abgesehen von hierauf explizit rekurrierenden Staaten – drittseitig so gut wie nicht rezipiert wurde. Und selbst wenn man die Anforderungen an sprachliche Präzision an dieser Stelle nicht allzu hoch anlegen wollte, fällt doch auf, dass in den herangezogenen Diskussionen schon das Selbstverteidigungsrecht vergleichsweise selten391 zur Sprache kam. Nicht zuletzt wurde teils alternativ, insofern auf humanitäre Missstände oder eine völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit der an den Taten des ISIL Beteiligten hingewiesen wurde, ein Vorgehen im Sinne des militärischen Menschenrechtsschutzes insinuiert,392 oder aber die 391  Vgl. nur die zahlreichen Stellungnahmen zum militärischen Vorgehen Israels im Libanon, S. 281 ff., 303 f. 392  Insb. der Einsatz von Chemie-Waffen im Syrien-Konflikt hat zu einer Erweiterung des Spektrums möglicher Interventionsgrundlagen beigetragen, siehe mit ei-

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Resolutionspraxis des Sicherheitsrats als normativer Rahmen der Terrorismusbekämpfung ausgewiesen.393 c) Anmerkung zu den zentralen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats Abschließend ist damit auf die hier maßgeblichen Sicherheitsratsresolutionen und ihre etwaig legitimatorische Wirkung für den Einsatz militärischer Gewalt zurückzukommen. Zentral sind dabei die in Res. 2170 (2014) und in Res. 2249 (2015) an die Staaten gerichteten Aufforderungen, im Einklang mit den aus Res. 1373 (2001) folgenden Verpflichtungen zusammenzuarbeiten, und alle notwendigen und geeigneten Maßnahmen „in accordance with their obligations under international law to counter incitement of terrorist acts motivated by extremism and intolerace […]“ zu ergreifen,394 bzw. „to take all necessary measures, in compliance with international law, in particular with the United Nations Charter, […] on the territory under the control of ISIL […] in Syria and Iraq, to redouble and coordinate their efforts to prevent and suppress terrorist acts […] and to eradicate the safe haven they have established over significant parts of Iraq and Syria“.395

Zunächst erwähnen beide Resolutionen das Selbstverteidigungsrecht nicht,396 woran auch die jeweils anfängliche Bekräftigung von Res. 1373 (2001) in der Präambel nichts ändert. Weiterhin wurde von O. Corten bemerkt, dass der Sicherheitsrat die Aktivitäten des ISIL weniger als Aggression oder bewaffneten Angriff bezeichnete, sondern viel eher von einer Gefahr für den internationalen Frieden ausging und zugleich zur Achtung der nem Überblick de Guttry, AVR 56 (2018), S. 472 ff. Vgl. weiterhin die Doha Declaration aus dem Jahr 2003, hierzu bereits S. 323 f., oder eine Erklärung Litauens, UN-Sicherheitsrat, 70th Year, 7527th Meeting: 30.9.2015, UN-Dok. S/PV.7527, S. 14. Daneben hat etwa Dänemark mit Blick auf die Taten des ISIL die responsibility to protect ins Spiel gebracht, 69th Year, 7272nd Meeting: 24.9.2014, UN-Dok. S/PV.7272, S. 33 393  Siehe bspw. die besagte Erklärung Litauens, UN-Sicherheitsrat, ebd., UNDok. S/PV.7527, S. 15; i. Ü. passim. 394  UN-Sicherheitsrat, Res.  2170 (2014), 15.8.2014, UN-Dok. S/RES/2170 (2014), Ziff. 5 und 6. 395  UN-Sicherheitsrat, Res.  2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), Ziff. 5; entsprechend auch Res. 2254 (2015), 18.12.2015, UN-Dok. S/ RES/2254 (2015), Ziff. 8. 396  So auch Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (886) und Marxsen/Peters, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 1 (7). Murray/O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (337) gehen hingegen davon aus, dass der UN-Sicherheitsrat mit Res. 2249 (2015) den Staaten einen weitgehenden Rekurs auf Art. 51 UNCh gewährt habe.



B. Reaktionen der Staatengemeinschaft329

Souveränität und territorialen Integrität Syriens mahnte.397 Zwar wurde mit der Aufforderung zur Beseitigung sicherer Zufluchtsorte durchaus auf Kon­ stellationen Bezug genommen, die mit dem unwilling or unable-Standard assoziiert werden.398 Doch angesichts der Betonung in beiden Resolutionen, dass die fraglichen Maßnahmen im Einklang mit völkerrechtlichen Verpflichtungen399 bzw. unter Einhaltung des Völkerrechts bei besonderer Hervorhebung der UN-Charta400 zu ergreifen seien, und eingedenk des Umstands, dass Kap. VII UNCh in Res. 2249 (2015) nicht zur Anwendung gebracht wurde, wird davon auszugehen sein, dass sich diese auch nur im Rahmen der bestehenden Regeln vollziehen sollten.401 Für den Rückgriff auf militärische Gewalt bedeutet das, abgesehen von der Intervention auf Einladung, einen 397  Corten, ebd., S. 886 und m. w. N.; umfangreich auch ders., LJIL 29 (2016), S. 777 (789–791). 398  Siehe insofern die Erwägung bei Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (57 f.), dass sich der Verweis auf die Beseitigung sicherer Zufluchtsorte als Hinweis auf die safe haven-/safe harbour-Doktrin bzw. auf den unwilling or unable-Standard verstanden werden könnte, a. a. O. wird dies jedoch nur unter Art. 39 UNCh verhandelt. 399  UN-Sicherheitsrat, Res. 2170 (2014), 15.8.2014, UN-Dok. S/RES/2170 (2014), Ziff. 6. 400  UN-Sicherheitsrat, Res. 2249 (2015), 20.11.2015, UN-Dok. S/RES/2249 (2015), Ziff. 5. 401  Nach Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (888 f.), wonach Res. 2249 (2015) nicht als eigenständige Rechtsgrundlage in Betracht kommt; so auch de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (106 f.); ferner Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (539 f.) unter Berücksichtigung der Resolutionspraxis des Sicherheitsrats während den Krisen in Korea, Kuwait und Libyen, z. B.: UN-Sicherheitsrat, Res. 84 (1950), 7.7.1950, UN-Dok. S/RES/84 (1950), Ziff. 3: „The Security Council […] recommends that all Members providing military forces and other assistance pursuant to the aforesaid Security Council resolutions make such forces and other assistance available to a unified command under the [USA]“, ferner Res. 678 (1990), 29.11.1990, UN-Dok. S/RES/678 (1990), Ziff. 2 sowie Res. 1973 (2011), 17.3.2011, UN-Dok. S/ RES/1973 (2011), Ziff. 4, 8 zur Autorisierung der Ergreifung „aller notwendigen Mittel bzw. Maßnahmen“ im Anwendungsbereich von Kap. VII UNCh. In Orientierung am Wortlaut ebenfalls Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (8 f.), der gegen eine implizite Autorisierung zum Einsatz militärischer Gewalt anführt, dass gerade der vorliegende Aufruf zum Tätigwerden eine Rechtsgrundlage voraussetzt, die sich aus einer Autorisierung ergeben könnte, nicht jedoch aus einem hiervon zu unterscheidenden Aufruf. In diesem Sinne auch Payandeh/Sauer, ZRP 2016, S. 34 (34), dabei mit dem Hinweis, dass der Sicherheitsrat Worte wie „authorizes“ oder „decides“ nicht verwendet habe, sondern nur „calls upon“; letzteres auch bei Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (75) und Peters, ZaöRV 79 (2019), S. 635 (640); siehe auch O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 174 (211, 227) und Urs, ZaöRV 77 (2017), S. 31 (33); Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (83, 94); dass gewaltsame Maßnahmen zumindest im Einzelfall nicht autorisiert wurden, nimmt auch Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), ebd., S. 90 (150) an. Anders, wenngleich eine Ambiguität der Resolution annehmend, Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (798).

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

äußerst allgemeinen und für „neuere“ Fragen kaum aussagekräftigen Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht.402 Letztlich wurden damit die sich um den unwilling or unable-Standard rankenden Unklarheiten nur perpetuiert.

C. Ergebnis Bevor eine abschließende Bewertung der Frage vorgenommen werden kann, ob der unwilling or unable-Standard völkerrechtliche Geltung beansprucht (III.), sollen zunächst noch einige Grundlinien hervorgehoben werden, die sich im Vorangegangenen gezeigt haben: Prägend ist insofern ein mit der Zeit zunehmender Rekurs auf den fraglichen Standard (I.); dem steht jedoch eine auffallend unbestimmte staatengemeinschaftliche Rezeption gegenüber (II.).

I. Entwicklung: Zunehmender Gebrauch und rückläufige Kritik Der unwilling or unable-Standard beruht auf einer von vergleichsweise wenigen Staaten getragenen Praxis: Hierauf haben in bestimmten Situationen ausdrücklich oder implizit Australien, Belgien, Deutschland, Israel, Kanada, Russland, die Türkei und die USA zurückgegriffen. In den 1950er-Jahren fand der Standard noch keine nennenswerte Aufmerksamkeit. Dies änderte sich jedoch Ende der 1960er-Jahre mit diversen exterritorialen Maßnahmen Israels. Diese wurden bis zum Ende der 1980er-Jahre vom Sicherheitsrat i. d. R. als Völkerrechtsverstoß eingestuft, was – mit graduellen Abstufungen, sowie mit Ausnahme der USA – von der deutlichen Mehrzahl der Staaten geteilt wurde, die sich hierzu einließen. Ab den 1990er-Jahren wies der Sicherheitsrat dieses Vorgehen nun nicht mehr wie noch zuvor als völkerrechtswidrig aus. Zugleich differenzierte sich das staatengemeinschaftliche Stimmungsbild, wie z. B. die Reaktionen auf den Julikrieg (2006) zeigen, in denen neben den USA nun auch Australien, Dänemark, Kanada und das Vereinigte Königreich das Vorgehen Israels verstärkt stützten. Demgegenüber fasste sich der Großteil der Staatengemeinschaft zwar durchaus kritisch, im Fokus der hier überwiegend vermittelnden Ansichten stand jedoch weniger das prinzipielle Recht Israels zur Selbstverteidigung als seine (un-)verhältnismäßige Ausübung. Den in denselben Zeitraum fallenden militärischen Aktivitäten Russlands in Georgien oder der Türkei im Irak begegnete die Staatengemeinschaft hingegen mit auffallender Beteiligungslosigkeit. Dagegen rekurrierten zur Bekämpfung des ISIL schließlich nicht nur auffallend viele Staaten 402  Corten,

ebd., S. 888 f.



C. Ergebnis331

auf den unwilling or unable-Standard, v. a. sahen sich die in diesem Zusammenhang ergriffenen militärischen Maßnahmen einer vergleichsweise ausgesprochen geringfügigen Kritik ausgesetzt. Auf dieser Grundlage ließe sich für die Ergreifung militärischer Maßnahmen auf Grundlage des unwilling or unable-Standards eine Entwicklung skizzieren, an deren Anfang die raumübergreifende Annahme eines Völkerrechtsverstoßes stand, deren Gegenwart jedoch durch staatengemeinschaftliche Zurückhaltung bei abnehmender Kritik anlässlich ähnlich gelagerter Fälle geprägt wird.403

II. Konstante: Unbestimmtheit und Unklarheit Von hier aus wäre jedoch der Schluss auf eine verfestigte opinio iuris auf Grundlage einer umfassenden und repräsentativen Akzeptanz des unwilling or unable-Standards ebenso verfrüht wie die Annahme, hiermit sei der objektive Nachweis eines geteilten Begriffsverständnisses von Art. 51 UNCh dargetan.404 Denn insofern sich die skizzierte Entwicklung auf den zunehmenden Gebrauch des Standards bei gleichzeitig rückläufiger Kritik stützen wollte, beruhte sie auf einer doch vereinfachten Dichotomie, die der Bedeutung des Regelungsbereichs und den Unklarheiten in den Stellungnahmen der Staatengemeinschaft nur schwerlich Rechnung trüge. So wurde innerhalb jeder Fallgruppe gezeigt, dass von dritter Seite eine explizit am unwilling or unable-Standard ausgerichtete Auseinandersetzung mit den fraglichen Maßnahmen nur in den seltensten Fällen erfolgte: Präsenter sind hingegen recht grundsätzliche und allgemein gehaltene Bewertungen. Während dabei drittseitige Befürwortungen ebenso wenig Einordnungsschwierigkeiten bereiten wie kategorische Ablehnungen, fällt dies für den dazwischenliegenden Raum schwerer, in dem sich mit Beginn der 1990erJahre vermittelnde Erklärungen im Gros bewegen: Einordnende Klarheit mögen hier allenfalls gewisse Indizien bieten; so könnte bspw. die der Verhältnismäßigkeit vom Ende der 1990er- bis zur Mitte der 2000er-Jahre entgegengebrachte Aufmerksamkeit insofern den Ausschlag für die Akzeptanz des Standards geben, als dabei eben das „Ob“ des Selbstverteidigungsrechts in weiten Teilen nicht mehr in Frage zu stehen schien.405 Außer Acht kann dann aber auch nicht gelassen werden, dass zu dieser Zeit etwa das israelische Vorgehen im Libanon überwiegend als unverhältnismäßig kritisiert wurde, was im selben Zuge – bei aller Vorsicht vor Übertragungen von Wer403  Vgl. auch die einen ähnlichen Trend beschreibende Bestandsaufnahme von Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (149–154), wenngleich mit anderem Ergebnis. 404  Siehe insofern die Maßstabsbildung auf S. 272 ff. 405  Vgl. statt vieler etwa Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (87).

332

3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

tungen aus anderen Bereichen des Völkerrechts406 – zumindest Skepsis gegenüber einer im Sinne des unwilling or unable-Standards einhergehenden Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts hervorrufen könnte.407 Sicherlich kann nun schwerlich von der Hand gewiesen werden, dass spätestens das in den 2010er-Jahren artikulierte „Verständnis“ für die gegen den ISIL getroffenen militärischen Maßnahmen ohne territorialstaatliche Zustimmung durchaus auf eine entsprechende Akzeptanz hindeutet. Dagegen ließe sich jedoch wieder einwenden, dass in den begleitenden Debatten das Selbstverteidigungsrecht – immerhin der hier entscheidende dogmatische Rahmen – deutlich seltener zur Sprache kam als in den vorigen Fällen.408 Hebt man danach die wohl global geteilte Ansicht hervor, dass die durch den ISIL geschaffene Bedrohungslage beispielloser Art ist, erklärt sich das „Verständnis“ dann auch eher vor dem Hintergrund eines ausnahmsweise geteilten politischen Willens zur Ergreifung militärischer Maßnahmen, dessen normative Verall­ gemeinerungsfähigkeit für das Selbstverteidigungsrecht nur begrenzt sein dürfte. In der Rezeption des unwilling or unable-Standards besteht m. a. W. also keine fallübergreifende Klarheit. Vorherrschend ist vielmehr eine enorme Unbestimmtheit, welche das Fallmaterial einer gesteigerten Interpretationsund Deutungsoffenheit preisgibt.

III. Bewertung Die konstatierte Unbestimmtheit der staatengemeinschaftlichen Rezeption des unwilling or unable-Standards und die hiermit einhergehende Deutungsoffenheit hat auch in der Literatur entsprechende Differenzen aufgeworfen. So wird in Teilen das alleinige Bestehen der skizzierten Interventions­ praxis, teils ohne eingehendere Problematisierung, für hinreichend angesehen.409 Andere erkennen das Bestehen gewisser Unklarheiten an, messen 406  Vgl. im Allg. etwa Starski, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind? (2020), S. 237 (245 ff.) oder Schiffbauer, in Kulick/Goldhammer (Hrsg.), ebd., S.  167 (173 f.). Schweiger, LJIL 32 (2019), S. 741 (748, 750) konstatiert i. Ü. m. w. N. einen Fokus in Sicherheitsratsdebatten auf Gesichtspunkte des ius in bello. 407  Implizit angelehnt an Kretzmer, EJIL 24 (2013), S. 235 (266) und Nolte, EJIL 24 (2013), S. 283 (287). 408  Vgl. auch Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (785). 409  Etwa de Souza, Can. YB Int. L. 53 (2015), S. 202 (229–232, 242), wobei noch eine Abstützung durch vom Sicherheitsrat formulierte Kooperationspflichten erfolgt. Ferner wohl Henriksen, JCSL 19 (2014), S. 211 (228 f., 233); Wood, ZaöRV 77 (2017), S. 75 (76); Keinan, ZaöRV 77 (2017), S. 57 (57) mit Verweis auf eine den Standard stützende jahrzehntelange Praxis, jedoch unklar, ob es sich um eine Norm de lege lata oder de lege ferenda handelt; mit einem sehr allg. Verweis auf das Völkergewohnheitsrecht Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 (11). Insg. zuversichtlich zum



C. Ergebnis333

jedoch z. B. der einstimmigen Annahme von Res. 2249 (2015) eine die Praxis konsolidierende und den fraglichen Standard bestätigende Wirkung bei.410 Häufiger wird in dieser Richtung jedoch die drittseitige Abwesenheit elaborierter Einlassungen positiv bewertet, nämlich als stillschweigende Einwilligung oder als Duldung der besagten militärischen Maßnahmen.411 Auf der anderen Seite wird – auch vor dem Hintergrund der Stellung von Art. 2 Nr. 4 UNCh als ius cogens412 – von einer zu geringfügigen413 und inkonsistenten414 Ingebrauchnahme des Standards ausgegangen und auf kritische Stellungnahmen diverser Staaten hingewiesen:415 Hierbei sticht das 120 Ausreichen der Staatenpraxis wohl Ackermann/Fenrich, ZaöRV 77 (2017), S. 745 (796 ff., 804 f.). 410  So Scharf, Case W. Res. JIL 48 (2016), S. 15 (66 f.; siehe auch S. 64 f.). Ausdrücklich und in nicht zutreffender Weise wird dabei Bezug genommen (unter Fn. 277) auf ILA, London Conference (2000), Committee on Formation of Customary (General) International Law: Final Report, S. 64 unter Fn. 177 (abrufbar unter: http:// www.ila-hq.org/index.php/committees). Dort wird die besagte Klarifizierungsfunktion lediglich (zudem unter recht engen Voraussetzungen) Resolutionen der Generalversammlung zugeschrieben, siehe Teil 5 des Berichts (S. 54 ff.): The Role of Resolutions of the UN General Assembly and of International Conferences in the Formation of Customary International Law, lit. A (S. 55 ff.), ferner auch unter Ziff. 32 desselben Berichts (S. 61 ff.) passim. Von Resolutionen des Sicherheitsrats ist hier, anders als bei Scharf, ebd., S. 66 f., mit keinem Wort die Rede. 411  Siehe weitgehend etwa Tams, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 90 (149–154, 163, 167); ebenfalls, wenngleich im Hinblick auf die Fälle der russischen Intervention in Georgien sowie der türkischen Intervention im Irak, Reinold, AJIL 105 (2011), S. 244 (257, 272 sowie 285). Hier auch, mit dem Verweis auf einen „Wandel in der Akzeptanz von Selbstverteidigungsmaßnahmen“, Weigelt, Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2016), S. 70 und f. So wohl auch Hakimi, Int. L. Stud. 91 (2015), S. 1 (7, 14, 31). 412  O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (226, 249 f.). 413  Siehe etwa Gillich, AVR 55 (2017), S. 43 (56 und ff.), auch unter Berücksichtigung der Aktivierung der Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV; Payandeh/ Sauer, ZRP 2016, S. 34 (35 f.); O’Connell, ebd., S. 226 hält mit Blick auf die Rechtfertigung militärischer Maßnahmen auf Grundlage des unwilling or unable-Standards gar: „The case for opinio iuris is almost non-existent.“; entsprechend dies., The Art of Law in the International Community (2019), S. 185. Ferner Urs, ZaöRV 77 (2017), S. 31 (31); Tzouvala, AJIL Unbound 109 (2015–2016), S. 266 (268). 414  Etwa Finke, AVR 55 (2017), S. 1 (32); siehe mit einem Überblick insofern auch Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (487 ff.); Corten, LJIL 29 (2016), S. 777 (780 ff., 797 f.); vgl. Tzouvala, ebd., S. 268. 415  Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (633  ff.); vgl. auch Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (94 ff.). Siehe mit einem Fokus auf den lateinamerikanischen Raum Olabuenaga, An Insider’s View of the Life-Cycle of SelfDefense Reports by UN Member States, Just Security: 2.4.2019 m. w. N., darunter eine über die Zunahme von Berichten i. S. v. Art. 51 S. 2 UNCh besorgte Stellung-

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3. Kap.: Völkerrechtliche Geltung des unwilling or unable-Standards?

Staaten umfassende Non-Aligned Movement hervor, das sich noch 2016 für eine restriktive Lesart von Art. 51 UNCh ausgesprochen hat.416 Strukturell tiefer geht daneben der Vorschlag diverser flexibel wirkender Faktoren zur Feststellung einer durch Schweigen bedingten gewohnheitsrechtlichen Normenmodifikation von P. Starski: Danach könne mangels konsistenter Staatenpraxis und hinreichend bestimmter Legalitätsbehauptungen ein Zustand normativer Volatilität nicht festgestellt werden, der gleichermaßen einen Protest zur Unterbindung dieses Prozesses vorausgesetzt, und umgekehrt ein bloßes Schweigen als diesbezügliche Zustimmung hätte genügen lassen.417 Fehlt es m. a. W. an einer Obliegenheit, sich zu artikulieren, ließe sich aus dem beschriebenen Schweigen in der Staatengemeinschaft keine stillschweigende Zustimmung für die vorliegenden Interventionen ableiten.418 Dazu passt schließlich auch, dass selbst manche Befürworter:innen des unwilling or unable-Standards einräumen, dass der positive Nachweis der opinio iuris nahme El Salvadors im Namen der CELAC (abrufbar unter: https://enaun.cancilleria. gob.ar/en/measures-eliminate-international-terrorism). 416  Hierzu S. 320. Brunée/Toope, ICLQ 67 (2018), S. 263 (277); Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (897); ders., ZaöRV 77 (2017), S. 15 (17); Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (88). O’Connell, AJIL 107 (2013), S. 380 (384) hält dagegen fest, dass die Staaten ein Recht zu militärischen Interventionen im Sinne des unwilling or unableStandards schlicht nicht anerkannt hätten. I. E. schließlich auch Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (546), jedoch ohne vertiefte Auseinandersetzung mit der Staatenpraxis. Relativierend zum Verweis auf das NAM de Wet, LJIL 32 (2019), S. 91 (101 f.), insofern sich bspw. auch Mitglieder hiervon, wie Jordanien, Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate, an den Militärschlägen in Syrien beteiligten. 417  Starski, DÖV 2018, S. 85 (96 und 88 f.). Mit normativer Volatilität ist letztlich derjenige Zustand gemeint, in welchem eine eigentlich normwidrige Übung ihrerseits zur Grundlage normativer Änderung wird (ebd., S. 88 f.). Als Kriterien des im Gewohnheitsrecht häufig nachzuvollziehenden Schweigens Dritter schlägt P. Starski folgende Kriterien vor: die Beschaffenheit der fraglichen Praxis; primäre Rechtsbehauptungen handelnder Staaten sowie sekundäre Rechtsbehauptungen der Nichtagierenden; eventuell die normative Betroffenheit eines Interesses handelnder Staaten oder eine besondere Betroffenheit des schweigenden Staats; der prinzipielle, durch Kenntnis und Fähigkeit zur Reaktion umrissene faktische Bereich entsprechender Erwartungshaltungen; das Zeitmoment; u. U. – jedoch eng umgrenzt – besonders wertungsrelevante Beziehungen zwischen agierendem und schweigendem Staat sowie die hier problematische Einordnung des ius cogens (so ebd., S. 89–96). Für eine Neuausrichtung des ius cogens verlangt P. Starski nun ein Moment „kollektiver Gesetzgebung“ (ebd., S. 96). Umfassend auch dies., Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 14–27 und passim. 418  Starski, DÖV 2018, S. 85 (87 f., 89, 96). Mit ILC-Concl. 10 Abs. 3 (Cust. IL) könnte also gesagt werden, dass sich andere Staaten nicht in einer Reaktionsposition befanden und die maßgeblichen Umstände eine gewisse Reaktion nicht erforderten. Ferner Schweiger, LJIL 32 (2019), S. 741 (743, 746 f., 450 ff., 453 f.); vgl. i. E. Couzigou, Geo., Hist. & Int. Rel. 9:2 (2017), S. 80 (94 ff.).



C. Ergebnis335

bisher noch nicht gelungen sei, es also eher um eine idealtypische Normkonstruktion gehe,419 oder dass hiermit – in einem ähnlichen Sinne, nur allgemeiner – eine größere Debatte angestoßen werden solle, um den Sicherheitsinteressen gefährdeter Staaten Rechnung tragen zu können.420 Unter diesem Eindruck, sowie unter Berücksichtigung der bereits im Fallmaterial aufgezeigten staatenpraktischen Unklarheiten,421 kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass der unwilling or unable-Standard auf eine umfassende und repräsentative Akzeptanz bei nur wenigen bis keinen Einwänden gestoßen wäre,422 die seine Geltung – entweder als Zurechnungsregel oder als zurechnungsunabhängige territorialstaatliche Duldungspflicht – auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage ausweisen würde (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt).423 Die Unklarheiten, die nicht nur den Rekurs auf den Standard selbst, sondern auch seine Rezeption begleiten, erschweren es zuletzt, von einer konsistenten und verbreiteten Übung zu sprechen, welche den objektiven Nachweis einer veränderten Auslegung von Art. 51 UNCh erbringen könnte (Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV).424 Es kann folglich nicht davon ausgegangen werden, dass der unwilling or unable-Standard völkerrechtliche Geltung beansprucht.

419  Deeks, VJIL 52 (2012), S. 483 (503: Fn. 70, i. Ü. passim); ähnlich Couzigou, ZaöRV 77 (2017), S. 53 (53); derartige Schwierigkeiten beobachtet auch Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 332 f. 420  Bethlehem, AJIL 106 (2012), S. 770 (773 f.). Pointiert krit. Glennon, AJIL 107 (2013), S. 378 ff.; zu problematischen Auswirkungen der Vorschläge auf das humanitäre Völkerrecht, Rona/Wala, AJIL 107 (2013), S. 386 ff. 421  S. 150 ff. und der Rahmen des 2. Kapitels. 422  Vgl. ILC, Draft conclusions on identif. of customary international law [Comm.] (2018), Art. 9 Ziff. 5. 423  Zum Maßstab S. 272 ff. 424  Zum Maßstab S. 275 ff.

Schlussfolgerung Der unwilling or unable-Standard bietet ein Modell zur Rechtfertigung exterritorialer militärischer Maßnahmen gegen nicht-staatliche Akteure, das sich durch eine außerordentliche konzeptionelle Weite1 auszeichnet und dabei andere in dieser Hinsicht bereits diskutierte Ansätze – wie z. B. den harbour or support- und den ungoverned space-Standard – über sein alternatives Begriffspaar inkorporiert.2 Auf Grundlage der herangezogenen Praxis3 ist anzunehmen, dass die Begriffe des Unwillens und der Unfähigkeit insofern eine funktional einheit­ liche Regel darstellen, als die Bejahung auch nur einer dieser Alternativen grundsätzlich zum Überwiegen des Selbstverteidigungsinteresses (Art. 51 UNCh) gegenüber dem aufenthaltsstaatlichen Interesse auf Achtung der ter-

1  Normbildend Deeks, VJIL 52 (2012), S.  483 (506  ff.); i.  Ü. Hakimi/Cogan, EJIL 27 (2016), S. 257 (281); vgl. prinzipiell auch Henderson, The Use of Force and International Law (2018), S. 331 f. O’Connell, The Art of Law in the International Community (2019), S. 184 konstatiert eine „utter vagueness“, die jegliche (normative) Zurückhaltung im Regelungsregime des Selbstverteidigungsrechts unterminiere. 2  So auch Hakimi, Int. L. Stud. 91 (2015), S. 1 (8 ff., 12 f., 15 f.). Partiell anders Starski, Silence within the Process of Normative Change, MPIL Research Paper Ser. 2016–20, S. 39 (und 44), wobei eine Unterscheidung zwischen einem ungoverned space- und einem unwilling or unable-Argument angesichts einer Erklärung gezogen wird, derzufolge sich das Engagement Belgiens in Syrien nur auf Gebiete beziehen sollte, die unter der Kontrolle des ISIL und anderer terroristischer Gruppierungen standen (vgl. S. 125 f. zuvor). Siehe auch Bernstorff, ESIL Reflections Vol. 5 Iss. 7, 11.7.2016, S. 3 f., der in der Erklärung Deutschlands (vgl. S. 124 f.) eine gewisse Abneigung zur Befürwortung des unwilling or unable-Standards erkennt. In einem ganz anderen Sinne wiederum, dabei die mit der belgischen vglb. Erklärung Deutschlands in Bezug nehmend, Corten, in: Ruys et al. (Hrsg.), The Use of Force (2018), S. 873 (881): Dieser sieht hierin ein „limited sovereignty-Argument“, das gar über den unwilling or unable-Standard hinauszugehen scheine, „the latter being based to some extent on a certain idea of a responsibility by the state concerned (this state having failed to execute its obligations to put an end to the activities of a terrorist group on its territory).“ Mit Blick auf die Ingebrauchnahme des unwilling or unable-Standards wird indes davon auszugehen sein, dass er sich derartigen Eingrenzungen entzieht: Einschränkungen der effektiven Staatsgewalt und Abwesenheit der Regierungsautorität erweisen sich dabei als geradezu typisch, S. 152 ff. zuvor. Zu den erwähnten anderen „Standards“ etwa S. 150 f. sowie S. 158 ff. 3  Siehe S.  97 ff.

Schlussfolgerung337

ritorialen Integrität (Art. 2 Nr. 4 UNCh) führen soll; in diesem Sinne muss es sich also um einen „einheitlichen“ Standard handeln.4 Dabei birgt die auf der Begriffsebene zu konstatierende Weite5 Probleme: Denn es sind nicht nur mannigfaltige Ausprägungen eines territorialstaat­ lichen Unwillens zur Terrorismusbekämpfung denkbar; vielmehr sind wohl unzählige Variationen vorstellbar, in denen es zu einem Zusammenbruch oder zu Schwächungen der effektiven Staatsgewalt kommen kann (Unfähigkeit). Anhaltspunkte für Restriktionen sind in der ausgewiesenen Staatenpraxis6 hingegen kaum auffindbar. Ganz im Gegenteil versinnbildlicht diese die ausgreifenden Tendenzen des unwilling or unable-Standards,7 welcher in recht einseitiger Weise den Interessen gefährdeter Staaten Rechnung trägt8 und 4  Siehe jedoch eine Anregung von Keinan, ZaöRV 77 (2017), S. 57 (59), demzufolge es schwer einzusehen sei, warum (zur Zurückweisung der fraglichen Angriffe) unwillige Staaten genauso zu behandeln seien wie unfähige Staaten. Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Einerseits wird sich die Frage nach einer Zurechnungsmöglichkeit in Fällen staatlichen Unwillens stets dringender stellen als in Fällen staatlicher Unfähigkeit (vgl. S. 156 ff. zuvor, passim). Darüber hinaus wird sich etwa ein zur Terrorismusbekämpfung nicht gewillter Staat eher völkerrechtswidrig verhalten als ein hierzu schlicht unfähiger Staat (S. 241 ff.). Aus der Sicht des gefährdeten Staats macht dies keinen Unterschied, wenn er sich einem bewaffneten Angriff nichtstaatlicher Akteure (vgl. S. 191 ff.) ausgesetzt sieht. Praktisch wird der Standard jedoch als aus zwei Elementen bestehende Einheit, mitunter auch kumulativ, in Bezug genommen; hierbei können schließlich die Grenzen zwischen Unwillen und Unfähigkeit verschwimmen (vgl. S. 150 ff., 280 ff.). Schließlich zeichnet sich der Standard insg. durch seine Zurechnungsunterschwelligkeit aus (vgl. S. 188 f.). Für eine eindeutigere Differenzierung auch Akande/Liefländer, AJIL 107 (2013), S. 563 (563 f.), welche die sog. Bethlehem-Prinzipien v. a. für nicht hinreichend präzise halten, den unwilling or unable-Standard aber nicht abzulehnen scheinen (vgl. ebd., S. 566, 568). 5  Hakimi, Int. L. Stud. 91 (2015), S. 1 (12, 15); Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (545 f.); Williams, UNSW Law J. 36 (2013), S. 619 (631 ff.). 6  Siehe S.  97 ff. 7  Vgl. etwa die zielgerichteten Luftschläge des russischen Militärs auf Georgien (S. 137 ff.) mit der umfassenden, aber kurzen Operation Sun der Türkei im Irak (S. 112  f.) oder mit der langjährigen militärischen Präsenz Israels im Libanon (S.  100 ff.). 8  Vgl. auch die Kritik bei Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (492, 498 f.). Dagegen exemplarisch Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 (11), wobei nach einer apodiktischen Verortung des unwilling or unable-Standards im Völkergewohnheitsrecht festgestellt wird: „States, in order to adequately defend themselves, must be able to take the fight to the terrorist before the terrorist takes the fight to it [sic].“ Keinesfalls stellt der Standard aber einen Mittelweg zwischen den Interessen der im Territorial- bzw. gefährdeten Staat lebenden Personen (Keinan, ZaöRV 77 (2017), S. 57 (58 f.)) oder zwischen dem Interesse auf Eindämmung staatlicher Gewalt gegenüber dem u. U. bestehenden Erfordernis nach gezielten militärischen Maßnahmen (Kretzmer, EJIL 24

338 Schlussfolgerung

damit – angesichts der einseitigen Bestimmungsmöglichkeit über das Vorliegen seiner Voraussetzungen – ein nicht unerhebliches Missbrauchspotential in sich trägt.9 Unterstrichen wird dies durch eine – global betrachtet – räumlich limitierte Ingebrauchnahme des Standards,10 welche bestenfalls normtheoretisch inkonsequent erscheinen mag,11 auf der anderen Seite aber auch durchaus als (2013), S. 235 (237)) dar. Eine in ihrer Weite über den unwilling or unable-Standard hinausgehende normative Konzeption steht schwerlich zur Debatte. 9  Vgl. letztlich Ahmed, J. Int. L. & Int. R. 9 (2013), S. 1 (14); vgl. Starski, ebd., S.  500 f.; vgl. O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (224, 249 f., 254). 10  Es fällt auf, dass der Standard im nordamerikanischen, australischen, ostasia­ tischen, nord-, mittel- und südeuropäischen Raum nicht angewendet wurde, vgl. auch Tzouvala, AJIL Unbound 109 (2015–2016), S. 266 (267). Es mutet daher zynisch an, wenn ein vorm. Berater des US-Außenministeriums erklärt: „There is no principle of international law that limits a state’s ability to act in self-defense to a single territory, when the threat comes from areas outside that territory as well. […] I am not suggesting that, because we remain in a state of armed conflict with al Qaida, the United States is free to use military force against al Qaida in any state where an al Qaida terrorist may seek shelter. The U.S. military does not plan to shoot terrorists on the streets of London. As a practical matter, though, a state must be responsible for preventing terrorists from using its territory as a base for launching attacks. And, as a legal matter, where a state is unwilling or unable to do so, it may be lawful for the targeted state to use military force in self-defense to address that threat“, Bellinger III, Legal Issues in the War on Terrorism (Vortrag v. 31.10.2006) [Hervorh. P. L.]. So auch Bellinger, Duke JCIL 20 (2010), S. 331 (335): Hier wird die Berechtigung der USA unterstrichen, überall auf der Welt gewaltsam gegen nicht-staatliche Akteure vorzugehen, in denen die USA bedroht werden. Abgesehen von Afghanistan, Jemen und Somalia, so heißt es a. a. O., könnten jedoch alle übrigen Staaten das Problem durchaus selbst eindämmen. Daher gingen die USA nicht davon aus, „it is at war with al Qaeda in London and can shoot people on the streets of London“ (ebd. [Hervorh. P. L.]). Dies wird jedoch durch das antagonistische Wirken von Art. 51 UNCh und Art. 2 Nr. 4 UNCh, wie J. B. Bellinger III meint, nicht erklärt, denn es mag ja durchaus sein, dass sich die Fähigkeit bzw. der Wille der fraglichen Staaten zur Terrorismusbekämpfung in Zukunft ändert. Insofern hat Christakis, ZaöRV 77 (2017), S. 19 (20) darauf hingewiesen, dass auch westliche Regierungen oft auf die Dauer und Schwie­rigkeiten hinwiesen, terroristische Gefahren zu elimi­nieren. Krit. zur Einseitigkeit des Standards insofern auch O’Connell, ebd., S. 250. 11  Im Anwendungsbereich des unwilling or unable-Standards deutet sich insofern eine gewisse Asymmetrie an, welche die Normkonzeption rechtstheoretisch erschweren mag: Siehe z. B. den Hinweis von Hartwig, ZaöRV 77 (2017), S. 43 (45), dass auch im Verhältnis von stärkeren und schwächeren Staaten das Recht für alle gleich sein müsse; ganz grundsätzlich zum Erfordernis der Allgemeinheit von Rechtsquellen Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, § 6 Rn. 219, 220 f. sowie § 4 Rn. 113, 121. Zur Hervorhebung der Position „schwacher Staaten“ Ahmed, J. Int. L. & Int. R. 9 (2013), S. 1 ff., passim. Andeutungshalber auch Tladi, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 14 (80).

Schlussfolgerung339

Versuch verstanden werden kann, entlang einer differenzierenden Staaten­ typisierung12 zu operieren. 12  Dies zeigen insb. die souveränitätsorientierten Rechtsfolgenansätze (hierzu unter S. 262 ff.). Dabei mag die Rede vom unwilligen bzw. unfähigen Staat tiefergehende Assoziationen wecken. Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2. Aufl. 2012, § 38 Rn. 112 stellen etwa neben den unfähigen failed state „den zur effektiven Terrorbekämpfung unwilligen ‚rogue state‘ “. Letzterer hat einen rechtsphilosophischen Widerhall in der Konzeption sog. „Schurkenstaaten“ gefunden: Nach Rawls, Das Recht der Völker (1999 [2002]) sind das – in Abgrenzung vom Ideal liberal-demokratischer und achtbarer Völker und neben belasteten Gesellschaften (ebd., S. 2 f.) – Regime, die „es ablehnen, sich an ein vernünftiges Recht der Völker zu halten“ und den Krieg als legitimes Mittel ihrer rationalen Interessenverwirklichung ansehen (ebd., S. 114). Solche können danach in nicht akzeptabler Weise als ordentliche Mitglieder einer vernünftigen Völkergemeinschaft erscheinen (vgl. ebd., S. 2). Dem gesellschaftlichen Idealtypus wird dabei ein Recht zur Kriegsführung gegen Schurkenstaaten nur für den Fall zugestanden, wenn eine expansionistische Politik letzterer sie ernsthaft gefährdet – dies unter Einschränkung der Erfordernisse der Aufrichtigkeit und hinreichenden Begründung (ebd., S. 114 f.). Prononciert wurde die Konzeption sog. Schurkenstaaten von Derrida, Das Recht des Stärkeren, in: Schurken (2006), S. 15 ff. kritisiert: Im rogue state zeige sich eine der Tradition des Rechts des Stärkeren entspringende ausgrenzende Stigmatisierung (ebd., S. 132 f. und 135), die sich in einer Art. 51 UNCh unterstellten Machtpolitik im Sinne Schmitt’scher Souveränität entfalte (ebd., S. 140): In einer entsprechenden Anmaßung derartiger souveräner Befugnisse bzw. souveräner Unilateralität müsse mithin ein Rechtsmissbrauch auf Seiten der gefährdeten Staaten liegen, der diese selbst als „schurkisch“ ausweise (ebd., S. 143 f. und 146). Der transnationale Terrorismus seit dem 11. September versinnbildliche jedoch, dass der Begriff vom Schurkenstaat an seine Grenzen gelangt sei: die Rückkopplung dieser Gefahren an den Territorialstaat über die Tatbestände des sponsoring oder harbouring erweise sich dabei als unzulänglicher Versuch, entsprechende Bedrohungen auf einen Staat zurückzuführen (ebd., S. 147–149). Nach dems, Die „Welt der kommenden Aufklärung“, in: Schurken (2006), S. 159 (209–211) sei damit eine triftige Ingebrauchnahme von Krieg und Terrorismus nicht mehr gewährleistet, der „Feind“ nicht mehr identifizierbar, sodass sich eine Gewalt ankündige, „die in deutlich höherem Maße selbstmörderisch und autoimmunitär toben wird denn je.“, ebd., S. 211. Zu erwähnen ist daneben die auch von J. Derrida rezipierte Abhandlung von Chomsky, War Against People, in: Profit Over People/War Against People (1999 [2017]), welcher in der Konzeption von (mit „Verbrecherstaaten“ nicht notwendigerweise identischen) „Schurkenstaaten“ ein politisches Kalkül mächtiger Staaten (insb. der USA) sieht, welche jedoch selbst für die Herrschaft der Gesetze Verachtung hegten, sodass sie sich gewissermaßen durch ihren Austritt aus der Rechtsunterworfenheit auszeichneten, ebd., S. 31 (und ff.), 35 ff., 50 sowie passim. Derartiges liegt im vorliegend rezipierten, Art. 51 UNCh betreffenden (dogmatischen) Diskurs zwar nicht auf der Hand. Umso politischer und ergebnisorientierter die Auslegung hier aber ausfällt, liegen entsprechende Assoziationen freilich nicht mehr fern. Krit. angedeutet wird besagte Typisierung auch von O’Connell, in: Peters/Marxsen (Hrsg.), Self-Defence against Non-State Actors (2019), S. 174 (250) im Verweis auf den britischen Diplomaten Robert Cooper, The new liberal imperialism, The Guar­ dian v. 7.4.2002, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/world/2002/apr/07/1, besonders prägnant dabei: „Among ourselves, we keep the law but when we are op-

340 Schlussfolgerung

Von der Staatenpraxis ausgehend erschienen hypothetisch fünf dogmatische Einordnungsmöglichkeiten des unwilling or unable-Standards diskutabel zu sein. Dabei wurden in Betracht gezogen: die Formulierung einer Zurechnungsregel,13 eine zurechnungsunabhängige territorialstaatliche Dul­ dungspflicht,14 ein Fall des völkerrechtlichen Notstands,15 das Recht der Gegenmaßnahmen16 sowie die gänzliche Herausnahme des Territorialstaats aus dem Schutzumfang des entsprechend modifizierungsbedürftigen völkerrechtlichen Gewaltverbots.17 Dabei schien die Formulierung einer an Art. 3 lit. g der Aggressionsdefinition angelehnten Zurechnungsregel – wenngleich hierauf staatenpraktisch kaum explizit abgestellt wurde – zumindest für gewisse Unwillenskonstella­ tionen anschlussfähig zu sein.18 Größere Hürden19 begegneten dagegen der – in der Praxis vergleichsweise häufiger anklingenden – Formulierung einer zurechnungsunabhängigen territorialstaatlichen Duldungspflicht, die sich auf dem Boden der völkerrechtlichen Vorkehrungen zur Terrorismusbekämpfung entfalten können müsste: Dass aber in der hier typischen Grundkonstellation20 das Interesse des unwilligen oder unfähigen Staates auf Achtung seiner territorialen Integrität hinter dem Selbstverteidigungsinteresse des gefährdeten Staates zurückzustehen hätte, kann dem völkervertragsrechtlichen Regelungsbestand auf universeller Ebene nicht entnommen werden.21 Ebenso wenig kann dies aus dem auf Grundlage der Resolutionspraxis des UN-Sicherheitsrats bestehenden Pflichtenprogramm zur Terrorismusbekämpfung abgeleitet werden: Hier bleibt nur die Möglichkeit einer Autorisierung militärischer Zwangsmaßnahmen (Art. 39 ff. UNCh) im Einzelfall.22 Die dogmatische Plausibilität dieses Erklärungsansatzes wird schließlich durch den Umstand gemindert, dass sich wohl nur der zur Terrorismusbekämpfung unwillige Staat erating in the jungle, we must also use the laws of the jungle.“ Mit krit. Anm. auch Martineau, LJIL 29 (2016), S. 95 (104 f.); ferner Tzouvala, AJIL ­ Unbound 109 (2015–2016), S. 266 (266–268, 270), die davon ausgeht, dass die unwilling or unable-Doktrin strukturell an „Zivilisationsabstufungen“ des (kolonialen) 19. Jhdt. erinnere, insofern sie Staaten über das Kriterium effektiver Staatlichkeit entgegen dem Grundsatz souveräner Staatengleichheit hierarchisiere. 13  Hierzu S.  156 ff. 14  Hierzu S.  189 ff. 15  Hierzu S.  244 ff. 16  Hierzu S.  261 f. 17  Hierzu S.  262 ff. 18  Hierzu S.  159 ff. 19  Hierzu S. 191 ff. und S. 206 ff. 20  Hierzu S. 25 f. und S. 30 ff. 21  Hierzu S.  220 ff. 22  Hierzu S.  235 ff.

Schlussfolgerung341

völkerrechtswidrig verhalten wird, nicht jedoch der in dieser Hinsicht lediglich unfähige Staat.23 Für die Verfestigung einer Zurechnungsregel und die Etablierung einer von den ausgewiesenen dogmatischen Schwierigkeiten unbenommen begründeten territorialstaatlichen Duldungspflicht bestünde nun zwar auf Grundlage weitergehender praktischer Entwicklungen Raum, welche die Geltung des un­ willing or unable-Standards auf völkergewohnheitsrechtlicher Grundlage (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHSt) oder auslegungshalber (Art. 31 Abs. 3 lit. b WÜV) ausweisen könnten.24 Doch neben den Unklarheiten der eigentlichen Staatenpraxis erweist sich jeweils auch die staatengemeinschaftliche Rezeption der maßgeblichen Fälle als zu unbestimmt. Für das vorliegend fragliche Recht gefährdeter Staaten zur exterritorialen Selbstverteidigung besteht damit weder eine entsprechende Rechtsüberzeugung in Gestalt einer korrelierenden opinio iuris noch ist ein solches vertragliches Begriffsverständnis objektiv nachweisbar. Auf dieser Grundlage muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der unwilling or unable-Standard nicht als Teil des geltenden Völkerrechts angesehen werden kann.25 Es steht jedoch zu erwarten, dass die mit dieser spezifischen Staatenpraxis aufgeworfenen Fragestellungen auch noch in näherer Zukunft eine bedauernswerte Aktualität erfahren werden.

23  Hierzu

S.  241 ff. das 3. Kapitel. 25  Da sich die Existenz einer nicht unbeachtlichen Praxis in dieser Hinsicht nun nicht hinwegdiskutieren lässt, mag gleichermaßen die Frage gestellt werden, ob es sich hierbei nicht um im Werden befindendes Völkerrecht, d. i. in statu nascendi, handelt (siehe etwa Couzigou, ZaöRV 77 (2017), S. 53 (55); zurückhaltend Starski, ZaöRV 75 (2015), S. 455 (500); auch Murray/O’Donoghue, ICLQ 65 (2016), S. 305 (314) verweisen auf eine wohl überwiegende Ansicht, dass der unwilling or unableStandard erst noch Teil des Völkergewohnheitsrechts werden müsse). Skeptisch stimmen müsste unter dieser Annahme allerdings die nun doch mehrere Jahrzehnte umfassende „Normwerdung“. Ein maßgeblich-ursprüngliches oder aber beschleunigendes Moment könnte dagegen im Zusammenhang mit dem Syrien-Konflikt erkannt werden. Doch steht hier wohl der Eindruck im Vordergrund, dass es sich um eine nahezu beispiellose Ausnahmesituation handelt (vgl. nur S. 315 ff. zuvor). Derartiges wurde bisweilen sogar vorsichtig für die Reaktionen auf den 11. September angedeutet, Tladi, AJIL 107 (2013), S. 570 (574 f.); Bautze, KJ 49 (2016), S. 535 (544). Es erscheint insofern naheliegender, den Fall auch als solchen zu behandeln, ihn also nicht als Geburtsstunde des unwilling or unable-Standards anzusehen. 24  Hierzu

Entscheidungsverzeichnis I. Internationaler Gerichtshof Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Advisory Opinion v. 22.7.2010, ICJ Rep. 2010, S. 403 ff. (zit. als: Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo) Case Concerning Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge (Malaysia/Singapore), Urt. v. 23.5.2008, ICJ Rep. 2008, S. 12 ff. (zit. als: Pedra Branca/Pulau Batu Puteh) Case Concerning Application of the Convention of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urt. v. 26.2. 2007, ICJ Rep. 2007, S. 43 ff. (zit. als: Application of Genocide Convention) Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda), Urt. v. 19.12.2005, ICJ Rep. 2005, S. 168 ff. (zit. als: Armed Activities) Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion v. 9.7.2004, ICJ Rep. 2004, S. 136 ff. (zit. als: Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory) Case Concerning Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Urt. v. 6.11.2003, ICJ Rep. 2003, S. 161 ff. (zit. als: Oil Platforms) Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada): Jurisdiction of the Court, Urt. v. 4.12.1998, ICJ Rep. 1998, S. 432 ff. Case Concerning the Gabčíkovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), Urt. v. 25.9.1997, ICJ Rep. 1997, S. 7 ff. (zit. als: Gabčíkovo-Nagymaros Project) Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion v. 8.7.1996, ICJ Rep. 1996, S. 226 ff. Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Urt. v. 27.6.1986, ICJ Rep. 1986, S. 14 ff. (zit. als: Nicaragua) Case Concerning the Delimitation of the Maritime Boundary in the Gulf of Maine Area (Canada/United States of America), Urt. v. 12.10.1984, ICJ Rep. 1984, S. 246 ff. (zit. als: Gulf of Maine) Case Concerning United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (United States of America v. Iran), Urt. v. 24.5.1980, ICJ Rep. 1980, S. 3 ff. (zit. als: Diplomatic and Consular Staff in Tehran)

Entscheidungsverzeichnis343 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) Notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion v. 21.6.1971, ICJ Rep. 1971, S. 16 ff. (zit. als: Continued Presence of South Africa in Namibia) North Sea Continental Shelf Cases (Federal Republic of Germany/Denmark; Federal Republic of Germany/Netherlands), Urt. v. 20.2.1969, ICJ Rep. 1969, S. 3 ff. (zit. als: Continental Shelf) Certain Expenses of the United Nations (Article 17, Paragraph 2, of the Charter), Advisory Opinion v. 20.7.1962, ICJ Rep. 1962, S. 151 ff. (zit. als: Certain Expenses of the UN) Fisheries Case (United Kingdom v. Norway), Urt. v. 18.12.1951, ICJ Rep. 1951, S.  116 ff. The Corfu Channel Case (Merits), Urt. v. 9.4.1949, ICJ Rep. 1949, S. 4 ff. (zit. als: Corfu Channel Case) Conditions of Admission of a State to Membership in the United Nations (Article 4 of the Charter), Advisory Opinion v. 28.5.1948, ICJ Rep. 1948, S. 57 ff. (zit. als: Admission of a State to Membership)

II. Internationaler Strafgerichtshof Gaddafi Case: The Prosecutor v. Saif Al-Islam Gaddafi (formerly: The Prosecutor v. Muammar Mohammed Abuminyar Gaddafi, Saif Al-Islam Gaddafi and Abdullah Al-Senussi), ICC-01/11-01/11 – Decision on the admissibility of the case against Abdullah Al-Senussi, Pre-Trial Chamber I, Entsch. v. 11.10.2013, ICC-01/11-01/11-466-Red – Public redacted-Decision on the admissibility of the case against Saif Al-Islam Gaddafi, Pre-Trial Chamber I, Entsch. v. 31.5.2013, ICC-01/11-01/11-344-Red The Prosecutor v. Germain Katanga (and Mathieu Ngudjolo Chui), ICC-01/04-01/07 – Judgment on the Appeal of Mr. Germain Katanga against the Oral Decision of Trial Chamber II of 12 June 2009 on the Admissibility of the Case, Appeals Chamber, Entsch. v. 25.9.2009, ICC-01/04-01/07-1497 – Reasons for the Oral Decision on the Motion Challenging the Admissibility of the Case (Article 19 of the Statute), Trial Chamber II, Entsch. v. 16.6.2009, ICC01/04-01/07-1213 Bemba Case: The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01/05-01/08 – Judgment on the appeal of Mr Jean-Pierre Bemba Gombo against Trial Chamber III’s „Judgment pursuant to Article 74 of the Statute“, Appeals Chamber, Entsch. v. 8.6. 2018, ICC-01/05-01/08-3636-Red – Warrant of Arrest for Jean-Pierre Bemba Gombo Replacing the Warrant of Arrest Issued on 23 May 2008, Pre-Trial Chamber III, Entsch. v. 10.6.2008, ICC-01/0501/08-15-tENG

344 Entscheidungsverzeichnis

III. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Appeals Chamber, Prosecutor v. Duško Tadić, Case No.: IT-94-1-A, Urt. v. 15.7.1999 (zit. als: Appeals Chamber: Prosecutor v. Tadić) Trial Chamber, Prosecutor v. Duško Tadić a/k/a „Dule“, Case No. IT-94-1-T, Opinion and Judgment v. 7.5.1997 (zit. als: Trial Chamber: Prosecutor v. Tadić)

IV. Sonstige BVerfG, Beschluss vom 17.9.2019 – 2 BvE 2/16 IUSCT, Kenneth P. Yeager v. The Islamic Republic of Iran, Case No. 10199, Chamber One, Award No. 324-10199-1, Entsch. v. 2.11.1987 IUSCT Reports 1987 Vol. IV, S. 92 ff. (zit. als: Yeager v. Iran) STL (Appeals Chamber), Interlocutory Decision on the Applicalbe Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative Charging, 16.2.2011, Case No.: STL-11-01/I/AC/R176bis VG Köln, Urt. v. 3.5.1978 – 9 K 2565/77, DVBl 1978 S. 510 ff. – Fürstentum Sea­ land

Verzeichnis ausgewählter Dokumente Auswärtiges Amt/Deutsches Rotes Kreuz/Bundesministerium der Verteidigung, Dokumente zum Humanitären Völkerrecht, 3. Aufl., Sankt Augustin 2016 (zit. als: Auswärtiges Amt et al. (Hrsg.), Dokumente zum Humanitären Völkerrecht) ICC, Paper on Some Policy Issues Before the Office of the Prosecutor, Sept. 2003, abrufbar unter https://www.icc-cpi.int/nr/rdonlyres/1fa7c4c6-de5f-42b7-8b2560aa962ed8b6/143594/030905_policy_paper.pdf ICG, North Kivu, Into the Quagmire? An Overview of the Current Crisis in North Kivu, ICG Kivu Report No 1, 13.8.1998, Brüssel, abrufbar unter: https://www. africaportal.org/publications/north-kivu-into-the-quagmire-an-overview-of-thecurrent-crisis-in-north-kivu/ ICISS, The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Dezember 2001, Ottawa, abrufbar unter: http:// responsibilitytoprotect.org/ICISS %20Report.pdf (zit. als: Responsibility to Protect) IICK, The Kosovo Report. Conflict, International Response, Lessons Learned, Oxford 2000, abrufbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/6 D26FF88119644CFC1256989005CD392-thekosovoreport.pdf ILA, Sidney Conference (2018), Committee: Use of Force (2010–2018), Final Report on Aggression and the Use of Force, London, abrufbar unter: https://www.ila-hq. org/index.php/committees (zit. als: Sidney Conference (2018): Final Report) ILC, Draft conclusions on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, with commentaries, insb. in: GAOR 73rd Session, Supplement No. 10 (Report of the International Law Commission, 70th Session: 30.4.–1.6. und 2.7.–10.8.2018), UN-Dok. A/73/10, S. 11 ff.; darüber hinaus abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/guide/1_11.shtml (zit. als: ILC-Draft Concl. [Subs. A./P.]) ILC, Draft conclusions on identification of customary international law, with commentaries, insb. in: GAOR 73rd Session, Supplement No. 10 (Report of the International Law Commission, 70th Session: 30.4.–1.6. und 2.7.–10.8.2018), UN-Dok. A/73/10, S. 117 ff.; abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/1_13.shtml (zit. als: ILC-Draft Concl. [Cust. IL]) ILC, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with Commentaries, insb. in: YILC 2001 Vol. II Part 2 (Report of the Commission to the General Assembly on the work of its fifty-third session), UN-Dok. A/CN.4/ SER.A/2001/Add.1 (Part 2) sowie GAOR, Fifty-sixth session, Supplement No. 10, UN-Dok. A/56/10, abrufbar unter: http://legal.un.org/ilc/sessions/53/ (zit. als: Draft Articles on Responsibility of States with Commentaries; ferner als: ILCArtikel)

346

Verzeichnis ausgewählter Dokumente

ILC, Add. to the Eighth Report on State Responsibility, by Mr. Roberto Ago: The Internationally Wrongful Act of the State, Source of International Responsibility (Part 1) (concluded), UN-Dok. A/CN.4/318/ADD.5-7, YILC Vol. II Part 1 (Documents of the Thirty-second Session, Excluding the Report of the Commission to the General Assembly) (zit. als: YILC Vol. II Part 1, Eighth Report on State Responsibility (Add.)) ILC, Fourth Report on State Responsibility, by Mr. Roberto Ago, Special Rapporteur: The Internationally Wrongful Act of the State, Source of International Responsibility (continued), UN-Dok. A/CN.4/264 and Add. 1, YILC 1972 Vol. II (Documents of the Twenty-fourth Session Including the Report of the Commission to the General Assembly) (zit. als: YILC 1972 Vol. II, Fourth Report on State Responsibility) ILC, First Report on State Responsibility, by Mr. James Crawford, Special Rapporteur, UN-Dok. A/CN.4/490 and Add. 1–7, YILC 1998 Vol. II Part 1 (Documents of the Fiftieth Session) Informal Expert Paper: The Principle of Complementarity in Practice1 (unter Mitwirkung von Xabier Agirre, Antonio Cassese, Rolf E. Fife, Håkan Friman, Christopher K. Hall, John T. Holmes, Jann Kleffner, Hector Olasolo, Norul H. Rashid, Darryl Robinson, Elizabeth Wilmshurst, Andreas Zimmermann), zum ICC-Office of the Prosecutor, 2003, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/Relat edRecords/CR2009_02250.PDF International Commission of Inquiry on Darfur, Report to the United Nations Secretary General; Pursuant to Security Council Resolution 1564 of 18 September 2004, 25.1.2018, Genf, abrufbar unter: https://www.un.org/ruleoflaw/blog/docu ment/report-of-the-international-commission-of-inquiry-on-darfur-to-the-unitednations-secretary-general/ (zit. als: Abschlussbericht) Leiden Policy Recommendations on Counter-Terrorism and International Law, NILR 57 (2010), S. 531–550 NAM, 17th Summit of Heads of State and Government of the Non-Aligned Movement (Island of Margarita, Bolivarian Republic of Venezuela: 17.–18.9.2016), Final Document, Dok.-Nr. NAM 2016/CoB/DOC.1. Corr.1 (zit. als: 17th Summit of Heads of State and Government (2016), Final Document) OAS, Report of the OAS Commission that Visited Ecuador and Colombia, 25th Meeting of Consultation of Ministers of Foreign Affairs, 17.3.2008, OAS Dok. OEA/ Ser.F/II.25, RC.25/doc. 7/08, abrufbar unter: http://www.oas.org/en/council/RC/ XXV.asp The Chatham House Principles of International Law on the Use of Force in SelfDefence, ICLQ 55 (2006), S. 963–972 (zit. als: Chatham House Principles) The Fund for Peace, Fragile States Index 2018, Washington D.C., abrufbar unter: http://fundforpeace.org/fsi/2018/04/24/fragile-states-index-2018-annual-report/ 1  Ausweislich S. 2 des Dokuments handelt es sich um eine unabhängige Konsultation, welche als unabhängig von jedweder Institution zu behandeln ist.



Verzeichnis ausgewählter Dokumente347

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Stichwortverzeichnis accumulation of events-Doktrin  147, 193 f., 195, 259 Aggressionsdefinition  65, 129, 159 ff., 188, 192, 201 f., 271, 340 Auslegung – Sicherheitsratsresolutionen  236 – Völkervertragsrecht  80 ff., 190 ff., 275 ff., 335, 341 Auslieferung  84, 112, 139 f., 152, 220 ff., 224 ff. Bürgerkrieg  56 ff., 59 ff., 62, 70 f., 84, 86, 95 Bush-Doktrin  130, 131, 195 capacity building  234 f., 242 Caroline-Fall  29, 88 f., 90, 95, 195, 245, 251 ff., 255, 285, 297 commission rogatoire siehe Rechtshilfe de facto-Herrschaften/Regime  39, 95, 133 f. de facto-Organe  162, 168 f., 184 Diplomaten- und Konsularrecht  63, 70 f., 130, 165 f., 183, 217 f., 229 f., 243, 265, 268 Dismembration  41 Drei-Elementen-Lehre  39 ff., 64 due diligence  28 ff., 183, 241 f. Duldungspflicht  131, 189 ff., 258 ff., 271, 335, 340 f. effektive Kontrolle (effective control)  75, 124 ff., 146, 152, 166 ff., 172 f., 176 ff., 201, 316 erga omnes-Wirkung  269 extra-territorial law enforcement  204, 251 ff.

failed state  41 ff., 51, 61 f., 74, 82, 90, 174, 258, 339 failing state  42, 61 f., 74, 82, 153 fragile state  42, 153 Friendly Relations Declaration  111, 129, 158 ff., 163, 188, 242, 287, 290 Gegenmaßnahmen  66, 104, 150, 261 f., 340 Geschäftsführung ohne Auftrag  179 Gewaltverbot  30 ff., 36 ff., 39 ff., 44, 53, 64 ff., 73, 191, 199, 248, 254 ff., 259 f., 278 – Begriff  37 f., 158, 206 ff. – Modifizierung  129, 262 ff., 271, 340 Haager Friedenskonferenzen  36, 212 ff. harbour and support siehe safe haven/ safe harbour hot pursuit  93, 97 f., 109, 140 f., 150, 196, 312 Humanitäre Intervention siehe Menschenrechtsschutz, militärisch Humanitäre Rettung siehe Schutz eigener Staatsangehöriger ICTY  81, 169 ff., 172 f., 176, 188 IGH  28, 70, 144 ff., 161 ff., 165 ff., 172 f., 176, 188, 192 ff., 200 ff., 217 f., 236, 247, 253, 262, 272 ff., 320 ILC-Artikel (Staatenverantwortlichkeit)  73, 75, 168 f., 171 ff., 188, 206 f., 247 ff., 261 Intervention auf Einladung  61, 72 ff., 96, 113, 116, 136, 329 Interventionsverbot  39, 42, 99, 142 ius ad bellum  36 f.

Stichwortverzeichnis377 ius cogens  37 f., 73, 250, 254 ff., 265 f., 269, 278, 333 f. ius contra bellum  37 f., 66, 198, 261 judicial delegations siehe Rechtshilfe Kollusion  69, 72, 86, 134, 151, 180, 271, 280 Komplementaritätsprinzip  77 ff., 85 Konsularrecht siehe Diplomaten- und Konsularrecht Menschenrechtsschutz  34, 183, 222 f., 225, 232 ff., 242, 250 f., 266 f. – Fremdenrecht  62 f. – militärisch  45 ff., 65, 85 ff., 257 f., 327 Neutralität  91, 207, 210 ff., 243 Notstand, völkerrechtlicher  65, 111 f., 150, 244 ff., 271, 340 overall control  134, 169 ff., 172 f., 176 Rechtshilfe  222, 224, 227 ff., 231 f. responsibility to protect  50 ff., 219, 328 Rettung eigener Staatsangehöriger siehe Schutz eigener Staatsangehöriger rogatory commissions siehe Rechtshilfe safe haven/safe harbour  103, 108, 115 ff., 127, 131 ff., 144, 151, 154, 157, 164, 177, 183, 230, 238 ff., 242, 261, 271, 287, 294, 317, 321, 325, 328 f., 336, 339 Schutz eigener Staatsangehöriger  47, 62 ff., 86 Selbstbestimmungsrecht der Völker  73 f., 219 Selbstverteidigungsrecht  26, 36 ff., 65 f., 88 f., 150, 190, 206 ff., 243 ff., 248, 251 ff., 259 ff., 290, 301, 328 ff., 336 f., 340 f. − bewaffneter Angriff  160 f., 191 ff., 197 ff., 214, 217 f., 266, 333 f.

− Erforderlichkeit  112, 208, 245 − kollektiv  123 ff., 200, 318 − Verhältnismäßigkeit  191 f., 199, 208, 245, 290, 300 f., 307 ff., 330 f. − Vorfeld  194 ff. Sezession  41, 62 Souveränität  30 ff., 43 f., 106, 124, 129, 208, 231 f., 263 ff., 339 f. – Begriff  32 ff., 38 f., 43 f., 219, 246, 268 f. – Staatengleichheit, souveräne  34 f., 38 f., 74, 263, 266 f., 339 f. – Staatsgewalt siehe dort – Volkssouveränität  33, 267 Staat  32 ff., 39 ff. – Staatsgebiet  25 f., 40 f., 153 – Staatsgewalt  40 ff., 60, 62, 71, 74, 86, 152 f., 174 f., 267 f., 271, 336 f. – Staatsvolk  40, 64 Syrien-Krise  76, 114 ff., 150, 315 ff., 341 Terrorismus  26 f., 132, 151, 177, 218 ff., 243 f., 258 f., 271, 337 ff. Tripolaritätsproblem  175, 208, 244, 336 f., 340 Umweltschutz  34, 250 ungoverned spaces  152, 336 United Nations  34, 37 ff., 76 f., 278 f. – UN-Generalversammlung  51 f., 77, 131 f., 144, 158 ff., 192, 232 ff., 241 f., 261 f. – UN-Mitglieder  76 f., 210 f., 235, 275 ff. – UN-Sicherheitsrat  39, 49 ff., 56 f., 77, 103 ff., 109 ff., 115 f., 131 f., 143 ff., 198, 203, 235 ff., 257, 280 ff., 316 f., 328 ff., 340 – UN-Völkerrechtskommission  171 ff., 251, 254 ff., 272 ff. unwilling or unable-Standard – Begriff  85 ff., 150 ff., 271, 336 f. – Funktion  155 ff., 271 f., 340 f.

378 Stichwortverzeichnis – Grundszenario  25 f., 208, 216, 269, 340 – Parameter  27 Vereinte Nationen siehe United Nations Verhältnismäßigkeit  31, 67 Verwirkung siehe Gewaltverbot, Modifizierung Völkerbund  34, 37, 181 Völkergewohnheitsrecht  49 f., 65 f., 132, 272 ff., 334 f., 341

Völkerrechtsunmittelbarkeit  35, 39, 205, 264 f., 268 f. Webster-Formel siehe Caroline-Fall Westfälischer Friede  33 f., 36 zerfallender Staat siehe failing state zerfallener Staat siehe failed state Zurechnung  156 ff., 200 ff., 337, 340 f. zwingendes Völkerrecht siehe ius cogens