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Timm Beichelt · Boz·ena Choluj · Gerard Rowe Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.) Europa-Studien
Timm Beichelt Boz·ena Choluj · Gerard Rowe Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.)
Europa-Studien Eine Einführung
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Mai 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Katrin Schmitt, Mainz Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14900-8 ISBN-13 978-3-531-14900-4
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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Inhalt Inhalt
Timm Beichelt, BoĪena Choáuj, Gerard C. Rowe, Hans-Jürgen Wagener und Thekla Lange Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
7
Kultur Heinz Dieter Kittsteiner Europa. Anmerkungen zur Genese eines rastlosen Kontinents
47
Jörg Jacobs Werte in Europa: Einheit in Vielfalt
63
Birgit Schwelling Das Gedächtnis Europas. Eine Diagnose
81
Werner Schiffauer Europa als transnationaler Raum – Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung
95
BoĪena Choáuj Die Renaissance des Begriffes Mitteleuropa
111
Karl Schlögel Die kulturelle Geographie des östlichen Europa
125
Politik Stanisáaw Zyborowicz Die Ideengeschichte der Europäischen Integration
147
Timm Beichelt Politik in Europa zwischen Nationalstaaten und Europäischer Union
161
Michael Minkenberg Einfalt in der Vielheit: der europäische Rechtsradikalismus im Lichte der vergleichenden Politikforschung
183
Stefan Krätke Die regionale Dimension der europäischen Entwicklung
203
Beata Przybylska Polen in der Europäischen Union
225
6
Inhalt
Recht Matthias Pechstein Der lange Weg zur Europäischen Union
239
Alexander v. Brünneck Die Entstehung des modernen Verfassungsstaates
253
Carmen Thiele Menschenrechtsschutz in Europa
269
Gerard C. Rowe Reflections on the Common Law – Relating It to the European Context
289
Dieter Martiny Europäisches Privatrecht, insbesondere europäisches Vertragsrecht
311
Jan C. Joerden Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge
329
Wirtschaft Hans-Jürgen Wagener Europäische Wirtschaftspolitik
349
Hermann Ribhegge Europäische Sozialpolitik
365
Mechthild Schrooten Europäische Finanzmarktintegration
379
Frank Bönker EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
399
Wolfgang Dorow und Gabriele Varga von Kibed Transformation von Unternehmungskulturen im Spannungsfeld westosteuropäischer Wertedifferenzen: Zwei Fallbeispiele für Lösungsansätze deutscher Konzerngesellschaften
415
Ausblick Willfried Spohn Interdisziplinäre Europastudien: der Ansatz der multiplen Modernität
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Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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Timm Beichelt, BoĪena Choáuj, Gerard C. Rowe, Hans-Jürgen Wagener und Thekla Lange T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
1
Europawissenschaft und Integrationsforschung zwischen mono- und multidisziplinären Ansprüchen
Der Begriff „Europastudien“ bezeichnet allgemein Forschung und Lehre im Hinblick auf den geographisch eingegrenzten Gegenstand „Europa“, so wie es Afrikastudien und Lateinamerikastudien gibt. Verwendet wird der Begriff jedoch meist nur dann, wenn es um Prozesse der europäischen Integration in politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht geht. Europastudien sind daher weniger das, was im Englischen area studies genannt wird. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Herausbildung eines Integrationsraums und damit historisch auf die Zeit nach dem zweiten dreißigjährigen Krieg 1914-45, der Europa in einem Zustand der Verwüstung und Desorientierung hinterlassen hatte. Gab es in den ersten vierzig Jahren dieser Periode konkurrierende Integrationsprojekte – in politischer Hinsicht Ost und West, in militärischer die NATO und den Warschauer Pakt, ökonomisch EWG, EFTA und RgW sowie in rechtlich-politischer Sicht den Europarat –, so scheint sich im Laufe der Zeit vor allem das Projekt der Europäischen Union erfolgreich durchgesetzt zu haben. Europastudien im engen Sinn haben deshalb vorwiegend die Europäische Union zum Gegenstand und sind in der Regel politik-, rechts- oder wirtschaftswissenschaftlich geprägt bzw. bestehen aus multidisziplinären Verbindungen dieser drei Lehr- und Forschungsgebiete. Das Integrationsprojekt ist allerdings äußerst dynamisch: Schon die Entwicklung vom Europa der Sechs zur EU-27 macht das deutlich. Deshalb umfasst der potentielle Integrationsraum praktisch den gesamten europäischen Kontinent – geographisch eher ein willkürliches Gebilde – und erlaubt den Europastudien die Beschäftigung mit Geschichte, Wirtschaft, Politik, Recht und Kultur des alten Kontinents. Mit Blick auf die soziologische Unterteilung der Gesellschaft in die Subsysteme des Rechts, der Wirtschaft, der Politik und der Kultur (Luhmann 1981; Parsons 1991 (1951)) liegen indes zwei begrifflich-methodische Spezifizierungen und Präzisierungen nahe. Erstens sind Europastudien im weiten Wortsinn den Sozialwissenschaften zuzurechnen; denn im Rahmen der geographischen Begrenzung werden vieldimensionale gesellschaftliche Prozesse betrachtet. Zweitens erzwingt die umfassende Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen in Europa die Miteinbeziehung des Kulturellen: Soziales Handeln bezieht sich neben sozialen und physischen auch auf kulturelle Objekte, die sich in symbolischen Elementen wie kulturellen Traditionen, Ideen oder Glaubensmustern niederschlagen. Sie befinden sich durch die umfassende Europäisierung in den anderen Subsystemen in einer ähnlich starken Entwicklungsdynamik wie Politik, Recht und Wirtschaft. Die soziologische Systemtheorie betont allerdings die Eigengesetzlichkeit der einzelnen gesellschaftlichen
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Subsysteme. Das erfordert erst einmal strikt disziplinäre Ansätze von Forschung und Lehre. Die Interdependenz der Subsysteme erweist sich dann häufig im Historischen: ein geschichtswissenschaftliches Herangehen an das Phänomen Europa ist neben dem sozialwissenschaftlichen unumgänglich. Der Werdegang der Europastudien findet eine erhellende Entsprechung in der allgemeinen Entwicklung der Sozialwissenschaften, wie sie Rickert in Abgrenzung von den Naturwissenschaften unter den Begriff der historischen Kulturwissenschaften subsumiert hat. In der Tradition der europäischen Universität beziehen sich Forschung und Lehre auf wissenschaftliche Einzeldisziplinen. Allerdings war der im 18. und 19. Jahrhundert der an den Universitäten gelehrte Fächerkanon recht klein. Auf das soziale Leben und dessen Verbindung mit dem Staat ausgerichtet waren Philosophie, Staats-, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Ökonomie und Geographie. Der etablierte Fächerkanon taugte indes mitunter wenig zur Einordnung des wissenschaftlichen Arbeitens. Das Wirken von Adam Smith vereinte Wirtschaftswissenschaft und Moralphilosophie, Hegels Philosophie bezog die Staatswissenschaft mit ein, Durkheims soziologische Schriften umfassten auch Psychologie und Medizin, womit sogar die Grenzen zu den Naturwissenschaften überschritten wurden. Wie im deutschen Raum vielleicht am besten an Karl Jaspers Schriften von der „Psychologie der Weltanschauungen“ (Jaspers 1985 (1919)) bis zu „Wohin treibt die Bundesrepublik“ (1966) zu sehen ist, blieb das Ideal von Gesellschaftsforschung und -lehre bis weit in das 20. Jahrhundert ganzheitlich geprägt. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte indes eine Entwicklung ein, die sich als „Differenzierung und Professionalisierung“ (Rupp/Noetzel 1994: 9) der Wissenschaft charakterisieren lässt. Mit dem sich beschleunigenden technischen Fortschritt, der daraus folgenden gesellschaftlichen Modernisierung, den zunehmenden Freiräumen für reflektierende Tätigkeiten und nicht zuletzt der Neugründung und Ausweitung der Universitäten wuchs das gesellschaftlich verfügbare Wissen exponentiell an. Spekulation oder common sense als wissenschaftliche Methoden wurden in dem Maße weniger akzeptiert, wie empirisch abgesichertes und systematisches Wissen vorhanden war. Deduktiv abgeleitete Aussagen mussten sich mit induktiv gewonnenen Hypothesen messen. Sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Aussagen, die sich auf vergleichsweise großräumige Ausschnitte der Realität beziehen sollten, erforderten daher mit wachsendem wissenschaftlichen Fortschritt immer umfassendere Kenntnisse. Früher war der Blick in die Nachbardisziplinen selbstverständlich gewesen. Durkheim hatte bei seiner sozialtheoretischen Studie gewissermaßen nebenbei eine auch in der Medizin interessierende Erklärung über die Ursachen des Selbstmords geschrieben (Durkheim 1993, zuerst 1897). Mit der immensen Ausweitung des Wissens waren solche Husarenstücke später nicht mehr so einfach. Aus dem erhöhten Methodenbewusstsein durch Professionalisierung folgte die fachwissenschaftliche Spezialisierung. Organisatorisch schlug sich dies in der Bildung neuer Disziplinen und Unterdisziplinen nieder. Die Not, die methodischen Standards wenigstens der eigenen Disziplin beherrschen zu müssen, führte am Ende der Entwicklung zu den berühmten „Bindestrich-Soziologien“. In der Nationalökonomie nahm die Entwicklung einen ähnlichen Verlauf. Auf sicherem Terrain konnte sich nur bewegen, wer sozialwissenschaftliche Gegenstände möglichst eingrenzte und eine Scheidung der abzubildenden Realität in abhängige und unabhängige Variablen zu Wege bringen konnte. Gute Sozialwissenschaft hatte sich zu begrenzen, um methodisch weniger angreifbar zu werden.
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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Bei vielen Gegenständen der Sozialwissenschaft führt eine immer stärkere disziplinäre Ausrichtung allerdings in eine Sackgasse der Verengung des wissenschaftlichen Verstehens- und Erklärungsanspruchs, wenn die methodischen Prämissen entscheidend für die Formulierung von Fragestellungen werden (vgl. Ragin 1987: vii; ähnlich Beyme 1991: 72). In aller Kürze ist so eines der grundlegenden Dilemmata der Sozialwissenschaften skizziert: Einerseits unterliegen wissenschaftliche Werke, die weiträumige Teile der (sozialen) Wirklichkeit zu verstehen oder erklären versuchen, der Gefahr des methodischen Dilettantismus. Überdehnte Wissensansprüche münden dann in Hypothesen, die, bei hellerem Lichte betrachtet, nicht zu halten sind. Andererseits drohen auch bei einer zu starken Beschränkung auf methodisch gesichertes Terrain Gefahren. Nicht nur können Sozialwissenschaftler in den Bann ihrer Modellwelten geraten, in denen sozialwissenschaftlich geprägte Denkstrukturen wichtiger werden als der Zuschnitt der eigentlich zu verstehenden oder zu erklärenden Realität. Auch legen die einzelnen Schritte des wissenschaftlichen Fortschritts Spuren, die immer weiter in den Bereich der Kleinkrämerei führen. Der Gang der Europawissenschaft, und das ist nun der Angelpunkt der Konzeption des vorliegenden Bandes, folgte einer ähnlichen Laufbahn wie die allgemeine Sozialwissenschaft. Am Anfang standen weiträumige, den europäischen Einigungsprozess in seiner Breite skizzierende Werke. Die Ausdifferenzierung der europäischen Integration, aber nicht zuletzt auch die Professionalisierung ihrer Erforschung förderten dann über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten die Vertiefung alter und die Entwicklung neuer Wissenschaftsdisziplinen. Dabei entwickelte man notwendigerweise Terminologien und Austauschcodes, die vom allgemeinen Publikum jenseits der Europawissenschaft kaum noch aufgenommen wurden, obwohl sie unter den Eingeweihten durchaus für bedeutende Fortschritte stehen (exemplarisch siehe Bach 2000; Christiansen/Jørgensen/Wiener 2001; Cowles/Caporaso/ Risse 2001). Das Aufkommen der universitären Europastudien, d.h. der in integrierter Form in die Lehre überführten Europaforschung, ist in diesem Kontext als der Versuch anzusehen, der Entwicklung in die disziplinäre Segmentierung entgegenzuwirken. In der allgemeinen Sozialwissenschaft gibt es seit einiger Zeit Bemühungen, über die Re-Integration der binnenorientierten Einzeldisziplinen die allzu starke Differenzierung zu überwinden (Mittelstraß 1989). Ein Ergebnis dieser Versuche sind kulturwissenschaftliche Institute und Fakultäten, wie sie in den letzten Jahren entstanden sind (vgl. Kittsteiner 2004). In analoger Weise haben es sich die Europastudien zur Aufgabe gemacht, Ergebnisse disziplinär geformten Wissens aufzunehmen und als integrierten Lehrinhalt zu vermitteln. Am Anfang der Integrationswissenschaft stand, genau wie am Beginn der europäischen Integration, die Frage nach der Verhinderung eines erneuten Krieges auf europäischem Boden. Das mit der westfälischen Ordnung von 1648 entstandene und vom Wiener Kongress im Jahre 1815 erneuerte Prinzip des Gleichgewichts europäischer Mächte war mit dem zweiten dreißigjährigen Krieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammengebrochen. Idealistische Ansätze von Immanuel Kants Friedensbund (Kant 1984) über Woodrow Wilsons Völkerbundsidee bis zu Graf Coudenhouve-Kalergis pan-europäischen Plänen (vgl. Niess 2001) hatten sich nicht durchsetzen können, da ihnen die Unterstützung der Regierungen in Europa und darüber hinaus fehlte. Mit David Mitranys „A Working Peace System“ (Mitrany 1943) wurde noch während des Zweiten Weltkriegs ein Tableau entworfen, das völkerrechtliche, politischinstitutionelle und wirtschaftliche Integrationsschritte vorsah. Staaten sollten nicht mehr wie bei Kant oder Wilson vorrangig nach einer rechtlichen Integration nationalstaatlicher
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Strukturen streben. Mitrany stützte sich – allerdings mehr implizit als explizit – zusätzlich auf den wirtschaftlichen Liberalismus, der seit Adam Smith im Freihandel das eigentliche Fundament des Friedens gesehen hatte. Starke Nationalstaaten, und davon gab es mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs in der Mitte des 20. Jahrhunderts einige, würden bei aller Wirkungsmacht internationaler Organisationen stets auch mit einem Blick nach dem politischen Gleichgewicht schielen. Den eigentlichen Nutzen der zwischenstaatlichen Kooperation würden ihre Führer erst durch den zu erwartenden Wohlfahrtseffekt wirtschaftlicher Integration erfahren. Geschichtswissenschaft, Ökonomie, Politikwissenschaft und Völkerrecht griffen bei Mitrany ineinander: Das Ensemble steht am Beginn der modernen Integrationswissenschaft. Für Mitrany war es im Übrigen selbstverständlich, die Integration Europas in einem globalen Kontext zu sehen. Später bedurften Mitranys Thesen jedoch der Qualifizierung. Die Verbindung von Völkerrecht, europäischem Recht und nationalstaatlichem Recht musste präzisiert werden (siehe z.B. Weiler 1981). Die bei Mitrany unterstellten Wohlfahrtsgewinne durch wirtschaftliche Integration wurden durch die Abschottung des europäischen Marktes gegen den Rest der Welt teilweise wieder aufgehoben. Eine regional beschränkte Integration hat nicht nur handelschaffende, sondern auch handelumlenkende Effekte (Viner 1950). Und die zentrale Hohe Behörde, die die europäischen Gründungsväter in Anlehnung nicht zuletzt an Mitrany für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl geschaffen hatten, konnte nur durch die Einbindung in ein vielgliedriges „Mehrebenensystem“ die ihr zugedachte Rolle erfüllen (siehe Zürn 1996). Mit der fortschreitenden politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Integration vollzog sich somit die Professionalisierung der Europawissenschaft. Am Beispiel der Politikwissenschaft lässt sich zeigen, wie sich die relevanten akademischen Fächer dabei im Sinne einer disziplinären Vertiefung entwickelt haben. Nachdem das funktionalistische bzw. neofunktionalistische Vermächtnis von Mitrany und Ernst Haas (1968) verklungen war, setzte die Spezialisierung ein. Das Studium der europäischen Politik wurde im Rahmen einer Subdisziplin der Politikwissenschaft, der Internationalen Beziehungen, untersucht. Das lag vor allem daran, dass die ersten Jahrzehnte des europäischen Integrationsprozesses zwar erstaunliche Ergebnisse bei der Überwindung alter Feindschaften zwischen den europäischen Staaten brachte, in globaler Perspektive jedoch lediglich als Sonderfall regionaler Integrationsbündnisse gesehen wurden. Im Prinzip, so die Lehre der Internationalen Beziehungen, handelte es sich bei der EG um eine internationale Organisation wie viele andere. Im Gleichschritt mit der Entwicklung der politischen Integration vollzog sich dann jedoch auch eine Wandlung der EG/EU-Forschung. Zum einen wuchs der Gegenstand der europäischen Integration stetig an, zum anderen wurden immer mehr Bereiche des politischen Lebens in West-, Süd- und Nordeuropa von der europäischen Ebene erfasst. Dies bedeutete, dass die politikwissenschaftliche Verankerung im Bereich der Internationalen Politik nach und nach aufgebrochen werden musste. Zwar verfügen die Nationalstaaten der EU bis heute über den Status völkerrechtlich eigenständiger Subjekte. Insofern hat die Behandlung der EU im Paradigma der Internationalen Politik durchaus ihren Sinn. Zunehmend öffnet sich jedoch die Subdisziplin der Vergleichenden Regierungslehre der europäischen Ebene (Schmidt 2002). Bisweilen wird sie sogar als der am besten geeignete Ansatz zum Verständnis der EU-Politik angesehen (Hix 1994). In den letzten Jahren werden in der Politikwissenschaft Konzepte diskutiert, die traditionell aus der auf den Nationalstaat gerichteten Forschung kommen: die Legitimität der EU und ihrer Institutionen, die Ausfor-
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mung der europäischen Parteienlandschaft, die Umsetzung und die Ergebnisse europäischer Rechtsakte. Eine solche eigene, Europa-bedingte disziplinäre Entwicklung treffen wir in der Rechtswissenschaft in noch klareren Konturen an. Gab es bis zur europäischen Integration das nationale Recht und das Völkerrecht, so ist mit der Herausbildung einer Recht setzenden Autorität der Gemeinschaft auf einer neuen Ebene das europäische Recht entstanden. Europarecht wurde zu einer eigenständigen rechtswissenschaftlichen Disziplin, die durch die Aufnahme in den Prüfungskanon des deutschen juristischen Staatsexamens gleichsam ihren Ritterschlag erhalten hat. Vergleichbares ist in den Wirtschaftswissenschaften nicht zu finden. Aus gutem Grund: der Kern der Theorie, die Mikroökonomie, ist individualwissenschaftlich, ihre Erweiterung in der Makroökonomie auf einen beliebigen, politisch abgegrenzten Raum bezogen. Die Tatsache, dass die nationalen Systeme miteinander kommunizieren, reflektiert spätestens seit David Ricardo die Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Regionale Integration fügt dem kein wesentlich neues theoretisches Puzzle hinzu. Europäische Integration als Lehrfach in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung ist eine Anwendung der drei genannten Theorieansätze auf diesen Spezialfall der räumlichen Integration. Damit hat sie sich mit der europäischen Wirtschaftspolitik zu befassen; ein weites Feld, das durch seine eigenen Institutionen gekennzeichnet ist, für das jedoch grundsätzlich die gleichen theoretischen Ansätze gelten. Mögen der gemeinsame Markt und die Wirtschafts- und Währungsunion auch die folgenreichsten Elemente des Integrationsprojekts sein, sie haben in der Wissenschaft der Ökonomie im Vergleich zu Politik- und Rechtswissenschaft die geringsten Spuren hinterlassen. Sicher wäre es ungerecht, allen bisher zitierten fachwissenschaftlichen Ansätzen eine verengte monodisziplinäre Perspektive vorzuwerfen. Querverweise mit transdisziplinärer Richtung lassen sich bis heute in vielen fachwissenschaftlichen Werken der Integrationsforschung finden. Dennoch halten wir es insgesamt für gerechtfertigt, für die Europaforschung insgesamt eine disziplinäre Spezialisierung zu diagnostizieren. Dafür ist nicht zuletzt die skizzierte Organisationsform von Europawissenschaft in etablierten Wissenschaftsdisziplinen verantwortlich. Folglich müssen sich Europaforscher an den methodischen Weiterentwicklungen innerhalb ihrer Disziplinen orientieren, um im Rahmen ihrer Anwendungsgebiete nicht den binnendisziplinären Anschluss zu verlieren. Die allgemeine Sozialwissenschaft hat diesen Prozess mit gesamtgesellschaftlichem Bedeutungsverlust bezahlt. Die Autorität, die ein ganzheitlich argumentierender Wissenschaftler wie Karl Jaspers noch entfalten konnte, geht heutigen Sozialwissenschaftlern ab. Darin mag man auch eine gewisse, durchaus angebrachte Bescheidenheit sehen. Der Vergleich des berühmten Bandes 1000 zur „Geistigen Situation der Zeit“ der alten Sammlung Göschen (Jaspers 1979 (1932)) mit dem Band 1000 der edition suhrkamp (Habermas 1979) macht das deutlich: „Was sich Jaspers damals noch zugetraut hat, hätte einen Anspruch bedeutet, der heute nicht mehr seriös eingelöst werden kann“, schreibt Habermas (ebd.: 10) in seiner Einleitung, selbst nicht von den 32 kompetenten Autoren der zwei Bände. Man erklärt die Welt nicht mehr aus einem Guss, man bietet „Stichworte“ zu ihrem Verstehen an. Die Europawissenschaft hat die Konsequenzen der disziplinären Vereinzelung bislang noch nicht in sehr starkem Maße tragen müssen. Das liegt hauptsächlich daran, dass sich im Zuge der europäischen Integration auf verschiedenen Ebenen eine gesellschaftliche Dynamik ergeben hat, für deren Verstehen multidisziplinäre Kenntnisse des Europäisierungspro-
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
zesses unabdingbar sind. In Brüssel entstand eine europäische Bürokratie mit einem Umfeld von gesellschaftlichen und nationalstaatlichen Interessen. In den Nationalstaaten selbst änderten sich die Bedingungen von Gesetzesformulierung und Rechtsumsetzung. Viele Probleme lassen sich nur noch im europäischen Kontext behandeln, kaum aber ausschließlich innerhalb des gewachsenen nationalen Raums. Die Steuerung dieser Entwicklungen und die Partizipation daran erfordert in immer zunehmendem Maße Wissen über die politische, rechtliche und wirtschaftliche Verfasstheit Europas. Die beteiligten Akteure – Politiker, Verwaltungsangestellte, Interessenvertreter, Journalisten, etc. – müssen bei ihren Tätigkeiten die Vieldimensionalität der europäischen Integration zur Kenntnis nehmen und können nicht an den Grenzen wissenschaftlicher Einzeldisziplinen halt machen. Auch benötigen sie neuartige Sprachcodes zur gegenseitigen Verständigung. Allerdings dürfen die Codes gerade nicht disziplinär genormt sein, da Politik, Wirtschaft, Recht und die dazugehörigen Wissenschaften den Integrationsprozess gleichermaßen geformt haben. Kurz, es besteht hoher Bedarf an einer multidisziplinär orientierten Wissensvermittlung jenseits fachdisziplinärer Debatten. Es ist nicht zuletzt dieser Bedarf, welcher das Aufkommen der Europastudien begründet, das in den letzten Jahren an deutschen und europäischen Universitäten zu beobachten ist. Er scheidet die Europastudien von der Europaforschung oder der Integrationswissenschaft, die meistens disziplinär stattfindet und ihrerseits notwendig ist, um die fortschreitende Integration in den jeweiligen gesellschaftlichen Subsystemen von Kultur, Politik, Recht und Wirtschaft zu verstehen und zu erklären. Die Europaforschung ist der (meist disziplinär ausgerichteten) Wissenssuche verpflichtet, während bei den Europastudien die Vermittlung des erworbenen (meist multidisziplinären) Wissens im Mittelpunkt steht. Die Unterscheidung stimmt aber nur in ihrer Tendenz, denn auch die Europastudien erbringen eigene wissensvermehrende Leistungen. Erstens kann eine multidisziplinär informierte Wissenschaft besser die unterschiedlichen Sprach- und Wissenscodes der Einzeldisziplinen aufeinander beziehen und für die Allgemeinheit aufschlüsseln. Zweitens können mitunter erst aus einer übergeordneten Perspektive die Erkenntnisse aus den Teildisziplinen der Europaforschung in Relation zueinander gesetzt werden. Und drittens kann die stärkere Praxisorientierung, die den Europastudien wegen ihrer Ausrichtung auf bestimmte Berufsfelder gegeben ist, die Ergebnisse der Integrationswissenschaft im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Relevanz erden. Aus den unterschiedlichen Ebenen der europäischen Integration im Hinblick auf Kultur, Politik, Recht und Wirtschaft ergeben sich allerdings unterschiedlich konfigurierte Ansätze der Wissensvermittlung mit unterschiedlichen Schwerpunkten innerhalb des multidisziplinären Ensembles. Hier hilft ein Blick in die Empirie von Europa-Studiengängen, der nun im nächsten Abschnitt gewagt werden soll. Versteht man Europastudien als Klammer der disziplinären Europaforschung, dann heißt das jedoch nicht, dass sie einem ganzheitlichen inter- oder transdisziplinären Anspruch erfüllen könnten. Auch der vorliegende Band kann nicht mehr als Stichworte und Beispiele bieten zu dem, was Europa heute bewegt. Entscheidend für den praktischen Wert ist die Tatsache, dass die Stichworte nicht aus dem Wörterbuch einer einzelnen Fachdisziplin stammen.
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien? 2
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Europa-Studiengänge – die Rückkehr der multidimensionalen Perspektive in der praktischen Lehre
Studiengänge mit dem geographischen Fokus Europa haben in jüngerer Zeit im gesamten europäischen Raum einen starken Aufschwung erfahren. Da es keine oberste Behörde für europäische Bildung und Forschung gibt, lassen sich genaue Informationen nicht leicht finden. Auf einem link der Homepage der Europäischen Kommission findet sich dennoch eine Zusammenstellung, deren Informationen sich mit weiteren im Internet zu findenden Listen kombinieren lassen.1 Insgesamt sind wir über diese Listen und weitere Recherchen auf eine Zahl von 305 Studiengängen mit Europa-Bezug in Ländern der Europäischen Union gekommen (Tabelle 1, siehe ausführliche Dokumentation im Anhang). Jede Statistik ist problematisch, diese Zusammenstellung der Europa-Studiengänge ist es wegen der hohen Dynamik in diesem Bildungssegment erst recht. Fast alle Studierenden der Europastudien befinden sich in Studienprogrammen, die innerhalb der letzten zehn Jahre aufgelegt wurden. Die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses dauert nach wie vor an, was die ständige Neueröffnung, Umwidmung und Schließung von europabezogenen Studiengängen nach sich zieht. Zudem schreibt der sogenannte Bologna-Prozess – benannt nach dem Tagungsort einer Sitzung der EU-Bildungsminister im Juni 19992 – die Umstellung aller EU-Hochschulsysteme auf die konsekutive Studienstruktur Bachelor/Master vor. Den europäischen Hochschulen und Fakultäten gibt dies ganz unabhängig vom Gegenstand der europäischen Integration die Chance, ihre Ausbildungsangebote stärker an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes auszurichten. Zudem kann die Vollständigkeit der drei zugrunde liegenden Homepages (siehe Fußnote 1) nicht überprüft werden, denn die Internetpräsenz universitärer Bildungsangebote in der EU ist generell höchst unterschiedlich ausgeprägt. Die Informationen in Tabelle 1 geben daher nur einen sehr groben Überblick.
1
Siehe http://europa.eu.int/comm/education/programmes/ajm/3cycle/index_en.html, http://www.icp-ajm.org/post graduates/ajm.asp, http://sfeuropa.swiss-science.ch. 2 Siehe http://www.bmbwk.gv.at/medienpool/6816/bologna_dt.pdf.
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Tabelle 1: Europa-Studiengänge in Europa und ihre Merkmale Land Belgien
Anzahl 14
Als Anteil der Programme pro Land (in %) InterdisziMehrDisziplinarität5 Gebühren6 4 7 plinarität sprachigkeit 5
9
6
8 (+ 4 E)
Dänemark
3
1
2
1
Keine (alle E)
Deutschland
38
17
21
15
23 (+ 4 E)
Finnland
2
1
1
0
Keine (alle E)
Frankreich
62
16
46
7
8
Griechenland
4
0
4
0
3
Großbritannien
91
27
64
91
3
Irland
6
3
3
6
Keine
Italien
18
10
8
13
7 (+ 2 E)
Lettland Litauen Malta
1 3 2
0 1 1
1 2 1
0 2 0
Keine (alle E) 3 Keine (alle E)
Niederlande
12
5
7
2
Keine (alle E)
Österreich
4
2
2
4
1
Polen
21
14
7
2 (+ 3 E)
2
Portugal Schweden Slowenien
2 3 2
1 2 0
1 1 2
0 0 2
0 Keine (alle E) Keine (1 E)
Spanien
12
7
5
5
3
4
1
3
2
Keine (3 E)
1
1
0
1
Keine (alle E)
Tschechische Republik Ungarn
3
Dauer (in Jahren)3 14 x 1 2x1 1x2 18 x 1 4 x 1½ 16 x 2 2x1 47 x 1 14 x 2 1x 3 2x1 2x2 90 x 1 1x2 6x1 16 x 1 2x2 1x1 3x2 2x1 11 x 1 1x2 2x1 1 x 1½ 1x2 14 x 1 3x2 4x 5 2x2 3x1 2x1 8x1 1 x 1½ 3x2 2x1 2x 2 1x1
Die Dauer des Studiums wird in Halbjahresschritte auf- und abgerundet; z.B. 10 Monate = 1 Jahr. Anteil interdisziplinärer Programme. Als interdisziplinär werden Studiengänge bezeichnet, wenn sie mehr als drei Fachdisziplinen umfassen. Die Mehrzahl der hier aufgeführten Studiengänge kombiniert Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Anteile. Teilweise wird diese Kombination ergänzt durch Module beispielsweise aus den Disziplinen Geschichte, Soziologie oder Philosophie. 5 Anteil von Programmen mit einem disziplinären Schwerpunkt. 6 Anteil von Programmen mit mehr als €2.000 Gebühren pro Studienjahr. Bei vielen Programmen finden sich keine oder widersprüchliche Angaben zu den Gebühren. „Mit Gebühren“ aufgeführt werden nur Programme, wo dies eindeutig festzustellen war. 7 Anteil mehrsprachiger Programme (fremdsprachige Programme aus der Perspektive der jeweiligen Landessprache; E steht für Englisch). 4
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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Trotz der Unsicherheit bezüglich der Daten lassen sich auf dieser Grundlage einige wichtige Tendenzen aufzeigen. Zunächst hängt die Anzahl der Programme in recht geringem Maße von der Größe eines Landes ab. Die meisten Studiengänge (nach unserer Zählung 91) finden sich in Großbritannien, wo die Gebührenpflicht und der vergleichsweise geringe Anteil staatlicher Hochschulfinanzierung schon sehr viel früher als in den meisten übrigen Staaten dazu geführt hat, dass bei der Entwicklung an sich wissenschaftlicher Studienprogramme der europäische Arbeitsmarkt – europäische Institutionen, europäischer Lobbyismus, europäischer Wirtschaftsraum, etc. – im Auge behalten wurde. Demzufolge sind auch alle Europaprogramme an britischen Universitäten gebührenpflichtig und dauern (bis auf eine Ausnahme) lediglich ein Jahr. Wegen ihrer Flexibilität sind die Programme trotz der zum Teil hohen Gebühren auch für Bildungsausländer interessant. Die britischen Universitäten nehmen in hoher Anzahl Studierende aus dem europäischen und nichteuropäischen Ausland auf. Ja, man gewinnt den Eindruck, dass sie die primäre Zielgruppe der Programme sind. Allein schon, um die Sprachkenntnisse der europäischen lingua franca zu verbessern, macht es auch Sinn, ein Jahr in Großbritannien zu studieren. In Frankreich existieren mit der Zahl von 62 weniger Europa-Programme als im bevölkerungsgleichen Großbritannien. Außer an den Grandes Écoles, etwa der Hochschule Institut d'Études Politiques in Paris, ist der Anteil von Nichtfranzosen eher gering. Wie in Großbritannien sind die Programme in Frankreich in ihrer Mehrheit disziplinär ausgerichtet.8 Dabei überwiegt ganz deutlich die Rechtswissenschaft, die sich in der juristischen Ausbildung generell viel stärker als in den meisten übrigen EU-Staaten nicht nur auf die nationalstaatliche Rechtsordnung, sondern auch auf das europäische Rechtsgefüge bezieht. Hier spielt sicher auch das Übergewicht eine Rolle, das frankophone Juristen in den Gemeinschaftsinstitutionen hatten und am Europäischen Gerichtshof nach wie vor haben. Demgegenüber findet in der Bundesrepublik Deutschland (38) und in Italien (18), den beiden anderen großen EU-Ländern, die Ausbildung von späteren EU-Bediensteten und anderen Praktikern der europäischen Integration in viel stärkerem Maße in „regulären“, d.h. in der Regel auf den Nationalstaat gerichteten Ausbildungsprogrammen statt. Vielleicht ist dies einer der Gründe für die nach wie vor tendenzielle Unterrepräsentation dieser Länder in den Rängen der Brüsseler Verwaltung. Die Aufnahme in das europäische Verwaltungskorps geschieht in aller Regel über gemeinschaftliche Concours, auf die deutsche und italienische Hochschulen selten, eigentlich gar nicht, gezielt vorbereiten. Von den übrigen EU-Ländern erscheinen Belgien, die Niederlande, Polen sowie – angesichts der geringen Einwohnerzahl – vielleicht auch Irland als Länder, in denen integrierte Europa-Studiengänge eine relativ weite Verbreitung haben. In Belgien und in einigen anderen Ländern fällt auf, dass Mehrsprachigkeit als fester Bestandteil von EuropaStudiengängen anzusehen ist. Häufig bedeutet das aber nur, dass neben der Landessprache Englisch als Unterrichtssprache verwendet wird. In vielen Ländern, darunter natürlich Großbritannien und Irland, wird die Ausbildung ausschließlich in Englisch angeboten. Auf der anderen Seite bieten Italien (9 von 18), Polen (16 von 21), Spanien (9 von 12) und zwei kleinere Länder (Portugal, Slowenien) einen guten Teil ihrer Programme nur in der Landessprache an. Die meisten der genannten Länder verfügen auch in der Europa-Forschung nur über eine recht begrenzte Anzahl von Wissenschaftlern, die in einer Fremdsprache und international publizieren (z.B. in wissenschaftlichen Zeitschriften) oder präsent sind (z.B. auf internationalen Konferenzen). 8
Zu unserer spezifischen Verwendung des Attributs der Interdisziplinarität siehe Fußnote 4.
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Einer der Gründe für das Insistieren auf der Landessprache in diesen Ländern dürfte darin zu suchen sein, dass der „Einfluss in Europa“ eher als gering angesehen wird, weshalb EU-Spezialisten eher Wissen über Europa vermitteln als aktive Einflusskanäle aufzuzeigen versuchen. In Polen, dem Land mit der immerhin sechstgrößten Bevölkerung der Gemeinschaft, existiert eine Reihe von wissenschaftlichen Zeitschriften, die regelmäßig Themen der europäischen Integration behandeln (z.B. Przegląd Europejski in Warschau, Przegląd Politologiczny in PoznaĔ). Ihre Autoren und Herausgeber orientieren sich aber in Themensetzung und Thesenbildung überwiegend an der heimischen Öffentlichkeit und werden dementsprechend jenseits der Landesgrenzen kaum rezipiert. Insgesamt sind also die Europastudien in Europa noch zu einem guten Teil nationalen Gegebenheiten unterworfen. Der Bologna-Prozess hat zumindest bisher nicht dazu geführt, dass auf dem Feld der Europastudien ein genuin europäischer Bildungsmarkt entstanden wäre. Die britischen (und irischen) Universitätsstrukturen wirken dank ihrer größeren organisatorischen Flexibilität, aufgrund des größeren finanziellen Drucks sowie dank der schlecht zu leugnenden Übermacht des Englischen in gewissem Maße als Magnet auf die anderen Bildungsmärkte Europas. Aber die Magnetkraft hat ihre Grenze in den organisatorischen Selbstbeharrungskräften der kontinentalen Universitätsstrukturen einerseits und in der Gewichtung des Themas „Europa“ in den nationalen politischen Öffentlichkeiten andererseits. In kleinen EU-Ländern mit geringem wirtschafts- und außenpolitischem Spielraum wird die Mitgestaltung des gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Raums als alternativlos angesehen. Folglich orientiert man sich an den letztlich extern gegebenen Basisstrukturen Europas und der EU. Die kontinentale staatszentrierte Verwaltungskultur führt zu einem Übergewicht rechtswissenschaftlicher Studiengänge, die Übermacht der englischen Sprache führt zu Programmen, in denen die heimische Nationalsprache gar nicht mehr verwendet wird. In den baltischen Staaten beispielsweise, wo die Gesamtbevölkerungen kleiner sind als im Großraum Berlin, besteht somit ein faktischer Zwang zur Aussonderung der eigenen Sprachen und Verwaltungskulturen aus den Europastudien. In den Bildungssystemen größerer Länder dagegen, in denen die öffentliche Verwaltung territorial umfangreicher ist und wo eine stärkere ökonomische Basis für binnengesellschaftliche Kommunikation besteht, kann man sich auch europaorientierte Lehrprogramme leisten, die sich sowohl auf die nationale wie auch die europäische Sphäre richten. Im Hinblick auf die Europawissenschaft, also die Forschungsdimension der Europastudien, hat dies einige bedenkenswerte Konsequenzen. Willfried Spohn spricht in seinem abschließenden Beitrag zu diesem Band vom „methodologischen Nationalismus“, der die unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugänge entlang nationaler Grenzen unterscheidet. Der Blick auf die Empirie von Europa-Studiengängen in der EU verrät, dass diese Nationalismen nicht einfach nur nebeneinander stehen. Ein großer Teil der Ausbildung bezieht sich auf die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Elemente der innereuropäischen Integration. Europaforschung und Europalehre zielen auf einen eurozentrierten Binnendiskurs ab und überwinden dadurch die innereuropäischen Grenzen: Im europäischen Bewusstsein wird immer deutlicher, dass neben der nationalstaatlichen Politik die EU-Ebene zu beachten ist, dass der Gemeinsame Markt die Spielräume nationaler Wirtschaftspolitik grundlegend verändert, dass nationales durch europäisches Recht ergänzt wird. Eine Kehrseite dieser Wissensevolution besteht aber – und hier ist Willfried Spohn erneut Recht zu geben – in der Vernachlässigung der externen, globalen Bedingungen für die
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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europäische Integration. In den von uns betrachteten Programmen der Europastudien spielt dieser Aspekt in der Tat keine große Rolle. Die vorliegenden Ansätze aus der historisch orientierten Sozialwissenschaft (Eisenstadt 1987; Wallerstein 1989) können zwar methodische und allgemein intellektuelle Referenzpunkte bieten. Einen Ersatz für die systematische Aufarbeitung der europäischen Integration im globalen Kontext stellen jedoch auch sie nicht dar.
3
Europastudien in der Bundesrepublik
Wie sieht nun nach diesem Ausflug in die europäische Landschaft der EuropaStudiengänge die Lage in Deutschland aus? Auch hier ist die Datenlage schwierig, weil im Zuge des Bologna-Prozesses stetig neue Programme entwickelt werden. Die Umstrukturierung der Ausbildungsstruktur auf die Abfolge Bachelor/Master ist noch in vollem Gange, und so steht die Entwicklung neuer Masterprogramme an vielen Universitäten auf der Tagesordnung. Die derzeitige Gesamtzahl von 38 Europastudien-Programmen auf MasterNiveau wird sich also aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren noch ändern. Folgt man Parsons sozialwissenschaftlichen Kategorisierung in die Subsysteme von Gesellschaften, liegt bei den deutschen Europastudien der Schwerpunkt auf den ersten Blick auf rechtswissenschaftlich ausgerichteten Programmen. Daran sind, wie ein Blick auf Tabelle 2 zeigt, in der Regel deutsche Traditionsuniversitäten mit großen Juristischen Fakultäten beteiligt. Von insgesamt 21 überwiegend disziplinär ausgerichteten Studiengängen werden 13 durch die Rechtswissenschaft getragen. In den Bereichen der Politik- und Wirtschaftswissenschaften trifft das jeweils nur für vier bzw. zwei Programme zu. Im Bereich der Kultur sind lediglich zwei Programme verortet, ein linguistisch dominiertes MasterProgramm an der Universität Freiburg und ein sprach- und kulturwissenschaftliches Programm an der Universität Passau. Tabelle 2: Inhaltliche Ausrichtung deutscher Europa-Studiengänge Disziplinärer punkt Kultur Politik Recht
9
Schwer-
Anzahl der Programme 2 4 13
Wirtschaft Interdisziplinär:9 Politik, Recht, Wirtschaft
2 10
Interdisziplinär: andere Kombinationen
7
Ort Freiburg, Passau Chemnitz, HWP Hamburg, Münster, Osnabrück HU Berlin, Bremen, TU Dresden, Frankfurt a.M., Frankfurt (Oder), Greifswald, Hannover, Hanse Law School, Leipzig, München, Passau, Saarbrücken, Würzburg Bamberg, Mainz Aachen (Imprest), Berlin (Europawiss.), Berlin (Euromaster), Bonn, Hochschule Bremen, Hannover, U Hamburg (2x), FH Köln, Tübingen Aachen, Bochum, Bremen, Frankfurt/Oder, Fulda, Göttingen, FH Ludwigsburg/FH Kehl
Hier auch: nur zwei dieser Disziplinen in Kombination, wenn kein disziplinärer Schwerpunkt zu erkennen ist.
18
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Dieser erste Eindruck täuscht allerdings darüber hinweg, dass das dominante Charakteristikum der Europa-Studiengänge in der Bundesrepublik die Interdisziplinarität ist. Womöglich sollten wir besser von Multidisziplinarität sprechen. Denn in vielen Europa-Programmen werden einfach Veranstaltungen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft nebeneinander gestellt. Die Regel ist dabei eine Kombination der Disziplinen Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft. Häufig lässt sich bei den Studiengängen die organisatorische Herkunft erkennen, wenn innerhalb multidisziplinärer Programme das potenzielle Lehrangebot eines Fachbereichs deutlich überwiegt. Hier hilft der Blick auf die Homepage der einzelnen Studiengänge, um ihren Charakter zu ergründen. Eine Beurteilung der Qualität einzelner Studiengänge ist schwierig. Fakultäten werden in der Regel an ihrer wissenschaftlichen Produktivität gemessen. Europawissenschaftliche, d.h. interdisziplinär organisierte Fakultäten gibt es nicht. Die Qualität der Lehre gewinnt allerdings (endlich!) an Bedeutung. Europastudien sind, wie gesagt, eher ein Phänomen der Wissensvermittlung als der Forschung, die vornehmlich im disziplinären Rahmen stattfindet. Eine allgemein gültige oder akzeptierte Evaluation der Lehre gibt es noch nicht. Deshalb enthalten wir uns Aussagen über die Qualität der Studiengänge. Manche Studiengänge verlangen beträchtliche Studiengebühren, so z.B. (Stand Anfang 2005) Tübingen €2.500,- für einen Master of European Studies, die großen Berliner Universitäten €4.500,- für einen „Euromaster“ und €5.000,- für einen MA in European Studies, der als Studiengang der „Europawissenschaften“ bezeichnet wird. Bezahlt werden muss auch für die Programme der European Studies in Bonn (€6.500,-), Bremen (€7.900,-) und Hamburg (€3.000,-). Darüber hinaus existieren speziellere Gebührenstudiengänge, so z.B. an der FU Berlin ein MA für East European Studies (€6.900,-), an der HU Berlin ein MLLP German and European Law and Legal Practice (€1.100,-) sowie ein MA of European Law (€3.000,-) an der Universität Saarbrücken. Von Bedeutung sind die Gebühren in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite helfen sie, die generelle Praxisferne deutscher Universitäten zu überwinden. Durch die Komplexität der Entscheidungen im europäischen Mehrebenensystem erfordert das Studium der europäischen Integration Insider-Kenntnisse über die konkrete Funktionsweise der beteiligten Institutionen auf den verschiedenen Ebenen. Insider aus der Praxis lehren in der Regel nicht an deutschen Universitäten; sie in einen Hörsaal zu locken, kostet z.T. nicht unbeträchtliche Honorare. Die meisten Studiengänge mit Gebühren sind darüber hinaus mehrsprachig ausgerichtet. Sie bieten daher eine wichtige Ausbildungsgrundlage für die Eingliederung in den EU-Arbeitsmarkt, in dem das Englische gegenüber dem Französischen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Insofern stehen Gebühren für Europa-Studiengänge in einem positiven Verhältnis zu deren Praxisorientierung. Auf der anderen Seite signalisieren die hohen Gebühren mitunter auch eine institutionelle Inflexibilität. Besonders größere Universitäten haben in der Regel innerhalb bestehender Fakultäten, Institute oder Fachbereiche genügend Kapazitäten für die Ausstattung eines Studiengangs. Die hohe Autonomie der Lehrstühle erschwert aber häufig die Konzentration der Ressourcen auf ein gemeinsames Programm. Im Resultat entstehen Studiengänge, die an einzelne oder einige wenige Lehrstühle angebunden sind. Die Studiengebühren dienen dann der Finanzierung grundständiger Lehre, die von den regulären Mitgliedern des Lehrkörpers nicht geleistet wird. In solchen Fällen – und vor der Aufnahme des Studiums lassen sie sich schwer bestimmen – sind hohe Studiengebühren nicht immer zu rechtfertigen, denn
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
19
dann könnten gebührenfreie Studiengänge mit breiter institutioneller Basis mindestens vom Prinzip her ein äquivalentes Programm bieten. Tabelle 3: Europa-Studiengänge auf Master-Niveau in Deutschland10 Name der Universität RWTH Aachen
Name des Abschlusses
HU Berlin
MLLP German and European Law and Legal Practice MA in European Studies (Euromaster) (EM)
ReWi
2
Interdisz.
1
MA in European Studies (Europawissenschaften) (MES)
Interdisz.
1
E+D, E, F, S oder IT D, E, F
MA of European Culture and Economy
WiWi, KuWi
2
D
MA in European labour studies
Interdisz. (PoWi, ReWi, Soziologie) ReWi
1
D, E
1
D, E
Interdisz.
1
E
WiWi (VWL) Interdisz.
2 1
D, E E
PoWi, (SoWi)
2
D
ReWi (etwas PoWi und Geschichte)
1
D, E
ReWi
1
D
Interdisz. (+KuWi) ReWi
2 2
D, E D, PL
FU Berlin, HU Berlin FU Berlin, HU Berlin, TU Berlin Ruhr-U Bochum U Bremen
MA in Europastudien International MA Programme in European Studies (Imprest)
LL.M. Eur. Europäisches und Internationales Recht MA in European Studies
Hochschule Bremen U Bamberg MA European Economic Studies (EES) MA of European Studies U Bonn, Zentrum für Eur. Integr.forschung (ZEI) TH Chemnitz MA Europäische Integration – Schwerpunkt Ostmitteleuropa TU Dresden LLM Europäische Integration „Gemeinsame Wege nach Europa: Mittel- und Osteuropa auf dem Weg in die Europäische Union” LL.M.Eur. „Europäisches und InternatiJohannonales Wirtschaftsrecht“ Wolfgang von Goethe U Frankfurt a.M. U Viadrina MA European Studies Frankfurt/O MA German and Polish Law 10
Disziplinärer Schwerpunkt Interdisz. (KuWi) 11 Interdisz.
Dauer in Jahren 2 1
Sprache D E+ IT, P, D, Türkisch oder NL D
Fast alle der hier aufgezählten Studiengänge sind modularisierte MA Studiengänge mit ECTS-System; eine Ausnahme bilden die juristischen LL.M. und LL.M.Eur.-Programme. Die Bezeichnung LL.M. ist nicht geschützt und dient daher höchst unterschiedlichen juristischen Aufbaustudienprogrammen als Abschlusstitel. Hier wurden LL.M.–Programme aufgenommen, sofern sie deutlich erkennbaren inhaltlichen Bezug zum Europäischen Recht aufweisen. 11 Das Attribut „Interdisziplinär“ tragen in dieser Tabelle solche Studiengänge, in denen drei oder mehr Disziplinen mit etwa gleichem Gewicht nebeneinander stehen. Handelt es sich hierbei um eine andere als die „klassische“ Kombination von Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, wird dies in Klammern vermerkt.
20
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
U Freiburg FHS Fulda
U Göttingen
U Greifswald U für Wirtschaft und Politik Hamburg (HWP) U Hamburg U Hamburg U Hannover
Rheinische FH Köln Leipzig U FH Mainz Hanse Law School (HLS) FH Ludwigsburg, FH Kehl München U Münster U Osnabrück U
Passau U U des Saarlandes (Saarbrücken), Tübingen U Würzburg U
MA European Linguistics Sprachwissenschaft MA in Intercultural Communication and Interdisz. European Studies (ICEUS) (PoWi, ReWi, Interkulturelle Kommunikation) MA Euroculture Interdisz. (Geschichte, Philosophie, PoWi, ReWi, Theologie) LLM Comparative Law and European ReWi Law MA in European Studies PoWi
2 2
E, D D, E
1
E, D
1½
D,E
2
D, E
1 1 2
E D, E D, E
European MA in Law and Economics MA of European Studies MA Europäische Integration/ European Studies MLE Europäische Rechtspraxis LL.M International and European Business Law (berufsbegleitend) LL.M.Eur. Europäisches Recht MA in Applied European Studies Master of Laws in Comparative and European Law (LL.M.)
ReWi, WiWi Interdisz. Interdisz. (SoWi)
ReWi WiWi ReWi
2 1 1
D D, E D, E
MA of European Public Administration
Interdisz. (+Verwaltungswissenschaften) ReWi
2
D, E, F
1
D, E
LLM. Europäisches und internationales Wirtschaftsrecht MA European Studies MA Europäische Studien „Europäische Integration und Transformation nationaler politischer Systeme“ MA European Studies LL.M. Eur. Europäisches Recht MA of European Law/“Europäische Integration“ MA of European Studies (MEUS) LLM.Eur. Europäisches Recht
ReWi ReWi, WiWi
1½ 2
D E
PoWi, Verwaltung PoWi
1½ 2
Sprach- und KuWi ReWi ReWi
2 1 1
D D D, E
1 1½
D,E,F D
Interdisz. ReWi
D,E,NL D
Quellen: siehe Fußnote 1.12
4
Die Herausforderung der Europastudien
Das geeinte Europa ist nicht mehr Vision. Es ist ein historisches Faktum. Der Weg dorthin ist anders verlaufen, als es sich die Visionäre der unmittelbaren Nachkriegsjahre vorgestellt 12
Zusätzlich können zwei weitere Seiten mit Überblickscharakter für den deutschen Raum genannt werden: http://www.jurawelt.com/referendare/llm/3353, http://www.unimagazin.de/.
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
21
hatten – nicht über den Königsweg des politischen Konstitutionalismus, sondern überwiegend über die Landstraße des ökonomischen Funktionalismus.13 Für Leser von Marx scheint das selbstverständlich: das europäische Haus ruht auf seiner ökonomischen Basis, und der rechtlich-ideologische Überbau entwickelt sich nach Maßgabe der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Diese waren in den 1950er Jahren weitgehend andere als im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. So ist die Geschichte der Integration auf der wirtschaftlichen Ebene ein Entwicklungsroman von der Zollunion über den Gemeinsamen Markt zur Wirtschafts- und Währungsunion. Auf der politischen Ebene sind wir Zeugen eines dramatischen Dialogs zwischen der europäischen Ebene und den Nationalstaaten, die sich durch die direkte Legitimierung ihrer jeweiligen Regierungen nicht an die Wand spielen lassen. In rechtlicher Sicht werden die Drehbücher der Integration – die Europäischen Verträge sowie das sekundäre Gemeinschaftsrecht und die legislativen Reaktionen darauf in den Mitgliedsstaaten – immer weiter ausdifferenziert und zusätzlich zur Europäischen Menschenrechtskonvention inhaltlich und institutionell weiter entwickelt. Trotz erfolgreicher Integrationsschritte auf den drei Ebenen Politik, Recht und Wirtschaft bleibt indes die Kultur Europas durch eine Diversität gekennzeichnet, die eine Verschmelzung der nationalen Symbolsysteme in einer einheitlichen europäischen Kultur wenig wahrscheinlich macht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass neue, übergeordnete europäische Symbolsysteme entstehen, die das Nationale ergänzen bzw. sogar z. T. verdrängen.
4.1 Kultur Wie im letzten Abschnitt angedeutet wurde, integrieren nur wenige deutsche Universitäten bei einer multi- und transdisziplinären Betrachtung des europäischen Integrationsprozesses den Bereich der Kultur in ihr Lehrprogramm. Lediglich in Aachen, Frankfurt/Oder und Göttingen werden kulturelle Aspekte des Zusammenwachsens mit eigenen Schwerpunkten thematisiert (vgl. nochmals Tab. 3). Im Verhältnis zu ihrer Bedeutung erscheint die Kultur damit unterrepräsentiert. Dabei handelt es sich in mehrerlei Hinsicht um ein Defizit, denn den Europastudien fehlt dann bei ihrem Versuch, fachlich spezialisierte Erkenntnisse zusammenzutragen, eine wichtige Dimension. Politische, rechtliche und wirtschaftliche Institutionen bauen auf kulturellen Voraussetzungen auf. Nach Clifford Geertz (1995: 9), der sich in diesem Punkt auf Max Weber beruft, sind kulturelle Bedeutungsgewebe „selbstgesponnen“ und verfügen über einen nicht zu vernachlässigenden subjektiven Anteil. Wie nun die Bürger verschiedener Gesellschaften Europas die durch die Integration induzierten Veränderungen wahrnehmen, verarbeiten und in soziales Handeln umsetzen, hat eine individuelle Komponente, die kulturell vermittelt ist. Nicht nur auf der Ebene der politischen Kultur, sondern auch bei der Frage nach den konkreten Ergebnissen von Europäisierung sollten daher Aspekte berücksichtigt werden, die über die Implementierung normativer Akte hinausgehen. 13
Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass jenseits der Europäischen Union durchaus quasi-konstitutionelle Entwicklungen stattgefunden haben. Allen voran die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) war Ausdruck des Drangs, dem Gespenst der Schrecken des Dritten Reiches, des Gulags und des Zweiten Weltkriegs auch rechtlich Institutionelles entgegenzusetzen. Viele der normativen Setzungen der EMRK wurden später in das Vertragsgefüge der EG/EU übernommen, sodass tatsächlich nur von einem „Überwiegen“ funktionaler Elemente gesprochen werden sollte.
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
Die kulturelle Seite der europäischen Integration bedeutet damit mehr als nur die Einbeziehung der nationalstaatlichen Geschichtsschreibung, die in vielen Europastudiengängen stattfindet. Sie erfordert gute Kenntnisse der vielfältigen Normierungen gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Gesellschaften Europas, die sich aus unterschiedlichen Traditionen ergeben. Nicht zuletzt deshalb haben die Herausgeber dieses Buches entschieden, der kulturellen Dimension der europäischen Integration mehr Platz einzuräumen, als dies in den meisten Programmen der Europastudien in Deutschland der Fall ist. Die kulturellen Normsysteme stehen im Prozess der europäischen Integration als Traditionen, die sich unter den unterschiedlichen historischen Lebensbedingungen der einzelnen Nationen herausgebildet haben, neben den Fragen der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen sowie der rechtlichen Normsetzungen. Das Wissen um gewachsene kulturelle Ausformungen und die jeweilige Erinnerungspolitik beeinflussen den Integrationsprozess maßgeblich. Sie sind die Basis für die Durchsetzung der Integration, aber auch Grund für manche Kontroversen oder sogar Niederlagen. In der kulturellen Dimension der Europastudien wird daher nicht zuletzt erkundet, wie die kulturelle Differenzierung von nationalen und ethnischen Kulturen verlief. Dies wird in kulturwissenschaftlichen Seminaren geleistet, in denen eine prozessorientierte wissenschaftliche Praxis eingeübt wird (Appelsmeyer/Bilmann-Mahecha 2001). Kulturelle Differenzen treten im zeitgenössischen Europadiskurs an die Stelle der Frage nach der nationalen Identität, doch auch sie bilden für die Integration ein Problem. Gegenseitige Annäherung scheint erst möglich zu sein, wenn man sich dieser Differenzen nicht nur bewusst wird, sondern sie auch zu ertragen beginnt. Der Integrationsprozess ist einerseits gegenseitiges Kennenlernen auf Grund von Literatur, Kunst und Geschichte, und andererseits ein Lernprozess, in dem gemeinsame Werte gemeinsam verhandelt werden, die der europäischen Identität möglicherweise zugrunde liegen. Erst im Zuge dieses Lernprozesses kann ein gemeinsames kollektives Gedächtnis entstehen, worauf erst eine neue Kommunikationsgemeinschaft gebaut werden kann. Ein neues politisches System entsteht sowohl durch politische Verträge wie auch und ganz besonders durch jene bewusste Arbeit am gemeinsamen Kulturgut. Bisherige Wissenslücken müssen daher geschlossen, Tabus aufgearbeitet und aufgelöst werden. Bisherige Konzeptualisierungen der Integrationsideen – sei es die von Europa oder die von Mitteleuropa – sind zu thematisieren, um zu schauen, auf welche Imaginationen politische und rechtliche Entscheidungen zum gemeinsamen Europa dort stoßen, wo sie eingeführt werden sollen (Frevert 2003). In den Beiträgen dieses Bandes zum Bereich Kultur findet der Studierende weniger fertige Antworten als vielmehr neue Gesichtspunkte und Zugangsweisen. In ihnen werden auch methodologische Fragen behandelt. Es soll gezeigt werden, dass eindeutige Meinungen sich niemals aus den sogenannten „harten Tatsachen“ ergeben, sondern auch – und dies vielleicht vor allem – aus unterschiedlichen Zugangsweisen, Interpretationen und Definitionen. Unsere Beiträge vermitteln nicht bloß das Wissen über dargestellte Sachverhalte, sondern auch die Art und Weise, wie die Kulturwissenschaften mit ihnen und mit dem bisherigen Wissen über sie umgehen (Nünning/Nünning 2003). Alle Beiträge in diesem Band verzahnen sich thematisch miteinander, gerade an den Punkten, die für den Integrationsprozess besonders entscheidend sind, wie Gedächtnis, Raum, kulturelle Ähnlichkeiten, und die besonders problematisch sind, wie gemeinsame Werte, Identität, kulturelle Eigenheit. Wie bei jeder Kultur lassen sich unendlich viele Aspekte einer europäischen Kultur ausmachen. Deshalb lässt sich die Zusammenstellung der sechs Beiträge auch nicht als
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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erschöpfende Darstellung der kulturellen Dynamik Europas oder auch nur der Europäischen Union verstehen. Eher handelt es sich um Perspektiven auf Kultur und Kulturen in Europa, bei denen durchaus unterschiedliche wissenschaftliche Instrumente eingesetzt werden. Heinz Dieter Kittsteiner eröffnet die Reihe mit seiner Geschichte der Entstehung von Europa als einem gleichermaßen kulturellen und politischen Raum, den er als eine Verflechtung methodologischer und philosophischer Bestimmungen sieht. Über alle Epochen beobachtet er die Herausbildung der „hellenistisch-jüdisch-christlichen Mischkultur“, in der sich einzelne Mitgliedstaaten der EU in der letzten Zeit aus der „Perspektive der Verlierer sehen können“. Diese gemeinsame historische Erfahrung scheint ein guter Ausgangspunkt für die Verhandlung politischer Strukturen, die ein Europa verhindern können, wo Rechte von Individuen missachtet oder sogar offen verletzt werden. Auf der Basis dieser kulturellen Entwicklung erörtert Jörg Jacobs, inwiefern man in Europa von gemeinsamen Werten sprechen kann. Zu diesem Zweck stellt der Autor die Ergebnisse der soziologischen Forschung der letzten Jahre dar und fragt nach ihrem Integrationspotenzial. Er stellt mehrere Forschungspositionen dar und argumentiert gegen die These vom Zerfall der Werte. Da es keine wertelose Gesellschaft gibt, besteht auch keine Gefahr des endgültigen Zerfalls der Werte. Wir haben es eher mit ihrem Wandel zu tun. Dieser Wandel ist besonders in einem Integrationsprozess intensiv, in dem es zur Pluralisierung der Werte kommt, weil diese zur Neubewertung alter Werte und Traditionen provoziert. Der Pluralismus, der dabei entsteht, bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern jene Einheit in Vielfalt, die mittlerweile zum feststehenden Topos des politischen EU-Diskurses geworden ist. Birgit Schwelling wendet sich dem problematischen Gedächtnis von Europa zu, und weist auf die Versuche in den letzten Jahren hin, das Thema des Holocaust und des Antisemitismus nach der Wende neu aufzuarbeiten. Der Umgang europäischer Länder mit dieser Vergangenheit, die ungetilgte Spuren des Massenmordes hinterlassen hat, wird hier als Anfang für den Aufbau der Verständigung über eine gemeinsame, europäische Erinnerungskultur interpretiert. Keine Geschichte ist eine lineare Erfolgsgeschichte, obwohl die meisten nationalen Historiographien sich Jahrzehnte darum bemühten. Eine Voraussetzung für die Bewältigung der Brüchigkeit von historischen Erinnerungen sieht Schwelling vor allem in einer rigorosen kollektiven Selbstkritik. BoĪena Choáuj diskutiert Mitteleuropa als Integrationsgedanken von 1915 bis zur orangefarbenen Revolution in der Ukraine. Sie verfolgt die Geschichte der Integrationsideen in Mitteleuropa und seinen Hang zum Föderalismus, der durch die politische Entscheidung von Jalta und die kommunistischen Regime völlig verdrängt worden ist. Die Mitteleuropa-Idee erwies sich als eine Art Revitalisierung dieser Ideen zur Wiederherstellung alter Kontinuitäten und eine Chance auf politische Anbindung östlicher Länder an ein gemeinsames demokratisches Europa. Obwohl Mitteleuropa weniger ein politisches als vielmehr ein intellektuelles Gebilde ist, stellt es eine mentale Grundlage für demokratische Strukturen dar, die im Zuge der Transformation nach der Wende in diesem Teil von Europa wieder möglich geworden sind. Karl Schlögel thematisiert einen weiteren Bruch in Europa, den Kalten Krieg und seine politischen und mentalen Spuren in den heutigen Gesellschaften. Diese lassen sich nicht nur in Ost- und Ostmitteleuropa beobachten, sondern auch in den alten EU-Mitgliedstaaten. Ihrer Überwindung würde eine „Neuvermessung“ Europas dienen, d.h. ein anderer, direkterer Umgang mit den östlichen Nachbarländern. Schlögel spricht von der Aufgabe der Kul-
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T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
turwissenschaften, den für den Westen „verschwundenen kulturellen Raum“ des östlichen Europa neu zu „explorieren“, d.h. vor allem mit Hilfe von Literatur, Philosophie und Reisen neu zu erkennen. So plädiert er für „Vergegenwärtigung der Räumlichkeit alles geschichtlichen Geschehens“, denn die Geschichte ist nicht bloß ein Produkt nationaler Historiographien, sondern sie ergibt sich auch aus vielen Erzählungen jenseits nationaler Grenzen. Erst diese lassen ein differenziertes Osteuropa erkennen, was im Westen zur Überwindung der Vorstellungen des Kalten Krieges beitragen kann. Während die Bedeutung der politischen Grenzen zwischen den Nationalstaaten stark abnimmt, entsteht durch zunehmende Bemühungen um eine neue europäische Identität eine Raumordnung, in der sich die Grenze zwischen der Europäischen Union und den übrigen Staaten verfestigt. Werner Schiffauers Ausführungen zum migratorischen Raum weisen darauf hin, dass es sich dabei einerseits nicht um eine dichte Grenze handelt und daher – bisweilen nicht genügend bewusst gemachte – fließende Übergänge zwischen Europa und den angrenzenden Räumen bestehen. Andererseits bewirkt nicht zuletzt die Migration in Europa eine zunehmend transnationale Gesellschaft, deren Zusammensetzung sich keineswegs auf die Kulturen beschränkt, die traditionellerweise in Europa und deren Nationalstaaten verankert waren und sind. Auch Schiffauer verweist auf mehrere Schulen und Forschungsoptionen zu seinem Thema. Für die wichtigste hält er einen solchen Forschungsansatz, in dem die kulturelle Bedeutung der Migrationen im Vordergrund steht. Nur dann können Migrationen als ein Geflecht „grenzüberspannender sozialer Beziehungen“ gesehen werden. Es bildet einen neuen Möglichkeitsraum, in dem weitere Pluralisierungen der Werte, von denen Jacobs spricht, zustande kommen, und das historische kollektive Gedächtnis wieder neu sortiert, und eine neue Erinnerungspolitik verhandelt werden muss. Die kulturwissenschaftlichen Beiträge bilden insgesamt keine autoritativen Aussagen über ausgewählte Themen, sondern stellen Forschungsmöglichkeiten und Forschungsmethoden vor. Sie sind auch kleine Proben dafür, wie im europäischen Integrationsprozess mit kulturellen Phänomenen umgegangen werden kann.
4.2 Politik Wenn sich auch, wie im Funktionalismus, die Logik der europäischen Integration als Folge wirtschaftlicher Notwendigkeiten verstehen lässt, wurde der Einigungsprozess dennoch zweifellos von politischen Akteuren bestimmt. Für die Frühzeit werden dabei häufig die „großen Männer“ der europäischen Integration, z.B. Jean Monnet oder Konrad Adenauer, als maßgebliche Antreiber genannt. Im Integrationsprozess gewannen jedoch auch Institutionen ein Eigengewicht, so die Kommission (die bis 1957 Hohe Behörde hieß) und das Europaparlament nach der ersten Direktwahl im Jahre 1979. Bereits in den 1950er-Jahren siedelten sich auch erste gemeinschaftliche Interessengruppen in Brüssel an. Kurz: Akteure, Institutionen und gesellschaftliche Gruppen und damit ein weites Spektrum politischer Instanzen gehörten und gehören zu den Triebkräften der politischen Einigung, selbst wenn der Einigungsdruck nicht allein der politischen Sphäre selbst entstammte und entstammt. Demzufolge ist es wenig verwunderlich, wenn die politische Dimension der europäischen Integration aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet und analysiert wird. In einem in jüngerer Zeit erschienenen Einführungsbuch werden drei „Erzählungen“ zur Geschichte der europäischen Integration identifiziert (Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: 28-43):
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
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„Große Männer“ werden aus einer akteurszentrierten Perspektive beleuchtet, der Ost-WestKonflikt lädt zu einer strukturellen Herangehensweise ein, die „Sachlogik“ orientiert sich an einzelnen Politik- und Herrschaftsbereichen. Die Bandbreite des politikwissenschaftlichen Schrifttums zur europäischen Integration ist aber noch breiter. Im Sinne der oben skizzierten Ausdifferenzierung der Europawissenschaft sind zeitgeschichtliche, theoretische, institutionell-analytische, politikfeld- und akteursbezogene Werke in großer Zahl erschienen. Mehr im englisch- als im deutschsprachigen Raum wurden dabei Bücher geschrieben, die lehrbuchartig die wichtigsten Aspekte miteinander verbinden (z.B. Dinan 1999; Nugent 1999; George/Bache 2001). Im deutschsprachigen Raum existieren ähnliche Abhandlungen, die aber spezifischere Foki aufweisen: das Lehrbuch von Pfetsch (2001) ist sehr einführend gehalten, die von Werner Weidenfeld (2002; Weidenfeld/Wessels 2002) herausgegebenen Handbücher verzichten auf eine integrierende Perspektive, die Schriften von Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt (2004) und List (1999) orientieren sich stärker an wissenschaftlichen Debatten und fachwissenschaftlichen Fragestellungen. Insgesamt ist die Zahl der deutschsprachigen Lehr- und Informationspublikationen in den letzten Jahren stark gewachsen. Am bemerkenswertesten erscheint dabei der Trend, die Europäische Union nicht mehr nur als Integrationsobjekt zu betrachten, sondern zusätzlich die bereits integrierten Elemente herauszuheben und damit die verfestigten und systemischen Eigenschaften der EU hervorzuheben. In der Logik von Parsons und später Easton wird daher in vielen Werken der Charakter der Europäischen Union als politisches System betont (z.B. Hartmann 2002; Hix 2004). Mehr dazu findet sich im vorliegenden Band im Beitrag von Timm Beichelt, in dem die verschiedenen Ansätze der politikwissenschaftlichen Europaforschung diskutiert werden. Das Fundament hierfür findet sich in den ideengeschichtlichen Ansätzen der europäischen Integration, angefangen in der Antike über das Mittelalter, die Aufklärung und das 19. und 20. Jahrhundert mit dem Gegenüberstehen von „realistischem“ Gleichgewichtsdenken und idealistischen Integrationskonzepten. Ganz generell zeigt sich dabei, wie in den letzten Jahrzehnten ein bisweilen schleichender Übergang von den Europaideen zur Europapraxis stattgefunden hat. Mit den Europäischen Verträgen von Paris (1951), Rom (1957), Maastricht (1991), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) sind abstrakte Ideen der europäischen Integration in den Hintergrund getreten, während deren praktischer Manifestierung in Politik, Recht, Wirtschaft und selbst in der Kultur zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nicht nur die europäische Integration selbst, sondern auch die Produktion von Wissen um und über diese Integration ist damit in gewisser Weise in eine „postpathetische“ Phase eingetreten (Neyer 2004). Zum einen scheint dies zu Integrationsmüdigkeit bei den Bürgern der EU zu führen, wie jüngere Entwicklungen um das Scheitern der Verfassungsreferenden in den Niederlanden und Frankreich zu zeigen scheinen. Zum anderen lässt sich auch in der Europawissenschaft ein Versiegen normativer Europakonzepte konstatieren, wie der Text von Stanisáaw Zyborowicz in diesem Band belegt. Die übrigen Texte des Abschnitts „Politik“ schlagen Schneisen in das unübersichtlich gewordene Feld der politik- und sozialwissenschaftlichen Europaforschung. Stefan Krätke zeigt die transdisziplinären Aspekte der EU-Regionalforschung auf, indem ein politisches Programm der europäischen Institutionen in seinen geplanten und realen Auswirkungen analysiert wird. Es handelt sich um das Europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK), ein polyzentrisches Entwicklungsmodell der europäischen Raumstruktur, welches das besondere Verhältnis von politischem Gestaltungswillen und ökonomischen Wirkungskräften
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beleuchtet. Damit geht die Analyse über die meisten Betrachtungen der Regionalpolitik der EU – die damit hier stellvertretend für viele andere denkbare Politikfelder behandelt wird – hinaus (siehe z.B. Axt 2000), wenn ökonomische, geographische und demographische Entwicklungen gleichermaßen als Rahmenbedingungen für politisches Handeln begriffen werden. Auch mit dem Beitrag von Michael Minkenberg versuchen die Herausgeber, auf eine stärkere Multiperspktivität zu setzen als in der Europawissenschaft häufig üblich. Minkenberg setzt sich – wiederum stellvertretend für viele andere politische Phänomene auf transnationaler Ebene – mit der Stärke und den Ausprägungsformen des europäischen Rechtsradikalismus auseinander. Jenseits seiner konkreten empirischen Ergebnisse unterstreicht der Autor damit die wichtige Stellung der vergleichenden Politikwissenschaft für die Analyse europäischer Politik. Diese reiht sich in das oben beschriebene Reibungsverhältnis zwischen ganzheitlicher und spezieller Wissenschaft: Ohne ein Verständnis des europäischen Rechtsradikalismus lassen sich manche Phänomene der europäischen Politik, z.B. das Anwachsen EU-skeptischer Bevölkerungsteile und Eliten, schlecht erklären. Allerdings sind dafür Methoden und Ansätze jenseits der traditionellen Europaforschung erforderlich. Ein letzter Beitrag im politikwissenschaftlichen Teil widmet sich dem vielleicht wichtigsten Ereignis des letzten Jahrzehnts der europäischen Integration, der Osterweiterung. Am Beispiel Polens wird der Weg nachvollzogen, den die neuen Mitgliedsstaaten auf ihrem Weg in die EU gehen mussten. Dabei erscheint im Text von Beata Przybyáska charakteristisch, dass viel von Verhandlungen zwischen Administrationen und Vertragsgestaltungen, wenig jedoch von der genuin politischen Gestaltung des Beitrittsprozesses die Rede ist. Der Bedeutungsverlust von Europaideen hat offenbar auch zu einem Übergewicht solcher Institutionen geführt, die den geronnenen Idealismus des europäischen Einigungsprozesses verkörpern und in administrierte Politik übertragen.
4.3 Recht Der europäische Einigungsprozess bliebe wohl sehr unbestimmt und unstrukturiert, gäbe es nicht einen rechtlichen Rahmen für wirtschaftliches, politisches und institutionelles Handeln. Abstrakt gesehen sind viele Tätigkeiten und Verpflichtungen ohne formales Recht zwar denkbar, praktisch aber schwierig oder unmöglich, insbesondere wenn solche Elemente auch nur andeutungsweise komplex werden. Es gilt insofern, die rechtliche Umrahmung der europäischen Integration zu durchleuchten, nicht nur, weil sie passiv wirkt, sondern auch, weil sie einen aktiven Beitrag zum Integrationsprozess leistet. Rechtliche Institutionen und Akteure setzen nicht nur den Rahmen und die Schranken des Geschehens, sie können auch Anstöße geben und Entwicklungen vorantreiben. So ist beispielsweise der Beitrag des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Integration – jedenfalls zu bestimmten Zeiten (insbesondere wenn andere Organe wie Rat und Kommission eher zurückhaltend sind) – mit seinen Entscheidungen zur Auslegung und Anwendung der Verträge und des Sekundärrechts keinesfalls zu unterschätzen. Auch die rechtliche Ausgestaltung der Verhältnisse der Organe der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. der Europäischen Union (EU) zueinander und zu den Mitgliedstaaten spielt im Integrationsprozess eine zentrale – teils vorantreibende, teils bremsende – Rolle.
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Die Staaten Europas – wie die Mehrzahl der Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft – hegen inzwischen ein weitgehend gemeinsames Verständnis bestimmter grundlegender Prinzipien des Staatlichen. Die zentrale Bedeutung bestimmter Grundsätze für einen geordneten und gerechten Staat wird allgemein anerkannt, wenn auch in der Praxis immer wieder Aspekte zum Vorschein kommen, die den Ausspruch „the price of liberty is eternal vigilance“ bestätigen, und häufiger nur von Lippenbekenntnissen gesprochen werden kann. Zu diesen Prinzipien gehören v. a. die der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und des Menschenrechtsschutzes. Sie sind nicht sui generis entstanden, sondern Ausdruck zuweilen erbitterter Kämpfe und harten politischen Ringens. Im Beitrag Alexander v. Brünnecks wird deutlich, dass die Vorläufer des heutigen europäischen Verständnisses solcher Prinzipien in der englischen, amerikanischen und französischen Revolution und deren verfassungsrechtlichen Folgen zu suchen sind. Auch die in diesem Zusammenhang entstandenen rechtlichen Institute und die ihnen zugrunde liegenden politischen Konzepte sind selbst nicht unvermittelt zu Stande gekommen, sondern Ergebnis ideengeschichtlicher Auseinandersetzungen (man denke an Namen wie Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu oder Paine), die größtenteils auf europäischem, aber auch auf amerikanischem Boden stattfanden. Diese Ideengeschichte und ihre rechtliche Ausformung prägen die europäische Entwicklung und den Einigungsprozess bis heute, wie auch bei der jüngsten verfassungsrechtlichen Etappe der europäischen Geschichte, dem Vertragsentwurf über eine Verfassung für Europa, sichtbar wird. Der Beitrag Alexander von Brünnecks zeigt, dass nicht nur die Verfassungsgeschichten der einzelnen europäischen Länder gemeinsame Wurzeln besitzen, sondern auch, dass die angestrebte verfassungsrechtliche Umrahmung der europäischen Integration im Grunde auf diese Wurzeln zurückgeht. Wesentliche Bestandteile dieser verfassungsrechtlichen Elemente sind die Garantie und der Schutz von Grund- und Menschenrechten. Zu den allerersten Maßnahmen der europäischen Integration der Nachkriegszeit gehörte die Errichtung des Europarats als regionaler internationaler Organisation. Die größte und eine der ersten Errungenschaften des Europarats war die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) aus dem Jahr 1950. Es scheint nicht übertrieben festzustellen, dass die europäische Integration ohne ausreichenden Menschrechtsschutz zum Scheitern verurteilt wäre. Auch wenn die Auffassung vertretbar ist, dass der Motor der Integration überwiegend die wirtschaftliche Entwicklung war und ist, bleibt doch festzuhalten, dass sich diese Entwicklung und diese Integration auf gewisse Prinzipien und Grundfreiheiten stützen und stützen müssen. Bestimmte Merkmale des marktwirtschaftlichen Geschehens sind sogar auf Grundfreiheiten angewiesen, die zum Teil im Menschenrechtsschutz verankert sind, auch wenn sie in anderen Rechtsgebieten wie dem Privatrecht näher konkretisiert werden. Zudem spielte nach dem Zweiten Weltkrieg der Ausbau des Menschenrechtsschutzes in den westeuropäischen Ländern offensichtlich eine ebenso wichtige Rolle wie die wirtschaftlichen Entwicklung. Der Beitrag von Carmen Thiele fasst unter Berücksichtigung der historischen Dimension das gesamte System des Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene zusammen. An erster Stelle steht die EMRK zusammen mit anderen im Rahmen des Europarats entwickelten Instrumenten, wie der Europäischen Sozialcharta, der vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Entwicklungen wie anhaltender hoher Arbeitslosigkeit und marktwirtschaftlicher Liberalisierung zunehmende Bedeutung zukommt. Diese Instrumente wurden inzwi-
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schen zum Teil durch wichtige Instrumente auf EG- bzw. EU-Ebene ergänzt, insbesondere durch die Grundrechtscharta der EU, aber auch durch sekundärrechtliche Maßnahmen z. B. zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbots. Auch die Mechanismen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Ursprung in der Zusammenarbeit zwischen den damals noch durch den Eisernen Vorhang getrennten Staaten Ost- und Westeuropas liegt, spielen eine wichtige Rolle. Dies gilt insbesondere für einige Gebiete und Regionen Europas, in denen Jahrhunderte alte Feindschaften sowie geopolitische und religiöse Spannungen immer noch nicht überwunden sind. Wie der Beitrag Thieles zeigt, ist der europäische Einigungsprozess in Bezug auf Menschenrechtsfragen äußerst vielschichtig und zum Teil wenig koordiniert. Die Instrumente und Institutionen sind zwar nach Zahl und Spannbreite noch überschaubar, erscheinen aber in sich nicht besonders systematisch. Weitgehend übersichtlicher – wenn auch nicht geradlinig – ist die Entwicklung der Kernstruktur der europäischen Integration, der Europäischen Union. Diese politische, rechtliche und institutionelle Einheit kann im Rahmen der Betrachtungen dieses Bandes nur in ganz begrenztem Umfang angesprochen werden. Allein die Darstellung der rechtlichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union füllt Dutzende von Kommentaren, Lehrbüchern und Spezialzeitschriften. Angesichts dieser Fülle und des zu einem erheblichen Teil hoch spezialisierten Wissens dient der Beitrag Mathias Pechsteins dazu, einen Einblick in den geschichtlichen Hintergrund der institutionellen Entwicklung zu geben. Er fasst zusammen, aus welchen Vorbildern und ideengeschichtlichen Vorkonzeptionen sich die Idee der europäischen Integration – speziell der EU – speist, in welchen rechtlich-politischen Etappen die institutionelle Struktur und rechtliche Umrahmung entstanden ist und wem die (Fort-)Entwicklung der europäischen Idee nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch politisch zu danken ist: Rousseau, Kant, Coudenhove-Kalergi, Briand, Stresemann, Churchill, Schuman, Monnet und Fouchet, um nur die Wichtigsten zu nennen. Dabei könnte angesichts der häufig geäußerten Kritik am Vorantreiben der europäischen Integration durch eine so genannte politische Elite spekuliert werden, ob das Wirken solcher Personen nicht in Zukunft als für Europa eher schädlich zu bewerten sei. Pechsteins Beitrag zeigt aber eindeutig, dass die rechtliche und institutionelle Integration Europas (im Gegensatz zur vergleichsweise raschen Entstehung z. B. der US-amerikanischen oder australischen Föderationen) über einen langen Zeitraum und lediglich schrittweise – aber doch anscheinend unaufhaltsam – voranschreitet, so dass eine solche Spekulation eher mit Nein zu beantworten wäre. Der rechtliche und institutionelle Rahmen der europäischen Integration in Gestalt der EG bzw. EU und der EMRK ist zwar nicht unabdingbare Voraussetzung für die Rechtsangleichung in Bereichen der Privatrechts oder des Strafrechts, während er in vielen Bereichen des öffentlichen Rechts (Zollrecht, Durchsetzung des Diskriminierungsverbots im Bereich der Grundfreiheiten, Wettbewerbsrecht, Umweltrecht) wohl unverzichtbar ist. Dennoch ist offensichtlich, dass die institutionelle Struktur und weitgehende Integration v.a. der EG die Harmonisierung des Privatrechts begünstigt und beschleunigt. Dieter Martiny macht in seinem Beitrag zunächst deutlich, dass im Privatrecht bisher nur eine Teilharmonisierung stattgefunden hat, und dass das nationale Recht weiter die vorherrschende Rolle spielt, insbesondere im Vertragsrecht, das im Mittelpunkt seines Beitrags steht. Die bisher erfolgte Vereinheitlichung ist nicht primär der europäischen Integration zu danken, sondern den allgemeinen Regeln des sog. internationalen Privatrechts (IPR) bzw. des internationalen Zivilverfahrensrechts, wobei einige Regeln speziell auf europäischem
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Gebiet Anwendung finden. Dennoch kann von einem gemeinschaftlichen Privatrecht gesprochen werden, das durch die Rechtsetzung der EG entstanden ist, das aber keineswegs als flächendeckendes europäisches Privatrecht verstanden werden kann. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang, wohl der Integration des Binnenmarkts entsprechend, die Regelungen im Bereich des Verbraucherschutzes. Die Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Privatrechts bleibt aber im Grunde bescheiden. In einigen Bereichen allerdings, die zu den Kerngebieten der gemeinschaftlichen Tätigkeit gehören, wie die Grundfreiheiten einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, haben gemeinschaftliche Regeln durchaus Einfluss auf bestimmte Bereiche des nationalen Privatrechts (wie das Arbeitsrecht und das Gesellschaftsrecht). Eine weitergehende Angleichung des Privatrechts ist zwar zu erwarten, hängt aber von der Überwindung verschiedener Hindernisse und schließlich auch vom weiteren Voranschreiten der Integration auf der Ebene der EU ab. Dass die strafrechtliche Integration in Europa trotz der institutionellen Entwicklung der EU wesentlich weniger weit gediehen ist als in vielen Bereichen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts, liegt in gewisser Hinsicht auf der Hand. Das Strafrecht ist der Ort, wo der Staat das Individuum am Empfindlichsten treffen kann. Die moderne Rechtsgeschichte Europas ist auch die Geschichte der Überwindung staatlicher Willkür Individuen gegenüber, und dies meist nicht auf gesamteuropäischer, sondern auf nationalstaatlicher Ebene. Dass integrierende Maßnahmen wie die EMRK dazu beigetragen haben und immer noch dazu beitragen, ändert wohl nichts an der Einstellung, man habe den eigenen Staat einigermaßen gezügelt – Wachsamkeit und das unermüdliche Vertreten freiheitlicher Vorstellungen stets vorausgesetzt. Dementsprechend besteht wenig Neigung dazu, eine zweite Front zu eröffnen, indem „neues“, fremdes Strafrecht – eines anderen Landes oder eines „Vereinigten Europa“ – „hereingelassen“ wird. Diese Problematik wird an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Umsetzung des so genannten Europäischen Haftbefehls in das deutsche Recht deutlich. Andererseits, wie im Beitrag von Jan Joerden angesprochen, gibt es inzwischen mehr und mehr Anlässe für eine intensivere strafrechtliche Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, für eine gewisse Harmonisierung des materiellen Strafrechts und auch für eine institutionelle Integration. Einfach gesagt: Straftaten machen an nationalen Grenzen keinen Halt. Je durchlässiger die Grenzen, wie dies im Rahmen der wirtschaftlichen und sonstigen europäischen Integration ja erwünscht ist, umso weniger können sie ein Hindernis für kriminelle Tätigkeiten darstellen. Bestimmte Straftaten (insbesondere Drogen- und Menschenhandel, Terrorismus, Geldwäsche, Korruption) haben – wie weite Aspekte der Wirtschaft – eine solche „Globalisierung“ erfahren, dass Staatsgrenzen kaum mehr eine Rolle spielen. Dass die Bekämpfung solcher Straftaten, ob materiell, prozessual oder institutionell, aber an solche Grenzen gebunden ist, macht sie schwierig und in manchen Fällen fast unmöglich. Daraus ergibt sich das eigentliche Dilemma, nämlich dass die Errungenschaften der freiheitlichen Rechtsordnung bei der Einschränkung des willkürlichen Staates dem Individuum gegenüber durch die unzureichende Bekämpfung solcher Straftaten abhanden zu kommen drohen. Dies ist ein bekanntes Problem des Strafrechts in einem modernen freiheitlichen Staat; das Spannungsfeld verlagert sich hier lediglich auf die europäische – zunehmend sogar globale – Ebene. In seinem Beitrag zeigt Joerden die Anfänge der strafrechtlichen Integration auf europäischer Ebene auf. Insbesondere geht er aber auf eine bestimmte Frage ein, die für die grenzüberschreitende Bekämpfung von Straftaten zukünftig wohl eine immer
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bedeutendere Rolle spielen wird, nämlich die Anwendung der so genannten Kronzeugenregelung. In diesem Zusammenhang wird durch einen interdisziplinären Ansatz deutlich gemacht, welche rechtspolitische Herausforderung in den Argumenten für und wider eine solche Regelung bestehen, Argumente, die ja auch die Vielfalt der europäischen Strafrechtstraditionen widerspiegeln. Trotz der vielfältigen Traditionen in bestimmten materiellen Rechtsbereichen (wie gerade im Strafrecht) besitzen die allermeisten am europäischen Einigungsprozess beteiligten Länder im Grunde eine gemeinsame Rechtskultur. Fast alle am Integrationsprozess aktuell beteiligten Länder gehören zur zivilistischen Rechtstradition, d. h. zu der Rechtstradition in Nachfolge des römischen Rechts (in Skandinavien mit gewissen Abweichungen). Es bestehen aber zwei bedeutende Ausnahmen, nämlich die britischen Inseln außer Schottland, also Großbritannien und Irland, die zum Rechtskreis des so genannten common law gehören. Es stellt sich die Frage, ob es für das Verständnis der europäischen Integration nicht förderlich wäre, mehr über diese andere Rechtskultur zu erfahren. Der englischsprachige Beitrag von Gerard C. Rowe zeigt, dass gerade die Ausnahmequalität des common law im gesamteuropäischen Kontext eine Auseinandersetzung damit rechtfertigt. So bietet in einer Zeit, in der die EU sich eine Verfassung geben will, sich damit aber in eine Krise manövriert hat, die „verfassungslose“ Tradition des common law zumindest Grund zur Entspannung. Sie ist im Grunde die Geschichte eines Staates, der auf eine achthundertjährige, weitgehend stabile und größtenteils freiheitliche Entwicklung zurückblicken kann, ohne auf eine schriftlich fixierte Verfassung angewiesen gewesen zu sein. Dies sollte vielen – ja sogar den meisten – europäischen Ländern, die sich vergleichsweise noch in der verfassungsrechtlichen Experimentierphase befinden, zeigen, dass es nicht auf das Instrument ankommt, sondern auf die Politik- und Rechtskultur, die nicht festgeschrieben, sondern nur gelebt werden kann. Rowe argumentiert deshalb nicht gegen eine Verfassungsgebung für Europa, sondern weist lediglich darauf hin, dass der Integrationsprozess durchaus weiter vorangetrieben werden kann und soll, ob mit oder ohne Verfassung. Im Übrigen bietet das common law als methodischer und rechtskultureller Spiegel eine gedankliche Öffnung gegenüber den Rechtsordnungen des europäischen Festlands, die wegen ihres gemeinsamen Ursprungs und der gemeinsamen Tradition untereinander große Ähnlichkeiten aufweisen. Mit dem common law verfügt man deshalb über eine deutlich größere Vielfalt an Lösungsansätzen für rechtliche und gesellschaftliche Probleme. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass die Rechtstradition des common law den europäischen Integrationsprozess selbst beeinflusst, so dass es auch insofern Aufmerksamkeit im Rahmen von Europastudien verdient.
4.4 Wirtschaft Die Union, das europäische Haus, wird seit dem Vertrag von Maastricht (1992) häufig als Portikus eines griechischen Tempels mit drei Säulen dargestellt, die im wesentlichen wirtschaftlich bestimmte Europäische Gemeinschaft, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die gemeinsame Innen- und Rechtspolitik repräsentierend. Dieses Gebäude von Maastricht dürfte wohl kaum Anspruch auf einen Architekturpreis erheben: die erste Säule ist dick wie eine Eiche, und die beiden anderen sind dünn wie Bleistifte. Doch um die Ästhetik geht es hier nicht. Worum es uns geht, ist die Tatsache, dass man auf
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Grund der immensen Bedeutung des Wirtschaftlichen für den Einigungsprozess ganze Bibliotheken mit ökonomischen Europastudien füllen kann. Es wäre ein müßiges Unterfangen, auch nur ansatzweise zu versuchen, hier einen Überblick zu geben. Einen solchen Überblick bieten die einschlägigen Lehrbücher, die den Universitätskursen zur Ökonomie und Politik der europäischen Integration zugrunde gelegt werden. So nimmt es nicht Wunder, dass das Angebot solcher Lehrbücher unter Titeln wie The economics and policies of European integration in englischer Sprache besonders groß ist (Artis/Nixson 2001; Pelkmans 2001; Baldwin/Wyplosz 2004; El-Agraa 2004; Senior Nello 2005). Doch auch im deutschsprachigen Bereich steigt das Interesse an Europastudien und damit das Angebot an Kompendien (Klemmer 1998; Ohr/Theurl 2001; Wagener/Eger/Fritz 2006). Daneben sind die wissenschaftlichen Zeitschriften zu erwähnen, die Europastudien zum Gegenstand haben, z.B. das Journal of Common Market Studies, das Journal of European Public Policy, das Journal of European Integration, das Journal of European Social Policy oder das Journal of Contemporary European Studies. Die englischen Texte dominieren offensichtlich den europäischen Markt. Das ist eine natürliche Folge der Harmonisierung, der Tatsache nämlich, in der lingua franca verstanden zu werden. Und Bücher sind kein Cassis de Dijon, für das wechselseitige Anerkennung genügt, um überall genossen werden zu können. Dabei bestehen durchaus interessante Unterschiede in der jeweiligen Darstellung; zum Beispiel greifen deutsche Texte gerne zurück auf die juristischen Kommentare zum Europarecht, während anglo-amerikanische Texte stärker in der Wirtschaftstheorie fundiert sind. Und dann ist es so, dass die Begeisterung für eine supranationale Europäische Union in Großbritannien und Skandinavien deutlich kühler ist als auf dem Kontinent. Doch auch deutsche Analysen des europäischen Einigungsprozesses zeichnen sich durch nicht unerhebliche ordnungspolitische Vorbehalte aus. Wir sehen, von einer Harmonisierung der nationalen Präferenzen kann keine Rede sein. Im letzten Teil unseres Bandes werden beispielhaft einige Aspekte ökonomischer Europastudien vorgestellt. Bei der Fülle der möglichen Themen hat die Auswahl natürlich etwas Beliebiges. Area studies wie Lateinamerikakunde, Asienkunde, aber auch Osteuropakunde konzentrieren sich zumeist auf regionale Besonderheiten, im ökonomischen Bereich auf die Wirtschaftsentwicklung einer Region oder der in ihr gelegenen Länder im Zusammenhang mit ihrem sozio-kulturellen Umfeld. Das hat seine Berechtigung darin, landeskundliches Wissen zu produzieren, auf das zurückgreift, wer in der entsprechenden Region tätig werden möchte. Aber es ist in der Regel theoretisch unergiebig. Das war bei einem Typ der area studies nicht der Fall, den soviet studies seligen Angedenkens, bzw. dem Vergleich von Wirtschaftssystemen. Hier hatte sich neben den landeskundlichen Aspekten auch ein theoretisches Interesse entwickelt, die Analyse von Wirtschaftssystemen (Wagener 1979), aus der wichtige Beiträge zur neuen Institutionentheorie entstanden sind. Ganz ähnlich liegt der Fall bei den Europastudien. Sie werden sowohl von der Institutionentheorie unterstützt wie auch vom theoretischen Paradigma der Integration. Der landeskundliche Aspekt spielt keine so wichtige Rolle, wohl aber die angewandte Wirtschaftstheorie, d.h. die Wirtschaftspolitik. Denn schließlich kommen der Europäischen Union in vielen Politikbereichen erhebliche Kompetenzen zu, die sie im Zusammenspiel mit den Mitgliedländern ausüben muss. Kern der Europäischen Gemeinschaft ist der gemeinsame Markt. So nimmt es nicht Wunder, dass die Regulierung von Marktprozessen im Zentrum der wirtschaftspolitischen Aktivität der Union steht. Die Märkte öffnen, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle
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schaffen, Diskriminierungen unterbinden, das sind die Ziele dieser Politik. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um negative Integration, die Abschaffung von Handelshemmnissen. Eingriffe in das Marktgeschehen werden nur dort für legitim gehalten, wo eklatantes Marktversagen auftritt. Das kann vor allem im sozialen Bereich der Fall sein. Jede Marktordnung ist gleichzeitig eine Sozialordnung. Nur muss das Ergebnis effizienter Märkte nicht notwendigerweise als sozial gerecht empfunden werden. Und was sozial gerecht sei, wird in den Mitgliedländern unterschiedlich bewertet. So ist die Schaffung einer europäischen Sozialordnung, die positive Integration impliziert, d.h. Setzung von gemeinsamen Standards, mit sehr viel größeren Schwierigkeiten verbunden als die Realisierung des gemeinsamen Marktes. Der technisch reinste Markt mit der größten Distanz zur Sozialordnung ist der Finanzmarkt. Man sollte deshalb erwarten, dass hier der Integrationsprozess am weitesten fortgeschritten sei. Was die Marktordnung betrifft, ist das wohl auch der Fall. Doch man mag die Pferde zur Tränke tragen, saufen müssen sie schon selbst. Das heißt, die tatsächliche Integration der Märkte äußert sich im Verhalten der Teilnehmer. Das ist noch immer von nationalen Eigenheiten geprägt. Dabei darf man nicht übersehen, dass die Integration der Finanzmärkte sehr jungen Datums ist – sowohl die Anpassung der ordnungspolitischen Elemente, die die internationalen Transaktionskosten beeinflussen, wie auch die Anpassung des Verhaltens der Marktteilnehmer benötigen Zeit. Das gilt natürlich vor allem für die neuen Mitgliedländer der Union in Ostmitteleuropa, wo eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung erst nach 1990 (wieder) eingeführt worden ist. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Schließung des Risses, der seit dem zweiten Weltkrieg durch Europas Mitte verlief, ist das historische Ereignis am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Länder östlich des Grabens, die gezwungen waren, ein undemokratisches politisches System und ein ineffizientes Wirtschaftssystem zu übernehmen, haben aus diesem Grund nur verlangsamt am gewaltigen Entwicklungs- und Strukturwandlungsprozess der Nachkriegsperiode teilgenommen. Das bedeutet für sie heute, zu Westeuropa aufschließen zu müssen. Diese Aufgabe verwirklichen sie in zwei eng miteinander verbundenen Projekten, der Transformation ihrer politischen und Wirtschaftsordnung und der Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft. Das ist ein weites Feld für Europastudien, die auf diese Weise einen Teil des Terrains der früheren Osteuropastudien besetzen, nachdem diesen im politisch-ökonomischen Bereich mit der sozialistischen Staats- und Wirtschaftsordnung ihre differentia specifica abhanden gekommen ist. Wurde Transformationsforschung zu Beginn der 1990er Jahre noch bevorzugt von alten Osteuropakennern betrieben, so ging sie als interessantes Puzzle rasch in die Hände der Profession allgemein über. (Wir wollen hier nicht darüber rechten, ob das ohne spezifische Kenntnisse von Ort und Zeit zu sinnvollen Ergebnissen führen kann.) Der Transformationsprozess in Ostmitteleuropa findet unter sehr aktiver Beteiligung westlicher Unternehmen statt: die Privatisierung der staatlichen Betriebe hat das westliche Kapital auf den Plan gerufen. Genauso wie die Integration der Finanzmärkte spielen sich aber auch die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Wirtschaftsunternehmen nicht ausschließlich im europäischen Rahmen ab. Vielmehr werden beide Phänomene als typisch für den Prozess der Globalisierung angesehen. Man kann auch sagen, dass die Europäisierung ein Schritt auf dem Weg zur Globalisierung sei. International operierende Wirtschaftsunternehmen gestalten diesen Prozess an der Basis, sowohl was die Marktordnung, als auch was die Sozialordnung betrifft. Sie haben dabei die rechtlichen und die kulturellen Unterschiede
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zwischen den Ländern, in denen sie tätig sind, zu berücksichtigen. Gleichzeitig sorgen sie mit der Übertragung ihrer Unternehmungskultur und dem Versuch, die Politik zugunsten präferierter Regulierungen zu beeinflussen, für einen Ausgleich dieser Unterschiede.
4.5 Schluss Damit schließt sich der Kreis unserer Europastudien. Kultur, Politik, Recht und Wirtschaft sind eigene Gesellschaftssysteme mit eigenen theoretischen Paradigmata. Sie stehen aber nicht isoliert voneinander. Ein adäquates Verständnis dessen, was sich in Europa abspielt, verlangt eine multidisziplinäre Betrachtung. Das haben Europastudien zu leisten.
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Anhang: Master-Studiengänge mit Schwerpunkt Europastudien in Europa Thekla Lange Quellen:14 http://europa.eu.int/comm/education/programmes/ajm/3cycle/index_en.html http://www.icp-ajm.org/postgraduates/ajm.asp http://sfeuropa.swiss-science.ch
Name der Universität Frankreich U des Antilles et de la Guyane U d´Avignon et de pays Vaucluse U de Bordeaux IV U Bordeaux IV
U de Paris I
14
Name des Abschlusses
Disziplinärer Schwerpunkt
Dauer in Sprache Jahren
MA Commerce Européen et International MA professionnel Juriste européen
WiWi
1
F
ReWi
2
F
MA Démographie, Economie du développement et de l´integration MA Droit et Sciences Politiques, Mention droit communautaire et politiques européennes Maîtrise en droit. Mention droit européen DEA Droit Communautaire et Européen DESS Droit européen LLM.de droit français et de droit européen
WiWi
1
F
ReWi, PoWi
2
F
ReWi
1
F
ReWi
1
F
ReWi ReWi
1 1
F FE
Es sind postgraduale Studiengänge (Master-, Aufbaustudiengänge) erfasst, die sich explizit auf Europa beziehen. Zusätzlich zu den o.g. Informationen haben wir versucht, auf den Internetseiten großer Universitäten Europas nach Programmen der Europastudien zu suchen. Die Tabelle kann nur einen groben Überblick geben, vor allem weil durch den Bologna-Prozess die Landschaft der Universitäten und der Europa-Studiengänge stark im Fluss ist und weil die befragten Internetseiten nicht gleichermaßen aktuell sind. Für Hinweise auf Änderungen bzw. Fehler sind die Autoren dankbar.
36 Sciénce Po, Paris
U de Paris II U de Paris V
U de Paris X
U de Paris XI
U de Paris VIII
U de Paris XII
U de Paris Marnela-Vallée U Leonard de Vinci Paris U Cergy-Pontoise U des Sciences et Technologies de Lille I U de Lille II
U Lyon 3 U de Grenoble
U de Toulouse I
U Rouen
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange MA en études européennes (Euromasters) MA mention Métiers de l´Europe MA 2*Droit européen des affaires MA 2 Science juridiques, économiques et de gestion, mention Culture juridique européenne MA 1* Droit Intenationale et européen MA 2 Droit d´affaires européen MA Profesionel Droit. Mention international et européen MA Profesionel Droit. Mention Droit des Affaires, specialité Jurise Européen MA 2 Droit public international et européen MA 2 Droit de l´Union européenne et entreprises MA Entreprise et marché européen DESU Etudes Européenes DESS Management Culturel en Europe DEA La Construction Européenne: enjeux geopolitiques, economiques et socioculturels MA 2 Droit europeén fondamental MA 2 Histoire de droit européen MA 2 Droit européen et droit russe Ma Sciences Politiques Spécialité: Géopolitique et études européennes MA of Arts in European Public Policy DESS Chef de projet européen MA „ESPACE EUROPEEN ECONOMIQUE ET SOCIAL“ MA 2 Droit, mention defénse et securité nationales et européennes MA Science Politique, spécialité Métires de ´Europe MA 2 Droit communautaire appliqué MA 2 Recherche Droit Européen MA 2 Droit international et européen MA 2 Carrières juridiques internationales et européennes MA Europe Maîtrise en Droit International et Européen MA 2 Européen et Sciences du Travail
MA de Droit, mention: Droit international et européen
Interdisz. mit sozialwissenschaftl. Schwerpunkt Interdisz. (PoWi, WiWi, ReWi) ReWi ReWi
1 2
E, (D, S, F, I) F
1 1
F F
ReWi ReWi ReWi
1 1 2
F F F
ReWi
2
F
ReWi
1
F
ReWi
1
F
WiWi Interdisz. Interdisz. (Kulturpolitik, ReWi, Kulturelle Institutionen, europäische Kultur) Interdisz. (PoWi, KuWi, ReWi, WiWi, KuWi)
1 1 1
F F F
1
F
ReWi Rechtsgeschichte ReWi PoWi
1 1 1 2
F F F F
Interdisz. PoWi, Verwaltung, ReWi Interdisz. WiWi
1
E, F, D
1 2
F F
ReWi
1
F
PoWi, ReWi
1
F
ReWi ReWi ReWi ReWi
1 1 1 1
F F F F
Interdisz. ReWi
2 1
F F
Interdisz. (WiWi, ReWi, PoWi, inhaltlicher Schwerpunkt: Arbeit) ReWi
1
F
2
F
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien? U de Strasbourg III Institut des Hautes Études Europeénnes de Strasbourg
U d´Aix-Marseille I U d´Aix – Marseille III
U de Montpellier I U de Nancy II
MA 2 Droit de l´Union Euopéenne
ReWi
1
F
MA 2 Politiques Européennes MA in European Studies
PoWi Interdisz. (Geschichte, ReWi, WiWi)
1 1
F F, E
MA 1 Droit et études européennes Mention Études interdisciplinaires européennes MA 2 Droit et études européennes Mention Droits de l´homme MA d´Etudes Européennes
Interdisz. (Geschichte, ReWi, WiWi, PoWi)
1
F
ReWi
1
F
Interdisz.
2
F
MA 1 Systemes de droit en Europe
ReWi
1
F
Mater 1 Droit international et droit européen MA 2 Droits européens compares MA 2 Management Européen MA 2 Droit européen Diplôme d'études supérieures européennes
ReWi
1
F
ReWi 1 WiWi 1 ReWi 1 Je nach Spezialisierung: PoWi 1 und ReWi, WiWi oder Interdisz.* ReWi 3
F F F F
Magistère de Juriste d´affaires européen MA d´etudes juridiques eurpéen Mastère en relations publiques européennes
U de Rennes I
37
MA Droit européen
DEA en Economie Industrielle Européenne U de Tours MA en droit européen MA 2 Economie Européenne du Tourisme U de Valenciennes MA 2 Droit des Affaires Européennes et Internationales U catholique de DES/ MA in European Studies Louvain U de Nice MA in advanced European and international Studies MA in advanced European and international Studies U de Poitiers MA 2 droit des affaires, spécialité Droit francaise et européen des affaires MA 2 Science du management, spécialité gestion financière et fiscal européenne
F
ReWi 1 Rechtl., 1 kommunikationswissenschaftl. und kulturwissenschaftl. Schwerpunkt ReWi 1/2
F F
WiWi, PoWi
1
F, E
ReWi WiWi
2 1
F
ReWi
1
F
Interdisz. PoWi, WiWi, Soziologie Interdisz.
1
F/ E
1
Interdisz.
1
F, E, D* F, E, D
ReWi
1
F (P?)
WiWi
1
F
F
38 Italien U Siena
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange
MA of European Studies
Interdisz. (Geschichte, ReWi, WiWi, PoWi, Soziologie, Statistik) MA Politics in Europe PoWi MA in Contemporary European Stud- Interdisz. mit sozialwissenies: Politics, Policy, Society (Euromas- schaftl. Schwerpunkt ter) Johns Hopkins U – MA European Studies Interdisz. SAIS Bologna Center U degli studi di MA in European Studies Interdisz. (ReWi, WiWi, Firenze PoWi, Geschichte) European MA in Labour Sciences Interdisz. European Univer- LLM in Comparative, European and Internationales ReWi sity Institute International Law Florenz Collegio Europeo Advanced Diploma In European Interdisz. die Parma Studies (ADES) Tor Vergata U MA in European economy and InterWiWi Rom national Finance MA II Universarioin Guiridizioni ReWi internazionali (universali ed europee La Sapienza U MA in studi europei e relazioni interWiWi, PoWi Rom nazionali MA in Instituziono Parlamentari Interdisz. europea e Storia Constituzionale U Padua MA in Integrazione Europea WiWi, ReWi U Lecce MA in Pedagogia interculturale e Pädagogik deminesione europea dell educazione U Catania MA in Euro-Mediterranea, Partnership Interdisz. (PoWi, WiWi, Studies Soziologie, Kuwi)* Corso di Laurea Specialistica Governo PoWi dell Unione Europea e Politica Internazionale U Ferara MA in Fondamenti guiridici ed appli- Interdisz. cazione operativa delle politiche e die programmi comunitari negli stati membri dell Union europea U Udine MA Euroculture Interdisz. Spanien U de La Coruña MA in Studies of the European Union Interdisz. (ReWi, wirtschaftl., soziale politisch Integration) U Carlos III de MA in European Union Law ReWi Madrid U Carlos III de Máster en Cultura Política Europea Interdisz. mit sozialwissenMadrid Contemporánea (Euromaster) schaftl. Schwerpunkt U de Barcelona Especialización en Derecho de la ReWi Unión Europea/Diploma de postgrado U del País Vasco- MA en Interacion Europea Interdisz. (PoWi, WiWi, Euskal, Bilbao ReWi) U de Deusto, MA Euroculture Interdisz. Bilbao U Pontificia de MA en Estudios Europeos y Derechos Interdisz. Salamanca Humanos U de Valencia MA en Derecho de la Union Europea ReWi, PoWi
1
F, E, I
1 1
E E, (D, S, F, I)
2
E, F, D, R, S; I
1
I
1 1
I E F
1
I, E, F
1
E
1
I
1
I
1
I
1 1
I I
1
E, F
2
I
1
I
1
I, E
1
S, E, F
1½
E
1 1
E, (D, S, F, I) S
1
S
1
S, E
1
S
1
S
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien? U de Santiago de Compostela
U de Castilla - La Mancha, Toledo Real Instituto de Estudios Europeos, Zaragoza Portugal U Técnica de Lisboa U de Coimbra Belgien Katholieke U Leuven
U libre de Bruxelles
39
MA en Estudios Europeos
Interdisz.
2
S
Direito Publico Proceso de Integracia Unia Europea MA en Derecho Comunitario
ReWi
2
S
ReWi
2
S
MA en Comunidades Europeas y Unión Europea
Interdisz.
1
S
Mestrado em Economia e Estudos Europeus Mestrado de Ciencas JuridicoCommunitaris
Interdisz.
2
P
ReWi
2
P
MA in European Studies
Interdisz.. EU-Integration, West- und Osteuropa PoWi Interdisz. (WiWi, PoWi, KuWi und Geschichte) ReWi
1
E
1 1
E E/ F
1
F
PoWi WiWi WiWi (etwas PoWi)
1 1 1
F/ E F/ E E
Interdisz. ReWi
1 1
E, D E
ReWi, WiWi ReWi
1 1
E E/ F
Interdisz. (PoWi, WiWi, ReWi) WiWi Interdisz.
1
E/ F
1 1
E/ F E/ F
ReWi
1
E
Interdisz. Interdisz. PoWi Interdisz. ReWi Interdisz., Schwerpunkt Journalismus Interdisz., Schwerpunkt Kommunikation ReWi PoWi, WiWi
1 1 1 1 1 2
E E E E E E
1
E
1 1
E E
MA of European Politics and Policies. MA in European Studies
LLM in European Law (Diplome d´études specialisées en droit europeéne) MA European Politics MA in European Economics Universiteit AntMA Economics of International Trade werpen and European Integration Gent U MA Euroculture LLM in European and Comparative Law European MA in Law and Economics* Collège d'Europe/ MA in European Law College of Europe, Brüssel/ Natolin (Warschau) European Political and Administrative Studies MA in European Economic Studies MA in Interdisziplinary Studies Niederlande U of Groningen MA of Laws (LL.M.) in European Law MA in Euroculture U Maastricht MA analysing Europe (IMPREST) MA in European Studies MA of European Public Affairs MA European Law School U van Amsterdam European’ master’s programme in Journalism MSc European Communication Studies LL.M. European Private Law Amsterdam Exec. Masters in International and School of Interna- European Relations & Management tional Relations
40 The Hague U Schweden Lund U Stockholm U Uppsala U Finnland U of Turku
Dänemark Aalborg U Roskilde U Aarhus School of Business Litauen Kaunas U of Technology Vytautas Magnus U, Kaunas
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange MA European Law and Policy
ReWi, PoWi
1
E
MA of European Affairs Programme
Interdisz., PoWi, ReWi, WiWi ReWi Interdisz.
1
E
1 1
E E
MA European Studies Master’s Degree in European Social Policy Analysis
Interdisz. PoWi
1 1
E E
MA of Social Science Programme in European Studies Master’s Degree in European Social Policy Analysis MSc in EU Business & Law
Interdiz. Schwerpunkt auf PoWi PoWi
2
E
1
E
WiWi, ReWi
1
E
MA European Integration
Interdisz.
2
E/ L
MA in Euromanagement MA in Administration of the Institutions of EU
WiWi 2 PoWi, einige Interdisz. Veran- 2 staltungen
E/ L E/ L
ReWi
1
E
Interdisz. Interdisz., Schwerpunkt PoWi ReWi
1 2 1
P P P
ReWi
1
P
Interdisz. (PoWi, SoWi, Journalismus) Interdisz.
5
P
5
P
Interdisz. WiWi, ReWi, PoWi
1
P/ E
PoWi, ReWi PoWi und Verwaltung
1 1
P P
Verwaltung, WiWi
1
P
Interdisz.
1
P/ E?
MA of European Law MA Euroculture
Lettland The Riga Graduate LL.M in International and European School of Law Law Polen U àódzki U SzczeciĔski
U Warszawski
Warsaw School of Economics
GdaĔsk U
Podyplomowe Studia Europejskie* MA of European Studies Studia podyplomowe Prawo Europejskie i Prawa Czáowieka* Podyplomowe Studium Prawa Europejskiego* Magister Europeistyka Magister Europeistyka Podyplomowe studium Europejskich stosunków finansowo-ekonomicznoprawnych* Podyplomowe Studium Europejskie* Podyplomowe Studium Administracji publicznej i podejmowania decyzji w Unii Europejskiej* Podyplomowe Studium Administracji europejskiej, funduszy unijnych i polityki gospodarczej* Interdyscyplinarne Studium Podyplomowe Unia Europejska* Studium Podyplomowe Integracja Europejska ĝrodki pomocowe UE i zarządzanie przedsiĊbiorstwem w warunkach rynku wewnĊtrznego*
Interdisz., PoWi, ReWi, WiWi 1
P
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
Cracow U of Economics JagielloĔski U Krakow
Akademia Pedagogiczna, Krakau Tschechische Republik Karls-U, Prag
U Brno
Ungarn Central European U Österreich U Wien Donau-U Krems Karl-Franzens-U Graz Slowenien U of Maribor U of Ljubljana Griechenland National and Kapodistrian U of Athens National and Kapodistrian U of Athens Malta U of Malta Irland U College Dublin, Irland
Podyplomowe Studium „Edukacja Europejska“* Europeistyka i przemiany globalne* Integracja Europejska Studia podyplomowe Integracja Europejska* Podyplomowe Studium Prawa Europejskiego* MA in European Studies MA in Euroculture MA in Central & Easteuropean Studies Magister Europeistyka
41
Interdisz.
1
P
PoWi, SoWi Interdisz. Interdisz., Schwerpunkt WiWi
5 5 1
P P P
ReWi
1
P
Interdisz. Interdisz. Interdisz. Interdisz.
2 1 1 2,5
E E E P
East and Centraleuropean Studies MA Economics of International Trade and European Integration MA European Studies and International Relations MA European Politics
Interdisz. WiWi (etwas PoWi)
1 1
E E
PoWi
2
T
PoWi
2
E
MA in International Relations and European Studies
Interdiziplinär (PoWi, ReWi, WiWi, Geschichte)
1
E
MA European Studies
Interdisz. PoWi, WiWi, ReWi Interdisz., PoWi, WiWi, ReWi ReWi ReWi, PoWi
1
D
1 2 1½
D D E/ D
Magistrski študijski program Gospodarsko pravo Evropske* Master’s Degree in European Social Policy Analysis
ReWi
1
S
PoWi
1
E
MLL in European Law
ReWi
2
G
MA in European Politics and Society MSc in International Economics and Finance
PoWi WiWi
2 1
G/ E G/ E
MSc inEuropean Economic Studies
WiWi
1
G/ E
MJur In EU and Comparative Law MA in European Studies
ReWi Interdisz.
1 1
E E
MA in European Studies
Interdisz.
1
E
MEcon SC (MA of Economic Science in European Economic and Public Affairs)
Interdisz.
1
E
MA European Studies LLM EURO-JUS (Berufsbegleitend) LLM in European Integration and South East European Law
42 National U of Ireland Maynooth
U of Limerick
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange MA European Studies
PoWi, WiWi
1
E
Master’s Degree in European Social Policy Analysis MA in European Integration
PoWi
1
E
Interdisz. (PoWi, ReWi, WiWi, Geschichte) ReWi
1
E
1
E
MA in Contemporary European Stud- Interdisz. mit sozialwissenies: Politics, Policy, Society (Euromas- schaftl. Schwerpunkt ter) MA in European Integration and PoWi und EU-ReWi Public Policy
1
E, (D, S, F, I)
1
E
MA in European Studies MA Russian and East European Studies MSc in Contemporary Russian and East European Studies LLM European law MA in Contemporary European Studies MA in European Politics MA European Law and Policy MA European Studies LLM in European Legal Studies MA/MPhil in European Politics MA in European Parliamentary Studies MSc in the International Relations of the European Union MSc in Policy-Making in the European Union MSc in European and International Studies LLM European Lagal Studies MA European Studies MA European Integration MA in European Politics LLM European Community Law LLM European Business Law MA in European Governance MA European Integration LLM European Law MSc European Economic Integration MA in International Relations and European Studies MSc in International and European Politics European & Comparative Politics LLM European Law MA in Euroculture LLM European Law MA in European Union Politics MA European Studies
Interdisz. (breites Konzept) Interdisz.
1 1
E E
Interdisz.
1
E
ReWi Interdisz., Schwerpunkt SoWi
1 1
E E
PoWi ReWi, PoWi Interdisz. ReWi PoWi PoWi
1 1 1 1 1 1
E E E E E E
PoWi
1
E
PoWi
1
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PoWi
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E
ReWi Interdisz. Interdisz. PoWi ReWi ReWi PoWi Interdisz. ReWi WiWi PoWi
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
E E E E E E E E E E E
PoWi
1
E
PoWi ReWi Interdisz. ReWi PoWi PoWi
1 1 1 1 1 1
E E E E E E
LLM in European and Comparative Law Großbritannien U of Bath
Queen’s U of Belfast, Nordirland U of Birmingham
U of Sussex
U of Portsmouth U of Leeds Loughborough U
Cardiff U U of Essex
U of Kent
U of Edinburgh
U of Liverpool Liverpool John
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien? Moores U U of Lincoln U of Leicester De Montfort U Leicester Lancaster U
Robert Gordon U Abedeen U of Aberdeen U of Cental Lacashire U of Surrey U of Exeter
U of Glasgow
U of Cambridge Anglia Polytechnic U
South Bank U London London Metropolitan U
LLM in European Law LLM/MA European Law and Integration MA in European Cultural Planing
ReWi ReWi
1 1
E E
Interdisz.
2
E
MA in European Institutions and Policy Making LLM in European and International Legal Studies MSc in European Environmental Management MSc European Policy Law and Management LLM in Internationale & European Law LLM European Law
PoWi, ReWi
1
E
ReWi
1
E
Interdisz.
1
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Interdisz.
1
E
ReWi
1
E
ReWi
1
E
MA in European Politics, Business & Law MA in European Studies
Interdisz.
1
E
Interdisz. Geschichte, PoWi, Soziologie Interdisz.
1
E, F, S
1
E
ReWi PoWi ReWi, PoWi Literaturwissenschaft, Philosophie Interdisz.
1 1 1 1
E E E E
1
E
Interdisz.
1
E
Interdisz. Sprache und Kultur der EU ReWi
1
E
1
E
Interdisz. PoWi, Verwaltung, ReWi PoWi
1
E, F, D
1
E
Interdisz. Ideengeschichte
1 1
E E
1 1
E E
1 1 1
E E E
1 1 1 1
E E E E
MA in European Languages and Culture LLM European Law MA in European Governance LLM in European Legal Studies MLitt in European Culture, Thought & Literatur Mres in Russian and East European Studies MA in Contemporary European studies MA European Language & Intercultural Studies LLM/MA International & European Business Law MA in Public, Policy Studies
MA in International and European Studies MA Modern Europan Studies University College MA in European Thought London MA in European Culture MA In European Society
U of London
43
Interdisz. Interdisz., Sozialwissenschaftl. Schwerpunkt MA in European History Geschichte MSc In European Public Policy PoWi MA in Andvanced Legislative Studies, ReWi EU Direction MSc European Policy & Management PoWi, WiWi MSc European Politics PoWi MSc European Public Politcy PoWi MA European Cultures Interdisz.
44 London School of European Studies and Political Sciences
Brunel U West London U of Durham/ U of Newcastle upon Tyne U of Newcastle Upon Tyne U of Staffordshire U of Dundee
U of Hull U of Glamorgan
Coventry U U of Keele U East Anglia, Norwich U of Nottingham U of Wales Swansea
T. Beichelt, B. Choáuj, G.C. Rowe, H.-J. Wagener und T. Lange MSc European Political Economy*
PoWi, WiWi
1
E
MSc in European Studies (Research) MSc in European Social Policy LLM European & International Commercial Law MA European Integration
PoWi, WiWi PoWi ReWi
1 1 1
E E E
PoWi
1
E
LLM in European Legal Studies MA in European Union Studies
ReWi ReWi, PoWi
1 1
E E
MA Economics of International Trade and European Integration LLM European Energy&Natural Resources Law and Policy MSc European Politics LLM in European Public Law MA in European Union Governance MSc European Societies
WiWi (etwas PoWi)
1
E
ReWi (PoWi)
1
E
PoWi ReWi PoWi Interdisz., Sozialwissenschaftl. Schwerpunkt ReWi PoWi Ingenieurswissenschaften Interdisz. Polititk
1 1 1 1
E E E E
1 1 1 1 1
E E E E E
SoWi PoWi ReWi PoWi
1 1 1 1
E E E E
Interdisz.
1
E
LLM European Union Law European Nationalism and Integration MSc European Construction MA European Politics and Culture MA in International Relations and European Studies MA in European Union MA in European Integration LLM in European Law MA European Politics MA in European Literary and Cultural Studies
Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Europastudien?
Kultur
45
Europa. Anmerkungen zur Genese eines rastlosen Kontinents
47
Heinz Dieter Kittsteiner
Europa. Anmerkungen zur Genese eines rastlosen Kontinents
1
Die Oder oder Europa
Unsere Universität in Frankfurt (Oder) heißt „Europa-Universität Viadrina“. Das ist ein vielversprechender Titel, und der alte Name dieser 1506 gegründeten Universität ist nicht ganz einfach zu erklären. Es ist die „Alma mater Viadrina“; ihr Name bezieht sich auf den Fluss. Die Oder selbst hat eine Bezeichnung aus der alteuropäischen Wortschicht. Adro heißt Ader, Wasserader. Vjodr scheint ihr erster slawischer Name gewesen zu sein: Ein Fluss im Sumpf, eingebettet in Auenwälder. Wer auf dem Schiff die auf weite Strecken naturbelassene Oder hinunterfährt, sieht noch heute, was gemeint war. Daraus ist im Griechischen iadros geworden, und der lateinische Flußname Viadrus fluvius ist daraus abgeleitet, wobei Viadrus zugleich der Name des Odergottes ist (Schneider 2003). So kommt es, dass unsere Universität schon einen Namen mit gesamteuropäischem Bezug hatte, auch ohne „Europa-Universität“ zu heißen, denn die Oder war ein alter Handelsweg. So kommen wir zwanglos von der Oder auf Europa. Was den Namen betrifft, so ergeht es Europa übrigens nicht besser als der Oder. Euros heißt modrig, neblig, dumpf, düster – „jenes Schwarze im Wasser“, ein Ort nahe der Unterwelt. Die Antike kennt drei Erdteile: Europa, Asien und Lybien, also Afrika. Seit dem sechsten Jahrhundert v. Chr. wird mit Europa das Land nördlich des Mittelmeeres bezeichnet, das Land der „untergehenden Sonne“ – das Abendland. Dieser orbis tripartitus wird mit mythologischen Gestalten in Verbindung gebracht. Die Erdteile bekommen Namen von den Töchtern des Okeanos: Europa, Asien und Afrika sind sozusagen Halbschwestern. Eine andere Genealogie zeigt der Name „Europa“ für die Tochter des phönizischen Königs Agenor: Das wäre dann die „Dunkelaussehende“. Diese Schöne ist gerade mit ihren Freundinnen beim Blumenpflücken auf einer Wiese nahe am Meer bei der Hafenstadt Tyros, als plötzlich ein makellos weißer Stier auftaucht. Er hat nur kleine Hörner und blickt freundlich; sie windet ihm Blumenkränze. Der Stier – denn er ist kein anderer als der ewig auf erotische Abenteuer bedachte Zeus – legt sich nieder; sie steigt auf. „Doch vom Land, vom trockenen Ufer entschreitet allmählich Sachte der Gott mit trügenden Schritten zuerst in das Wasser, Geht dann tiefer hinein und entführt durch das Meer seine Beute. Angstvoll bemerkt es die Jungfrau: sie schaut zurück nach der Küste, Hält mit der Rechten umklammert ein Horn, auf dem Rücken des Stieres Ruht die Linke; es flattert das Kleid und bauscht sich im Winde.“
So steht es in den Metamorphosen des Ovid (1958: 149). Jupiter schwimmt mit Europa bis nach Kreta, nimmt wieder menschliche Gestalt an und zeugt mit ihr den mächtigen König und Gesetzgeber Minos. Die Fabel von Europa und dem Stier hat die bildenden Künstler der Antike beflügelt, und dann wieder die Kunst der Renaissance. Da alle Mythen etwas zu
48
Heinz Dieter Kittsteiner
bedeuten haben, könnte man so sagen: Die geistigen Wurzeln Europas liegen nicht dort, wo wir heute wohnen: nicht in Rom, Paris, London oder in Berlin. Sie liegen an seinen Rändern: In Athen (eigentlich sogar in Ionien, der heutigen türkischen Westküste) und in – Jerusalem. Europa hat eine exzentrische Identität (Brague 1993: 26 ff). Ex oriente lux.
2
Die doppelte Identität: Religion und Philosophie
Die europäische Kultur ist immer theologisch und philosophisch bestimmt gewesen. Das hat ihr eine große Beweglichkeit gegeben; sie konnte hin- und herschalten zwischen zwei Polen: Vernunft und Glauben. Griechische Philosophie und das auf dem Wege der Missionsreisen des Paulus aus Jerusalem nach Westen transportierte Christentum treffen sich in Rom. Europa lebt seit zwei Jahrtausenden in einer hellenistisch-jüdisch-christlichen Mischkultur. Rom ist aber keinesfalls eine passive Vermittlerin. Rom taucht – wie der große Kirchenhistoriker Adolf von Harnack gesagt hat – alles in seine Problemlagen. Im Rom des ersten und zweiten nachchristlichen Jahrhunderts konnte niemand mehr ein Gott sein – der nicht ein Erlöser war. Und daher stellt die Theologie des Apostels Paulus Christus als den Erlöser in den Mittelpunkt (Harnack 1921: 17 ff). Rom ist aber auch der Umschlagplatz der griechischen Philosophie; hochgebildete Römer betrachteten misstrauisch das Treiben dieser neuen „Gottesfreunde“. Der Dichter Lukian verspottete das mit Aberglauben durchsetze Heidentum und die Schwärmerei der Christen gleichermaßen. Als er der Selbstopferung des Peregrinus beiwohnte, schrieb er: „Es ist kein angenehmes Schauspiel, einen alten Mann zu sehen, den man geröstet hat, wobei uns ein abscheulicher Gestank in die Nase stieg“ (Brown 1986: 87). Doch das Christentum setzt sich durch. Das Papsttum überlebt den Untergang des weströmischen Reiches – die Philosophie aber auch. Der Theologe Boethius aus römischem Hochadel, des Verrates angeklagt und zum Tode verurteilt von dem Gotenkönig Theoderich, schrieb im Kerker sein berühmtes Buch „Trost der Philosophie“ – nicht etwa Trost in der Religion. Es zeigt den in Not und Verfolgung auf sich selbst gestellten Weisen und hat auf das Mittelalter eine große Wirkung ausgeübt (Brown 1999: 162). Kein Geringerer als Dante setzte Boethius unter die Theologen des „Vierten Himmels“ (Dante 1877: 65). So beginnt ein in den Weltkulturen einmaliges Wechselspiel zwischen Religion und Philosophie. Bald stützen sie sich gegenseitig, wie in der hochmittelalterlichen Scholastik – sowohl Platon als auch Aristoteles konnten christlich gedeutet werden (vgl. Flasch 1986) –, bald treten sie in Gegensatz zueinander. In der Renaissance und dann wieder im 17. Jahrhundert emanzipiert sich die Philosophie von der Religion und tritt ihr kritisch gegenüber: nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen beider Kontrahenten – und zum Nutzen Europas.
3
Mühsame Anfänge
Europa. Wer sich heute in einem historischen Atlas das Reich Karls des Großen anschaut, erschrickt unwillkürlich. Karl der Große – das klingt so großartig; aber das Land, über das er gebot, umfasste nur Frankreich bis zur Spanischen Mark; hinter den Pyrenäen begann das Emirat von Cordoba. Die Kanalküste wurde von Wikingern bedrängt, der Osten von
Europa. Anmerkungen zur Genese eines rastlosen Kontinents
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den Awaren. Die Sachsen mussten erst gewaltsam christianisiert werden. Dazu gehörten noch Nord- und Mittelitalien bis etwas südlich von Rom. Wer damals nach einem Zentrum der Welt gefragt hätte, wäre – ganz abgesehen von Indien und China – eher an das Bagdad seines Zeitgenossen, des Kalifen Harun al Raschid, verwiesen worden. Der Palast, den Karl sich in Aachen errichten lässt, hatte etwa die Größe der Residenz eines Provinzgouverneurs zu Zeiten des byzantinischen Reiches unter Konstantin (Brown 1999: 321). Doch dieser schmale Landstreifen, dieses Kerneuropa, hat es in sich. Die mittelalterliche Agrarrevolution etabliert ein ausgewogenes, wenn auch noch instabiles Verhältnis von Getreideanbau, Großviehhaltung und high-tech: die Wind- und vor allem die Wassermühlen. Die Mühlentechnik ist vielfältig anwendbar: Man kann auch Pochwerke zum Zerkleinern des Eisenerzes damit errichten. Europa kommt auf die Beine. Das Hochmittelalter ist eine Wärmeperiode, und zwischen 1150 und 1300 beginnt in Europa eine Expansionsphase, die sich auch demographisch bemerkbar macht (vgl. Mitterauer 2003; Seibt 2002). Doch zwischen 1300 und 1450 schrumpft das System wieder. Die Gründe sind Übervölkerung, Nahrungsmangel, Verteilungskriege und Seuchen. Das große Trauma ist die Pestwelle von 1349/51.1 Verglichen mit den mühsamen Anfängen Europas ist die Expansion des Islam ein einziger Siegeslauf. 632 war der Prophet gestorben; um 750 umfasste das Reich der Omajjaden einen Landkomplex von Buchara, Kabul und Samarkand im Osten bis Spanien und Südfrankreich im Westen, verbunden durch die ganze südliche Mittelmeerküste (einen reich bebilderten Überblick bieten: Robinson 1998; Ruthven 2000). Was wäre eigentlich geschehen, wenn Karl Martell in der Schlacht von Tours und Poitiers die arabische Expansion nicht zum Stehen gebracht hätte? Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler hat es einmal bedacht: Dann wäre aus Europa „Frankistan“ geworden, das Kalifat des Nordostens. Städte wie Granada wären an der Loire und am Rhein entstanden (Spengler 1922: 231). Die Kreuzzüge der Christenheit sind auch Raubzüge und ein erster „Zusammenstoß der Kulturen“ im großen Maßstab. Europa eignete sich Zypern, Teile von Palästina und Syrien an, es war aber auf die Dauer zu schwach, diese Gebiete zu halten. Von der Niederlage in der Schlacht von Hattin 1187 gegen Sultan Saladin haben sich die Kreuzritter nie wieder erholt (Mayer 1965: 127). Von Dauer hingegen war der Kulturkontakt mit dem Islam – und das Aufblühen der italienischen Seestädte, allen voran Venedig. Das ist die Lage Europas im späten Mittelalter: Im Osten bildet der Islam eine unüberschreitbare Grenze. Er bildet aber auch eine Art Schutz. Im Jahre 1241 wurde bei Liegnitz in Schlesien ein deutsch-polnisches Ritterheer von den Mongolen vernichtet. Die volle Wucht des Mongolensturms aber traf Bagdad, das 1258 erobert wurde. Doch genau an diesem Punkt feiert der Islam seinen vielleicht größten kulturellen Triumph: Die zentralasiatischen Nomaden nehmen die Religion der Unterlegenen an. Der Islam dehnt sich nun bis nach Indien aus. Im Jahre 1500, kurz nachdem Kolumbus Amerika entdeckt, erreicht der Islam die Malaiische Halbinsel, Sumatra und Java (Robinson 1998: 26).
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Es ist der große Griff der oft unterschätzten Kulturgeschichte von Egon Friedell, die europäische Neuzeit mit der „traumatischen Neurose“ der Pest beginnen zu lassen. Friedell 1930, Bd. 1: 63.
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Heinz Dieter Kittsteiner Die Renaissance und die Neue Welt
Ein neuer Ansturm aus Zentralasien unter Timur-Lenk schwächte die Osmanen vorübergehend, so dass sie Konstantinopel erst im Jahr 1453 erobern konnten (Runciman 2005). Schon vorher aber hatte man byzantinische Gelehrte nach Italien eingeladen, die die Kenntnisse des Griechischen mitbrachten. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts ist die Krise des Spätmittelalters überwunden. Im Humanismus zeigt sich nun die innere Spannung der europäischen Doppelkultur, und der Schwerpunkt verschiebt sich von der Theologie zum ersten Mal auf die Philosophie. Gerade weil Europa eine so wild bewegte Geschichte hat, weil die Antike untergegangen ist, gibt es immer auch, inmitten der Trümmer und Relikte, eine ferne Ahnung der einstigen Größe. Anders gewendet: Ohne Untergänge und Einschnitte keine Renaissancen. Leon Battista Alberti schreibt in seinem Traktat „Della Pittura“, eigentlich sei er schon von der Abnahme der Kreativität im Vergleich zur Antike überzeugt gewesen – als er aber in Florenz die Werke Brunelleschis, Donatellos und Masaccios gesehen habe, habe sich ihm der Gedanke aufgedrängt, ob wir die Antike nicht vielleicht schon überrundet hätten (Procacci 1989: 91). Nun verändert sich auch die Ikonologie der Europa; die Geraubte sitzt nicht mehr wehklagend, sondern triumphierend auf ihrem Stier und nach und nach tauchen auch Darstellungen auf, die Europas Vorrang vor den anderen Kontinenten ausdrücken (vgl. zur Ikonologie: Mundt 1988). Zugleich tritt die europäische Identität neben die ältere Selbstbezeichnung der „Christenheit“. Denn als Francis Bacon 1623 von „uns Europäern“ spricht, geht er davon aus, dass seine Leser wissen, was damit gemeint ist (Hale 1994: 12). Der plündernde und verheerende Ausgriff der Europäer nach Westen, nach Mittel- und Südamerika, kompensiert reichlich das verlorene Terrain im Osten. Europa, die Geraubte, ist nun selbst zur Räuberin geworden. Die Haupthandelswege verlagern sich vom Mittelmeer in den Atlantik. Es entsteht das, was der amerikanische Historiker und Soziologe Immanuel Wallerstein eine europäische Weltwirtschaft genannt hat. Seine Grundidee ist: Um 1500 entsteht etwas Neues, das es bislang nicht gab. Kein neues Imperium; welthistorische Imperien hat es immer gegeben. Es entsteht eine weltweite Vernetzung der großen Handelszentren, die primär ökonomisch, nicht politisch definiert ist. Diese Abfolge der starken Zentren wandert an Europas Küsten entlang: Von Venedig nach Genua, von dort nach Sevilla, später nach Antwerpen, nach Amsterdam und schließlich nach London (Wallerstein 1986: 46). Was wird denn in Sevilla umgeschlagen? Das spanische Silber aus der neuen Welt (Fank 1978: 63). Der Weg dieses Silbers ist interessant. Es bleibt nicht in Spanien, sondern fließt dorthin ab, wo die größte Kaufkraft lockt. In ihrem chronisch defizitären Handel mit dem Nahen und Fernen Osten haben die Europäer keine Waren zu bieten; sie haben aber den Gegenwert in Edelmetall. Das in Peru geraubte Silber endet zum Teil in indischen und chinesischen Schatztruhen. 1559 zieht der französische Humanist Louis Le Roy eine Bilanz: „Bedenket nur, wie weit das Christentum einst gereicht hat und wie viele Länder nun an den siegreichen Türken verloren sind, der Nordafrika und den Balkan besitzt und Wien belagert hat. Als wären die Gebete der Mohammedaner erhört worden, ist Europa von seinem eigenen Blut getränkt. Was für eine Blindheit liegt darin! Wenn ihr mir nicht zuhören wollt, dann hört auf die Stimme unserer gemeinsamen Mutter Europa: „Ich, die ich in den vergangenen Jahrhunderten so viele Entdeckungen gemacht habe, sogar von Dingen, die die Alten nicht gekannt haben – neue Meere, neue Länder, neue Spezies von Menschen, neue Sternbilder –, mit spanischer Hilfe habe
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ich gleichsam eine Neue Welt gefunden und erobert. Aber so großartig diese Dinge auch sind: Im selben Augenblick, da sich der Gedanke an Krieg erhebt, versinken die besseren Künste in Schweigen, und ich bin in Flammen gehüllt und entzweigerissen. Bewahrt mich vor weiteren Übeln: Ehret die Künste des Friedens, der Literatur und des Fleißes und ihr werdet belohnt vom dankbaren Gedenken der Menschheit. Hört nur auf die heilige Stimme Europas“ (Hale 1994: 17).
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Die Religionskriege und die zweite Gründung Europas
Seine Warnung sollte verhallen. Denn mit der konfessionellen Spaltung Europas seit Luther und Calvin war eine Situation entstanden, in der die Konflikte der Großmächte zugleich religiös legitimiert werden konnten. Das ist eine brisante Mischung, denn der Gegner ist dann nicht nur der „Feind“, er ist zugleich der schlimmste Feind, der „Feind Gottes“, ein Häretiker, ein Ketzer. Nun stehen sich Protestanten und Katholiken gegenüber; das spanische und österreichische Haus Habsburg auf der einen, die protestantischen Reichsstände, unterstützt vom schwedischen König Gustav Adolf auf der anderen Seite. Das katholische Frankreich verfolgt seine eigene Politik; die Seemächte Holland und England liegen untereinander im Konkurrenzkampf, können sich aber auch gelegentlich verbünden. Was den Niederländern in einem langwierigen Krieg gegen die Spanier schließlich glückt, misslingt in der Mitte Europas. Als die böhmischen Stände gegen die Habsburger rebellieren, explodiert 1618 dieses europäische Pulverfass – und als der Rauch sich 1648 verzieht, hat der Krieg 30 Jahre lang gedauert (Parker 1991; Buckhardt 1992). Er wird ausgetragen zum großen Teil auf dem Territorium des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, durch das sich von Pommern bis an den Oberrhein eine „Zerstörungsdiagonale“ zieht. Der große Astronom Johannes Kepler, der Wallenstein die Horoskope stellt, schreibt, in Deutschland habe man nur die Wahl zwischen einer Stadt, die schon zerstört ist, und einer Stadt, die noch zerstört werde. Und ein Söldner, der selbst an der Erstürmung und Verwüstung Magdeburgs 1631 beteiligt ist, notiert in seinem Tagebuch: „Ist mir doch von Herzen leid gewesen, dass die Stadt so schrecklich gebrannt hat, wegen der schönen Stadt und weil es meines Vaterlandes ist“ (vgl. Peters 1993: 23). Je länger der Krieg dauert, desto mehr bildet sich eine Art von „Reichspatriotismus“ heraus, der schließlich die Existenz der fremden Söldnerheere auf deutschem Boden überhaupt als den Grund allen Übels betrachtet. Wenn gefragt wird, wann die „Moderne“ beginnt, werden zumeist zwei Jahrhundertzahlen genannt: 1500 und 1800. Wer 1500 sagt, denkt an die Entdeckung Amerikas, wer 1800 sagt, hat schon die industrielle Revolution im Blick. Dazwischen liegt aber das Jahr 1650 und man kann mit guten Gründen sagen: In diesem Zeitraum musste sich Europa wieder neu erfinden. „Three dates, then, for a rupture: around 1500, 1650, and 1800; three (or more) theories of history: 1800, with an emphasis on industrialism as the crucial change; 1650, with an emphasis either on the moment when the first 'capitalist' states (Britain and the Netherlands) emerge or on the emergence of the presumably key 'modern' ideas of Descartes, Leibniz, Spinoza, Newton, and Locke: and 1500, with an emphasis on the creation of a capitalist world-system, as distinct from other forms of economies“ (Wallerstein 1998: 7). Der amerikanische Historiker Theodore K. Rabb hat diesen Einschnitt zwischen 1640 und 1680 die „Stabilisierungsmoderne“ genannt, und es gibt gute Gründe, seiner Auffas-
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sung zu folgen. Rabb hat versucht, die Mitte des 17. Jahrhunderts unter einem einzigen Motiv zusammenzufassen: Es ging um die Stabilisierung einer als krisenhaft erfahrenen Zeit: „Control was the antidote to disarray“ (Rabb 1975: 49; Kittsteiner 2003). Der Dreißigjährige Krieg ist zu Ende. Die Soldateska der Krieg führenden Staaten hat auf allen Seiten etwa die gleichen Gräuel begangen. Theologisch waren sie nicht mehr zu legitimieren. Die großen Wellen der Hexenverfolgungen sind vorüber. Sie „liefen nicht aus“ oder „schliefen ein“, wie man oft noch lesen kann, sondern sie wurden von energischen Obrigkeiten bewusst abgebrochen, die eingesehen hatten, dass sie mit dieser Art von Verfolgungen nur ihr eigenes Land verwüsten. Es gibt eine neue kopernikanische Kosmologie, die mit den Namen Galileo Galilei und Kepler verknüpft ist, und die wenig später von Isaac Newton vollendet werden wird. Sie hatte den Nebeneffekt, dass die alten Orte des Bösen unsicher wurden. Wenn die Welt nicht mehr wie noch im ptolemäischen Weltbild in eine Sphäre über und unter dem Mond eingeteilt wird, gibt es auch für den Satan als „Geist in der Luft“ keinen Raum mehr, von dem her er seine Hexen zu ihrem Teufelswerk aufrufen kann (Kittsteiner 1991). Der englische Historiker Keith Thomas hat diesen mentalen Wandel im Gefolge der neuen Wissenschaften so zusammengefasst: „The essence of the revolution was the triumph of the mechanical philosophy. It involved the rejection both of scholastic Aristotelianism and of the Neoplatonic theory which had temporarily threatened to take its place. With the collapse of the microcosm theory went the destruction of the whole intellectual basis of astrology, chiromancy, alchemy, physiognomy, astral magic and their associates. The notion that the universe was subjected to immutable natural laws killed the concept of miracles, weakened the belief in the physical efficacy of prayer, and diminished faith in the possibility of direct divine inspiration. The Cartesian concept of matter relegated spirits, whether good or bad, to the pure mental world; conjuration ceased to be a meaningful ambition” (Thomas 1978: 769).
Die friedensunfähigen Konfessionen, die so viel Öl ins Feuer gegossen hatten, wandelten sich allmählich in eine verinnerlichte Religiosität. Frömmigkeitsbewegungen wie der Pietismus (Brecht 1993), aber auch Philosophen, die die streitenden Religions-Parteien bändigen wollen, machen den Geist der neuen Zeit aus. Denn worin besteht eine Religion? In der Befolgung äußerlicher Rituale? Benedictus de Spinoza, der aus Portugal geflohene Jude, der aber auch aus der Amsterdamer Synagoge exkommuniziert wurde, veröffentlicht 1670 seinen „Theologisch-Politischen Traktat“. Worin unterscheiden sich denn die Religionen? An gewissen Äußerlichkeiten und Ritualen, die ihre Anhänger ängstlich beachten. Was aber die Moral betrifft, so sind Christen, Muslime und Juden gleich gut oder gleich schlecht. Spinoza möchte die streitenden Konfessionen auf sieben Punkte reduzieren, auf die sich alle einigen sollten. Am wichtigsten ist der Artikel Nr. 5: „Die Verehrung Gottes und der Gehorsam gegen ihn besteht bloß in der Gerechtigkeit und in der Liebe oder Nächstenliebe“ (Spinoza 1976: 218). Thomas Hobbes erklärt die Religion zur Privatsache. Die Konfessionen tun so, als ob sie in der Wahrheit stünden – da sie sich aber widersprechen, haben sie keine Wahrheiten zu verkünden, sondern bloß Meinungen. Die Methode dieser Religionskritik ist bis heute interessant: Man sucht nach den universalisierbaren Gehalten in den Weltreligionen und marginalisiert das Trennende. Die Theologen aller Konfessionen eiferten und zeterten damals über ein solches Maß von Gottlosigkeit.
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Die Aufklärung und die weltweite Expansion Europas
Man kann das 18. Jahrhundert bis in sein letztes Drittel hinein als eine zweite Phase der „Stabilisierungsmoderne“ betrachten. Politisch setzt sich die Idee des „europäischen Gleichgewichts“ durch, und die Großmächte achten darauf, dass es eingehalten wird. Gerät es einmal aus der Balance, wie im Spanischen Erbfolgekrieg zwischen 1701 und 1714, dann ist allerdings der Krieg das letzte Mittel. Zu den Friedensverhandlungen von Utrecht kommt als Sekretär eines französischen Gesandten der Abbé de St. Pierre angereist und unterbreitet den Mächten seinen Plan für einen „ewigen Frieden“. Er besteht im Wesentlichen darin, dass sich alle europäischen Mächte unter Federführung Frankreichs wechselseitig in ihrem Besitzstand garantieren sollen. Immanuel Kant wird 1795 diese Idee noch einmal aufgreifen, weil seiner Theorie nach das revolutionäre Frankreich aus immanenten Gründen zum Frieden geneigt sein muss (von Raumer 1953). Sowohl der Abbé als auch der große Philosoph unterschätzten die Dynamik der Auseinandersetzung in den Kernstaaten. Diese Kämpfe zerfallen in zwei Abschnitte: In der ersten Phase zwischen 1651 und 1689 ringen England und Holland um die Vorherrschaft. Die Auseinandersetzung endet mit der Glorious Revolution von 1688: Wilhelm von Oranien besteigt den englischen Thron; zugleich ist damit die ökonomische Vorherrschaft Hollands beendet. Die zweite Phase durchzieht das ganze 18. Jahrhundert: Nun stehen sich Frankreich und England als weltweite Protagonisten gegenüber. Alle anderen Machtverschiebungen – der Niedergang Spaniens und Schwedens, der Aufstieg Brandenburg-Preußens und Österreichs – sind im Grunde nur Nebenkriegsschauplätze auf diesem großen Schachbrett. Denn im Kern geht es um die Vorherrschaft in Indien und auf dem nordamerikanischen Kontinent (Wallerstein 1998: 81 ff, 283 ff). In diesen großen ökonomisch-politischen Rahmen ist das Zeitalter der Aufklärung eingebettet. In Deutschland neigt man – in Hinblick auf Immanuel Kant – immer dazu, es zu spät anzusetzen und den Durchbruch zum neuen Wissen um 1700 nur als „Frühaufklärung“ zu bezeichnen. Im europäischen Rahmen aber kann gerade diese Epoche als die „Heroenzeit“ der Aufklärung betrachtet werden (Hazard 1939); das sich dann selbst so nennende Siècle des lumières bringt die Verbreiterung und Popularisierung der neuen Erkenntnisse; sein typisches Projekt ist die „Enzyklopädie“. In den Salons des Pariser Adels wird es nun chic, das neue Sonnensystem zu kennen und eine hübsche junge Marquise lässt sich porträtieren – bei der Lektüre der Werke von Isaac Newton (Wagner 1976). Eigentlich erst am Ende dieser Epoche kommt das umstürzende Werk Immanuel Kants, das unser Erkenntnisvermögen nun selbst zum Gegenstand des Philosophierens macht. Denn seine berühmte Frage von 1783: „Was ist Aufklärung?“ mit der ebenso berühmten Antwort „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist ja schon im Rückblick auf die Aufklärung geschrieben (Bahr 1974). Das Werk Kants mit seinen drei Kritiken steht unter den Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? (Kant 1968: Bd. III, 522 ff) Auf die erste Frage antwortet die „Kritik der reinen Vernunft“ und grenzt den Bereich des sicher Wissbaren von den transzendenten Ideen ab. Die sind kein Gegenstand des Wissens, sehr wohl aber praktische Postulate im Bereich der zweiten Kritik, der „Kritik der praktischen Vernunft“. Die Antwort gibt der „Kategorische Imperativ“ als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1968, Bd. V: 30). Die dritte Frage
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aber: „Wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?“ setzt die Sittenlehre voraus und fragt spekulativ nach der Glückseligkeit unter der Voraussetzung der Tugendlehre. Sie führt dazu, dass Kant, angeregt von Leibniz, nun doch wieder einen „Welturheber“ einführt, eine „systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt“ (Kant, III: 529). Anders ausgedrückt: Gott wird bei Kant zu einer Hypothese in praktischer Absicht; die Welt kann und darf auch teleologisch betrachtet werden. Die Ausarbeitung dieser Gedanken ist ein Teil der dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“. Inzwischen zieht in Paris die Französische Revolution die Aufmerksamkeit auf sich. Den Sturm auf die Bastille muss man sich aber nicht so vorstellen, als ob das empörte Pariser Volk sie spontan dem Erdboden gleichgemacht hätte. Ein Bauunternehmer hatte sie in patriotischem Gewinnstreben aufgekauft und ließ sie von Arbeitern gegen Bezahlung abtragen (Reichhard/Schmitt 1988: 36). Die Französische Revolution ist unter anderem eine Folge des verunglückten Engagements Frankreichs in Nordamerika: Nachdem Frankreich den Kampf um Kanada verloren hatte, stellte man sich auf die Seite der amerikanischen Siedler, um England doch noch zu treffen. Die Folge war ein Staatsbankrott. Die Folge davon war die Revolution, denn es mussten in der nun ausbrechenden Steuerdebatte die Generalstände einberufen werden, die vom Absolutismus verdrängt worden waren und seit 1613 nicht mehr getagt hatten (Chartier 1995; Wallerstein 2004: 51). Die wesentliche Errungenschaft sind die nun philosophisch durchbuchstabierten Menschenrechte (Amerika war den Franzosen darin 1776 pragmatisch vorausgegangen) und vor allem die Formulierung der Gewaltenteilung (siehe hierzu den Beitrag von v. Brünneck in diesem Band). Der Artikel 16 der Menschenrechtserklärung von 1791 verkündet den neuen Grundsatz einer rechtmäßigen Verfassung: Eine Verfassung, die nicht auf der Gewaltenteilung beruht, ist überhaupt keine Verfassung.2 Die Französische Revolution von 1789 ist die erste Revolution, die ihre Kinder frisst. Von den Royalisten über die Gironde bis zu den Jakobinern reicht die Schreckensherrschaft der „großen Tage“. Aufrechte Idealisten, wie der Mainzer Jakobiner Johann Georg Forster, wenden sich entsetzt von diesem Schauspiel ab. Die Revolution kommt zum Stehen, nachdem sie die außenpolitische Sicherung Frankreichs gegen das konterrevolutionäre Europa 1794/95 bewerkstelligt hat. Aus den Wirren des Direktoriums schält sich die Gestalt Napoleons heraus, der den Kampf gegen England noch einmal aufnimmt. Erst als er 1815 sein Waterloo erlebt, hat er den Kampf gegen England endgültig verloren; das Jahrhundert des Britischen Empire bricht an. Denn in England war etwas zum Durchbruch gekommen, womit die bisherige Weltgeschichte nicht gerechnet hatte: der Beginn des industriekapitalistischen Zeitalters. Der Historiker und Soziologe Karl Polanyi hat den Unterschied so gefasst: In vorkapitalistischen Gesellschaften war die Wirtschaft in die Gesellschaft eingebettet. Im voll entfalteten Industriekapitalismus ist umgekehrt die Gesellschaft nur ein Teil der Wirtschaft (Polanyi 1979: 135). Man kann sich dieses Neue an Adam Smiths Werk „The Wealth of Nations“ von 1776 klarmachen. Es lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Reichtum ist Wachstum“. Adam Smith war kein „Manchesterkapitalist“ – im Gegenteil: Er war Hochlohntheoretiker. Reichtum der Nation meint bei ihm wirklich den Wohlstand der arbeitenden Klassen. Sein Argument: Je mehr das Kapital investiert, desto mehr Nachfrage nach Arbeit wird es geben. Er konnte noch nicht überblicken, dass mit dem wachsenden Einsatz 2
„Toute societé, dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution.“ Zitiert nach Art.II der Verfassung, in: Brunner/Conze/Koselleck 1990, Bd. 6: 868.
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von Maschinerie auch Arbeitsplätze wegfielen. Das hat ihm dann posthum David Ricardo 1820 nachgewiesen (Kittsteiner 1998). Das ist die innereuropäische Entwicklung im 19. Jahrhundert, die vor dem düsteren Hintergrund des „Pauperismus“ in die so genannte „Arbeiterfrage“ hineinführt. Und noch etwas geschieht: Nach Außen hin koppelt sich Europa von den anderen Weltkulturen ab und beschreitet einen Sonderweg. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein hatten die Europäer wenigstens vor Asien Respekt; man bewunderte das stabile Reich und den Gewerbefleiß Chinas. Für Adam Smith sind Indien und China nur noch „stagnierende Wirtschaften“ (Osterhammel 1998: 382). Im 19. Jahrhundert tritt Europa seine Weltherrschaft an und teilt den Rest der Welt als „Kolonien“ unter sich auf.
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Karl Marx oder das „Rheingold“
Zurück nach Deutschland. Am Abend des 5. Mai 1849 hält der Kapellmeister Richard Wagner Wache auf dem Turm der Dresdener Kreuzkirche. Es ist Revolution und man kämpft auf den Barrikaden. Am nächsten Tag geht das alte Opernhaus in Flammen auf. Der Umstürzler setzt sich in die Schweiz ab und wird dort Mathilde Wesendonk, der Frau des Kaufherrn, in dessen Villa er untergekrochen ist, den Hof machen. „Eine ungeheure Bewegung schreitet durch die Welt: Es ist der Sturm der europäischen Revolution“ (zitiert nach Gregor-Dellin 1980: 290). Dieser Satz ist nicht etwa von Karl Marx, er ist von Richard Wagner. Die europäische Revolution von 1848/49 ist der große Wendepunkt im 19. Jahrhundert. Man kann die Zeit zwischen 1770 und 1880 als „evolutive Moderne“ betrachten, die ihrerseits in zwei Teile zerfällt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzt mit der industriellen Revolution eine sich schneller bewegende historische Zeit ein: Die Umwälzungsgeschwindigkeit auf allen Gebieten nimmt zu; ein Prozess, der bis heute andauert und sich in sich selbst noch beschleunigt hat (Kittsteiner 1999). Zunächst ist diese Welle der Modernisierung von Hoffnungen auf eine bessere Zukunft getragen; alle demokratischen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts haben hier ihren Ursprung. Seit dem Scheitern der Verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ist dieser historische Optimismus der „Fortschrittler“ in sich gebrochen (Lutz 1985: 227). Aber auch auf kulturellem und philosophischem Gebiet stellt die Mitte des Jahrhunderts eine Zäsur dar: Es ist der „revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts“, der lange Weg von Hegel zu Nietzsche. Der Deutsche Idealismus, der auf der Grundlage Kants mit dem Triumvirat Fichte, Schelling, Hegel begonnen hatte, macht der pessimistischen Philosophie eines Arthur Schopenhauer Platz (Löwith 1969; Kittsteiner 2001). Die Illusionen blättern von der Neuen Zeit ab; eine Grundstimmung der Zivilisationskritik gewinnt die Oberhand. Sie kann politisch sowohl „links“ als auch „rechts“ changieren. Es gibt zwei Strömungen in der europäischen Kapitalismuskritik. Die eine geht über Marx und ist – von Hegel angeleitet – rational, vertraut aber auf die „List der Vernunft“. Die Revolution muss aus den periodischen Krisen des Kapitals kommen. Dieses System produziert im Proletariat seinen eigenen Totengräber; an seinem Ende wird der sozialistische Fortschritt stehen. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“. So beginnt das von Marx und Engels 1847/48 geschriebene „Manifest der Kommunistischen Partei“. Es endet mit den Worten: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als
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ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ (Marx/Engels 1964: 461, 493). Und im „Kapital“ heißt es zum Schluss in schönster Hegelscher Diktion – Negation der Negation: „Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert“ (Marx 1962: 791). Die andere Strömung ist nicht so eindeutig an eine gesellschaftliche „Klasse“ gebunden und führt bis auf die Romantik zurück. Ihr Argument: Die neue Zeit ist nicht nur ungerecht, sie ist vor allem hässlich. Die schöpferische Kraft erlahmt, das Schöne, Prächtige, Große geht zugrunde vor dem dumpfen Ansturm der Geldgier. Eines der gewitztesten Bücher über Wagner stammt von dem irischen Spötter und Theatermann George Bernard Shaw. Hören wir Shaw: Um das Rheingold herum spielen und schwimmen die Rheintöchter. Sie singen nicht von der Loreley und ihren unseligen Anbetern, „sondern trällern einfach irgendwelchen Unsinn vor sich hin“. Den Goldklumpen schätzen sie wegen seiner Schönheit und des Glanzes. Sie sind naturhafte, „nur halb der Wirklichkeit zugehörige Geschöpfe, darin heutigen jungen Damen sehr ähnlich“. In seiner Einfalt bietet der Zwergenkönig Alberich sich ihnen als Liebhaber an. Da sie ihn verschmähen, verflucht er die Liebe, „wie Tausende von uns täglich der Liebe abschwören, und im gleichen Augenblick ist das Gold in seiner Gewalt“ (Shaw 1973: 27 ff). Was Shaw beschreibt, ist die Geburt der Zivilisationskritik aus dem Geist der Wagnerschen Musik. Zivilisationskritik ist eine Mischung aus Kulturpessimismus und dem Hoffen auf etwas ganz anderes. Im Grunde ist sie ästhetisch fundiert; sie kann aber auch in Vorstellungen von einer neuen, sozialen Volksgemeinschaft schillern. Und da wird sie politisch brisant. Denn Richard Wagner ist auch Antisemit; allerdings gibt es sehr viel rabiatere Varianten. Diesen „Rittern vom einfachen Weltbild“ zieht sich die ungeliebte neue Zeit auf einen einzigen Satz zusammen, den 1879 der Historiker Heinrich von Treitschke in die Welt gesetzt hat: „Die Juden sind unser Unglück“ (Boehlich 1965; Battenberg 1990: Bd. II, 175 ff). Hinter allen Phänomenen, die mit Kapital und Geld zu tun haben, selbst hinter ihrem scheinbaren Widerspruch, der Arbeiterbewegung, scheint diese halbverborgene Gestalt zu stecken. Um 1900 ist der Antisemitismus eine gesamteuropäische Erscheinung. An erster Stelle hätte man damals das zaristische Russland mit seinen Pogromen genannt, dann Frankreich mit der „Affäre Dreyfus“. Das Wilhelminische Kaiserreich schien eher die Möglichkeit zur Assimilation zu bieten – eine trügerische Oberfläche.
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„In Europa gehen die Lichter aus...“
Der Erste Weltkrieg gilt heute als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, und man kommt allmählich dahin, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg als einen einzigen Krieg zu sehen. Der Länge nach ist er von 1914 bis 1945 ein zweiter Dreißigjähriger Krieg. Die Historiker haben sich jahrzehntelang mit nationalen Schuldzuweisungen aufgehalten; aus gesamteuropäischer Sicht trifft besser der traurige Satz des englischen Außenministers Lord Grey bei Kriegsausbruch 1914 zu: „In diesem Augenblick gehen in ganz Europa die Lichter aus; wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“ Wenn man fragt, wann das 20. Jahrhundert beginnt, hätte Ernst Jünger, der Schriftsteller und Träger des Pour le Mérite geantwortet: 1916 vor Verdun. In diesem Unglücksjahr sterben nicht nur Hunderttausende für ein paar Quadratmeter Boden; es ist auch das Jahr der „Judenzählung“ im deutschen Heer, das eine neue Welle von Antisemitismus indiziert
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(Sieg 2001: 87). Der Erste Weltkrieg endet ganz anders als der Zweite. Im Zweiten Weltkrieg konnte sich nach der Niederlage von Stalingrad und dem Einsetzen der Luftbombardements jeder das Ende ausrechnen. Es kommt quälend langsam. Im Ersten Weltkrieg geht alles ganz schnell. Noch im April des Jahres 1918 hoffen die Deutschen auf einen Sieg, denn das zaristische Russland ist zusammengebrochen und die Kräfte sollen nun im Westen konzentriert werden. Umso größer der Schock, als sich nach der Tankschlacht von Amiens im August 1918 das Blatt wendet und die Oberste Heeresleitung nun überstürzt auf einen Waffenstillstand drängt. Mit einer gewissen Berechtigung kann man die kulturelle Grundhaltung der Zeit zwischen etwa 1880 und 1945 als eine „heroische Moderne“ bezeichnen. Die industriekapitalistische Beschleunigung der Zeit läuft ungebremst weiter; der historische Prozess verheißt aber nichts Gutes mehr. Die Vorstellungen von einem „Sinn“ und einem humanen Ziel des Ganzen haben sich verflüchtigt; aus der Hegelschen Weltvernunft ist wieder ein undurchsichtig-düsteres „Schicksal“ geworden. Diesem Schicksal kann man heroisch standhalten, man kann aber auch versuchen, sich mit ihm nach der Formel „amor fati“ ins Benehmen zu setzen. Die Geschichte bändigt sich nicht mehr „dialektisch“ sozusagen von selbst; man muss ihr entschlossen entgegentreten und ihr den Willen zur Selbstbehauptung aufzwingen. Was bei Nietzsche noch spielerische Denkfigur war, wird der Generation des Ersten Weltkrieges zum blutigen Ernst (Kittsteiner 2001: 107). Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler verkündet den „Untergang des Abendlandes“. Genau besehen ist damit aber nur der Untergang der alteuropäischen Kultur gemeint; Spengler hält den Übergang in das Zeitalter der „Zivilisation“ für unausweichlich. Dadurch unterscheidet er sich von der akademischen Kriegspublizistik, die den Weltkrieg aus deutscher Sicht als Kampf der „Kultur“ gegen die westliche Zivilisation gedeutet hatte (Flasch 2000; Hoeres 2004). Nun entwirft Spengler für die Zivilisation als Endstufe jeder Kultur heroische Aufgaben; um einen Endkampf zwischen „Rom“ und „Karthago“, zwischen „Geld“ und „Blut“ soll es gehen; um die Errichtung einer faustisch-dynamischen Maschinenzivilisation, für die er die Deutschen „in Form“ bringen will (Spengler 1922/23: Bd. II, 627 ff). Die geheime Botschaft seines Erfolgsbuches aber lautet: Der Krieg ist noch nicht verloren, der Kampf geht weiter. Die Weimarer Republik ist von Anbeginn mit der Hypothek belastet, dass der Beginn der Demokratie in Deutschland zugleich die Auslieferung des Landes an seine Kriegsgegner bedeutet. Denn der „Versailler Vertrag“ ist kein Friedensvertrag alten Stils, in dem geschickte Diplomaten ohne Rücksicht auf die „öffentliche Meinung“ das europäische Gleichgewicht wiederherstellen. Dieser Frieden wird ausgehandelt von Politikern, die vor ihren noch vom Hass aufgeputschten Wählern nicht mit leeren Händen dastehen dürfen. Daher das starre Entsetzen der Deutschen, als ihnen die Friedensbedingungen diktiert werden (Krumeich 2001; Schulze 2001, Bd. I: 414). Der englische Ökonom John Maynard Keynes, der die Verhandlungen verärgert verlassen hatte, schreibt: „Der Friedensvertrag enthält keine Bestimmungen zur wirtschaftlichen Wiederherstellung Europas, nichts, um die geschlagenen Mittelmächte wieder zu guten Nachbarn zu machen, nichts, um die neuen Staaten Europas zu festigen, nichts, um Russland zu retten“ (Keynes 1920: 184). In den 1920er und 1930er Jahren erfährt Europa eine Umwälzung größten Ausmaßes. Auf dem Gebiet der Kultur ist es in der Tat eine revolutionäre Zeit, in der sich die KunstProvokationen überschlagen und überstürzen (Hermand/Trommer 1988). Heute nennt man sie die „klassische Moderne“ und hat sie längst ins Museum gesteckt – so war das eigent-
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lich nicht gedacht. Auf dem Gebiet der Politik ist es eine bedenkliche Zeit: Von Mussolini in Italien bis zum General Franco in Spanien nimmt die Zahl der Diktaturen und Militärputsche zu: Hitler erscheint zunächst vielen nur als ein Glied in dieser Kette und verglichen mit der Sowjetunion als das kleinere Übel. Man hatte ihn – und auch das tief sitzende Ressentiment der Deutschen – unterschätzt. Denn ihre Aggressivität kommt aus der Angst. Es gibt einen psychologischen Mechanismus, den man die Transformation von Angst in Furcht nennen könnte. Unbestimmte Ängste, die keinen Ansatz zum Handeln bieten und daher ein Gefühl der Ohnmacht auslösen, werden in Furcht umgewandelt, sobald sich ein „Feind“ zeigt, an dem gehandelt werden kann. Das Handeln-Können am gefürchteten Objekt überwindet die zersetzende Ohnmacht der Angst. Diese Denkstruktur führt in eine Sichtbarmachung und Personalisierung der „Feinde“. Um ein Beispiel zu geben: Gegen einen ökonomischen Vorgang, wie eine Weltwirtschaftskrise in den Jahren um 1930, ist wenig auszurichten. Ist man aber der Auffassung, dass diese Krise personal verursacht ist, dass hinter der Krise reale Verursachergruppen „stecken“, kann man sie aus ihrem Versteck hervor ans Licht ziehen und daraus ein symbolisches Feindbild aufbauen. Dass es sich dabei um eine falsche kausale Zurechnung handelt, stört wenig. Hauptsache, die Handlungsfähigkeit wird zurück gewonnen (Kittsteiner 2003). Nach diesem Muster war die antisemitische Propaganda der NSDAP in der Weimarer Republik aufgebaut; dass es dabei Überschneidungen mit wertkonservativen Gruppen gab, machte sie umso gefährlicher.
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Europa in der Welt
In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville prophezeit, die Weltmächte der Zukunft würden Nordamerika und Russland sein. 1945 war seine Voraussage eingetroffen: Europa hatte sich aus der Weltgeschichte verabschiedet, getrieben von dem zuletzt von Deutschland ausgehenden Wahn, in seinem Zentrum müsste um die künftige Weltherrschaft gerungen werden. Dabei sind Taten geschehen, die bis heute einen Zivilisationsbruch darstellen. Und Europa? Nach dem ersten Dreißigjährigen Krieg schrieb ein evangelischer Pfarrer in sein Tagebuch: „Uns ist nicht zu helffen/ wenn wir dessen je vergessen“. Dennoch gingen die Kämpfe weiter. Der zweite Dreißigjährige Krieg aber hat eine derartige Erschütterung hinterlassen, dass Europa nun zusammenrückte. Das musste es auch, denn es war zugleich Zankapfel zwischen den USA und der UdSSR mit einem „Eisernen Vorhang“ mitten durch den Kontinent. Besonders die zweigeteilten Deutschen taten sich als treue Verbündete ihrer großen Brüder hervor und befeindeten sich über die Zonengrenze hinweg politisch und kulturell. Dass jenseits der großen Bruchlinie auch noch Europa war, geriet allmählich aus dem Blickfeld. Doch der „Ostblock“ taute auf, und zutage traten – aus westlicher Sicht – halb vergessene Nationen, deren Geschichte vom „Westen“ überhaupt erst wieder gelernt werden muss. Es ist mir ja selbst so ergangen. Ich bin Historiker – aber gehörte es zu meiner Ausbildung, etwas über polnische oder ukrainische Geschichte zu wissen? Natürlich nicht – dafür gab es die Spezialisten vom Osteuropa-Institut. Wir Europäer sind heute in einer seltsamen Situation. Von den beiden Tocquevilleschen Weltmächten ist nur eine Supermacht übrig geblieben. Sie verhält sich auch anders, als wir es aus der Zeit des „Kalten Krieges“ gewohnt waren. Im Grunde sind wir wieder auf
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unseren Ursprung zurückgeworfen. Wir sind der zerklüftete westlichste Zipfel der eurasischen Landmasse, der vom Golfstrom mühsam beheizt wird. Die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts für selbstverständlich gehaltene europäische Weltherrschaft ist beendet. Aber hat sie uns viel gebracht – außer einem europäischen Dünkel und den Kriegen im Herzen Europas? Wenn man den Blick über die europäische Kultur bis in die Antike und das Mittelalter zurückwandern lässt, muss auffallen, dass die ganz großen Schöpfungen, die nun zum Weltkulturerbe gehören, zumeist aus den Jahrhunderten vor der europäischen WeltDominanz stammen. Als wir mit anderen Weltkulturen noch auf Augenhöhe lebten. Das stimmt zuversichtlich. Die Bildung wurde noch wirklich gebraucht – erst im 19. Jahrhundert ist sie zum so genannten „bürgerlichen Bildungsgut“ abgesunken, das dann im 20. Jahrhundert verhöhnt und verachtet wurde. Es sieht ganz so aus, als ob wir Wissen und Bildung in der globalen Auseinandersetzung mit sehr selbstbewusst gewordenen anderen Weltkulturen wieder gebrauchen könnten. Ich sage bewusst „Bildung“ und meine damit nicht nur „Ausbildung“. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Theologe und Historiker Ernst Troeltsch eine Selbst-Besinnung der Europäer auf eine europäische Kultursynthese gefordert (Troeltsch 1922); es sieht ganz so aus, als ob wir heute wieder an diesem Punkt angelangt seien. Europa hat sich in seiner Geschichte nur behaupten können, wenn und weil es etwas Besonderes geleistet hat. Ich will noch einmal drei dieser Besonderheiten herausheben. Zum einen: Europa hat die konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts überwunden; es hat die streitenden Religionen gebändigt und ihren Zugriff auf den Staat eingeschränkt. Das war die Leistung der Toleranzbewegung. Toleranz bedeutete aber nicht, dass nun alles toleriert wird, sondern ganz im Gegenteil: Dass die Intoleranz bekämpft wurde. Hilfreich dabei war die kulturelle Doppelstruktur von Religion und Philosophie. Im 16. Jahrhundert diskutierten die gebildeten Eliten ihre Probleme noch ganz selbstverständlich im theologischen Vokabular; im 17. und 18. Jahrhundert schoben sich Metaphysik und Moralphilosophie in den Vordergrund (Schmitt 1963). Das europäische Wunder besteht in der Aufklärung. Sie ist aber kein fester kultureller Bestand, sondern muss immer wieder neu errungen werden. Um Kant zu zitieren: „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant 1968, Bd. VIII: 35). Denn es sieht so aus, als müsste eine solche Toleranzbewegung im Weltmaßstab wiederholt werden. Zum andern: Schon mit der Romantik, dann mit Schopenhauer und Nietzsche erhob sich im 19. Jahrhundert eine mächtige Gegenströmung gegen den liberalen Fortschrittsgeist. „Zivilisationskritik“ war ein Gemisch aus deutschem Idealismus, Stolz auf die eigene „Kultur“ – und der Verdammung des Kapitalismus und der Technik. Zivilisationskritik konnte sich politisch immer nach rechts und nach links wenden; in der deutschen Geschichte ist diese Strömung unheilige Allianzen eingegangen. Zugleich ist dieser Kulturpessimismus ein wichtiger Bestandteil unserer Tradition; wenn wir um uns blicken, müssen wir uns eingestehen, dass wir im europäischen, wenn nicht gar im Weltmaßstab auf diesem Gebiete führend sind. Kann man ihn nicht anders wenden? Die bloße Technikfeindschaft hat nichts erbracht. Kann man diesen kritischen Geist nicht in die Technik selbst einbauen, so dass Produkte der Zivilisation zugleich die Zivilisationskritik in sich tragen? Intelligente, naturverträgliche Innovationen – das entspricht einer Kultur, die niemals einzig und allein fortschrittsgläubig gewesen ist. Drittens und letztens: Europas Eigenart waren die Renaissancen, die Rückbesinnungen auf vergangene Größe. Europa, so hat es ein französischer Historiker einmal gesagt, hat aus
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Krisen immer die Flucht nach vorn angetreten. Europa hat dabei in der Welt viel Unheil angerichtet; wer jetzt herumreist und die Menschenrechte einklagt, muss auch bedenken, dass die Europäer eben diese Rechte auf anderen Kontinenten jahrhundertelang mit Füßen getreten haben. Europa hat der Welt aber auch vieles gegeben. Zu erinnern wäre an eine Vision, die der große Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahre 1697 zu Papier brachte. Die China-Begeisterung war damals Mode und Leibniz war ihr entschiedener Anhänger. Er schrieb, das Schicksal habe es so gefügt, dass ganz im Westen und ganz im Osten „unseres Kontinents“ die beiden höchsten Zivilisationen die Erde zierten. Er nannte China das „Europa des Ostens“ und wünschte sich einen Zusammenschluss der beiden Kulturen. Die Europäer sollten Mathematik und ihre Vorstellung von Gott, die Chinesen ihre praktische Naturbeobachtung und die konfuzianische Ethik beisteuern (Leibniz 1985: 9 ff). Der Kulturtransfer war also durchaus von beiden Seiten her bedacht. Das ist wieder aktuell. Denn mit dem Zusammenbruch der Ideologien haben die Weltreligionen und ihre kulturellen Kontexte erneut an Bedeutung gewonnen. Unsere Politiker warnen oft – in Anlehnung an das umstrittene Buch von Samuel P. Huntington – vor einem „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1997)3 – so als ob er uns noch bevorstünde. Ich denke, wir sind schon mitten darin. Wir können nur versuchen, ihn zu bändigen. In diesen kulturellen Kämpfen hat Europa historische Erfahrungen. Jede Gruppierung, jede Nation, hat sich schon einmal aus der Perspektive des Verlierers betrachten dürfen. Kurzfristig schärft das das Ressentiment – langfristig schärft es den Verstand. Und den werden wir brauchen können.
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Im Übrigen geht Huntington davon aus, dass die westliche Kultur zwar „einzigartig“, aber keineswegs „universal“ ist, und kommt zu dem Schluss: „Anstatt die vermeintlich universalen Aspekte einer Kultur zu propagieren, gilt es, im Interesse der kulturellen Koexistenz nach dem zu suchen, was den meisten Hochkulturen gemeinsam ist.“ Ebd.: 525 f.
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Werte in Europa: Einheit in Vielfalt
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Einleitung
Wenn man nach einer einheitlichen europäischen Kultur4 sucht, erntet man manchmal fragende Blicke: Schließlich wurde Europa zuletzt vor 200 Jahren durch Napoleon geeint. Und wie in unseren Geschichtsbüchern zu lesen ist, geschah diese Einigung des Kontinents keineswegs mit Zustimmung der Völker, sondern oftmals durch militärische Gewalt. Man könnte daher versucht sein, die Vielfalt Europas durch eine Abgrenzung von anderen, nicht-europäischen Mächten zu definieren. Nach jüngeren Entwicklungen in der internationalen Politik sind dies nicht nur afrikanische oder asiatische Mächte, sondern auch die USA. Eine solche Negativdefinition gibt aber nur bedingt Aufschluss darüber, welche kulturellen Gemeinsamkeiten in Europa bestehen könnten. Der Soziologe Richard Münch (1993) schreibt, dass die kulturellen Bedingungen für die Entwicklung einer europäischen Solidargemeinschaft als Voraussetzung für die Entwicklung einer europäischen Identität kaum gegeben seien. Er stellt fest, dass man den europäischen Intellektuellen vergeblich suche. Die Diskurse würden bestimmt von nationalen Charakteristika wie dem englischen Empirismus und common sense, dem französischen Rationalismus und Esprit sowie dem deutschen Idealismus und Geist (Münch 1993: 97-103). Für den vorliegenden Beitrag ergibt sich aus diesem Mosaik der erste Schritt, die Begriffe Europa und Wert näher zu bestimmen. Wie kann Europa definiert werden? Europa war zunächst ein Mythos im antiken Griechenland. Der Sage nach war sie die Tochter des Königs von Phönizien und wurde von Zeus, der die Gestalt eines Stiers angenommen hatte, nach Kreta entführt. Europa bezeichnete im antiken Griechenland aber auch bereits die Landmasse nördlich des Mittelmeeres. Unsere heutigen Kenntnisse der Geographie weisen den europäischen Kontinent als Wurmfortsatz der asiatischen Landmasse aus. Der ehemalige französische Staatspräsident de Gaulle definierte „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ und übernahm damit eine Abgrenzung, die durch den russischen Zaren Peter den Großen eingeführt worden war. Aber bedeutet dies, dass die Türkei zu Asien gehört, während Byzanz/Konstantinopel/Istanbul ein Symbol für die politische Trennung Europas in ein west- und oströmisches Reich bleibt? Verbunden damit ist auch die Differenzierung des Christentums, das man sicherlich als europäische Religion bezeichnen kann. Heute ist das Christentum (auch durch gewaltsame Verbreitung) eine Religion mit weltweitem Geltungsanspruch. Was wäre also am Christentum heute noch spezifisch europäisch? Eine Antwort auf diese Frage ist ohne den Rückgriff auf die gesellschaftliche Entwicklung in den europäischen Ländern nicht möglich. Gleichzeitig ist eine kulturelle oder sprachliche Definition dessen, was wir mit Europa meinen, im Zeitalter einer über den Austausch von Informationen zusammenwachsenden Welt nicht 4
Vgl. die Versuche, der Konstruktion einer kulturellen Identität Europas auf die Spur zu kommen, in Viehoff/Segers (1999).
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trennscharf. Helmut Schmidt (1990: 446) schlägt daher eine politische Definition vor, die über die Spaltung im kalten Krieg hinausgeht. Er schreibt: „Europa ist nicht nur viel größer als und weit mehr als der Bereich der NATO oder der EG, es ist als Ganzes auch wichtiger als irgendwelche historisch bedingten politischen Zusammenschlüsse. Die Attraktivität des Westens, in dem die Menschenrechte und die demokratische Staatsform weitgehend verwirklicht sind, dessen Volkswirtschaften sehr viel besser funktionieren und dessen durchschnittlicher Lebensstandard weit höher liegt als im Osten, diese Attraktivität wird – das war für mich eine Gewissheit – eines Tages dazu führen, dass beide Teile Europas sich wieder füreinander öffnen.“
Es liegt also nach Helmut Schmidt nahe, dass es so etwas wie ein Europa gibt, das mehr umfasst als ein geographisches Gebiet auf dem Planeten Erde. Er nennt bereits einige Errungenschaften, die Europa von außen betrachtet als homogenen Kulturraum sichtbar werden lassen, und die wiederum durch die Aufklärung, den Humanismus und den Glauben an die Vernunft gekennzeichnet sind. Einmal könnte Europa aufgrund der historischen Entwicklung bestimmter Institutionenordnungen ein transnationales Gebilde eigener Art sein. So führt etwa Hix (2005: 1-23) aus, dass die Europäische Union (EU) ein politisches System sei, aber kein Staat. Europa könnte sich dann aber auch durch spezifische Werte auszeichnen, deren Ausdruck diejenigen politischen, ökonomischen und sozialen Errungenschaften sind, die Helmut Schmidt aufzählt. Diese Werte sind zwar aufgrund der spezifischen Geschichte des Kontinents entstanden,5 aber heute von einer universalistischen Bedeutung. In dieser Vermutung liegen bereits eine Reihe kontroverser Fragen; zum Beispiel die, ob nicht gerade die Konkurrenz und Heterogenität der Kulturen ein Vorteil war, der es den Staaten Europas erst ermöglicht hat, die europäische Vormachtstellung als Nabel der Welt einzunehmen6 (Landes 1999). Oder die Frage, was denn eigentlich eine interne Leitkultur in Europa sein könnte, um einen Begriff aufzugreifen, dessen Verwendung durch den CDU-Politiker Friedrich Merz heftige Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst hat. Drittens die Frage, ob europäische Werte heute noch das Maß für die Beurteilung anderer Gesellschaften in einer globalisierten Welt sein können. Da der Wert-Begriff in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich verwendet wird (vgl. Hillmann 2003: 17-63) und auch innerhalb der Soziologie eine Reihe von Definitionen vorliegen (Joas 1997), wird im nächsten Abschnitt dargelegt, wie der Begriff in diesem Beitrag verwendet wird.
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Was sind Werte?
Schlägt man den Begriff im Lexikon nach, werden dem Leser zwei Definitionen angeboten (Bibliographisches Institut 1976: 2286):
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Vgl. Joas (1997) zur Entstehung von Werten und Berger (1996) zu den Behauptungen der Modernisierungstheorie. 6 Stichworte wären hier etwa: „Kampf um einen Platz an der Sonne“, Konkurrenz und Wettbewerb um technische Innovation zwischen den europäischen Staaten.
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„In der Wirtschaftstheorie die objektive Bedeutung (...) von Waren, Leistungen und Geld im Hinblick auf die (...) gegebene Möglichkeit, der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu dienen; Beziehung, die zwischen einer Sache und einem übergeordneten Maßstab durch den Menschen gefühlt oder gedacht wird, wodurch die Sache den Charakter des Guten und ‚Wertvollen’ erhält.“
Eine Möglichkeit, sich dem wissenschaftlichen Kern des Wertbegriffs zu nähern, ist eine Definition über die Funktion, die Werten zugewiesen wird. Werten wird eine zentrale Funktion für das Verhalten eines Individuums zugewiesen. Sie bestimmen darüber, welche Verhaltensoption in jeder gegebenen Situation von einem Individuum präferiert wird (Disposition). Ein Beispiel, an dem man die Funktion von Werten sehen kann, ist die Hilfsbereitschaft in Situationen extremer Not. Diese selbstlose Hilfe wird häufig bei Hochwasserkatastrophen eindrucksvoll demonstriert, aber auch die Welthungerhilfe oder die CarePakete können dafür stehen, dass Werte in Verhalten ausgedrückt werden. Tatsächlich zeigt es sich, dass mit bestimmten Wertorientierungen auch bestimmte, immer wiederkehrende, routinemäßige Verhaltensmuster verbunden sind. Ein Beispiel aus der Politischen Soziologie sind Modelle zur Erklärung des Wahlverhaltens. Es lässt sich zum Beispiel für Deutschland zeigen, dass diejenigen Wähler, die sich besonders einem christlichen Weltbild verbunden fühlen (evangelisch oder katholisch ist hier ebenso wie die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland nicht bedeutsam) bei jeder Wahl häufiger die CDU/CSU wählen als der Rest der Wahlbevölkerung (vgl. Mielke 1991; Wolf 1996; Jacobs 2000). Natürlich kann man nicht sagen, dass jeder Christ die CDU/CSU wählt; aber Christen wählen die Parteien mit dem „C“ im Namen eben doch mit einer mehr als zufälligen Wahrscheinlichkeit häufiger. Der Soziologe Karl Mannheim definiert Werte als die moralische Dimension des Handelns. Nach ihm setzt jede reale Entscheidung (z.B.: die Bewertung einer anderen Person oder die Vorstellung, wie eine Gesellschaft organisiert sein sollte) eine Vorstellung darüber voraus, was gut und was böse ist. Darüber hinaus haben Werte nach Mannheim aber auch eine Funktion für den sozialen Austausch, d.h. eine gesellschaftliche Bedeutung. Denn, um noch einmal mit Mannheim (1960: 19) zu sprechen, wir gehören zuallererst zu einer Gruppe, weil wir die Welt und bestimmte Dinge in der Welt so sehen, wie es die Gruppe tut. Fragt man nach Werten in Europa, macht man sich genau den zweiten Teil der Definition von Mannheim zu Eigen, indem manche Individuen der Gruppe der Europäer zugeordnet werden und andere nicht. Hinter der Frage könnte man die Ansicht vermuten, dass mit dem Vorhandensein oder dem Fehlen von Werten auch ein bestimmtes Verhalten weiter Bevölkerungsteile oder ganzer Nationen verbunden sei. Dabei gibt es ein Problem: Werte müssen von Individuen angenommen werden. Das bedeutet, sie erlangen nur dann gesellschaftliche Relevanz, wenn ein großer Anteil der Bevölkerung in einer gegebenen Gesellschaft dieselben Einstellungen zu Werten, d.h. Wertorientierungen teilt. Es ist also nicht entscheidend für die gesellschaftliche Bedeutung von Werten, dass sie existieren (z.B. Nächstenliebe als Kennzeichen der christlichen Religion), sondern dass diese Werte auch von den Menschen verinnerlicht werden. In diesem Sinne ist auch die am weitesten verbreitete Definition von Werten zu verstehen, die von Clyde Kluckhohn (1962: 395) stammt und der ich mich anschließen möchte. Ein Wert, so Kluckhohn, sei eine Konzeption des Wünschenswerten, explizit oder implizit, einer spezifi-
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schen Charakteristik eines Individuums oder einer Gruppe, das die Auswahl der verfügbaren Arten, Mittel und Ziele von Handlungen bestimme7. Zusammenfassend kann man an dieser Stelle sagen, dass Werte folgende Eigenschaften haben: 1. 2. 3. 4. 5.
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Werte beinhalten moralische Erwägungen. Situationen erhalten durch sie einen Sinn. Werte sind Konzepte des sozial (gesellschaftlich) Wünschenswerten. Werte erlangen ihre praktische Bedeutung dadurch, dass sie über das reale Verhalten von Individuen bestimmen. Werte sind der allgemeinste und leitende Beurteilungsmaßstab für menschliche Handlungen und Handlungszwecke. Wertorientierungen sind Haltungen des Einzelnen oder von Gruppen gegenüber bestehenden Werten.8
Was sind spezifisch europäische Werte?
Wenig Mut, jenseits einer institutionellen Ordnung gemeinsame Positionen zu finden, macht Helmut Schmidt (1990: 446-447), der Europa mit einem Kaleidoskop verglichen hat: „Ich habe [in meiner Kindheit, J.J.] das Mysterium genossen, wie Spiegelungen im Innern des Rohres die fabelhaft bunten, mosaikhaften, sternähnlichen Konstellationen zustande brachten, die man,
das Rohr gegen das Licht richtend, erblickte. Sobald man dagegen klopfte, änderte sich das Bild in verblüffender Mannigfaltigkeit. Die Konferenz von Helsinki hat mich an das bunte Kaleidoskop aus meinen Kindertagen erinnert. Hier waren tatsächlich die Staatslenker von Zypern bis Portugal, von Island bis Jugoslawien versammelt, von Irland bis zur Sowjetunion; der Heilige Stuhl nahm ebenso teil wie Liechtenstein, San Marino oder Malta. (...) Es war ein buntes Bild, aber genau wie in einem Kaleidoskop konnte man sich durchaus Veränderungen der Konstellationen vorstellen. Man brauchte nur ein wenig an das Rohr zu klopfen.“
Auf einer anderen Ebene verweist dagegen Novalis auf die europäischen Gemeinsamkeiten, indem er Gemeinsinn und Gemeinwohl mit dem „Mythos der sinnerfüllten Zeiten“ verklärt, „wo Europa ein christliches Land“ und durch „ein großes gemeinschaftliches Interesse“ vereint war (vgl. Tietz 2002). Nach Habermas gingen diese sinnerfüllten Zeiten mit der Aufklärung verloren. Seit dem Beginn der Aufklärung kreise die Diskussion darum, „das Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformation einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen“ (Habermas 1985, zit. nach Tietz 2002), zu verhindern. Diese Sichtweise unterstellt, dass es vor der Aufklärung einmal – wie es die Romantik und auch höfische Epik nahe legen – einen gemeinsamen europäischen Wertekanon gegeben hat. Und dies trotz eines politischen Flickenteppichs Europa, in dem jedes Volk und jede Grafschaft ihre Andersartigkeit betonten, alle territorialen Einheiten (Natio7
„A Value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.“ (Kluckhohn 1962: 395). 8 Werte sind damit abzugrenzen von Normen, Einstellungen und Meinungen, was aber hier nicht weiter ausgeführt werden kann.
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nen) bis heute in Konkurrenz zueinander stehen. Diesen gemeinsamen Wertekanon müsste es trotz der erbitterten Feindschaft gegeben haben, die seit dem Fall des Römischen Reiches zwischen den europäischen Völkern geradezu gepflegt wurde und die im 20. Jahrhundert zu zwei verheerenden Kriegen geführt hat. Es erscheint also zumindest zweifelhaft, ob es jenseits aller Romantik vor der Aufklärung einmal ein goldenes europäisches Zeitalter gegeben hat. Gleichzeitig gilt aber auch, dass wissenschaftlicher Austausch und Handel zwischen den territorialen Einheiten zu einer Verbreitung neuzeitlicher Ideen (z.B. Aufklärung, Humanismus, Vernunft) geführt haben (Morin 1991). Es gab zahlreiche Versuche, die hier skizzierten heterogenen Strukturen Europas zu klassifizieren. Man könnte z.B. die Nationalstaaten Europas nach dem Grad der Modernisierung differenzieren, gemessen anhand der Strukturmerkmale moderner Gesellschaften (Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat) oder anhand weiterer sozioökonomischer Kriterien (z.B. Urbanisierungsgrad, Analphabetismus, Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit).9 Eine andere Herangehensweise ist es, den Widerspruch der Einheit in der Vielfalt Europas durch die Aufteilung des europäischen Kulturraums in drei Kulturkreise aufzulösen. Diese Klassifizierung wird durch die spezifischen Werte der drei Kulturkreise begründet: germanisch-protestantisch, römisch-katholisch, slawisch-orthodox (Immerfall 1997). Im geographischen Westen Europas finden wir eine Mischung aus den ersten beiden Kulturkreisen, während sich die letzen beiden vor allem an den Grenzen des ehemaligen Habsburger Reiches zwischen der Mitte und dem Osten des Kontinents treffen. Diese drei Kulturkreise haben aber gemeinsame ideelle Wurzeln, auf die sich die Europäer mindestens seit dem Mittelalter immer wieder beziehen. Man könnte sagen, die gemeinsame europäische Kultur wurde auf drei Hügeln gebaut: der Akropolis, Golgatha und dem Kapitol. Übersetzt in die historisch gestaltenden Leistungen der Vergangenheit sind dies:
Das Antreten des Erbes der Antike; Demokratie und der hohe Stellenwert des Individuums. Die vereinheitlichende Kraft des Christentums. Die politische Ideologie des Abendlandes und die Bürokratisierung von Herrschaft.
Diese gemeinsamen Wurzeln wurden durch die Prozesse der Modernisierung und die Verbreitung der europäischen Kultur auf den anderen Kontinenten noch gestärkt. Kennzeichen dieser Moderne sind die Freiheit des Individuums, die Chancengleichheit aller, die Ausgestaltung des Staates auf einer demokratischen, rechtsstaatlichen Grundlage, d.h. die Selbstbeschränkung des Staates und der Herrschenden (vgl. Hradil/Immerfall 1997). Durch die Prozesse der Modernisierung, wie sie in Europa seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts zu beobachten sind, können heute keine Werte mehr Geltung nur aufgrund ihrer Tradition beanspruchen. Man kann diesen Verlust des Selbstverständlichkeitscharakters bedauern, man kann darin aber auch die Emanzipation des Individuums gegenüber den Mächtigen sehen. Die Spielregeln der Demokratie werden auf das gesellschaftliche Leben übertragen: Alle Werte werden begründungspflichtig und der Einzelne hat mehr Möglichkeiten als früher, sich selbst für bestimmte Lebensweisen zu entscheiden. Vielfach vermutet die sozialwissenschaftliche Forschung, dass es gegenwärtig einen Trend weg von Pflicht- und Ak9
Der Gegenstand der Modernisierungstheorie sind Gesetzmäßigkeiten langfristig ablaufender Prozesse in Gesellschaften, die auf der Makroebene zu untersuchen sind (Zapf 1992, vgl. auch Bendix 1969; Lerner 1972; Berger 1996; Zapf 1996).
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zeptanzwerten hin zu Selbstverwirklichungs- und Engagementwerten gibt (Klages 1984; Inglehart 1989; vgl. im Überblick Duncker 2000: 5-27; Hillmann 2003). Populär ausgedrückt wird unterstellt, dass Recht und Ordnung an Bedeutung verlieren, Freizeitorientierung und Spaßgesellschaft dagegen wichtige Werte werden. Dieser Prozess wird dann teilweise beklagt als „Verfall der Werte“, „Verlust von Tradition und Ordnung“, „Untergang des christlichen Abendlandes“. Was wäre aber die gesellschaftliche Konsequenz, träfe dieser Wertewandel tatsächlich zu? Die Konsequenz wäre in keinem Fall ein wert-loses Europa, sondern ein Europa, in dem sich Wertpräferenzen gewandelt hätten. Es gäbe eine Pluralisierung der Werte, die eine Deutungsmacht, eine Einflussnahme von Organisationen auf alle Mitglieder einer Gesellschaft, aber auch die Integration verschiedener Gruppen in eine Gesellschaft deutlich schwieriger machte. Denn aus der Pluralisierung würde als eine Konsequenz erwachsen, dass auch gesellschaftliche Organisationen sich um die Gunst der Menschen bemühen müssten und traditionelle Institutionen (z.B. Kirchen, Gewerkschaften) durch den Verlust der Selbstverständlichkeit an Einfluss verlören. Die Fähigkeiten des Einzelnen, sich in die Gesellschaft einzubringen, das soziale Kapital und dessen institutionelle Organisation in der Zivilgesellschaft, würden einen deutlich größeren Stellenwert erhalten. Mitglieder einer Vereinigung, Organisation oder eines Verbandes würden sich darüber bewusst, ob und warum sie bestimmte Vorstellungen teilen und warum sie sich engagieren. Dies betrifft Kegelclubs und Sportvereine genauso wie Kirchen oder karitative Organisationen. Die bisherigen Ausführungen stützen die Bedeutung der Aufklärung und die Ansicht, dass der Flickenteppich Europa durch die verschiedenen Ausprägungen von Werten seine Gestalt erhält, dieser Teppich aber durch gemeinsame Fäden zusammengehalten wird, nämlich die aus der Modernisierung hervorgegangenen Werte. Hinzu kommen plurale Strukturen, wie die Weise des Zusammenlebens (Kleinfamilie), ethnische Kulturen, soziale Milieus, Lebensstile, Einwanderungskulturen und Konsumstile, die weitere Muster in den Teppich einweben. Gerade diese Verschiedenheit kann als Motor gelten, der eine dynamische Entwicklung in den europäischen Gesellschaften antreibt und auch in der Vergangenheit eine Ursache für die rasante Entwicklung Europas war. Der Wettbewerb der Kulturen, der durch den technischen Forschritt in der Informationsübermittlung noch schneller durch die Medien übertragen wird, ist ein Grund für den Reichtum Europas. In der kulturellen Vielfalt und den dezentralen Strukturen liegt eine der Ursachen, warum Eroberer es nicht geschafft haben, Europa vollständig zu unterwerfen (vgl. Landes 1999). Aber es sollte aus den gemachten Ausführungen auch hervorgehen, dass die kulturelle Vielfalt auf einheitliche und standardisierte Grundbedürfnisse aufbaut. In Europa ist es durch die Modernisierung gelungen, Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit und Bildung für die breite Bevölkerung zu garantieren.
4
Kodifizierung von Werten in Europa
In der europäischen Tradition ist verankert, dass der Despotismus politischer Führer durch das Gesetz, die Teilung der Territorien und die Teilung der Macht zwischen Aristokratie und Krone gezügelt werden konnte. In gewissem Sinne unterscheiden sich europäische Herrscher von ihren asiatischen, südamerikanischen oder afrikanischen Pendants dadurch, dass sie durch zentralisierte, monolithische Regierungen gebunden waren, in denen die
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Bürokratie weitgehend das gesellschaftliche Leben regelt. Die europäischen Gesellschaften werden dabei angeleitet von den Idealen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, die seit der französischen Revolution in allen europäischen Gesellschaften gegenwärtig sind (vgl. Tabelle 1). Auch die Rechtsnormen der EU spiegeln den Wertekonsens in der politischen Kultur Europas wider. Aufbauend auf Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten wurde eine Reihe von Konventionen durch die Regierungen der EUMitgliedsländer als verbindlich akzeptiert (siehe den Beitrag von Thiele in diesem Band). Am Anfang stand die Konvention über die Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK 1950). In ihr wurden explizit das Prinzip der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verankert. Außerdem werden das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Privatleben und Familie sowie Heirat garantiert. Alle Bürger sollen außerdem die Meinungsfreiheit, Gedanken- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit sowie die Vereinigungsfreiheit haben. In einem Zusatzprotokoll der EMRK wurden 1994 der Schutz des Eigentums, das Recht auf Bildung und das Recht auf freie Wahlen ergänzt. Außerdem wurden Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und Diskriminierung ausgeschlossen. Tabelle 1: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und deren Ausdruck in allgemein in Europa akzeptierten Werten. Freiheit
x x
Gleichheit Brüderlichkeit:
- Soziales
- Sicherheit
x x x x x x x x x
Die Grundrechte der Meinungsäußerung Politische, soziale und ökonomische Wahlfreiheit Religionsfreiheit Rechtsgleichheit Chancengleichheit Familie als Grundeinheit der Gesellschaft Privatleben Heirat Minderheitenschutz Territoriale Integrität Demokratische Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Weitere Dokumente, die einen europäischen Wertekanon definieren, sind die Europäische Kulturkonvention (1954), in der die Unterzeichnerstaaten sich auf ein Festhalten an der gemeinsamen Zivilisation, unter der Anerkennung nationaler Kulturen, festlegen. Die Unterzeichner erkannten an, dass es Ideale und Prinzipien in den einzelnen Mitgliedsländern gebe, die ihr gemeinsames Erbe seien. In der Europäischen Sozialcharta (1961) wurden die Sicherung des Lebensstandards und des sozialen Wohls der Bevölkerung, das Recht auf soziale Sicherheit und auf die soziale Fürsorge, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf einen Schutz vor sittlichen und körperlichen Gefahren, das Recht von behinderten Menschen auf berufliche Ausbildung sowie das Recht von Müttern und Familien auf besonderen Schutz festgeschrieben. 1997 wurde die Europäische Sozialcharta auf Alte und Arbeits-
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lose erweitert. Sie verbietet jede Diskriminierung wegen des Geschlechts oder des Familienstandes und fixiert ein allgemeines Recht auf eine Wohnung. 1989 bekräftigten die Mitgliedsstaaten der EU Frieden und Sicherheit, Freiheit und bürgerliche Grundrechte als anerkannte Werte in der Erklärung der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten des Europäischen Parlaments. Im Verfassungsentwurf der Europäischen Union sind die Werte der Union in Artikel 2 verankert: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet.“10
5
Wie werden diese Werte in den europäischen Nationen gesehen?
Aus der Einsicht, dass demokratische Ordnungen für ihre Existenz eines Wertefundaments bedürfen (Almond/Verba 1989), sich moderne Gesellschaften aber gleichzeitig immer durch Wertepluralismus auszeichnen, beklagen manche einen Verlust der Werte. Der Werteverfall wird dann darauf zurückgeführt, dass die Wohlstandsentwicklung den Menschen korrumpiert habe, der Westen also gleichsam an seinem Erfolg untergehen wird, den Einzelnen am Wohlstand teilhaben zu lassen. In den Medien ist die Rede von der „Ich“Gesellschaft, vom Moral-Vakuum oder der Auflösung der Gesellschaft. Mangelnder Gemeinsinn führe zu einer weit verbreiteten kriminellen Absahnermentalität in allen Schichten der Bevölkerung (vgl. Klages 2002). Dieser Befund ist aber aufgrund zweier Überlegungen zumindest fragwürdig. Zum einen ist nicht klar zu bestimmen, ob der heutige Werteverlust nicht nur aufgrund einer romantischen Verklärung der Vergangenheit beklagt wird. Es gibt zumindest Indikatoren, dass auch bei der frühen Industrialisierung traditionelle Werte zumindest nicht beachtet wurden. Indikatoren wären etwa alle Prozesse, die man mit dem Stichwort Manchesterkapitalismus zusammenfassen könnte, oder die deutlich höheren Kriminalitätsraten der europäischen Städte des 19. Jahrhunderts. Zum Zweiten ist es offen, ob die Menschen aufgrund des höheren Bildungsniveaus sowie der heute verbrieften Rechte (Restriktionen) und materiellen Sicherheiten (Opportunität) nicht viel stärker in der Lage sind, Pflichtwerte und Selbstverwirklichungswerte zu verbinden. „Spaß“ bedeutet eben mehr als der Besuch von Freizeitparks, Discotheken und Kinos. Spaß bedeutet für viele Menschen auch „das Erlebnis aktiven und erfolgreichen persönlichen Wirkens und Helfens in Verbindung mit Selbsterweiterungserfahrungen“ (Klages 2001: 2). In den folgenden Abschnitten werden Einstellungen zu Erziehungszielen, Familie und Ehe, Glaube und Moralvorstellungen sowie Demokratie als Wert in Europa präsentiert. Bei der Analyse beschränke ich mich auf vier Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg als „westliche“ Länder bezeichnet wurden: ein angelsächsisches (Großbritannien), ein römischkatholisches (Spanien), ein konfessionell gemischtes (West-Deutschland) und ein protestantisches (Schweden) Land. Hinzu kommen vier Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ostblock gezählt wurden: zwei römisch-katholische (Polen, Litauen), ein protestanti-
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Siehe http://europa.eu.int/futurum/constitution/preamble/index_de.htm (September 2003).
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sches (Estland), ein orthodoxes (Bulgarien) und ein weitgehend entkirchlichtes (OstDeutschland) Land11.
5.1 Erziehungsziele Von einem Rückgang des Gefühls der Verantwortung oder der Toleranz kann in Europa nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil erachtet in fast allen dargestellten Ländern ein größerer Anteil der Bevölkerung diesen Wert 1999 im Vergleich zu 1981 und 1991 für wichtiger. In Westeuropa und im post-kommunistischen Europa wird die Verantwortung von qualifizierten Mehrheiten als ein wichtiges Erziehungsziel anerkannt. Der Verfall der Sitten und ein Untergang des Abendlandes sind auf der Ebene von Vorstellungen, nach denen Kinder erzogen werden sollten, nicht zu erkennen. Eine vergleichsweise geringe Zustimmung zum Erziehungsziel der Toleranz finden wir in Litauen und Bulgarien über alle drei Messzeitpunkte. Es liegt nahe, eine Erklärung in ethnischen Spannungen (Litauen) und ökonomischer Rückständigkeit (Bulgarien) zu suchen. Eine fundierte Aussage über die Gründe für diese abweichenden Einstellungen bedürfte weiterer Analysen, die hier nicht zu leisten sind. In jedem Fall ist für unser Anliegen bedeutsam, dass es in allen zehn europäischen Ländern ein überwältigendes Bekenntnis zur Eigenverantwortung und zur Toleranz gibt.
5.2 Familie und Ehe Gerade in konservativen Kreisen wird ein Verfall der Familienwerte beklagt. In den Medien finden sich immer wieder Berichte, dass die Institution der Familie ihre Bedeutung verloren habe und andere Lebensformen an Bedeutung gewinnen. In den zehn ausgewählten Ländern zeigen die Einstellungen ein völlig anderes Bild. Nur in West-Deutschland halten 1995 ein Drittel und in Ost-Deutschland ein Viertel der Befragten die Hochzeit für eine überholte Institution. In den übrigen Ländern nimmt der Anteil derjenigen zu, die von der Hochzeit glauben, dass sie überholt sei, aber dieser Anstieg erfolgt sehr langsam und auf niedrigem Niveau (auf etwa 20 Prozent der Befragten). Dies überrascht vor allem im weitgehend säkularisierten Schweden, wo man mit dem Rückzug der Religion auch einen Verlust alter Traditionen vermuten könnte. Die Kleinfamilie scheint aber dennoch für weite Teile der Bevölkerung eine erstrebenswerte Familienform. So wird auch in Schweden ein Seitensprung nach der Heirat oder die vollständige sexuelle Freiheit nur von wenigen toleriert. Konfessionelle Unterschiede lassen sich in dieser Frage kaum ausmachen, außer, dass im katholischen Polen die Hochzeit und Treue nach der Heirat besonders hoch geachtet werden.
11
Die Ergebnisse basieren auf Daten des Eurobarometer, International Social Survey Programme, European Values Survey und des World Values Survey. Damit liegen Informationen zu Einstellungen in den Jahren 1991, 1995 und 1999 vor. Die Daten können über das Zentralarchiv der Universität Köln (http://www.gesis.org/za (Januar 2005)) für die Sekundäranalyse bezogen werden. Aus Platzgründen werden die Daten im Folgenden nur im Text diskutiert und nicht tabellenförmig aufgearbeitet. Die Tabellen sind über den Autor oder über das Internet unter folgender Adresse zu beziehen: http://www.kulsoz.euv-frankfurt-o.de/ (Æ Downloads, Æ Jacobs: Werte_in_Europa.pdf).
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Man kann sagen, dass die traditionellen Werte von Familie und auch Treue in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung verankert sind, auch wenn über die Medien manchmal ein anderes Bild vermittelt wird und manche tradierte gesellschaftliche Restriktion an Bedeutung verloren hat. Zum Beispiel weisen die hohen Scheidungsraten darauf hin, dass es weniger Restriktionen gibt, eine Partnerschaft zu beenden, falls diese aus Sicht der Betroffenen nicht mehr funktioniert. Als einen Effekt von Restriktionen kann man auch die relativ hohe Zustimmung für vollständige sexuelle Freiheit in Spanien erklären (mehr als 50 Prozent der Befragten halten vollständige sexuelle Freiheit für wünschenswert). Es ist zu vermuten, dass den Menschen im katholischen Spanien vollständige sexuelle Freiheiten durch gesellschaftliche Traditionen und Normen vorenthalten werden. Durch einen Vergleich mit der Situation in anderen Nationen könnte ein Bedürfnis geweckt werden, das nicht befriedigt werden kann. Die Interpretation der Daten lautet also nicht, dass die Spanier eine vollständige sexuelle Freiheit ausleben würden, sondern, dass ihnen eine individuelle Entscheidung darüber verwehrt wird. Von einzelnen Abweichungen abgesehen, die hier durch nationale Besonderheiten erklärt wurden, zeigt sich bei den verschiedenen europäischen Völkern insgesamt eine große Ähnlichkeit der Einstellungen zur Familie und Ehe.
5.3 Glaube und Moralvorstellung Mit der Aufklärung und der Entzauberung der Religion in der Moderne hat der Glaube an die Rationalität der Technik und die Erklärbarkeit von zunächst unerklärlichen Phänomenen einen relativ hohen Stellenwert eingenommen. Wie aus den Umfragedaten abzulesen ist, glaubt in allen Ländern eine absolute Mehrheit der Befragten an den Nutzen der Wissenschaft. Es vertreten sogar meist mehr als drei Viertel der Befragten die Ansicht, Wissenschaft sei in der modernen Gesellschaft hilfreich und verdiene auch Vertrauen. Nur im katholischen Spanien und im orthodoxen Bulgarien steht eine relativ starke Minderheit der Technik skeptisch gegenüber. In Übereinstimmung mit anderen präsentierten Ergebnissen liegt die Vermutung nahe, dass es vor allem in der spanischen Gesellschaft noch starke traditionale Elemente gibt. Es scheint aber nicht angemessen, aus den Daten eine Abkehr von den europäischen Werten der Modernisierung zu vermuten, zumal in Spanien und Bulgarien von der überwiegenden Mehrheit der Befragten eingeräumt wird, dass die Wissenschaft zumindest nicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Die Einstellungen zur Religion deuten auf die besondere Rolle der katholischen Kirche. In den mehrheitlich katholisch geprägten Ländern Spanien, Polen und Litauen finden wir den höchsten Anteil an Befragten, die an Gott glauben. Gleichzeitig ist in Spanien und Polen der Anteil an Befragten am höchsten, die den Einfluss der Religion und deren Organisationen für zu einflussreich halten. Im säkularisierten Schweden und den orthodoxen Ländern Bulgarien und Russland glauben nur maximal ein Fünftel der Befragten, dass die Religion zu viel Einfluss habe, in Polen und Spanien ist dies fast jeder zweite. Allerdings wird auch in West-Deutschland und Ost-Deutschland der Machtanspruch der Kirchen von 46 Prozent der Befragten für zu hoch gehalten. Die unterschiedliche konfessionelle Prägung in West- und Ost-Deutschland erlaubt den Schluss, dass es über die religiöse Prägung hinaus auch spezifische nationale Besonderheiten geben müsste, die zu diesen Einstellungen führen. Die Ähnlichkeit der Einstellungen kann an der starken Präsenz der evangelischen und katholischen Kirche in den Medien (z.B. zu Fragen der Biotechnik oder der Abtrei-
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bung) liegen, aber vor allem an der sichtbaren Verbindung von Staat und Kirche durch die Institution der Kirchensteuer. Anders als in vielen anderen Ländern bezahlt in Deutschland jedes Mitglied einer der beiden großen Konfessionen eine Kirchensteuer von seinem Bruttoeinkommen. Diese Steuer wird dazu noch durch den Staat eingezogen. Der Indikator „Glaube an Gott“ weist auf ein Problem hin, das bei der Interpretation von Umfragedaten immer besteht. Es entspricht wohl kaum den realen Verhältnissen, wenn zum Beispiel der Glaube an Gott von 1995 bis 1998 in Schweden von 48,2 auf 12,3 Prozent sinkt. Dies ist eindeutig ein Effekt der Antwortvorgaben im World Values Survey (WVS) und dem International Social Survey Programme (ISSP). Im WVS hatten die Befragten nur die harte Wahl zwischen den Antwortvorgaben ja und nein. Vor diese Wahl gestellt, gibt in Westeuropa eine Mehrheit und in West-Deutschland und Spanien sogar in Bevölkerungsanteil von über 70 Prozent an, an Gott zu glauben. Im ISSP gab es fünf Antwortmöglichkeiten. Die 12,3 Prozent der gläubigen Befragten in Schweden beziehen sich auf diejenigen Befragten, die schon immer an Gott geglaubt haben und auch keinen Zweifel an der Existenz Gottes hegen. Trotz dieser methodischen Probleme ist zunächst festzuhalten, dass es eine Reihenfolge der Länder gibt, wie man sie intuitiv erwarten würde. In Ost-Deutschland glauben nur 9,4 Prozent, in Schweden nur 12,3 Prozent der Befragten bedingungslos an Gott. In Großbritannien, West-Deutschland, Bulgarien und Russland sind es immerhin mehr als ein Fünftel der Bevölkerung und in den eher katholisch geprägten Ländern hat der höchste Anteil der Befragten keinen Zweifel an der Existenz Gottes, in Spanien ist dies fast die Hälfte und in Polen fast drei Viertel der Befragten. Gleichzeitig ist der Anteil der Atheisten in allen Ländern mit weniger als 20 Prozent der Befragten deutlich geringer als es die These von der Säkularisierung in Europa unterstellen würde. Wenn man der Bevölkerung die Auswahl gibt, finden wir in weiten Teilen der Bevölkerung etwas, was ich als einen aufgeklärten Glauben bezeichnen möchte. Nach den präsentierten Ergebnissen scheint ein Gottesglaube in Europa immer noch weitgehend verankert zu sein. Selbst in Ländern wie Schweden, das als Vorreiter im Prozess der Säkularisierung gelten kann, zählen weniger als 17 Prozent zum harten Kern der Atheisten. Am Ende dieses Abschnitts kann man festhalten, dass in Teilen der Bevölkerung der Einfluss von religiösen Institutionen für zu stark gehalten wird. Gleichzeitig bleibt aber auch die Idee des Gottesglaubens als Ausdruck christlichen Gedankenguts in den europäischen Gesellschaften verankert. Und zwar selbst dort, wo man gemeinhin einen starken Hang zur Säkularisierung erwarten würde.
5.4 Demokratie als Wert Ein europäischer Wert, der weltweite Akzeptanz gefunden hat, ist die Demokratie als Regierungsform. Winston Churchill hat den Wert der Demokratie in dem griffigen Satz formuliert, dass die Demokratie die schlechteste aller möglichen Regierungsformen sei, außer allen anderen, die von Zeit zu Zeit einmal ausprobiert würden. Die empirische Analyse zeigt, dass der Wert der Demokratie in Europa fest verankert ist. Auch in WestDeutschland, das erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren die bestehende demokratische Ordnung eingeführt hat, und in Spanien, dessen Demokratie gerade 30 Jahre alt ist, sind mehr als 85 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass es kein besseres Re-
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gime als die Demokratie gebe. Ebenso sagen im post-kommunistischen Europa, wo erst vor knapp 15 Jahren pluralistische Demokratien eingeführt wurden, deutlich mehr als drei Viertel der Befragten, dass die Demokratie besser sei als jede andere Regierungsform. Mit einer Ausnahme: Russland. In Russland stimmten 1999 knapp 38 Prozent der Befragten nicht der Aussage zu, dass die Demokratie besser als jede andere Regierungsform sei. Unterhalb der allgemeinen Ebene einer Zustimmung zu dem Prinzip der Demokratie findet sich zumindest in Westeuropa12 auch eine weitgehende Zustimmung zu einzelnen Freiheiten und Rechten, wie der Meinungsfreiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit oder der Religionsfreiheit. Allerdings gibt es sehr wohl Unterschiede zwischen den Ländern, die zumindest Zweifel aufkommen lassen, ob die traditionelle Heterogenität der Nationen Europas einem Monolithen gewichen sei (siehe die Daten des Eurobarometer Nr. 30 von 1988 und Gabriel 1992: 544). Individuelle Rechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder Religionsfreiheit, werden in allen Ländern sehr hoch geschätzt. Anders dagegen sieht es zum Beispiel bei der Versammlungsfreiheit aus. Hier halten etwa 30 bis 40 Prozent der Befragten die Möglichkeit der Einschränkung für angebracht. Auch beim Grundrecht auf Asyl und dem Recht auf eine eigene Sprache und Kultur zeigen sich Unterschiede zwischen den Ländern. Außerdem weichen die Einstellungen von der theoretischen Erwartung ab, die eine hohe Zustimmung zum Prinzip der Demokratie nahe legen würde. In diesen Werten kommen wahrscheinlich ebenfalls die spezifischen Erfahrungen zum Ausdruck, die jedes Land unabhängig von den gemeinsamen Werten gesammelt hat. Entscheidend ist wohl, dass diese nationalen Unterschiede auf einem sehr hohen Niveau der Zustimmung für Werte existieren, die als gemeinsames europäisches Erbe gelten können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Bild von der Vielfältigkeit in der Gemeinsamkeit bestätigt. In keinem Fall ist es so, dass die hier herangezogenen Wertorientierungen den Menschen fremd waren. Die Fragen wurden vergleichbar beantwortet. Gleichzeitig kann man sehen, dass es in Europa weiterhin traditionale Vorstellungen einer „guten“ Gesellschaft gibt. Die Prozesse der Modernisierung haben ganz Europa erfasst, die kulturellen Eigenarten sind aber dennoch erkennbar. Von einem Europa ohne Werte zu sprechen verbietet sich nach diesen Analysen. Auch wenn es zu einer Pluralisierung der Lebensstile kommt und Prozesse der Säkularisierung, d.h. ein Bedeutungsverlust der Kirchen, unbestreitbar sind, stehen die Menschen doch zu den generellen Werten, die sich aus der christlichen, antiken und abendländischen Tradition ergeben und die durch die Aufklärung eine weite Verbreitung gefunden haben.
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Ein wertloses Europa? – Europäisches Sendungsbewusstsein und Modernisierung
Der Verfall der Werte und Sitten ist eine immer wiederkehrende Klage. Dennoch haben die Menschen nicht aufgehört, als gesellschaftliche Wesen nach anerkannten Regeln zu existieren. Zu dieser Existenz gehören auch Vorstellungen davon, was gesellschaftlich wünschenswert ist. Vielleicht sind die Bewältigung der Sinnkrise und die Suche nach dem Ersatz für die Religion, wie sie oben in den Worten von Habermas beschrieben wurden, eine der wesentlichen Aufgaben in modernen Gesellschaften. Peter L. Berger (1999) hat einige Thesen über Werte in modernen Gesellschaften aufgestellt: 12
Für die ost-mitteleuropäischen und osteuropäischen Länder liegen keine Vergleichszahlen vor.
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1. Berger führt aus, dass die These vom Ende der zivilisierten Welt nicht neu sei. Sie berufe sich auf zwei Dimensionen, die auch meinem Beitrag zugrunde liegen. Erstens wird der Niedergang der westlichen Gesellschaften behauptet. Angeblich zerfallen die Familien, die Religion sei im Niedergang begriffen und es gebe ein hohes Maß an Kriminalität, Drogen oder ähnlichen gesellschaftlichen Problemen. Zweitens wird behauptet, der Westen habe im internationalen Kontext seine Vormachtstellung verloren. Die universelle Gültigkeit wichtiger Werte wie Menschenrechte und Demokratie könne nicht mehr eingefordert werden. Das Christentum habe seinen Anspruch auf universelle Gültigkeit als Ausdruck westlicher Kultur im Prozess der Säkularisierung verloren. Berger bestreitet nicht den Inhalt der beiden Aussagen, legt aber eine andere, weniger dramatische Interpretation nahe. Zum Ersten: Pathologische Erscheinungen habe es immer gegeben. Der Zerfall der Familie könne auch einfach als natürlicher Wandel der Institution Familie gelten, Probleme einzelner Kirchen müssen nicht als generelle Religionskrise gelten und die Kriminalität sei früher weiter verbreitet gewesen als heute. Zum Zweiten: Nicht-westliche Kulturen treten heute selbstbewusster und mit eigenem Anspruch auf. Dennoch kann man eine Vorherrschaft westlicher Kulturformen im Bereich der Massenkultur (Kleidung, Musik) und auch auf ideellem Gebiet (Rechte des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, das Ideal der Selbstverwirklichung, der Wunsch nach einer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlage für den Staat) feststellen. 2. Säkularisierung bedeutet den Niedergang der Religion. Dieses Phänomen ist geographisch auf Europa, weltweit weitgehend auf ein Segment der Bevölkerung mit höherer Ausbildung beschränkt. Ein weltweiter Niedergang der Religion entspricht wohl kaum den empirischen Tatsachen. Man kann, so Berger, davon sprechen, dass auch heute für den größten Teil der Menschheit die Sinnsuche religiös motiviert ist. Weltweit zählen der konservative Islam und die konservativen christlichen Glaubensformen zu den am weitesten verbreiteten religiösen Phänomenen. Die Frage, ob die Abwendung von den Kirchen in Europa auch zu Agnostik oder Atheismus führt, ist offen. In der Religionssoziologie wird es auch für möglich gehalten, dass sich das Bedürfnis nach Religion nur neuen Formen zuwendet, etwa dem Buddhismus oder New Age. Dies wäre dann durchaus ein Rückkopplungseffekt aus weltweiter Kommunikation, Interesse an fremden Kulturen in Europa und der Verbreitung nicht-christlicher Religionsformen durch die Migration nach Europa. Es ist ebenfalls eine offene Frage, ob die Abkehr von den christlichen Kirchen gleichzeitig auch eine Abkehr vom christlichen Glauben bedeutet. Es könnte durchaus sein, dass die europäischen Staatskirchen die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr befriedigen. Für diese These spricht die Vitalität kleiner, dezentraler, protestantischer Kirchen in den USA. 3. Pluralismus bedeutet eine Relativierung sämtlicher Lebensbezüge. „Was früher als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde, wird nun zu einer möglichen Variante unter vielen“, schreibt Berger (1999: 30). Pluralismus tritt dann auf, wenn unterschiedliche, voneinander klar abgrenzbare Gruppen friedlich zusammenleben und sozial interagieren. Dies können z.B. ethnische oder religiöse Gruppen sein, aber auch soziale Gruppen wie Homosexuelle. Die umfangreiche (und relativ einfache) Migration, die physische Mobilität der Menschen gerade im Rahmen der Europäischen Union sowie die Medien der Massenkommunikation sieht Berger als wesentliche Elemente der Pluralisierung an. Das ethnozentrische Selbstbewusstsein Europas, das früher eine naturgegebene Plausibilität beanspruchen
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konnte, verliert durch das Zusammenrücken der Welt seine Selbstverständlichkeit. Die Integration moderner Gesellschaften, also die Frage, was eine Gesellschaft eigentlich bei einer Betonung von Individualität noch zusammenhält, wird daher eine beständig zu beantwortende Frage. 4. Berger sieht zwei extreme Reaktionen auf diesen Pluralismus: Einmal die Ablehnung von allem Fremden, das in die eigene Welt eingedrungen ist und die Verkündung „alter Werte und Weisheiten“ (Berger 1999: 31). Dies wäre etwa die Reaktion des konservativen Islam auf jede Erneuerung der Gesellschaft. Für genauso inakzeptabel hält Berger, als Antwort auf den Pluralismus einer Relativierung das Wort zu reden, die jede moralische Wertung ausschließt. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft müssen „gut und böse“, Recht und Unrecht zu erkennen sein. Moderne Gesellschaften dürfen nicht zu wert-losen Gesellschaften werden. Nach Berger findet man in Europa heute beide Reaktionen, z.B. in den Reaktionen auf die Rolle Europas in der Welt, wenn es um die internationale Legitimität westlicher Werte wie Menschenrechte und Demokratie in nicht-westlichen Gesellschaften geht. In öffentlichen Beiträgen zu dieser Frage gibt es Ethnozentrismus genauso wie falsch verstandenen Multikulturalismus. Die Neubewertung alter Werte und Traditionen wird durch Pluralisierung provoziert und bietet eine Chance, den Wert eigener Werte zu prüfen. Eine bewusste Entscheidung für oder gegen Werte kann daher sogar zu einer Stärkung der individuellen Haltung führen und damit auch zu einer Stärkung der für wünschenswert und gut befundenen Werte insgesamt. Für das moralische Selbstverständnis einer Gesellschaft kann eine solche Überprüfung nur positiv sein. Um noch einmal mit Berger zu sprechen: Für die Gesellschaft als Ganzes bietet sich dadurch die Möglichkeit, sich gewissermaßen daran zu erinnern, warum es sich lohnt, akzeptiert und angesehen zu sein, und welches die Bedeutungen sind, ohne die die Gesellschaft ihre Werte/ihren Wert verlieren würde. 5. Fasst man die Ausführungen zusammen, gilt es zunächst festzuhalten, dass ein Kulturpessimismus der Art, dass ein Verfall der Werte zu einem schleichenden Zerfall moderner Gesellschaften führt, aus Sicht der Soziologie eine falsche Klage ist. In jeder Gesellschaft gibt es Werte, und daher kann auch keine Gesellschaft Wert-los sein. Es ist jedoch unbestreitbar, dass Orientierungen diesen Werten gegenüber nicht starr sind, sondern sich auch ändern können. Daraus ergibt sich als eine Konsequenz, dass Eigenschaften, die heute als gesellschaftlich wünschenswert gelten, ihre Bedeutung für die Gesellschaft von morgen verloren haben können. Die Sozialwissenschaften enthalten sich einer Wertung, ob dies gut oder schlecht sei. Es wurde jedoch ausgeführt, dass der Wettbewerb zwischen den Gesellschaften in Europa, die Heterogenität der europäischen Länder, bei einem homogenen europäischen Erbe, eher zu einer Stärkung Europas im Prozess des weltweiten Wettbewerbs führen kann. Dies gilt, solange sich die europäischen Länder auf eine gemeinsame mentale Geschäftsgrundlage einigen. Die bestehende Geschäftsgrundlage ist in den europäischen Rechtsstaaten kodifiziert worden und findet heute in der (globalen) Akzeptanz von Menschenrechten ihren sichtbarsten Ausdruck. Nach außen hin ist die europäische Welt ohnehin ein Exportschlager. Es gibt keine Region der Welt, die sich dem anhaltenden Prozess der Modernisierung entziehen könnte. Modernisierung hat ihren Ausgang in Europa genommen und bestimmt mit den Strukturen Demo-
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kratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat mit Massenkonsum wesentlich die gesellschaftlichen Entwicklungen weltweit. Allerdings ist es auch richtig, dass die Dominanz Europas sich heute abschwächt. Damit meine ich nicht, dass die USA in der internationalen Politik eine Führungsrolle übernehmen, die Vereinigten Staaten sind diesem Fall zu Europa zu rechnen. Bücher wie „Culture Matters“ (Harrison/Huntington 2001), „The Clash of Civilizations” (Huntington 1993) oder „The Wealth and Poverty of Nations” (Landes 1999) warnen ausdrücklich davor, das „Ende der Geschichte” (Fukuyama 1989) anzunehmen. Der Widerstand gegen den dominierenden Einfluss der „entwickelten“ Welt wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst in dem Akt des Terrorismus gegen die USA und den nachfolgenden politischen Ereignissen. Der Kampf zwischen Traditionalisten, die alte Werte und Traditionen gegen eine dekadente, Wert-lose Verwestlichung verteidigen, und Modernisierern findet jedoch in vielen Gesellschaft statt: Die Revolution im Iran 1979, die Ermordung von Präsident Sadat in Ägypten und Ministerpräsident Rabin in Israel, kaum verhüllte Drohungen gegen den moderaten, in Großbritannien ausgebildeten König von Jordanien, die Unruhen zwischen Christen und Moslems in Indonesien oder Nigeria, die Unterdrückung der Religionsfreiheit (und Demokratie) in China, die Enteignung weißer Bauern in Simbabwe auf das Dekret eines Alleinherrschers hin. Alle diese Konflikte, die von einer internationalen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, stehen für gesellschaftliche Konflikte, in denen auch um Werte gekämpft wird, die in Europa selbstverständlich sind. Es ist aber keineswegs nur die „unterentwickelte“ Welt, in der Tradition und kulturelle Identität als Legitimation (oder Vorwand) für politischen Extremismus gegen eine staatliche Ordnung herhalten müssen: Der traditionelle Kampf der Serben gegen den Einfluss des Islam in Europa, der (friedliche) Streit zwischen Ungarn, der Slowakei und Rumänien um die Rechte der ungarischen Minderheiten in der Slowakei und Rumänien oder der Glaube mancher Russen, mit dem Krieg in Tschetschenien eine Mission Europas gegen den Ansturm des Islam zu erfüllen, sind einige Beispiele. Dazu gehören auch die Versuche von extremistischen Minderheiten auf Korsika, im Baskenland und in Nordirland, gewaltsame Aktionen gegen bestehende Regeln mit Werten und Traditionen zu begründen. Abschließend lässt sich sagen, dass Europa gemeinsame Werte teilt, und diese Werte einen Exportschlager darstellen. Gleichzeitig haben sich verschiedene Teile der Welt gegenüber der „alten“ Welt emanzipiert. Es ist eine politische Gratwanderung, in diesen Ländern europäische Wertvorstellungen einzufordern (z.B. die Verhinderung der traditionellen Beschneidung von Frauen in Afrika, Verbot von Sklaverei oder Kinderarbeit) und gleichzeitig Fehler der vergangenen, durch gewaltsame Missionierung und Imperialismus geprägten Jahrhunderte nicht zu wiederholen. „Die Überbleibsel europäischer kolonialistischer Anmaßung sollten als das betrachtet werden, was sie sind: ein kurzer historischer Moment, in dem Europa die Vorherrschaft besaß. Dieser Moment ist vorüber“ (Avineri 1999: 58). Es kann also nicht darum gehen, die eigene kulturelle Identität durch einen Kulturrelativismus zu verleugnen. Es geht um Pluralismus, nicht um Beliebigkeit. Es geht um Einheit in der Vielfalt.
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Das Gedächtnis Europas. Eine Diagnose
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Einleitung: Europäische Identität und das Gedächtnis Europas
Vor dem Hintergrund des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union hat ein Reflexionsprozess über das Fundament und die „Finalität“ des gemeinsamen Europas eingesetzt. Dabei wird unter anderem die Frage diskutiert, was die verbindende, von den Bürgern Europas getragene Grundlage bilden könnte, die dem Bündnis dauerhafte Stabilität verleiht. Mit anderen Worten: Es wird verhandelt, ob eine auf Europa bezogene kollektive Identität1 existiert, ob eine solche kollektive Identität notwendig und wünschenswert ist und was deren mögliche Bezugsgrößen sind bzw. sein könnten. Diejenigen, die sich an dieser Debatte beteiligen, sind sich zumindest in zwei Punkten einig: Erstens, so die weithin geteilte Annahme, mangelt es Europa an einer solchen kollektiven Identität, an einem europäischen „Wir“-Gefühl. „Europa ist eine Kopfgeburt“, die das Herz der Bürger nicht anspreche, so zum Beispiel Ralf Dahrendorf (1994: 760). Der Raum, zu dem Menschen Zugehörigkeit empfinden, ist nach wie vor der Nationalstaat. Die direkte Befragung der Bürger in Europa bestätigt diese Beobachtung. Laut Eurobarometer definiert sich in etwa nur einer von zehn EU-Bürgern in erster Linie als Europäer. Neun von zehn Befragten dagegen geben an, dass ihre primäre Bindung nach wie vor auf ihre nationale Zugehörigkeit bezogen bleibt (zit. nach Däuble 2004; vgl. dazu auch Riketta/Wakenhut 2002). Die zweite Annahme, die sich wie ein roter Faden durch die Debatte zieht, lautet, dass Europa eine solche gemeinsame Identität dringend benötigt. Diese Feststellung, häufig mit dem Appell verbunden, die Bildung einer solchen europäischen Identität aktiv zu fördern und voranzutreiben, ist dabei überwiegend „von oben“, d.h. aus den Reihen der politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten zu vernehmen. Ob wissenschaftliche Tagung, Gedenkveranstaltung, politische Rede oder Symposium: Jeder nur erdenkliche Anlass scheint geeignet, um auf ein fehlendes europäisches „Wir“-Gefühl zu verweisen, diesen Mangel zu bedauern, um sich dann als „Identitätsunternehmer“ (Giesen 1999: 212) für Europa zu engagieren. Einige wenige, aus der Tages- und Wochenpresse der ersten Hälfte des Jahres 2004 ausgewählte Beispiele mögen dies verdeutlichen. Der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes Helmut Meißner eröffnete im April 2004 den Kongress seiner Organisation mit einem Appell an alle Europäer, „sich über die Wurzeln ihrer Zivilisation klar zu werden“ (FAZ vom 15.04.2004: 1). Die Europäer müssten, so Meißner, über das nötige Wissen über die gemeinsame Herkunft Europas verfügen, um sich künftig nicht nur als Angehörige ihrer jeweiligen Nation, sondern auch als Bürger eines gemeinsamen Europas betätigen zu 1
„Kollektive Identität“ lässt sich im Anschluss an Jan Assmann verstehen als „reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit“ (Assmann 1997: 134), als „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren“ (ebd.: 132).
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können. Nur wenn das gemeinsame Europa im Wissen und Denken der Menschen verankert sei, seien sie auch bereit, für die gemeinsame Zukunft Mühen und Kosten auf sich zu nehmen (ebd.). Josep Borrell, seit Juli 2004 EU-Parlamentspräsident, bezeichnete in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität als „die große Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte“. Einfach sei diese Aufgabe nicht zu bewältigen, aber: „Wir müssen es schaffen“ (FAZ vom 20.06.2004: 5). Heinrich August Winkler, Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin, sprach auf einem zu Ehren des Altkanzlers Helmut Schmidt veranstalteten Symposium über „Nutzen und Nachteil der Historie für die Politik“ davon, dass Europa nur zusammenwachsen werde, „wenn es sich seiner gemeinsamen Erfahrungen und Prägungen bewusst wird, also ein ‚Wir-Gefühl’ entwickelt. Wo es die historischen Grundlagen eines solchen ‚WirGefühls’ gibt, da ist Europa. Europa endet dort, wo diese Grundlagen fehlen“ (Die Zeit Nr. 15 vom 1.04.2004: 15). Und Bundeskanzler Gerhard Schröder bedauerte bei der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des durch Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944 verübten Attentats auf Hitler, dass es einen europäischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht gegeben habe. Allerdings habe Europa guten Grund, den Widerstand als „flammendes Zeichen auf dem Weg zu einer wahren europäischen Wertegemeinschaft“ zu verstehen und in Ehren zu halten: „Erst heute, 60 Jahre später, können wir dieses europäische Vermächtnis des Widerstands vollenden. Denn der Kampf für Freiheit und Recht ist die wichtigste Grundlage dessen, was uns in Europa eint – seit der Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai dieses Jahres stärker denn je“ (FAZ vom 21.07.2004: 1). Nun könnte man sich angesichts der großen Anzahl der Appelle, die für die Schaffung einer europäischen Identität werben und deren Dringlichkeit unterstreichen, fragen, wo eigentlich das Problem liegt. Schließlich ist die Bilanz des europäischen Einigungsprojekts trotz seiner Konzentration auf den wirtschaftlichen Bereich und trotz des bisher eher technokratischen, interessegeleiteten Charakters der Europäischen Union im Großen und Ganzen keine negative. Die Gründe für die Wahrnehmung der Notwendigkeit auch einer emotionalen Bindung der Bürger an Europa lassen sich zum einen sicherlich in der Erweiterung der Europäischen Union finden. In Zeiten des Umbruchs und der Veränderung drängen sich Fragen nach den Grenzen, nach Innen und Außen, nach dem Eigenen und Fremden, also Fragen danach, wer man als Gemeinschaft sein möchte und wie diese begrenzt werden soll, fast wie von selbst auf. Die Debatte, ob die Türkei und, wenn ja, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt sie Mitglied der Europäischen Union werden soll, zeigt dies deutlich.2 Zum anderen wird die Notwendigkeit einer emotionalen Fundierung des europäischen Projekts sicherlich auch deshalb verstärkt artikuliert, weil die zunehmende Übertragung von bisher nationalstaatlichen Kompetenzen an die Brüsseler Zentrale die Frage nach der Stabilität des europäischen Bündnisses dringlich erscheinen lässt. Die Identifikation der Bürger mit ihrem politischen Gemeinwesen schafft Stabilität und Belastbarkeit, auch in Krisenzeiten. Ohne die Bereitschaft hingegen, für das politische Gemeinwesen notfalls
2
Die wichtigsten Positionen der Debatte sind dokumentiert in Leggewie (2004).
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auch Opfer zu bringen, lässt sich eine solide Stabilität des Gemeinwesens nur sehr bedingt herstellen.3 An Vorschlägen, wie eine Identifikation der Bürger mit Europa, eine europäische kollektive Identität herzustellen sei, mangelt es nicht. Die offiziellen Bemühungen um eine europäische Identität, die in die 1970er Jahre zurückreichen, versuchen beispielsweise eine Bindung an das europäische Einigungsprojekt durch eine gemeinsame Symbolsprache zu befördern. 1973 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der damals neun Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft das „Dokument über die europäische Identität“.4 Seit diesem Zeitpunkt lässt sich von einer aktiven Symbolpolitik von offizieller Seite sprechen, die unter anderem zur Einführung zweier Europatage (5. und 9. Mai), zur Gestaltung einer Flagge und einer Hymne, zur Vereinheitlichung der europäischen Pässe und zur Ernennung europäischer Städte zu Kulturhauptstädten Europas für jeweils ein Jahr führte (Patel 2004). Trotz dieser aktiven, auf Identitätsbildung gerichteten Versuche leide die Europäische Union auch weiterhin, so Patel, an einem „symbolischen Defizit“ (ebd.: 17): „Bisher haben es nur wenige Europa-Repräsentationen geschafft, sich im Bewusstsein der Unionsbürger (...) zu verankern“ (ebd.). Ein weiterer, auf die Konstruktion einer europäischen Identität abzielender Vorschlag lautet, Europa als Wertegemeinschaft zu definieren (siehe dazu den Beitrag von Jörg Jacobs in diesem Band). Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Anerkennung und Realisierung einer freiheitlichen, auf Anerkennung der Menschenrechte beruhenden politischen Ordnung, also auf Demokratie, Gewaltenteilung, Pluralismus, Minderheitenschutz und Religionsfreiheit. Betrachtet man diesen Kanon an Werten hinsichtlich seiner Tauglichkeit für die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Identität, ergeben sich Zweifel in zweifacher Hinsicht. Zum einen bestehen diese Werte ja grosso modo in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bereits, wenn auch sicherlich in unterschiedlicher Verwurzelung und Tiefe. Eine Wertegemeinschaft in diesem Sinn kann also jeder Mitgliedsstaat für sich realisieren. Dazu bedarf es nicht einer übergreifenden politischen Union (Böckenförde 2003). Zum anderen lässt sich aus diesem Katalog an Werten keine hinreichende Eigentümlichkeit ableiten. Wie Däuble bemerkt, sind diese Werte in je eigener Kombination „zwischenzeitlich glücklicherweise in vielen Teilen der Welt anzutreffen“ (Däuble 2004). Identitätskonstruktionen bedürfen aber stets der Benennung von Grenzen: Ohne Differenz keine Identität. Auch der Vorschlag, eine europäische Identität auf einem religiösen Fundament aufzubauen, muss mit Skepsis betrachtet werden, nicht nur, weil über deren Stellenwert für das europäische Projekt offensichtlich unter den Mitgliedern keine Einigkeit erzielt werden kann, wie die Debatten um den Verfassungstext für Europa gezeigt haben. Böckenförde hat darauf hingewiesen, dass die Religion in Europa weniger als Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens gesehen werden sollte, sondern vielmehr als „Möglichkeit der Lebensgestaltung, welche die Menschen ergreifen oder auch nicht“ (Böckenförde 2003). In einem Zusammenschluss weitgehend säkularisierter, vereinzelt auch laizistischer Gesellschaften ist die Religion freigegeben, was es zugleich schwierig macht, sich auf eine Religionsrich3
Diese These ist Teil einer langen, bis in die griechische Antike mit Platon und Aristoteles zurückreichenden Tradition des Nachdenkens darüber, was politische Gemeinwesen zusammenhält. Eine Übersicht über die verschiedenen Varianten ihrer Ausformulierung in der politischen Ideengeschichte findet sich bei Almond (1980). 4 Das „Dokument über die europäische Identität“ vom 13./14. November 1973 ist abgedruckt in Schulze/Paul (1994: 280-283).
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tung, etwa die christliche, zu einigen, auch wenn dieser im kulturellen Erbe der Europäer sicherlich eine besondere Bedeutung zukommt. Eine weitere, in aktuellen Beiträgen und Wortmeldungen genannte Bezugsgröße einer europäischen Identität lautet „Gedächtnis“ bzw. „Erinnerung“. Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von einem „gemeinsamen europäischen Geschichtsbild“, bei dem es anzusetzen gelte. In diesem Geschichtsbild soll „die eigene Geschichte zugleich als Teil und Faktor der Geschichte Europas“ wahrgenommen und erinnert werden. Als primäre Produzenten eines solchen Geschichtsbildes sieht er die Schulen: „Geschichte Europas als eigenes Unterrichtsfach, die Volks- oder Nationalgeschichte als integrierender Teil davon, und das mit aufeinander abgestimmten Lehrbüchern“ (Böckenförde 2003). Nicht zuletzt angesichts der gewaltsamen Geschichte Europas im 20. Jahrhundert erscheinen Böckenförde die Möglichkeiten des Gelingens einer solchen Konstruktion heute noch „prekär“. Aber für die Zukunft sieht er die Verankerung eines gemeinsamen Geschichtsbildes durchaus als möglichen Weg. Auch Johannes Fried sieht eine gemeinsame Erinnerung als wesentlichen Faktor bei der erfolgreichen Etablierung einer europäischen Identität. Europas Bürger werden, so Fried, „trotz Kooperation keine Integration und keine kollektive Identität“ vorweisen können, solange ihre „nationalen Erinnerungsbilder divergieren“ (Fried 2001: 587). „Sollte es besser kommen, sollte Europa zur Integration finden, müssten wir uns daran gewöhnen, die Epoche der Nationalstaaten als eine Durchgangsphase unserer Geschichte, nicht als deren letztes Ziel zu erinnern. Europa zu entdecken und zu bauen verlangt Vergessen, verlangt Erinnern und verlangt unbewusste und bewusste Gedächtnisarbeit, kurzum: einen konstruktiven Erinnerungsprozess, der eine identitätsstiftende Wirkung entfaltet. Solange die Nationen ihre alten Vergangenheiten bewahren, wird es kein integriertes Europa, kein Bewusstsein ‚Wir Europäer’ geben können“ (ebd.).
Und Ute Frevert, um einen letzten, auf ein gemeinsames Gedächtnis als Bezugsgröße einer europäischen Identität abzielenden Vorschlag anzuführen, spricht von einer „Gedächtnisoffensive“ (Frevert 2003: 168), die im europäischen Maßstab zu einer kollektiven Identität führen könnte. Als Vorbild sieht sie die Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und deren Bemühungen, durch Schaffung gemeinsamer Symbole und Gründungsmythen eine emotionale Bindung und ein Zugehörigkeitsgefühl herzustellen. Europa müsse dabei seine negativen Erfahrungen nicht ignorieren, ganz im Gegenteil. In Soldatenfriedhöfen und ehemaligen Vernichtungslagern sieht Frevert gar „europäische Erinnerungsorte par excellence“, aus denen „europäischer Funke“ (ebd.: 169) schlagen könne: „Aus dieser geteilten Erfahrung könnte ein gemeinsamer ‚europäischer Traum’ erwachsen: der Traum von einem Europa ohne Rassenhass und Nationalismus, ohne ethnische Säuberungen und Massengräber, ohne Kriegstreiberei, Todesstrafe und Fanatismus“ (ebd.: 183). Die in den angeführten Beispielen formulierte Idee, eine europäische Identität auf ein gemeinsames europäisches Gedächtnis und eine gemeinsame Erinnerungskultur aufzubauen, klingt auf den ersten Blick plausibel. In der Geschichte der Nationalstaaten finden sich unzählige Beispiele für eine solche Identitätsfundierung. Traditionen werden, wie Eric Hobsbawm festgestellt hat, „erfunden“, um „den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder die Mitgliedschaft in Gruppen, wirklichen und künstlichen Gemeinschaften, her[zu]stellen oder [zu] symbolisieren“ (Hobsbawm 1998: 109). „Gedächtnis“, so lässt sich mit Aleida Assmann argumentieren, entsteht „durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit, wie
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sie ein Individuum oder eine Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen“ (Assmann 1999: 408).5 Das Abtasten der europäischen Geschichte nach verwertbaren, historischen Anknüpfungspunkten jenseits der Nationalgeschichten, die einer neuen Generation von Europäern als „ihr“ Gedächtnis nahe gebracht werden sollen, erscheint angesichts dieser Beobachtungen als Erfolg versprechende Strategie. Die seit einigen Jahren vor allem in den westeuropäischen Staaten zu beobachtende Tendenz der Angleichung der Erinnerung an den Holocaust scheint dies zu bestätigen. Lassen sich Entwicklungen wie etwa die Einführung eines europaweiten Holocaust-Gedenktages als erste Anzeichen der Bildung eines europäischen Gedächtnisses interpretieren? Angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen um Geschichte, Erinnerung und Gedächtnis drängt sich allerdings die Frage auf, ob eine solche Konstruktion nicht doch zum Scheitern verurteilt ist. Deuten Konflikte wie derjenige um ein in Planung befindliches „Zentrum gegen Vertreibungen“ oder um die Rede, die die vormalige lettische Außenministerin und nachmalige EU-Kommissarin Sandra Kalniete auf der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2004 hielt, nicht eher darauf hin, dass eine auf Erinnerung basierende europäische Identität angesichts der erhebliches Konfliktpotential bietenden Geschichte Europas auf tönernen Füßen gebaut wäre? Und welche Bedeutung hat dies für eine gemeinsame europäische Identität? Hat Europas Gedächtnis als Grundlage einer solchen gemeinsamen Identität eine Zukunft?
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Der Holocaust als negativer Gründungsmythos für Europa
Seit den 1990er Jahren lässt sich ein Prozess beobachten, der von verschiedener Seite als „Universalisierung“ der Erinnerung an den Holocaust bezeichnet wird (Jeismann 2001; Levy/Sznaider 2001). Darunter wird das Heraustreten der Erinnerung an den Holocaust aus den jeweiligen „nationalen Containern“ (Levy/Sznaider 2001: 18) verstanden. Das Gedenken an die Vernichtung der europäischen Juden ist nicht mehr ausschließlich Teil der verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen, sondern ist zum Bestandteil internationaler (Gedenk-)Politik und Rhetorik geworden. Dieser Prozess lässt sich nicht ausschließlich, aber besonders intensiv auf europäischer Ebene beobachten. „Auschwitz“ wird in diesem Prozess der „Europäisierung“ der Erinnerung an den Holocaust zum universalen Orientierungspunkt und zu einem Losungswort, das unterschiedliche Funktionen erfüllen soll. In erster Linie geht es dabei um die Formulierung eines Wertekatalogs, der nicht nur auf der symbolischen Ebene Anknüpfungspunkte bieten, sondern auch praktische Politik anleiten soll. Die Berufung auf „Auschwitz“, die der Legitimation des Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo diente, ist ein Beispiel für diese Tendenz (Schwab-Trapp 2002). Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang war das „Stockholm International Forum on the Holocaust“, zu dem sich im Januar 2000 fünfundzwanzig überwiegend europäische Regierungschefs, weitere hochrangige Politiker, sowie Historiker und Journalisten in der schwedischen Hauptstadt zusammenfanden. Während der dreitägigen Konferenz, deren Teilnehmer sich u.a. mit neuen Erkenntnissen der Holocaust-Forschung beschäftig5
Auf die grundlegenden Annahmen der Theorien des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerung kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Einen guten Einstieg in die Problematik bietet der Einführungsband von Erll (2005).
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ten, legten die anwesenden Staatschefs, mit Ausnahme des israelischen Premiers, jeweils ihr nationales Bekenntnis der Schuld und der Reue ab. Dies war verbunden mit dem Versprechen, in Zukunft verstärkt gegen Gewalt vorzugehen und Genozide zu verhindern. Der Konferenz vorausgegangen waren die seit den 1980er Jahren in zahlreichen europäischen Ländern einsetzenden Debatten um die jeweils eigenen Verstrickungen in die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Frankreichs Debatte um die Kollaborationspolitik des Vichy-Regimes oder die Diskussion um die Rolle der Schweizer Banken im Zusammenhang mit dem sogenannten „Raubgold“ sind hierfür zwei Beispiele.6 Mit der Abschlusserklärung von Stockholm wurde der Versuch unternommen, den Holocaust gewissermaßen offiziell im europäischen Gedächtnis zu verankern. Verschiedene europäische Länder begannen danach, den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, zum nationalen Gedenktag an den Holocaust zu erklären und mit eigenen Veranstaltungen zu begehen. Diese Entwicklung ist insofern von Interesse, als sich daran die möglichen Koordinaten eines zukünftigen europäischen Gedächtnisses aufzeigen und ausloten lassen. Der 27. Januar lässt sich, folgt man der Abschlusserklärung von Stockholm, als europäischer Gedenktag verstehen, der auf den Holocaust als Verbrechen, von dem Europa als Ganzes betroffen war, Bezug nimmt und dies zur Grundlage eines europäischen Gedächtnisses erklärt. Aus der Erinnerung an dieses Verbrechen sollen Konzepte für eine bessere, friedliche Zukunft gewonnen werden. So versichern die Teilnehmer der Stockholm-Konferenz in der Abschlusserklärung ihr „commitment to plant the seeds of a better future admidst the soil of a bitter past. We empathize with the victims’ suffering and draw inspiration from their struggle. Our commitment must be to remember the victims who perished, respect the survivors still with us, and reaffirm humanity’s common aspiration for mutual understanding and justice”.7
Darüber hinaus zeigen die jeweils nationalen Umsetzungen des Gedenktages, dass es sich beim 27. Januar auch um einen Gedenktag in Europa handelt. Es scheint gerade nicht darum zu gehen, diesen Tag in Europa mit identischen Zeremonien und einer insgesamt identischen Symbolik zu begehen. Vielmehr wird der Gedenktag jeweils national ausgefüllt, wenn auch, wie in Deutschland bei der jährlichen zentralen Gedenkfeier im Bundestag, Redner und Gäste aus anderen europäischen Ländern anwesend sind. Nationale Traditionen und Symbole werden nicht überschrieben oder außer Kraft gesetzt. Vielmehr geht es darum, den europäischen Blick und die verschiedenen nationalen Standpunkte mit ihren Besonderheiten aufeinander zu beziehen, ohne sie jedoch ineinander aufgehen zu lassen. Dies kann auch als Beginn eines Prozesses des „Abgleiches“ (Diner 2001) der divergierenden historischen Erinnerungen verstanden werden, der in seinem Ergebnis nicht zu einer homogenen europäischen Erinnerungskultur führen soll, aber doch zur Reduzierung von historisch bedingten Konfliktfeldern in Europa beitragen könnte.
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Einen guten Einstieg in die Thematik der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in Europa bieten die zwei Begleitbände zur Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen“ (Flacke 2004). In 29 Länderberichten werden die jeweiligen nationalen „Meistererzählungen“ über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die diese Meistererzählungen in Frage stellenden, delegitimierenden Gegenerzählungen („Dammbrüche“) dargestellt und analysiert (zu den Begriffen „Meistererzählung“ und „Dammbruch“ vgl. François 2004). 7 Declaration of the Stockholm International Forum on the Holocaust. Online unter URL: http://www. holocaustforum.gov.se/pdfandforms/deklarat.pdf.
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Der Versuch, die Erinnerung an den Holocaust in das Zentrum eines europäischen Gedächtnisses zu stellen, hat nicht nur positive Aufnahme gefunden, sondern auch vehemente Kritik hervorgerufen. Diese wurde vor allem im Zusammenhang mit dem Versuch laut, aus der Erinnerung an den Holocaust einen Wertekatalog abzuleiten und eine Art Handlungsanleitung für politische Entscheidungen zu gewinnen. Lothar Probst hat unter anderem im Zusammenhang mit den Sanktionsmaßnahmen von vierzehn EU-Mitgliedsstaaten gegen die im Rahmen demokratisch legitimierter Wahlen und Verfahren an die Macht gekommene österreichische Koalitionsregierung aus ÖVP und der damals von Jörg Haider geführten rechtspopulistischen FPÖ darauf hingewiesen, dass die „moralische Aufladung des Politischen mit Rückgriff auf den Holocaust“ problematisch sei, weil sie politischer Instrumentalisierbarkeit Tür und Tor öffne (Probst 2003: 236). Ohne dass konkrete Menschenrechtsverletzungen vorgelegen haben oder die gerade erst ins Amt gekommene Regierung gegen zentrale Prinzipien der EU verstoßen hat, wurde der Versuch eines Boykotts gegen Österreich unternommen, der sich allerdings schnell als haltlos herausstellte und von daher schließlich beendet wurde. Wie wenig glaubwürdig diese Sanktionsmaßnahmen gegen Österreich waren, zeige die Tatsache, so Probst weiter, dass zur gleichen Zeit in Südspanien – Spanien war einer der eifrigsten Verfechter der Sanktionen – Marokkaner von einem aufgebrachten Mob durch die Straßen gejagt wurden, während die Polizei zuschaute. Anhand dieser Ereignisse lässt sich die Gefahr der politischen Instrumentalisierbarkeit deutlich zeigen. Die Frage nach der Tauglichkeit der Holocaust-Erinnerung als Fundament einer Politik gegen suspekte Regierungen und Parteien wurde im April 2004 auf einer Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zum Thema Antisemitismus von Seiten jüdischer Organisationen erneut formuliert. Der Maßstab des Holocaust, so die Kritiker, passe nicht für das gegenwärtige Europa und die Anforderungen des Tages. Die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland besitze eine Dimension, die nicht im Maßstab auf die Gegenwart heruntergerechnet werden könne. Dagegen wurde der Vorschlag formuliert, sich auf den alltäglichen Rassismus und Antisemitismus zu konzentrieren, um hieraus Maßstäbe zu deren Verhinderung zu gewinnen (Jeismann 2004). Immerhin: Selbst wenn man die Versuche der Übersetzung der Erinnerung an den Holocaust in einen politisch verwertbaren Wertekanon ablehnt, lassen sich die Bemühungen der Verständigung über eine europäische Erinnerungskultur und ein europäisches Gedächtnis zumindest als Indikator für eine fortschreitende Überwindung der aus der Erfahrung der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft resultierenden möglichen Konfliktpotentiale deuten. Eine Reihe weiterer Ereignisse stützt diese Deutung. Gerhard Schröders Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie auf Einladung Frankreichs, sowie seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes lassen erkennen, dass die europäischen Staaten auf dem Weg der Aussöhnung eine beträchtliche Strecke zurückgelegt haben – zuvor war kein deutsches Staatsoberhaupt zu Feierlichkeiten der Alliierten eingeladen worden.
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Birgit Schwelling Konfliktlinien europäischer Erinnerung
Ist damit „die Nachkriegszeit endgültig vorbei“, wie der Kanzler im Zusammenhang mit der Einladung in die Normandie erklärte (FAZ vom 7.06.2004: 1)? Die folgenden Beispiele deuten eher auf das Gegenteil hin. Auf der Eröffnungsveranstaltung der Leipziger Buchmesse 2004 kam es zu einem Eklat, der einige Hinweise auf die Konfliktlinien europäischer Erinnerung enthält. Die vormalige lettische Außenministerin und spätere EU-Kommissarin Sandra Kalniete hatte in ihrer auf Englisch gehaltenen Eröffnungsrede davon gesprochen, dass „(...) behind the Iron Curtain the Soviet regime continued to commit genocide against the peoples of Eastern Europe and, indeed, against its own people“, und sie fuhr nach einem Verweis auf Dokumente, die diese Behauptung stützen, fort: „These confirm the truth that the two totalitarian regimes – Nazism and Communism – were equally criminal“ (zit. nach Korn 2004). Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, hatte daraufhin demonstrativ den Saal verlassen. Wie Korn später in der Süddeutschen Zeitung erklärte, halte er diese Gleichsetzung nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen auch trotz des bedauernswerten Schicksals der Familie Kalniete – sie wurde von den Sowjets in den 1940er Jahren nach Sibirien deportiert, Sandra Kalniete selbst wurde 1952 dort geboren und lernte ihre Heimat Lettland erst als Siebenjährige kennen – für völlig unangemessen. Auch das beklagenswerte Schicksal ihrer Familie gebe Kalniete nicht das Recht, der Sowjetunion den gleichen rassistischen Ausrottungswillen zuzuschreiben wie dem Nationalsozialismus. Kalniete habe ihre persönlichen Erfahrungen zum Maßstab der Beurteilung historischer Zusammenhänge erhoben. Als Politikerin müsse sie aber erkennen, dass „das Einzelne nicht fürs Ganze“ stehe: „Das ganze des geschichtlichen Kontextes ist eben mehr als die Summe der Einzelschicksale“ (ebd.). Neben dieser Kritik an den Versuchen der Gleichsetzung von sowjetischen und nationalsozialistischen Verbrechen weist Korn auf einen zweiten Punkt hin, der im Zusammenhang mit den Versuchen der Etablierung des Holocaust als negativen Gründungsmythos Europas noch bedeutender scheint. Kalniete habe in ihrer Rede kein Wort über die Kollaborations-Verbrechen verloren, die Letten während der deutschen Besatzung der Jahre 1941 bis 1944 verübt haben: 80.000 Letten gehörten der lettischen SS-Legion an, und weitere 30.000 wurden in der lettischen Polizei eingesetzt. Sie waren die willigen Helfer der Vernichtung der lettischen Juden, von denen nicht mehr als 3.000 den Holocaust überlebt haben. Korn sieht in diesen Ausblendungen von Teilen der Geschichte „kein gutes Omen“ für das erweiterte Europa. Die Auseinandersetzung der mittel- und osteuropäischen EUMitgliedsstaaten „mit ihrer bis in die Gegenwart nachwirkenden antisemitischen Vergangenheit“ stehe entweder noch gänzlich aus oder habe erst in Ansätzen begonnen. Man mag Korns Kritik als „Überreaktion“ bezeichnen (Kämmerlings 2004); die Auseinandersetzung zeigt jedoch deutlich, dass mit der „Osterweiterung des historischen Bewusstseins“ (ebd.) neue Konfliktlinien auf die Tagesordnung getreten sind, die sich um die Frage der Gewichtung der Erinnerung an die Verbrechen des 20. Jahrhunderts und um Fragen nach Täter- und Opferschaft drehen. Vor allem die Erinnerung an die Zeit der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa drängt nun sehr viel stärker als bisher an die (west-)europäische Öffentlichkeit. Henry Rousso hat darauf hingewiesen, dass in manchen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich und in Südeuropa, „sich ein bedeutender Teil der Intellektuellen und gelehrten Milieus schwer [tut] mit dem Umstand,
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dass dieses Erbe [des Kommunismus] für viele Millionen Europäer eine stark negative Last darstellt, vor deren Hintergrund die Bilanzen der großen kommunistischen Parteien Westeuropas letztlich als recht nachsichtig erscheinen“ (Rousso 2004: 364). Auseinandersetzungen um Fragen der Bewertung der nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen und Fragen nach der Legitimität des Vergleichs von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und stalinistischem GULag scheinen vorprogrammiert und lassen eine Vorahnung auf die Herausforderungen der kommenden Jahre aufkommen. Ein weiterer Aspekt, der in der Auseinandersetzung Korns mit der Rede von Sandra Kalniete aufscheint, ist die Frage nach Opfer- und Täterschaft. Der Vorwurf Korns zielt darauf ab, tatsächliche oder vermeintliche Opfermythen insbesondere in mittel- und osteuropäischen Ländern zu hinterfragen und Themen wie etwa die Kollaboration mit den Nationalsozialisten auf die Tagesordnung zu setzen. Andererseits dürften gerade jene Staaten, die ihrerseits in besonderer Weise unter den Nationalsozialisten gelitten hatten und die wie Lettland oder Polen8 ein Bewusstsein von Opferschaft entwickelten, das sich nicht selten und nicht zuletzt in Rivalität zum Leiden der Juden etablierte, mit der besonders in westeuropäischen Ländern populären Etablierung des Holocaust als europäischem Gründungsmythos einige Probleme haben. Auch in diesem Zusammenhang scheinen die Auseinandersetzungen gerade erst begonnen zu haben. Dan Diner hat darauf hingewiesen, dass überhaupt erst das Ende des Kalten Krieges, der die im Streit liegenden nationalen Gedächtnisse „neutralisierte“ (Diner 2001), einfror und „kalt“ stellte, die nunmehr zu beobachtenden Gedächtnisschübe möglich gemacht hat. Das „kalte Vergessen“ überantwortete, so Diner, die nationalen Gedächtnisse der „Vernunft politischen Vergessens“, ohne die etwa die politischen Einheitsbestrebungen im Westen nicht möglich gewesen wären.9 Das Ende des Kalten Krieges hat aber nicht nur zur Folge, dass um die Bewertung und Einordnung der Verbrechen des 20. Jahrhunderts gestritten werden kann. Diner beobachtet auch, dass neben die Auseinandersetzungen auf der symbolischen Ebene „handfeste“ materielle Konflikte getreten sind. Er spricht von einem „Nexus“ zwischen Gedächtnis und Restitution, zwischen nun verstärkt hervorbrechenden Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Forderung nach Entschädigung für enteignetes, gestohlenes oder zurückgelassenes Privateigentum bzw. der Forderung nach dessen Rückgabe. Die Konsequenzen aus den in Europa vernehmlich werdenden Restitutionsforderungen seien heute noch nicht abzusehen: „Der Beitritt der Tschechischen Republik, Polens und Ungarns [zur EU] im Zeichen des Privateigentums und rechtshängiger Restitutionsbegehren könnte Prozesse anstoßen, die früher getroffene staatliche Abmachungen unterlaufen. Wer würde sich anheischig machen, einen Juden oder Ukrainer in Polen davon abzuhalten, als abgegolten erachtete Forderungen einzuklagen; oder einen ethnisch Deutschen aus den Sudeten; oder einen Ungarn aus der Slowakei?“ (ebd.)
Mit solchen Restitutionsforderungen konfrontiert, würden die unterschiedlichen, vom Weltkrieg gezeichneten Gedächtnisse, so Diner weiter, aufs Neue in Verhandlung treten. Am Ende des Prozesses könnte sich, so seine optimistische Prognose, ein gesamteuropäisches Selbstverständnis herausgebildet haben. 8
Vgl. dazu auch die Debatte um das im Jahr 1941 von Polen an Juden im ostpolnischen Jedwabne verübte Massaker, auf die ich hier nicht näher eingehen kann (siehe hierzu u.a. Gross 2001; Henning 2001; Kowitz 2004). 9 Vgl. dazu auch Tony Judt, der von „frozen past“ spricht (Judt 2000: 308).
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Der kausale Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Restitution verläuft bei Diner vom Zweit- zum Erstgenannten: Die versuchte oder tatsächliche Wiederherstellung von vorausgegangenen Eigentumsverhältnissen in Europa „verlebendigt“ die damit verbundenen Erinnerungen. Dieser Zusammenhang lässt sich, das zeigen die derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschland, auch in anderer Richtung denken. Was als Debatte um ein mögliches „Zentrum gegen Vertreibungen“ begann, hat sich zu einem handfesten, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern beeinträchtigenden Konflikt nicht nur um Fragen der Repräsentation, sondern auch um solche der Entschädigung und Wiedergutmachung ausgewachsen. Was war geschehen? Seit Ende der 1990er Jahre wird in der Bundesrepublik der Plan verfolgt, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten. Die Initiative entstand aus den Reihen des Bundes der Vertriebenen (BdV), dessen Vorsitzende Erika Steinbach Mitte 2000 eine Stiftung zur Förderung des Zentrums mitinitiierte. Während das Konzept in den Medien in der Bundesrepublik zunächst wohlwollend aufgenommen wurde, waren bei den politischen Parteien von Beginn an konkurrierende Positionen zu beobachten. Auch wenn es keine einheitlichen Fraktionsmeinungen gibt, lässt sich zumindest tendenziell feststellen, dass SPD und Grüne dem Projekt eher skeptisch gegenüber stehen, während CDU und CSU das Zentrum befürworten und unterstützen. Der eigentliche Konflikt um das Zentrum begann, als erstmals Anfang 2002 von dem SPD-Abgeordneten Markus Meckel vorgebrachte Vorschläge laut wurden, das Zentrum nicht in der von der Stiftung vorgeschlagenen Form umzusetzen, sondern das Konzept zu „europäisieren“ und das Zentrum nicht in Berlin, sondern in Breslau zu realisieren. Im Zusammenhang mit diesen Vorschlägen wurde nun auch die polnische Öffentlichkeit auf das Projekt aufmerksam. Eine sowohl in den polnischen als auch in den deutschen Medien geführte Debatte, an der sich neben politischen Eliten vor allem auch Wissenschaftler und Publizisten beteiligten, begann sich zu entwickeln. Die Gegner eines Zentrums in Berlin vermuten hinter dem Konzept der Stiftung eine starke Fokussierung auf die Opferperspektive sowie eine mangelnde historische Kontextualisierung der Vertreibung. Ihnen schwebt ein Zentrum vor, in dem eine vergleichende Perspektive auf Zwangsdeportationen und ethnische Säuberungen in einem europaweiten Kontext präsentiert wird. Die Befürworter eines Zentrums in Berlin hingegen insistieren darauf, dass die europäische Komponente im ursprünglichen Konzept bereits enthalten sei, die deutsche in der europäischen Erfahrung aber mitnichten aufgehe. Daneben treten Stimmen, die ein Zentrum sowohl in der einen als auch in der anderen Ausrichtung mit dem Argument eines mit dem Thema Vertreibung falsch gewählten Fokus auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts ablehnen.10 Als zweiter Akteur betritt im Jahr 2000 die Preußische Treuhand die Bühne, ein privater Verein, der sich auf eine sehr spezielle Weise auf den Beitritt Polens zur EU vorbereitet hat. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Vermögensansprüche deutscher Vertriebener vor polnischen und europäischen Gerichten einzuklagen. Seit dem Beitritt Polens zur EU im Mai 2004 ist hierfür zumindest formal die juristische Möglichkeit gegeben. Vor dem Hintergrund von Diners Annahme eines Zusammenhangs von Gedächtnis und Restitution ist nun bemerkenswert, dass vor allem in den polnischen Beiträgen zur Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen ein Zusammenhang zwischen der Repräsentation der Vertreibung und den Entschädigungsforderungen hergestellt wurde. Ein in diese 10
Die verschiedenen Positionen können hier nur sehr verkürzt dargestellt werden. Für eine weitergehende Analyse der Debatte vgl. u.a. Salzborn (2003); Urban (2005).
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Richtung deutender Hinweis lässt sich aus Leszek Koáakowskis (2003) Debatten-Beitrag entnehmen. Koáakowski äußert darin seine Besorgnis, dass ein Zentrum etwaige Restitutionsforderungen von Seiten deutscher Vertriebener untermauern könnte: „Es stimmt zwar, dass im Zusammenhang mit dem jetzt diskutierten Museumsprojekt im Moment keine territorialen oder anderen Ansprüche erhoben werden. Es soll aber ein großes Denkmal entstehen, das jederzeit dazu dienen könnte, eventuell auftretende Ansprüche publikumswirksam zu unterstützen. Werden solche Ansprüche denn wieder geltend gemacht? Das wissen wir nicht, in diesen Dingen ist nichts sicher oder vorhersehbar“.
Diese von Koáakowski hergestellte Verbindung zwischen Gedächtnis und Restitution stand sicherlich nicht im Zentrum der von polnischer Seite geäußerten Kritik. Deren Motive waren in erster Linie die Sorge, dass mit einem Zentrum in Berlin Geschichtsklitterung betrieben würde, in deren Zusammenhang das Bild Polens verzerrt dargestellt werden könnte. Vor allem die Trägerschaft des Projekts, die in Polen sehr stark mit der BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach identifiziert wird, gab Anlass zu dieser Vermutung. Aber spätestens mit der vom Sejm am 10. September 2004 verabschiedeten Resolution, in der festgestellt wird, dass Polen von Deutschland weder eine angemessene finanzielle Entschädigung noch Kriegsreparationen für die materiellen und immateriellen Schäden erhalten habe, die im Zweiten Weltkrieg von Deutschland verursacht wurden, scheinen sich symbolische, juristische und materielle Fragen zu einem verworrenen Knäuel verbunden zu haben, der nun auch die staatspolitische Ebene der deutsch-polnischen Beziehungen berührt. Der polnische Botschafter in Berlin Andrzej Byrt will die Resolution des Sejm ausdrücklich als Reaktion auf die Preußische Treuhand und deren Vorbereitung diverser Klagen vor europäischen und polnischen Gerichten verstanden wissen (Tagesspiegel vom 12.09.2004: 6). Die deutsch-polnischen Beziehungen scheinen nur wenige Monate nach dem Beitritt Polens zur EU aufgrund der Auseinandersetzung um Gedächtnis und Restitution auf einem Tiefpunkt angelangt zu sein. Obwohl die politischen Rahmenbedingungen für die Bildung eines europäischen Gedächtnisses so günstig scheinen wie nie zuvor, ist die Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur tatsächlich schwieriger geworden.
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Ein Gedächtnis für Europa? Schlussfolgerungen
Was lässt sich aus den angeführten Beispielen hinsichtlich der Frage nach der Zukunft eines europäischen Gedächtnisses schließen? Erstens muss man sich von einem Modell, das die Geschichte der europäischen Einigung als linear verlaufende Erfolgsgeschichte erzählt, verabschieden. Sollte ein solches Narrativ je existiert haben, wurde spätestens mit der Erweiterung vom Mai 2004 deutlich, dass wir es mit einer Entwicklung zu tun haben, für die die Formel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen treffend erscheint. So dient die Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg einerseits als Motor der Einigung, wie sie andererseits zur gleichen Zeit auch Ursache von Konflikten ist. Und während auf der juristischen Ebene im Rahmen der Erweiterung der EU Angleichungen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten stattfinden, führt dies gleichzeitig dazu, dass bestimmte, aus der Geschichte in die Gegenwart hineinragende Probleme überhaupt erst in den Bereich des juristisch Verhandelbaren geraten. Eini-
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gung schafft demnach erst die Möglichkeiten zum Konflikt: Das Zusammenwachsen Europas nach dem Ende des Kalten Krieges bietet überhaupt erst den Rahmen für die Austragung von Konflikten und für die Abgleichung der divergierenden nationalen und sonstigen Gruppengedächtnisse. Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung der Formel der während des Kalten Krieges „eingefrorenen Vergangenheit“ (Tony Judt) oder vom „kalten Vergessen“, das mit seiner neutralisierenden Wirkung die „vormals im Streit miteinander liegenden nationalen Gedächtnisse der Vernunft politischen Vergessens überantwortete“ (Diner 2001), und stellt diesem nahezu ein halbes Jahrhundert umspannenden Zeitraum die seit 1989 vergangene Zeitspanne gegenüber, wird zweitens deutlich, dass die Phase, in der ein Prozess der „Abgleichung“ (Dan Diner) der verschiedenen Gedächtnisse hätte stattfinden können, noch nicht lange andauert. Aus der Geschichte der Bundesrepublik mit ihren verschiedenen Phasen der Bearbeitung der nationalsozialistischen Erbschaft, die bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann, lässt sich ersehen, dass schmerzhafte, verstörende, beschämende, mit Schuld und Traumata verknüpfte Erfahrungen und Erinnerungen nicht in einer Dekade bearbeitet und aus der Welt geschafft werden können. Anzunehmen, dass dies auf europäischer Ebene einfacher sein sollte, wirkt vor diesem Hintergrund und der von grausamen Verbrechen geprägten Geschichte Europas im 20. Jahrhundert naiv. Insofern vermögen Vorschläge wie diejenigen, ein Zentrum gegen Vertreibungen europäisch auszurichten, zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu überzeugen. Sie erscheinen verfrüht und daher zum Scheitern verurteilt. Nimmt man den Streit um das Zentrum als Indikator für eine mangelnde Kongruenz der Erinnerungen, scheint hier eine Medizin verordnet zu werden, die eigentlich die Krankheit ist. Mit anderen Worten: Würde ein europäisches Gedächtnis existieren, auf das sich alle Beteiligten einigen könnten, dann wäre der Streit um das Zentrum erst gar nicht entstanden. Ein europäisch ausgerichtetes Zentrum erscheint erst als Ergebnis eines Prozesses des Abgleichs der verschiedenen, konkurrierenden Gedächtnisse realisierbar. Warum nicht, und das ist mein dritter Punkt, die Debatten um ein Zentrum gegen Vertreibungen, um Wiedergutmachungs- und Entschädigungsforderungen, um Opfer- und Täterschaft und Kollaboration, um kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen, als Teil eines solchen Prozesses sehen? Sicherlich wäre schon viel gewonnen, wenn alle Beteiligten sich auf einen gemeinsamen Modus der Auseinandersetzung einigen könnten, dessen Kern, in Anlehnung an eine Formulierung von Konrad Jarausch, in der Fähigkeit zu „rigoroser Selbstkritik“ zu finden wäre. Erst wenn dieser Modus Schule gemacht hat, „wird eine transnationale Diskussion über die Verstrickungen des 20. Jahrhunderts möglich sein, die eine wirklich tragfähige Grundlage für die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Geschichtsbewusstseins bieten kann“ (Jarausch 2003: 36). Und vielleicht wäre dann genau in diesem Modus der eingehenden Selbstreflexion und der rigorosen Selbstkritik das „Europäische“ am europäischen Gedächtnis zu finden.
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Europa als transnationaler Raum – Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung Europa als transnationaler Raum
Das heutige Gesicht Europas ist geprägt von den großen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Umsiedlungen und Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Ströme der Arbeitsmigranten, die zunächst aus den ehemaligen Kolonien in die jeweiligen Mutterländer, dann aus den Anwerbeländern nach Deutschland, Schweden, Dänemark, den Niederlanden und Frankreich kamen. Den Arbeitsmigranten folgten ihre Familien. In den achtziger und Anfang der neunziger Jahre explodierten die Zahlen der Asylbewerber. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen die Aussiedler hinzu. Pendelmigration und illegale Einwanderung gewannen an Bedeutung. Inzwischen sind ungefähr acht bis zehn Prozent der europäischen Bevölkerungen eingewandert. Alles deutet darauf hin, dass die Entwicklung weiter gehen wird, wenn sie sich nicht sogar beschleunigen wird. Europastudien sind ohne Migrationsforschung deshalb undenkbar. Dabei veränderte sich in den letzten Jahren der Charakter der Migration auf Grund von Entwicklungen im Bereich der Massenmedien, der Kommunikationsindustrie und als Folge von radikalen Verbilligungen im Reisesektor. Die durch Migration immer schon gestifteten transnationalen Beziehungen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Über diese Netzwerke werden die unterschiedlichen Nationen Europas untereinander aber auch Europa mit außereuropäischen Ländern neu verknüpft. Der transnationale Bezug bestimmt immer nachdrücklicher die Eigendynamik und die Verlaufslogik von Migrationsprozessen. Er zwingt uns, Migration neu zu denken. Dies ist das Anliegen dieses Textes. In einem ersten Schritt werde ich zunächst die existierenden Ansätze zur Migrationsforschung durchmustern und dann in einem zweiten Schritt mit der Entwicklung der Kategorie des transnationalen Raums, einen Zugang zu dem neuen Phänomen zu gewinnen.
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Eine Kartierung der Forschungslandschaft
1.1 Sozialwissenschaftliche und sozioökonomische Zugänge Die sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung lässt sich nach Makro-, Meso- und Mikrotheorien gliedern, wobei mit dem Migrationssystemansatz der Versuch einer Zusammenführung erfolgt. Auf der Makroebene konkurrieren zunächst zwei Schulen miteinander, die beide versuchen, einen Blick aus der Vogelperspektive auf die Migrationsströme zu richten, d.h. die Ursachen, die Richtungen und die Folgen von Wanderungsbewegungen zu erklären. Die funktionalistische Schule, die in der Tradition von Modernisierungstheorie und neoklassischer Entwicklungstheorie steht, sieht in Migrationsströmen Selbstregulierungsmechanis-
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men, mit denen in der Weltwirtschaft Ungleichgewichte von Kapital und Arbeit ausgeglichen werden. Freigesetzte Arbeit, vor allem aus landwirtschaftlichen Bereichen, strömt in die urbanen und industrialisierten Zentren der Welt-Gesellschaft und deckt dort den Arbeitskräftebedarf. Das von den Migranten erwirtschaftete Geld strömt in die Herkunftsregionen zurück und wird dort investiert, führt also auch dort zu Entwicklung und Wachstum. Diesem Modell – so naiv es mittlerweile anmutet – lässt sich ein gewisser Charme nicht absprechen: Zum einen wird hier Migration als Normalfall betrachtet, als selbstverständliche Folge von Entwicklungsprozessen. Zum anderen wird die produktive Rolle von Migration und damit auch die Würde des Migranten betont – im auffallenden Gegensatz zu der verbreiteten Sicht, die Migration als Problem konstruiert. Dennoch lässt sich das Modell wegen seiner isolierten Betrachtungsweise der ökonomischen Sphäre nicht halten. Es ist, als ob der Faktor Arbeit ein Eigenleben unabhängig von allen anderen gesellschaftlichen Faktoren besäße. Einsprüche gegen dieses Modell kamen primär aus dem Neo-Marxismus. Die neo-marxistische Dependenztheorie und die Weltsystemtheorie betonten, dass das von funktionalistischen Ansätzen prognostizierte Gleichgewicht sich schon deshalb nicht einstellen würde, weil sich die Migrationsprozesse in einem von Machtdifferenzen und Ungleichheiten definierten Raum abspielen. Sie führen in der Regel nicht zu einem Ausgleich, sondern verschärfen tendenziell die Kluft zwischen erster und dritter Welt. Die Theoretiker dieser Richtung verweisen auf Phänomene wie brain drain, oder auch auf die Tatsache, dass das von Migranten erwirtschaftete Kapital nur ausnahmsweise produktiv investiert wurde, sondern viel öfter in den Kauf von Wohnungen oder auch in die Konsumption von Luxusgütern floss (wobei die symbolisch wertvollen Produkte wieder aus der ersten Welt stammten – so dass die heimische Industrie durch diesen Fluss tendenziell bedroht wurde). Die Schwäche der makrosoziologischen Ansätze bestand darin, dass sie letztendlich ein viel zu grobes Modell des sozialen Handelns hatten. Letztlich konstruierten beide Stränge push- und pull-Faktoren: Push-Faktoren sind unter anderem Verarmung und Zukunftslosigkeit, aber auch politische Oppression, die eine Auswanderung nahe legen; pullFaktoren sind unter anderem hohes Einkommen und freie Arbeitsplätze, die Einwanderung motivieren. Es war deutlich, dass sich der empirische Migrationsfluss dadurch nur wenig prognostizieren ließ, weil der ganze Bereich der Institutionen, die zwischen Makrobereich und dem einzelnen Akteur vermitteln (also beispielsweise Migrationssysteme, Netzwerke, Organisationen) ausgespart blieb. Ebenso wenig fand das Weltbild der Migranten – also ihr Wissen und ihre Vorstellungen über die Einreiseländer – Berücksichtigung. Funktionalistische wie auch neo-marxistische Ansätze legen einen transnationalen Rahmen für die Migrationsforschung nahe, d.h. die gleichzeitige Berücksichtigung von Sender- und Empfängerländern. Die Praxis der Migrationsforschung sah jedoch anders aus: Hier wurde, nicht zuletzt wohl durch die Mechanismen der Forschungsfinanzierung bedingt, Migrationsforschung primär innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens betrieben. Sie spaltete sich in eine Einwanderungsforschung und eine Rückkehrforschung auf. Die Einwanderungsforschung untersuchte den Migrationsprozess dabei entweder unter dem Aspekt der Integration und Assimilation oder – wenn es um marxistisch inspirierte Ansätze ging – unter der Frage des Übergangs von Bauern zu Industriearbeitern. Die Rückkehrforschung thematisierte dagegen vor allem den Zusammenhang von Migration und Entwicklung. Damit erschien internationale Migration fast von selbst als Übergang von einem nati-
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onalstaatlichen Raum in einen anderen – und die Tatsache, dass durch Migration länderübergreifende Handlungsräume gestiftet wurden, geriet aus dem Blick. Diesen Ansätzen von großer und (wie bei der Einwanderer- und Rückkehrerforschung) mittlerer Reichweite standen zahlreiche ethnologische Untersuchungen auf der Mikroebene gegenüber, die sich dem Phänomen der Migration von unten – von der Seite der Akteure her – näherten. Sie verwiesen auf die Unzulänglichkeit und geringe Aussagekraft dieser Theorien und betonten die Binnenperspektive und die Handlungsstrategien der Migranten. Diese Ansätze erschlossen die Komplexität des migratorischen Prozesses. Ihr Anliegen war zu verstehen, was Migration eigentlich bedeutete: Worum ging es den Migranten als Akteuren? Welche Rolle spielten individuelle und familiäre Erwägungen für die Migrationsentscheidung? Wie wurde Fremde – Heimatlosigkeit, Ausgegrenztheit, Isolation – erfahren und bewältigt? Welche Strategien und Taktiken entwickelten die Migranten im Umgang mit dieser Situation? Was bedeutete Migration für Weltbild und Selbstverständnis? Im Zentrum der Begrifflichkeit der anthropologischen Migrationsforschung standen Haushalte, Netzwerke, Identitäten und mentale Repräsentationen. Gleichwohl ließ sich der Vorwurf seitens der quantitativ und explanativ arbeitenden Forscher nicht ganz von der Hand weisen, dass hier letztlich mit Einzelfällen mit begrenzter Aussagekraft gearbeitet wurde. Tatsächlich bestand der Beitrag der anthropologischen Migrationsforschung oft darin, den großen Begriffen „jene Feinfühligkeit und Aktualität zu verleihen (...), die man braucht, wenn man nicht nur konkret und realistisch über diese Begriffe, sondern – wichtiger noch – schöpferisch und einfallsreich mit ihnen denken will“ (so Geertz 1983: 34). Was bei der ethnologischen Migrationsforschung vor allem fehlte, war eine übergeordnete Theorie der Migration, die es erlaubt hätte, die Einzelergebnisse in einem größeren Zusammenhang zu verorten – also eine Theorie, wie sie im Bereich von sozialer Organisation oder Religion längst existiert. Der Begriff des Migrationssystems bot eine Perspektive, Mikro-, Meso- und Makroebene zusammen zu denken. Migrationssysteme entfalten sich aus den Wechselwirkungen (Simmel) auf der Ebene der politischen Systeme, der Wirtschaft und der Sozialstruktur. Auf der Makroebene stattfindende Prozesse – etwa die Entfaltung der globalen Netzwerkgesellschaft; neue Formen internationaler Arbeitsteilung; die Abkoppelung von Gebieten von der Weltwirtschaft; die Entfaltung neuer Binnenmärkte – stellen nationale und internationale Organisationen vor Herausforderungen, auf die sie steuernd – etwa durch zwischenstaatliche Abkommen – reagieren. In dem Zusammenspiel entfaltet sich im zwischenstaatlichen Raum ein eigenes Regime, das nun die Rahmung für Migrationsprozesse darstellt. Dieser Rahmen strukturiert – auf der nächsten Ebene – die sozialen Organisationen von Migranten, also landsmannschaftliche Gemeinden, Netzwerke, religiöse Organisationen, ethnische Unternehmen. Auf dieser mittleren Ebene wird das Wissen über die Chancenstrukturen und Grenzen des migratorischen Rahmens konstituiert, prozessiert und weitergegeben – also Wissen über Wohnmöglichkeiten, Sozialhilfe, Arbeitsrecht und -bedingungen, informelle Arbeitsmärkte, Grenzkontrollen, Asylgesetzgebung. Auf der Mikroebene geht der Ansatz schließlich davon aus, dass Migranten bzw. die Familien und Verwandtschaftsgruppen, denen sie angehören, soziale Akteure sind, die ihre Pläne machen oder Entscheidungen treffen, wobei sie Kompromisse zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren treffen. Der Ansatz des Migrationssystems ist nicht nur geeignet, Ansätze auf der Mikro- und solche auf der Makroebene miteinander sinnvoll in Beziehung zu setzen; er überwindet darüber hinaus insofern den methodologischen Nationalismus, als ein Migrationssystem
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nationenübergreifend konstituiert ist. Sobald man zur Kenntnis nahm, was an sich selbstverständlich ist, nämlich dass familiäre, verwandtschaftliche, aber auch nationale Loyalitäten weiter bestehen, so dass der Handlungsraum und die Perspektive des Migranten nicht an den Nationengrenzen enden, sondern durch sie strukturiert sind, erschienen viele Phänomene in einem neuen Licht. Die Betonung einer transnationalen Perspektive bedeutet nicht zu behaupten, der Nationalstaat sei obsolet – im Gegenteil: Sie erlaubt gerade, die Frage nach der Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen und Handlungsräumen im Zeitalter der Globalisierung neu zu stellen.
1.2 Cultural Studies/Postcolonial Studies Parallel zu den sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die primär die soziale Organisation von Migrationsprozessen ins Auge fassten, entfalteten sich Ansätze, die die kulturelle Bedeutung von Migration betonten. Zu nennen sind hier zunächst die cultural studies, die Migrantenkulturen als Oppositions- und Widerstandskulturen fassten: Die Erfahrungen von Entfremdung, Gewalt, Brüchen und Zerrissenheit prägen eine Sicht auf die Gesellschaft von ihren Rändern her – eine dezentrierte und subversive Sicht, die sich systematisch von der Sicht der herrschenden Kultur der gesellschaftlichen Mehrheit unterscheidet. Dabei wurden vor allem von Autoren, die unter dem Einfluss der Postmoderne standen, die Migranten als Grenzgänger und Übersetzer beschrieben. Sie erschienen als Personen, die sich jeder festgelegten Identität entzogen – sie ließen das Leitbild des in sich ruhenden, mit sich selbst identischen, handlungsfähigen Subjekts fraglich werden. Dagegen wurde das Leitbild der Hybridität beschworen, „das Nebeneinander und sich ständig verschiebende, miteinander koalierende Moment der Identifikation“ (Steyerl/Rodriguez 2003: 28). In diesem Zusammenhang wurde insbesondere das kreative Potenzial von Grenz- und Übergangserfahrungen beschworen. In gewissem Sinn stand hier das expressive Subjekt, das Subjekt, das seine Erfahrungen in der einen oder anderen Weise entäußert, zum Ausdruck und zur Darstellung bringt, im Zentrum. Die Zerrissenheit des Migranten wurde als wahlverwandt mit der existenziellen Zerrissenheit des Künstlers gesehen. Daran wurde ausgesetzt, dass hier der Blick auf Verelendung ästhetisiert wurde. „Eine Ästhetisierung, die oft zu einer romantisierenden, herrschaftsrelativierenden und ahistorischen Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene führt und die insbesondere in der Rezeption der Konzepte der Hybridität, der Differenz und der Mimikry ihren Ausdruck findet“ (Steyerl/Rodriguez 2003: 28). Gegen diese „postmoderne“ Verharmlosung trat vor allem der postkoloniale Diskurs auf, der sich in der Entwicklungslinie von Marxismus, Poststrukturalismus und Feminismus sieht. Der Begriff „Postkolonialismus“ bezieht sich auf die Fortdauer von – letztlich auf die koloniale Erfahrung zurückführbaren – Macht- und Herrschaftsdispositionen auch in der nachkolonialen Phase. Vom Postkolonialismus wird der Zusammenhang von Wissen, Macht, Begehren, Kolonialismus und Rassismus nachdrücklicher als von postmodernen Autoren ins Zentrum gestellt. Die Frage ist, wie Subjekte, die die Zuschreibung von Andersheit erfahren, mit den Gewalteffekten der Unterwerfung umgehen. Bei diesen Ansätzen steht vor allem die Frage der Sprache und der Sprachlosigkeit im Zentrum. Wie finden Zuschreibungen und Zurichtungen in der Sprache statt – und welche Chance lässt die Sprache der Mächtigen den Machtlosen und Ausgegrenzten, ihre Erfahrungen zu artikulieren?
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Die im Titel von Gayatri Chakravorty Spivaks Essay (1988) aufgeworfene Frage: „Can the subaltern speak?“ – beziehungsweise wird das, was er/sie äußert, überhaupt wahrgenommen, verstanden und ernst genommen – steht wie ein Leitmotiv über dieser Forschung.
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Perspektiven für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz
Die Ansätze aus den Bereichen der Sozialwissenschaften und der cultural studies/post colonial theory stehen sich – bei allen Berührungslinien und Überschneidungen – auch heute noch sprachlos gegenüber. Aus einer geisteswissenschaftlich orientierten Perspektive erscheinen die sozialwissenschaftlichen und sozioökonomischen Erklärungen als empiristisch, reduktionistisch und letztlich banal. Sie verfehlen gerade den existenziellen Kern der Migration – nämlich ihre geistesgeschichtliche Bedeutung. Umgekehrt kritisieren die empirisch orientierten Sozialwissenschaftler die geisteswissenschaftliche Perspektive als abgehoben. Die Fokussierung auf Sprache und künstlerische Repräsentation statt auf Praktiken verstelle den Blick auf die Alltäglichkeit der Migration. Angesichts der Realität der Migration sei die Konstruktion des Migranten als Grenzgänger und als ständiger Übersetzer gewagt. Auch der libertäre Gestus der postcolonial studies erscheint als Stilisierung einer partikularen Gruppe: Was ist mit den vielfältigen Machtbeziehungen, die sich in der migratorischen Praxis reproduzieren, gerade in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, Alltagsrassismus, ethnische Abschottung und Homophobie? Wie oft bieten nicht gerade die Strukturen der weiteren, der „hegemonialen“ Gesellschaft Möglichkeiten der Emanzipation von den im Alltag viel bedrängenderen Strukturen der Migrantengemeinschaften? Damit ist die Herausforderung für die Kulturwissenschaften benannt: Es gilt beide Perspektiven fruchtbar zu verbinden – den Migranten sowohl als homo agens, als handelnden, als auch als homo expressivus, als reflektierenden und sich künstlerisch ausdrückenden Menschen zu begreifen. Dabei gilt es, insbesondere die Komplexität der Machtbeziehungen – das Zusammenspiel von hegemonialer Macht und Gegenmacht – zu fassen und zu verstehen. Die größte Herausforderung besteht darin, zu einer gemeinsamen Sprache zu gelangen. Die Kategorie des Raums scheint dafür besonders geeignet (siehe dazu auch den Beitrag von Karl Schlögel in diesem Band). Es ist nämlich eine Kategorie, mit der in beiden Forschungstraditionen gedacht und gearbeitet wird. Die Metapher des Raums erlaubt es erstens, Mehrdimensionalität zu denken. Der transnationale Raum ist konstituiert durch das Zusammenspiel der sozialen, ökonomischen, physischen, politischen, medialen und imaginären (religiös-kulturellen) Dimensionen. Die Raummetapher stellt zweitens das Verhältnis von Akteur und Struktur in das Zentrum: Phänomene wie Nähen, Entfernungen, Wege, Grenzen und Hindernisse sind abhängig von „objektiven“ Gegebenheiten, wie auch individuellen Kompetenzen (beziehungsweise den sozialen, ökonomischen, politischen Ressourcen, die dem Handelnden zur Verfügung stehen). Der Raum ist drittens sowohl ein „harter“ wie ein „perzipierter“ Fakt: Der Raum wird nur erfassbar, wenn er dargestellt und wiedergegeben wird: In gewissem Sinn wird er durch Karten, Zeichen oder Einschreibungen erst hervorgebracht. Viertens ist die Sprache des Raums immer auch eine Sprache der Macht: Die Relationen oben-unten; Zentrum-Peripherie; innen-außen bezeichnen Orte, die mit unterschiedlicher Machtfülle ausgestattet sind. Fünftens – und last but not least – sind in der Sprache des Raums auch Brüchigkeit, unverbundenes Nebeneinander und Heterogenität
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zu fassen (während die Sprache der Zeit immer dialektisches Denken und damit Entwicklung, Fortschritt etc. nahe legt). All dies kann hier nur andeutungsweise entfaltet werden. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie der Raum der Migranten durch Grenzen (in der mehrfachen Bedeutung, die das Englische besser einfängt als das Deutsche – nämlich im Sinn von borders, boundaries, frontiers und limits) und Pfade strukturiert ist und wie er als Erinnerungs- und Möglichkeitsraum wahrgenommen wird.
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Borders – nationalstaatliche Grenzen
Bei den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft umgrenzen nationalstaatliche Grenzen in der Regel den Handlungsraum: Die meisten Handlungshorizonte und sozialen Beziehungen liegen im Inneren dieses Bereichs. Bei Migranten strukturieren die Grenzen dagegen diesen Raum intern: Sehr oft durchschneiden sie die Handlungshorizonte und sozialen Beziehungen. Die nationalstaatlichen Grenzen besitzen deshalb für den Migranten eine wesentlich alltäglichere Bedeutung als für den Einheimischen. Die konkrete alltagsstrukturierende Bedeutung, die diese Grenze hat, hängt vom jeweiligen Migrationsregime ab. Sie variiert mit dem Stand der zwischenstaatlichen Beziehung und dem Aufenthaltsstatus des Migranten. Sie ist anders beim Arbeitsmigranten als beim Heiratsmigranten, beim Asylbewerber anders als beim illegal Eingewanderten. Die Bedeutung unterscheidet sich darüber hinaus nach der Aufenthaltsgenehmigung. An den Grenzen werden die „Migrationsregimes“ erfahrbar. Der Grenzbeamte setzt die Sortierung und Klassifizierungen in die Praxis um, die die Migrationsregimes vorsehen. Dies ist ein ebenso technisches wie theatralisches Verfahren: In Mikropraktiken, wie der Schnelligkeit der Abfertigung, der demütigenden Techniken der Durchsuchung nach Schmuggelgut, der Freundlichkeit und der Schikanen wird Grenze inszeniert. Die Beziehung ist wechselseitig: Ebenso wie Migrationsregimes die Grenzerfahrung prägen, sind Grenztechniken entscheidend für das Erleben von Migrationsregimes. Die Existenz der Grenze prägt jedoch das Leben auch dann noch, wenn man längst im Land ist. Bei illegal Eingereisten oder auch bei Flüchtlingen zerschneiden Grenzen soziale Beziehungen. Bridget Anderson (2000) und Annie Phizacklea (2000) haben die Biographien von Frauen erforscht, die sich z.T. hoch verschuldet haben, um Schlepperorganisationen zu bezahlen, die sie nach Europa geschmuggelt haben. Für viele bedeutete das Leben in der Fremde zum Teil eine jahrelange und extrem schmerzhafte Trennung von denjenigen, für die man emigriert ist. Weniger drastisch – aber im Vergleich zu den Einheimischen doch sehr spürbar – strukturieren Grenzen die sozialen Beziehungen auch von legal Eingewanderten. Sie bekommen das vor allem zu spüren, wenn sie Ehepartner oder Familienangehörige aus dem Heimatland nachkommen lassen wollen. In manchen Fällen führt dies zu gesteigerter innerfamiliärer Abhängigkeit – etwa dann, wenn eine Scheidung auch den Verlust des Aufenthaltsrechts nach sich zieht. Die Existenz der Grenze bestimmt den Alltag der Migranten auch insofern, als immer die Möglichkeit zur Ausweisung besteht – mit allen damit verbundenen Konsequenzen für die Lebensperspektiven. Dies gilt natürlich besonders für illegal Eingewanderte. Sie müssen sich bemühen, nicht auffällig zu werden und keine Spuren zu hinterlassen. Das Risiko der Ausweisung ist für legal eingereiste Migranten weniger hoch. Dennoch bleiben Migran-
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ten, solange sie nicht die Staatsbürgerschaft angenommen haben, den besonderen Bestimmungen des Ausländerrechts unterstellt. Wie bedeutsam dieser prekäre Rechtsstatus sein kann, wurde vor allem nach dem 11. September 2001 wieder deutlich: Seitdem wird das Ausländerrecht zunehmend als Instrument für Sicherheitspolitik eingesetzt. Vor allem gläubige Muslime haben seitdem Angst, auf irgendwelchen Listen aufzutauchen. Die Relevanz der Grenze verblasst erst mit der Einbürgerung. Caroline SchmidtHornstein hat gezeigt, wie symbolisch aufgeladen dieser Schritt ist. Die Migranten, die über Einbürgerung nachdenken, werden auf einmal mit der Bedeutung konfrontiert, die die beiden Nationalstaaten für sie besitzen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Konstruktion der Nationalität im Herkunfts- wie im Einwandererland diese Entscheidung mitbestimmt (Schmidt-Hornstein 1995).
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Soziale Räume und Boundaries
Der Nationalstaat der Moderne ist im Gegensatz zum prämodernen Imperium dadurch definiert, dass politische und kulturelle Einheiten deckungsgleich sind (Gellner 1991): Im Prinzip sollte jedes „Volk“ (definiert durch gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur) seinen eigenen Staat haben. In der Praxis war es freilich eher so, dass sich jeder Staat sein eigenes Volk schuf – vor allem durch die Homogenisierung der schulischen Ausbildung. Damit wurde auf dem Gebiet des Nationalstaats die Voraussetzung für Mobilität und damit für (relative) Chancengleichheit und Individualität geschaffen. Die Grenzen des Nationalstaats sind deshalb auch die Grenzen der Welt, innerhalb der die Individuen der Moderne moralisch und beruflich atmen können. Nationalstaatliche Grenzen umschließen soziale Räume im Sinne Bourdieus (1982), d.h. Räume mit bestimmten Anerkennungsregimes, die bestimmen, welchen Ort im Gesellschaftsgefüge ein Einzelner einnimmt. Entscheidend für diesen Ort sind nach Bourdieu die Ressourcen, über die die Einzelnen verfügen, genauer die Höhe und die Zusammensetzung des ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kapitals, das man zur Verfügung hat. Dieser Ort bildet sich nun, wie Bourdieu in seiner bewundernswerten Studie gezeigt hat, in mannigfaltiger alltagskultureller Praxis ab. Beginnend bei der Kleidung, über Freizeitpräferenzen bis hin zu Essgewohnheiten signalisieren die Gesellschaftsmitglieder einander, welchen Platz in einer Gesellschaft sie einnehmen (und insbesondere, welchen sie nicht einnehmen). Die Existenz der Migranten ist zunächst dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht nur in einem, sondern gleichzeitig (wenn auch selten in gleichem Ausmaß) in zwei symbolischen Räumen bewegen. Die Konsequenzen, die dies hat, können hier nur angedeutet werden. Die typische Strategie des internationalen Arbeitsmigranten im Nachkriegseuropa bestand zunächst darin, durch einen zunächst kurzfristig angelegten Aufenthalt im Ausland ökonomisches Kapital zu akkumulieren, das dann zu Hause investiert werden sollte. Man verließ die üblichen Laufbahnwege im eigenen symbolischen Raum, um über einen Umweg (oder eine Abkürzung) umso schneller nach oben zu kommen. Das Anerkennungsbegehren der meisten richtete sich zunächst auf das Heimatland – zu dem Land, in das man einreiste, pflegte man dagegen eine pragmatisch-instrumentelle Beziehung. Dies wurde auf die Formulierung gebracht, dass man „hier arbeitete, um dort zu leben“. In Europa konnte man entwürdigende Arbeitsbedingungen ertragen, weil man seine Hoffnung auf das Heimatland
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richtete. Auch konnte man auf eine Weise sparsam leben, die einem zu Hause den Vorwurf des sozial unverantwortlichen Geizkragens eingetragen hätte (Schiffauer 1991: 164). All dies erlaubte es, im Heimatland in Wohnungen und Einrichtungen zu investieren. Wie eine Ikone dafür stehen die viel zu groß geplanten und nie fertig gestellten Häuser in den Heimatländern. Eine Problematik dieser Strategie des Aufstiegs über Kapitalakkumulation im Ausland bestand darin, dass man die Gegenreaktionen der Zurückgebliebenen nicht beachtete. Diejenigen, die den üblichen Laufbahnwegen treu geblieben waren, betrachteten misstrauisch die Versuche der Migranten, Abkürzungen im sozialen Raum einzuschlagen – schließlich werden sie vor eine Situation der relativen Abwertung gestellt. Es war daher nur logisch, wenn den Migranten das Stigma von Neureichen angehaftet wurde – der wohlhabenden, oft aber unzivilisierten Aufsteiger. Auch die sozialen Verpflichtungen wurden eingeklagt. Mit anderen Worten: Statt ungeteilte Bewunderung zu ernten, fand der Migrant sich mit Gegenstrategien konfrontiert, die darauf hinausliefen, seinen Bemühungen im Kampf um Anerkennung etwas entgegenzusetzen und seine Bestrebungen zu entwerten. Ein größeres Problem dieser Strategie bestand jedoch darin, dass eine verlorene Generation produziert wurde. An der Orientierung am Heimatland wurde noch festgehalten, als an eine Rückkehr nicht mehr zu denken war. Dieser Orientierung fielen oft die Schulkarrieren der Kinder zum Opfer. Bei markanten Punkten der Schullaufbahn (dem Schuleintritt, dem Übergang in die Sekundarschule) wurden die Kinder häufig in das Heimatland geschickt, um dort die Schule fortzusetzen – man würde ja ohnehin bald zurückkehren. Das erneute Aufschieben der Rückkehr führte dann regelmäßig dazu, dass die Kinder wieder zurückgeholt wurden (Schiffauer 1991: 169ff). Dieses Hin und Her produzierte nicht selten Schulabbruch und -versagen und erschwerte damit den symbolischen Aufstieg in der nächsten Generation im Einwandererland. Im Einwandererland bildeten die Migranten zunächst eine ethnic under-class: Sie arbeiteten in Bereichen und zu Löhnen, für die sich kein Einheimischer mehr bereit fand. Ein viel zu wenig beachtetes Phänomen ist, dass dies einen kollektiven Aufstieg der einheimischen Bevölkerung erlaubte: Sie wurden für Mittelschichtskarrieren freigesetzt (was sich etwa in Zahlen der Schulabschlüsse niederschlug). Damit bekam die Arbeiterschaft „ein anderes Gesicht“. Der Sozialtyp des klassischen Unterschicht-Arbeiters (mit dem ihm eigenen Arbeiterstolz und Arbeiterbewusstsein) machte dem Typus des Migranten-Arbeiters Platz. Letzterer war durch eine symbolische Grenze von der Mehrheitsgesellschaft abgetrennt. Was vorher als Arbeiter- und Unterschichtsprobleme behandelt wurde (etwa in Bezug auf Schule), konnte nun als Ausländerproblem beschrieben werden. Dies war deshalb von Bedeutung, weil damit eine Distanzierung möglich war. Anders als Arbeiterprobleme waren Migrantenprobleme zunächst einmal die Probleme der „Anderen“ und nicht die der eigenen Gesellschaft. Entsprechend gering war – in bemerkenswertem Gegensatz zu den offiziellen Stellungnahmen – die Bereitschaft, etwa durch wirksame Maßnahmen im schulischen Bereich, die Neuzuwanderer zu integrieren. Das Aufwachsen einer zweiten Generation hat die Stellung der Einwanderer im sozialen Raum modifiziert – ohne sie allerdings grundsätzlich zu verändern. Im Gegensatz zur ersten Generation ist für die zweite Generation die Einwanderungsgesellschaft der entscheidende symbolische Bezugsrahmen. Hier wollen sie reüssieren. Die Fortdauer des Alterisierungsdiskurses wird von dieser Generation viel schärfer als von der ersten als Rassismus wahrgenommen. Rassismus – in der Sprache des symbolischen Raums formuliert –
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bedeutet nichts anderes, als dass bestimmte Strategien der Akkumulation von Kapital auf Grund von Zuschreibungen erschwert oder unmöglich gemacht werden. Es bedeutet die Konfrontation mit einer besonderen Art von Grenzziehung, von „Ausgrenzung“ oder Diskriminierung. Bei den Einwanderern der zweiten Generation kommt es oft zu einer reaktiven Strategie, nämlich zur Ausbildung einer Gegen- oder Oppositionskultur (Schiffauer 2003). Diese stellt die Anerkennungsmodalitäten im dominanten symbolischen Feld in Frage und etabliert eigene Anerkennungsgemeinschaften. Hier kam es in den letzten Jahren zu ähnlichen Umwertungen, wie wir sie von der afroamerikanischen Gemeinde in den USA kennen. Dem „Black is beautiful“ korrespondiert in Deutschland „Es ist cool, Ausländer zu sein“ (ebd.: 47ff). Je nachdem, wie stark die Grenzen zur Mehrheitskultur gezogen werden, nahm die Oppositionskultur, die sich so bildete, die Form von Aussteigerkultur (Beispiel: Rückzug in mystische Bruderschaften), Protestkultur (Beispiel: Kanak Attack) oder Subkultur an.
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Entgrenzung und Begrenzung – Frontiers und Limits
Noch in einer weiteren Hinsicht sind Grenzen existenziell. Migration bedeutet zunächst Grenzüberschreitung – und zwar ebenso in einem physischen wie in einem metaphorischen Sinn. Der Migrant bricht auf – und er bricht aus. In dem türkischen Dorf, in dem ich in den siebziger Jahren meine Feldforschung machte, wurde dies in Redewendungen wie die folgenden gefasst: „Ich will mein eigenes Leben leben“ und: „Ich möchte meine Zukunft sichern“. Im Dorf – so der Gegenbegriff – gab es „keine Zukunft“ (Schiffauer 1987). Es war absehbar, wie das Leben verlaufen würde. Die Migration bedeutete demgegenüber die Chance, etwas ganz anderes zu leben. Gleichwohl liegt im Sprengen der Grenzen eine gewisse Ambivalenz. Nicht alle empfanden es als angenehm, plötzlich in eine Situation mit geringer sozialer Kontrolle geworfen zu werden. Die Erfahrung von Strukturlosigkeit führte bei vielen zu einem horror vacui – zu Ängsten vor Verlorengehen, Selbstverlust und Haltlosigkeit. Dies drückt sich in Erzählungen von Migranten aus, die „unter die Räder kamen“, Beziehungen zu deutschen Frauen aufnahmen (die in den Erzählungen türkischer Migranten in der Regel blond waren und Helga hießen) und dem Alkohol verfielen. Eine andere Wende nahmen diese Ängste im Zusammenhang mit dem Familiennachzug. Auch diejenigen, die selbst kein Problem mit den größeren Spielräumen in der Fremde hatten – ja, sie genossen –, hatten diesbezüglich Sorgen, was ihre Kinder betraf. Die Antwort auf die Urangst des Selbstverlusts besteht im Ziehen von Grenzen. Jede Bewegung hin zum Öffnen und Überschreiten der Grenze zieht offenbar das Gefühl nach sich, dass irgendwo Schluss sein muss. Im Englischen wird dies mit dem Begriff limits bezeichnet. Limits sind Grenzwerte: Bei dem Überschreiten von limits fürchtet man ein „Kippen der Situation“, einen „Umschlag“ oder auch nur ein neues Spiel. Die Suche nach Grenzen führt unweigerlich zur Erstarrung und Abschottung – zum Rückzug in die ethnische Gemeinschaft in der Hoffnung, darüber die Kontrolle über die Situation zu erhalten. In der jüngsten Zeit wurde dies in der Debatte um „Parallelgesellschaften“ in der Bundesrepublik zum Thema gemacht, allerdings ohne dass die eigentlichen Gründe jemals erörtert wurden.
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Man mag erwähnen, dass die Frage nach den Grenzen im Sinne von limits sich auch für die Mehrheitsgesellschaft stellt. In einer ersten Phase steht häufig die Frage nach der Überforderung eines Gesellschaftssystems im Vordergrund („Können wir so viele Einwanderer verkraften?“). Eine zweite Phase wird erreicht, wenn die Einwanderergesellschaft realisiert, dass die Fremden nicht wieder gehen, dass sie dauerhaft bleiben und Teil der sozialen Ordnung werden. Zu diesem Zeitpunkt schieben sich dann inhaltliche Auseinandersetzungen in den Vordergrund – so im gegenwärtigen Europa die Frage nach der Rolle, die der Islam in Europa spielen sollte. Auch bei der Mehrheitsgesellschaft sind diese Ängste zum Teil rational, zum Teil aber auch von panikartigen Reaktionen bestimmt.
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Pfade
Neben Grenzen bestimmen Pfade die Topographie eines Raums. In dem uns interessierenden Feld sind es die Migrationsnetzwerke, die entscheidend sind. Der Begriff Netzwerk benennt die „Beziehungen“, in die ein Akteur eingebunden ist und auf die er zurückgreifen kann, wenn er Unterstützung oder Hilfe benötigt. Netzwerke beruhen auf der Verknüpfung von bilateralen Beziehungen – auf Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften, Kollegialität oder Glaubensbruderschaft. Diese Beziehungen sind eine entscheidende Ressource für die Bewältigung der Schwierigkeiten, mit denen die Migranten vor allem in den ersten Jahren der Migration konfrontiert sind. Sie dienen als Anlaufstellen, als Informationsbörse über Arbeitsplätze und Wohnungen und als Versicherung bei Notfällen. Ihre Bedeutung steigt, je unbekannter und unsicherer das Terrain ist, in dem man sich bewegt. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Struktur der Vernetzung bei der konkreten Migrationsentscheidung eine zentrale Rolle spielt. Wenn man es in der Metapher des Raums ausdrückt, dann sind die verästelteten Netzwerke die Wege, die den migratorischen Raum durchziehen. In diesem Zusammenhang sind vor allem die sich über mehrere Nationen erstreckenden Verwandtschafts- und Familienbeziehungen eine Ressource von erheblicher Bedeutung. An Verwandtschaft sind Erwartungen von Solidarität geknüpft – die je nach Verwandtschaftsgrad unterschiedlich verbindlich sind. In dieser Hinsicht gibt es sehr große kulturelle Unterschiede. Gleichzeitig wollen Verwandtschaftsbeziehungen gepflegt werden, wenn sie nicht einschlafen und damit als Ressource wegfallen sollen. Sie müssen sich in einem lebendigen Geben und Nehmen äußern – und die Kosten, die dies für Migranten nach sich zieht, werden oft nicht gesehen. Besonders wichtig im Migrationskontext sind die Institutionen, mit denen Verwandtschaft gestaltet und ausgebaut werden kann – also vor allem Heiraten und paraverwandtschaftliche Beziehungen wie Patenschaften. Gaby Straßburger (2001) zeigt, dass etwa die Hälfte der Heiraten von Deutsch-Türken mit Partnern aus der Türkei stattfindet (Straßburger 2001: 6). Durch diese Heiraten wird das transnationale Netz gewebt, das Migranten in Deutschland mit Remigranten und TürkeiTürken verbindet. Dabei haben sich wichtige Verschiebungen ergeben. Während in den ersten Jahren die Heiratsmuster eher verwandtschaftliche Netzwerke verstärkten (und damit auf eine Intensivierung verwandtschaftlicher Beziehungen hinausliefen) ist es heute eher so, dass außerhalb der Verwandtschaft neue Beziehungen eingegangen werden (und so die Strategie eher auf eine Ausweitung der Verwandtschaftsbeziehungen abzielt). Gerade in diesem Zusammenhang lässt sich übrigens auch der Wert einer transnationalen Perspektive
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für die Migrationsforschung zeigen. Erscheinungen und Entwicklungen wie die soeben erwähnte Heiratsmigration, die bislang ausschließlich als dysfunktional in Hinblick auf eine nationalstaatlich verfasste Gesellschaft gesehen wurden, erweisen sich als funktional für die Stabilisierung von länderübergreifenden sozialen Beziehungen. Diese Aussage ist natürlich nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass derartige Heiratsmuster nicht auch Probleme bergen. Tatsächlich birgt die Migration über die Grenzen hinweg zahlreiche Spannungen – etwa in Bezug auf Handlungskompetenz des Partners vor Ort oder auf Handlungsorientierungen, die im Verlauf der schulischen Sozialisation erworben wurden etc. Gleichzeitig verändert sich jedes Verwandtschaftssystem durch den Migrationsprozess. Das Gleichgewicht von Emotionen und materiellen Interessen, das jeden Verwandtschaftsverband charakterisiert, wird neu tariert. In diesem Zusammenhang kommt es zu teilweise weit reichenden Veränderungen in Bezug auf Generationen- wie Geschlechterverhältnis. Dabei standen die Implikationen für die Frauenrolle jahrelang im Zentrum der Aufmerksamkeit – zu wenig Beachtung fand bisher die Redefinition der Männerrolle. In Migrantennetzwerken bilden sich eigene Machtstrukturen aus. Wichtig sind zunächst Schalt- oder Schlüsselstellen im Netz, die den Zugang zu Ressourcen regeln. Diese Positionen werden oft von „ethnischen Unternehmern“ besetzt, d.h. von Maklern, die zwischen Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern vermitteln. Ein klassischer ethnischer Unternehmer war der Arbeitsvermittler. Während der Anwerbephase vertrauten Firmen oft Arbeitern, die sich bewährt hatten, die Aufgabe an, weitere Arbeiter in ihren Heimatdörfern zu rekrutieren. Diese Arbeiter hatten damit wichtige Ressourcen zu vergeben und bauten darüber eine Machtstellung in ihrer Verwandtschaft und in ihrem Heimatdorf auf. Die Anwerbefirma ihrerseits konnte darauf setzen, dass der Arbeitsvermittler diese Macht in ihrem Sinn nutzte, d.h. die Arbeiter disziplinierte, weil er diese Stellung nicht aufs Spiel setzen wollte. Es etablierte sich also ein Patron-Klientensystem. Ulf Hannerz (1980: 189ff.) beschrieb – in Anlehnung an Beschreibungen von Tom Wolfe – zwei andere Formen von ethnischem Unternehmertum: Die eine bestand in community-Experten, die sich etablierten, als in den sechziger Jahren in San Francisco welfare-Programme aufgelegt wurden, bei den städtischen Beamten aber keine Vorstellung darüber bestand, wie das Geld sinnvoll ausgegeben werden sollte. Dies war die Stunde für Personen aus den Ghettos, die sich als Experten ausgaben. Diejenigen, denen es glückte, sich als Mittler zwischen Bürokratie und Gemeinde zu etablieren, hatten einen erheblichen Machtgewinn zu verzeichnen. Ein anderer Typ des ethnischen Unternehmers ist der community-leader, der in angespannten Situationen (etwa 1968, als die amerikanischen Innenstädte brannten) verspricht, über seinen Einfluss Frieden herzustellen. Entscheidend für die Machtstrukturen im Netz ist zweitens das Ausmaß von Vernetzung. Wer gut vernetzt ist, verfügt über mehr Macht, weil er über Alternativen verfügt. Wer über nur wenige Kontakte verfügt, kann dagegen leicht aus dem Netz herausfallen. Dies wird nicht selten ausgebeutet. Am Rande von Netzwerken sind oft sehr krude Machtverhältnisse die Voraussetzung für Ausbeutungsprozesse. Gerade illegale Immigranten befinden sich in derartigen Situationen. Neben dem Ausmaß ist der Charakter der Vernetzung in diesem Zusammenhang bedeutsam. Verwandtschaftliche Beziehungen haben einen anderen Grad von gegenseitiger Verbindlichkeit, von Loyalitäts- und Gehorsamserwartungen als Patronage-Beziehungen, wie sie etwa in Schleppervereinigungen eine Rolle spielen oder auch Beziehungen, die auf gemeinsamer Zugehörigkeit zu religiösen und politischen Organisationen (Kalifatsstaat, PKK) beruhen.
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Fassen wir zusammen: Netzwerke sind die Pfade durch den transnationalen Raum. Dabei ist ihr dynamischer Charakter kaum zu überschätzen. In einer besonders plastischen Form verdeutlichen sie das Verhältnis von Handeln und Strukturierung, das Giddens (1988) herausgearbeitet hat. Einerseits eröffnet die Struktur des Netzwerks Handlungsmöglichkeiten: Das Netzwerk liefert die Kontakte, die für das Finden von Arbeitsplätzen und Wohnungen unerlässlich sind. Andererseits verändert und restrukturiert jede Migrationsentscheidung das Netz – und zwar umso nachhaltiger, je weniger ausgetreten die Pfade sind, die der Migrant einschlägt.
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Erinnerungskulturen – Die neue Rolle von Heimat
Der migratorische Raum ist durch Grenzen geteilt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Migrant in beiden Teilräumen gleich verankert ist. Vielmehr verschieben sich die Lebensschwerpunkte mit dem Fortdauern der Migration. Dies spiegelt sich in der neuen Rolle von Heimat. Für die erste Generation waren die Gewichte klar verteilt: Heimat war das Herkunftsland; das Land, in das man migriert war, war die Fremde. Bei der zweiten Generation verkompliziert sich die Struktur. Für sie wird das Einwandererland zur Heimat. Gleichzeitig behält jedoch das Herkunftsland der Eltern seine besondere Bedeutung. Diese nimmt je nach Kontext der Migration sehr unterschiedliche Einfärbungen an. Vier Typen lassen sich hier unterscheiden. Eine Form von Beziehung besteht darin, dass man beginnt, seine Wurzeln (roots) mit der Heimat der Eltern zu assoziieren. Eine zweite oder dritte Generation von Einwanderern beginnt beispielsweise, sich als „Türken“ oder „Araber“ zu identifizieren. Dies ist nur vordergründig rückwärtsgewandt. Tatsächlich wird eine authentische und eigentliche Kultur beschworen, um sich in der neuen Gesellschaft zu verorten. Die Denkfigur ist regelmäßig, dass man sich auf das Eigene und Besondere besinnen solle, anstatt zu einer schlechten Kopie der Angehörigen der Einwanderergesellschaft zu werden – einer Kopie, die nur lächerlich ausfallen könne. Dahinter steht die Sorge um die eigene Würde und das Bedürfnis, anders und besonders zu sein. Freilich beginnt die in der Fremde imaginierte Heimat sich im Laufe der Zeit immer stärker von der tatsächlichen Heimat zu unterscheiden. Nicht selten stellt sich der Eindruck ein, dass die „eigentliche Kultur“ im Heimatland in den falschen Händen liegt. In solchen Fällen führt dies oft zur Entstehung von long distance nationalism. Benedict Anderson, der diesen Begriff geprägt hat, charakterisiert ihn folgendermaßen. „For while technically a citizen of the state in which he comfortably lives, but to which he may feel little attachment, he finds it tempting to play identity politics (via propaganda, money, weapons, any way but voting) in the conflicts of his imagined Heimat – now only fax-time away. But this citizenship participation is inevitably non responsible – our hero will not have an answer for, or pay the price for, the long-distance-politics he undertakes. He is also an easy prey for shrewd political manipulators in his Heimat“ (Anderson 1992: 13).
Diese Form des Nationalismus scheint sich besonders häufig bei Gruppen zu finden, die Diasporas im engen und eigentlichen Sinn darstellen – nämlich Gruppen, die auf Grund einer traumatischen Gewalterfahrung unter die Völker zerstreut wurden. Die prominentes-
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ten Beispiele sind die Juden, die Armenier, die Abkömmlinge der afrikanischen Sklaven, die Palästinenser. Es finden sich aber auch Gruppen, in der nur ein Teil der Bevölkerung eine derartige Erfahrung hat: Die deutschen Vertriebenen gehören dazu und Serben, die nach dem II.Weltkrieg heimatlos wurden, weil sie im faschistischen Befreiungskrieg auf der Seite der Royalisten gekämpft hatten. In diesen Gruppen wird neben der Heimat auch der Akt der traumatischen Zerstörung von Heimat gepflegt: Die Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Völkermord. Andere Migranten betrachten diese Suche nach Wurzeln mit erheblicher Distanz: Hier wird geleugnet, was für alle Migrationserfahrungen spezifisch ist – nämlich dass der Aufenthalt im Ausland unweigerlich Vermischung und Heterogenität nach sich zieht und dass darin immer eine besondere Chance besteht. Das Beschwören von kultureller Reinheit habe immer etwas Gewaltsames. Man ziehe Grenzen zu anderen – und wertet Personen ab, die sich auf die Vielfältigkeit der Migrationserfahrung einlassen. In Bezug auf die jüdische Diaspora wurde dieser Punkt besonders von den Boyarins (1993) hervorgehoben: Die spezifische Eigenheit der jüdischen Kultur resultiere nicht aus irgendwelchen Bezügen zu einem Ursprungsort, sondern gerade aus der Erfahrung der Zerstreutheit. Die Gründung des Staats Israel bedeutet auf diesem Hintergrund nicht die Wiederherstellung von Identität, sondern vielmehr ihren Verlust (Boyarin/Boyarin 1993). Identität wird hier über Geschichte hergestellt, also in der Entfaltung, Weiterentwicklung des Eigenen und gerade nicht durch Ursprungsrhetorik. Genauso häufig wie diese beiden Formen der reflexiven Zuwendung zur Heimat findet sich jedoch bei einer zweiten und dritten Generation eine pragmatische. Auch wenn man nicht viel mit Identitätsfragen beschäftigt ist, können die Beziehungen zum Heimatland der Eltern doch einen ganz praktischen Wert haben – sei es als Urlaubsort, sei es als Ort, wo die Eltern ihr Alter verbringen, oder als Ort für unternehmerische Tätigkeiten. Beziehungen in die Heimat bedeuten auch eine Chance, das Gefälle an Löhnen und Preisen zwischen dem Herkunftsland der Eltern und dem eigenen Land abzuschöpfen. All dies verlangt Kontakt zu Personen, die wissen, wie man mit Zollbeamten umgeht, wen man in welcher Hinsicht ansprechen muss, wie man Geschäftsbeziehungen pflegt (Caglar 2003). Wichtig ist, dass Verwandtschaft und Landsmannschaft auch vertrauensstiftend wirken – was gerade bei Investitionen zentral ist. Ayse Caglar hat den bemerkenswerten Aufschwung, den manche – ursprünglich zum Zweck der Unterstützung und Hilfe gegründete – Heimatvereine in Deutschland plötzlich nach vierzig Jahren Migrationsgeschichte erlebt haben, darauf zurückgeführt, dass nun plötzlich ihr Wert als Orte entdeckt wurde, an denen man mit Honoratioren aus der Heimatgegend zusammenkommen konnte, um Geschäftsstrategien zu entwickeln. Mit einer letzten Bedeutung von Heimat wurde ich in den letzten Jahren bei meiner Auseinandersetzung mit europäischen Muslimen konfrontiert. Viele Angehörige der zweiten Generation versicherten mir, sie hätten den Gedanken an eine Rückkehr längst aufgegeben – bis sie mit dem 11. September plötzlich mit dem Gedanken konfrontiert wurden, dass ihr Aufenthaltsstatus in Europa prekärer war, als sie gedacht hätten. Viele schlossen nicht aus, dass es im Fall erneuter Terroranschläge zu Reaktionen der Bevölkerung kommen könne, die sich dann gegen alle Muslime richten würden. Man müsse die Beziehung zum Herkunftsland pflegen, weil man dort ein selbstverständlich anerkanntes Existenzrecht habe.
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Werner Schiffauer Imaginäre Räume
Die Tatsache, dass Migration grenzüberspannende soziale Beziehungen konstituiert, hat ein Gegenstück im Bereich der Vorstellungen bzw. des Imaginären. Sie lässt die Welt als „Möglichkeitsraum“ entstehen. Die Tatsache, dass Nahverwandte und Freunde, also Personen „wie ich“, sich für ein Leben anderswo, mit anderen Grenzen und Chancen entschieden haben, konfrontiert den Einzelnen mit Alternativen zum hier und jetzt. Man ist gegangen – aber man hätte auch bleiben können. Man ist nach Deutschland emigriert – aber man hätte auch nach Frankreich emigrieren können. Man ist einmal ausgewandert – aber man könnte auch ein zweites oder drittes Mal auswandern. Personen, die die gleichen Ausgangsbedingungen haben, aber andere Entscheidungen getroffen haben und damit Glück oder Pech hatten, konfrontieren uns unweigerlich mit der Frage, wie unser Leben auch hätte aussehen können. Mit der Genese eines Möglichkeitsraums von unten wurde ich in den siebziger Jahren bei meiner Feldforschung in der ländlichen Türkei konfrontiert. Das Lebensgefühl der Bauern von Subay/Kastamonu veränderte sich grundlegend, als in den fünfziger Jahren die Massenmigration in die türkischen Großstädte und in den siebziger Jahren die Migration nach Deutschland einsetzte. Dabei handelte es sich ursprünglich um Armutsmigration – die Auswanderer waren junge Männer aus den ärmeren und kinderreicheren Familien, die zu dem Schritt gezwungen waren. Die Migration führte dazu, dass die Lebensverhältnisse im Dorf sich insgesamt wesentlich verbesserten, einfach weil der Druck vom Land genommen war. Gleichzeitig aber wurde das Leben im Dorf abgewertet – und zwar auch für diejenigen, die zunächst froh darüber waren, dass sie bleiben konnten. Der relative Erfolg der ersten Generation von Migranten nach Istanbul, Izmir und Ankara hatte nämlich den urbanen Raum als Möglichkeitsraum konstituiert. Was zunächst als Privileg aufgefasst worden war – nämlich im Dorf bleiben zu dürfen –, erschien auf einmal als eine verpasste Chance (Schiffauer 1987). Es ist hervorzuheben, dass erst die Massenmigration den Möglichkeitsraum als soziales Phänomen schuf: Es hatte immer schon einzelne Abenteurer gegeben, die das Dorf verlassen hatten. Diese waren aber für die meisten Angehörigen des Dorfes Einzelfälle – sie waren „anders“. Sie gehörten nicht zur gleichen Kategorie wie man selbst. Aus ihrem Erfolg (oder ihrem Scheitern) ließ sich keine Regel ableiten. Die Entscheidung von Aussteigern bot Stoff für Geschichten, hatte aber keine Relevanz für die eigene Selbsteinschätzung. Erst als sehr viele auswanderten, machte sich der Eindruck breit, dass man auch an ihrer Stelle sein könnte – wenn man nur die Gelegenheit, die sich bietet, beim Schopf ergreifen würde. Erst damit wird aus einem einfachen Bleiben eine Entscheidung, zu bleiben. Damit veränderten sich auch die Bewertungen. Auf einmal wird die Migration zur Regel – und diejenigen, die bleiben, sehen sich in der Situation, sich rechtfertigen zu müssen, „weil sie den Absprung nicht geschafft haben“. Frank Pieke beschreibt für die ostchinesische Provinz Fujan, wie sich dort in einer ähnlichen Situation eine Kultur der Migration entfaltet hat: „In the source areas of Fuijanese mass migration a culture of migration has taken root that prepares all able-bodied men and women for their eventual departure. In the Fuijan home communities, the culture of emigration stigmatizes local alternatives to emigration as second rate or even a sign of failure“ (Pieke 2002: 32).
Europa als transnationaler Raum
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Zu denjenigen, die eine Alternative zu einem selbst leben, steht man immer in einer schwierigen Beziehung. Aus ehemals kategorial gleichen sind jetzt kategorial verschiedene Menschen geworden. Dieses Verhältnis von Gleichheit und Differenz bedingt unterschiedliche Gefühlslagen. Häufig sind Neid (wenn man die schlechte Karte gezogen hat), schlechtes Gewissen (wenn man die gute Karte gezogen hat), Scham oder Schuld (was oft mit Verantwortungsgefühlen einhergeht) – oder umgekehrt das Gefühl, einen Anspruch zu haben. Dies kann bereits bei Arbeitsmigranten eine Rolle spielen, stellt sich jedoch besonders drängend im Fall von Flucht aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten – und zwar deshalb, weil in diesen Fällen die Entscheidung für oder gegen die Auswanderung existentielle Dimensionen hat. Entsprechend bitterer fallen die Urteile über Flüchtlinge aus. Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina werden von Zurückgebliebenen nicht selten als „Verräter“ angesehen, die im Krieg geflohen sind und sich nicht an der Verteidigung der Heimat beteiligt haben. Dieses Gefühl war besonders in Sarajewo verbreitet, wo die zwei Jahre Belagerung durch die jugoslawische Armee tiefe Wunden hinterlassen haben. Dabei gibt es auch und bemerkenswerterweise Fehleinschätzungen über den Luxus, in dem die Flüchtlinge während ihres Aufenthalts in Europa angeblich gelebt haben (Al-Ali/Black/Koser 2001). Ähnliche Gefühle wurden gegenüber deutschen Emigranten während des Nationalsozialismus geäußert und scheinen auch gegenwärtig die Beziehungen im Irak zu strukturieren. Schließlich spielen auch die Erfahrungen der Vorfahren eine Rolle – schließlich würde man anderswo und in einer anderen Situation leben, hätten sie eine andere migratorische Entscheidung getroffen. Auch dies spielt bei Fällen von Flucht oder Vertreibung eine erheblich größere Rolle als in Fällen von Arbeitsmigration. Dies ist bei den am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA emigrierten polnischen und russischen Juden besonders ausgeprägt. Der Satz: „Wäre mein Großvater damals nicht ausgewandert, wären meine Eltern im KZ umgekommen und ich wäre heute nicht am Leben“ benennt eine existenzielle Erfahrung. Das Unverständnis vieler jüdischer Intellektueller nach dem 11. September über die Haltung der Europäer speist sich aus dieser Wurzel. Darin liegt begründet, warum es nach wie vor Sinn macht, zwischen klassischen Diasporas (Iren, Palästinenser, Juden, Armenier), die auf Grund von Gewalterfahrungen entstanden sind, und Diasporas im weiteren Sinn, die durch Arbeitsmigration konstituiert wurden, zu unterscheiden.
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Schluss
Europa ist heute über transnationale Migrantennetzwerke mit der Welt verbunden. In diesem Text versuchte ich einen Eindruck von der Eigenlogik des durch sie aufgespannten mentalen und sozialen Raums zu geben. Vieles konnte im Rahmen dieses Textes nur angedeutet werden, vieles blieb völlig ausgespart. Keine Erwähnung fand das Phänomen Religion, zu knapp wurde auf das Problem von community building und auf das Problem der Generationen eingegangen. Die sich herausbildende ethnische Wirtschaft wurde nur gestreift; auch Transnationale Organisationen wurden stiefmütterlich behandelt. Dieser offene Charakter war beabsichtigt: Dieser Text will nicht als ein autoritativer Schlussstrich verstanden werden, sondern als Einladung an die Studierenden, an der Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung durch eigene wissenschaftliche Arbeiten mitzuwirken.
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Literatur Al-Ali, Nadje / Black, Richard / Koser, Khalid, 2001: Refugees and Transnationalism. The experience of Bosnians and Eritreans in Europe. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, vol. 27, no.4, S. 615-34. Anderson, Benedict, 1998: The Spectre of Comparisons. Nationalism, Southeast Asia and the World. London: Verso. Anderson, Bridget, 2000: Doing the dirty work? The global politics of domestic labour. London: Zed Books. Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boyarin, Daniel / Boyarin, Jonathan, 1993: Diaspora: Generational Ground of Jewish Identity. In: Critical Inquiry, vol. 19, no. 4, S. 693-725. Caglar, Ayse, 2003: Encountering the State in migration driven transnational fields. Turkish immigrants in Europe. Berlin: Institut für Ethnologie FU Berlin. Geertz, Clifford, 1973/1987: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-43. Gellner, Ernest, 1991: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch. Giddens, Antony, 1988: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M.: Campus. Hannerz, Ulf, 1980: Exploring the City. Inquiries Toward an Urban Anthropology. New York: Columbia University Press. Phizaklea, Annie, 2000: The politics of belonging. Sex work, domestic work: transnational household strategies. In: Westwood, Sallie / Phizaklea, Annie: Transnationalism and the Politics of Belonging. London/New York: Routledge. Pieke, Frank N., 2002: Recent Trends in Chinese Migration to Europe. Fujanese Migration in Perspective. Genf: International Organization of Migration (IOM). Schiffauer, Werner, 1987: Die Bauern von Subay. Das Leben in einem türkischen Dorf. Stuttgart: Klett-Cotta. Schiffauer, Werner, 1991: Die Migranten aus Subay. Türken in Deutschland: Eine Ethnographie. Stuttgart: Klett-Cotta. Schiffauer, Werner, 2003: Migration und kulturelle Differenz. Berlin: Ausländerbeauftragte des Senats. Spivak, Gayatri C., 1988: Can the subaltern speak? In: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the interpretation of culture. Basingstoke et al.: Macmillan, S. 24-28. Steyerl, Hito / Rodriguez, Encarnación G. (Hrsg.), 2003: Spricht die Subalterne Deutsch? Münster: Unrast. Straßburger, Gaby, 2001: Transstate ties of the second generation. Marriages of Turks in Germany. Institut für Interkulturelle und Internationale Studien. Universität Bremen: Summer Institute Working Paper 7/2001. / Iktisadi ve Idari Blilimler Fakültesi ODTÜ Ankara. Ankara/Bremen.
Die Renaissance des Begriffes Mitteleuropa
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Die Renaissance des Begriffes Mitteleuropa
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Einleitung
Europa, Osteuropa, Westeuropa, Mitteleuropa, Ostmitteleuropa: Scheinbar sind dies schlichte geographische Bezeichnungen bestimmter Regionen. Hinter ihnen verbergen sich jedoch jeweils komplexe Systeme von kulturhistorischen, politischen und phänomenologischen Zuschreibungen, die wiederum je nach Epoche und Standpunkt des Betrachters sehr variieren. Besonders hoffnungslos scheint jeglicher Versuch einer eindeutigen Bestimmung bei dem nach allen Seiten offenen Mitteleuropa zu sein. Jedoch – oder vielleicht gerade deswegen – begann in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein intensiver und durchaus wirkungsmächtiger Diskurs über Mitteleuropa, der das versteinerte Ost-WestDenken aufbrach und als ein intellektueller Wegbereiter der politischen Wende von 1989 gelten kann. Dieser Diskurs begann mit einer besonderen Selbst-Verortung: Kulturell wurde Mitteleuropa dem Westen nahe und verwandt gesehen, politisch aber zwangsläufig mit dem Osten verbunden. Von Europa wird seit der EU-Osterweiterung immer häufiger als von einem politisch realen Projekt gesprochen, während Mitteleuropa in diesem Kontext seltener erscheint. Mehr noch: Der Konsens in Bezug auf das Europa-Verständnis hat sich so fest eingefahren, dass Europa und die Europäische Union sogar oft als Synonyme gebraucht werden. Ganz eklatant z. B., wenn im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt der ehemals realsozialistischen Staaten von deren „Rückkehr nach Europa“ die Rede ist. Man kann sich fragen, wo diese Länder bis dato zu verorten gewesen waren. Auch in politischen Reden und wissenschaftlichen Texten, in denen sogar vorgemerkt wird, dass diese Begriffe miteinander nicht verwechselt werden dürfen, treten sie nebeneinander auf, als würden sie das Gleiche bedeuten: eine politische Aufgabe, die zukunftsgerichtet ist. Hans Magnus Enzensberger hatte dazu schon in den achtziger Jahren kritisch bemerkt: „Der Europa-Begriff soll ein für allemal propagandistisch besetzt und den Institutionen von Brüssel, Straßburg und Luxemburg dienstbar gemacht werden“ (Enzensberger 1983: 120). Seit dem EU-Beitritt der zehn – mit Ausnahme Maltas und Zyperns – ostmitteleuropäischen Länder im Mai 2004 handelt es nicht mehr nur um Propaganda. Ziel jener Aufgabe ist es, eine friedliche kontinentale Einheit zu schaffen, die institutionell in einer Form abgesichert werden soll, auf welche sich alle europäischen Staaten einigen können. Der Begriff Mitteleuropa hinkt also im Vergleich zu dem Aufstieg, den der EUzentrierte Europabegriff genommen hat, diesem hinterher, was zum großen Teil mit der EU-Osterweiterung zusammenhängt. Seine Existenz sowie seine historische und politische Bedeutung lassen sich aber nicht bestreiten. Dies bezeugen etliche Texte, auch wenn in diesen mit Mitteleuropa nicht immer das Gleiche gemeint ist. Ihre Autoren suchten und suchen heute noch Mitteleuropa entweder geographisch zu bestimmen (Joseph Partsch), oder als politisches (Friedrich Naumann, Giselher Wirsing, Helmut Rumpf) bzw. kulturelles Phänomen (Milan Kundera, Andrzej Stasiuk) zu definieren. Charakteristisch für ihre
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Texte ist, dass die in ihnen erarbeiteten Definitionen meistens von den Autoren selbst wieder relativiert, also als noch unvollständig bzw. mangelhaft bezeichnet werden. Dadurch entsteht der Eindruck, es gäbe so etwas wie ein Wesen des Mitteleuropäischen, nur sein Kern sei noch nicht richtig erfasst worden. Die immer wieder neu unternommenen Versuche, Mitteleuropa genauer zu bestimmen, bewirken, dass das Mitteleuropa-Projekt entwicklungsfähig bleibt, was an den Europa-Diskurs lange vor der Entstehung der Europäischen Union erinnert.1 Wenn man nach der EU-Osterweiterung von der Renaissance des Begriffes Mitteleuropa spricht, meint man damit vor allem die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen eine Fülle von Texten über die Lage der Nationen, die sich durch die Dominanz der Sowjetunion wirtschaftlich und politisch von Jahr zu Jahr verschlechterte, entstand. Aufstände und Proteste (DDR 1953, in Polen und Ungarn 1956, in Prag und Polen 1968, in Polen 1970, 1976, 1981) wurden auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zwar wahrgenommen, wie z.B. der ungarische Aufstand von 1956 von Hannah Arendt in ihrem Buch „Über die Revolution“, jedoch ohne Rücksicht darauf, welche Rolle die westlichen Demokratien dabei spielen könnten. Die politische Ordnung von Jalta blieb unberührt und die Dominanz der UdSSR war nicht nur vom offiziellen Osten, sondern auch vom offiziellen Westen auf unbestimmte Zeit akzeptiert. Mit dem permanenten Hinweis auf die Gefahr des AtomKrieges reproduzierte man sowohl im Westen als auch im Osten in den Debatten um den Kalten Krieg den Eisernen Vorhang als eine unüberwindliche Trennlinie, was Gedanken an politische Alternativen hemmte und die Aufrüstung im Sinne des militärischen Gleichgewichts beiderseits zusätzlich legitimierte. Die Logik jenes Gleichgewichts, das eine feste politische Kategorie geworden war, beherrschte nicht nur die internationalen Beziehungen bis zur politischen Wende in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs 1989, sondern bildete die Grundlage des bipolaren Denkens: Hier Ost, da West. Mittel- und Osteuropa wurden daher im Westen als Ostblock, d.h. als ein politisch und wirtschaftlich homogenes Gebilde wahrgenommen. Erst 1988 lesen wir in einer westdeutschen Publikation über Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, dass diese Länder eine Zone seien, die „neuerdings wieder Ostmitteleuropa genannt wird“ (Herterich/Semler 1989: 7). Zur Umbenennung von Ost- zu Ostmitteleuropa trug vor allem die polnische SolidarnoĞü-Bewegung, die große Teile der Gesellschaft für die Ideen der Demokratisierung und der Menschenrechte gewann, entscheidend bei. Der Abschied vom Begriff „Ostblock“ und die Rückkehr zum älteren Begriff „Ostmitteleuropa“ und „Mitteleuropa“ stellte jedoch einen längeren Prozess dar, der in den siebziger Jahren durch die beginnende Menschenrechtsbewegung in Polen, Ungarn und anderen Ländern nach Helsinki2 seinen Anfang nahm.
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Seit Novalis wurde – meistens in Krisenzeiten – darüber nachgedacht, wie Europa zu definieren, zu bestimmen und letztendlich zu denken und zu konzipieren bzw. zu gestalten sei (Lützeler 1992). 2 Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) begann 1973 in Genf mit dem Ziel, durch Abrüstung und Entspannungspolitik den Ost-West-Konflikt zu entschärfen. Teilnehmer waren 7 Staaten des Warschauer Paktes, 13 neutrale Länder und die 15 NATO-Staaten. In der am 1. August 1975 in Helsinki unterschriebenen KSZE-Schlussakte verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten u.a., die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren. Dies war für die Dissidenten in den staatssozialistischen Ländern fortan ein wichtiger Bezugspunkt bei ihrem Kampf gegen die totalitären Regime.
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Mitteleuropa in den achtziger Jahren – als Vorstellung und Idee
Auch Westeuropa wurde in Ostmitteleuropa undifferenziert wahrgenommen. Da dieser in der kommunistischen Propaganda zu einem kulturell „verfaulten“ Westen der sozialen Ungerechtigkeit stilisiert wurde, idealisierten große Teile der Gesellschaft dessen Bild aus purer Opposition zum „realen Sozialismus“ als Ort unbeschränkter Freiheit und Demokratie, wo es unzählige Aufstiegsmöglichkeiten gibt und attraktive Waren produziert werden. Diese Vorstellungen mussten dann meistens von denjenigen korrigiert werden, denen eine Ausreise gelang und die im Westen Fuß zu fassen suchten. Das homogene Bild des Ostblocks zerbröckelte dagegen im Westen immer mehr, besonders in jenen Jahren, als die antikommunistischen Proteste neue, bisher unbekannte Formen annahmen, die ihren Anfang in der polnischen SolidarnoĞü-Bewegung in den achtziger Jahren nahmen. Solidarität aller sozialen Schichten, Gewaltlosigkeit als Prinzip und die Forderung nach Demokratisierung stellten die grundlegenden Postulate der Dissidenten dieser Zeit dar. Polnische Oppositionelle bemühten sich seit der Entstehung des KOR (Komitet Obrony Robotników – Komitee der Verteidigung der Arbeiter) im Jahre 1976, die andere Seite des Eisernen Vorhangs möglichst breit über die Lage im Lande zu informieren. Ihre Forderungen formulierten sie in der Stilistik der Menschenrechte. Auch SolidarnoĞü, die erste unabhängige Gewerkschaft im „Ostblock“, bediente sich ihrer konsequent. Deren Mitglieder manifestierten ihre Unzufriedenheit 1980/81 nicht mehr auf den Straßen, sondern durch sogenannte „Besetzungsstreiks“, bei denen sie tags- und nachtsüber in den Fabriken, Betrieben und Universitäten blieben. Die Bauern belieferten die streikenden Arbeiter mit Lebensmitteln, die Intellektuellen standen ihnen mit Rat und Hilfe bei der Formulierung der Postulate bei. Viele Priester und Menschen aus Orten, wo nicht gestreikt wurde, organisierten Hilfsaktionen für Inhaftierte und Internierte und deren Familien. Zehn Millionen SolidarnoĞü-Mitglieder waren weder im Westen noch im Osten zu übersehen. Demonstrative Absage an Alkoholkonsum, an provozierende Handlungen den Machthabern gegenüber und öffentliche Beichten der Streikenden, die von katholischen Priestern auf den Fabrikhöfen abgenommen wurden, verliehen den Protesten – sogar in den Augen jener Teile der polnischen Gesellschaft, die in die oppositionelle Bewegung nicht direkt involviert waren – eine besondere ethische Legitimation. Die Verhandlungen zwischen den Oppositionellen und der Regierung der Volksrepublik Polen sowie die Hilfestellung von Seiten der katholischen Kirche im SolidarnoĞü-Jahr 1980/81 bezeugten, dass die Auflehnung gegen den Kommunismus keine blutige Konfrontation sein muss. Parallel zu all diesen Aktionen liefen im Hintergrund intensive Arbeiten an Papieren und Ideen, die als Grundlage für die Einführung demokratischer Strukturen gedacht waren. Unter anderem wurden Pläne für die Reformierung der Landwirtschaft erarbeitet und Entwürfe für das neue Hochschulgesetz und die neuen Studienordnungen an den Universitäten vorbereitet. Eines der interessanten Konzepte stellte Sieü (Netz) dar, eine Form direkter regionaler Basisdemokratie ohne Parteivertretung. Die Solidarität aller gesellschaftlichen Schichten und deren Versuche, das Land zu demokratisieren, waren so spektakulär, dass die Einführung des Kriegsrechtes am 13. Dezember 1981 durch General Jaruzelski und die blutigen Auseinandersetzungen u.a. mit den Streikenden in der Kohlengrube Wujek als Verrat und Krieg gegen die eigene Nation empfunden wurden. Jaruzelskis Vorgehen führte zu einer Radikalisierung der SolidarnoĞüBewegung. Nach der Inhaftierung und Internierung der wichtigsten SolidarnoĞü-Mitglieder
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übernahmen vor allem Frauen, u.a. Anna Dodziuk und Ewa Kulik, die Rekonstruktion der SolidarnoĞü-Führung im Untergrund (Penn 2003: 76-85). Polnische Dissidenten festigten ihre Kontakte mit Gleichgesinnten in der Tschechoslowakei und Ungarn. Westliche Staatsbesuche wurden danach beurteilt, ob deren Delegationen Kontakte mit dem politischen Untergrund in den ostmitteleuropäischen Ländern aufzunehmen bereit waren oder ob sie nur offizielle Treffen mit den Regierungen dieser Länder anstrebten. Man duldete kein Desinteresse der alten Demokratien an der Situation hinter dem Eisernen Vorhang mehr, zumal die Anteilnahme der westlichen Bürger an der Unterstützung der Polen durch Pakete und andere Hilfsaktionen zeigte, dass ein Engagement von der westlichen Seite möglich und erwünscht war. In diesem Kontext erschien 1984 der bahnbrechende Artikel „Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas“ von Milan Kundera, in dem die polnische SolidarnoĞüBewegung als der Höhepunkt aller bisherigen Proteste und Aufstände in den sogenannten Satellitenstaaten der Sowjetunion bezeichnet wird. Kundera macht in diesem Text Westeuropa für die Vereinsamung Zentraleuropas mit verantwortlich. Er tut dies nicht direkt, sondern mittelbar durch eine Analyse der Rolle der Kultur auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Nach 1945 sei eine besondere Konstellation entstanden, in der drei verschiedene Zustände zu unterscheiden sind: „der von West- und der von Osteuropa und, am kompliziertesten von allen, der jenes Teils, der geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt“ (Kundera 1984: 44). Dieses Zentrum – Zentraleuropa – sei ein kompliziertes Gebilde. Es bestehe aus kleinen Nationen, die durch gemeinsame Erfahrungen zusammengeführt wurden. Sie gruppieren sich „immer wieder neu und anders (...) innerhalb nur imaginär stets wechselnder Grenzen, wo die gleiche Erinnerung, die gleiche Erfahrung, die Gemeinsamkeit einer gleichen Tradition fortlebt“ (ebd.: 48), deren Wurzeln römisch-katholischer Herkunft sind. Die Überlebenschancen sähen diese Völker vor allem in ihrer kulturellen Identität, denn politisch fühlten sie sich nicht imstande, die russische Hegemonie zu überwinden. Während diese Völker an der einheitsstiftenden europäischen Kultur festhielten, um ihre Identität in Opposition zum Kommunismus bewahren zu können, habe sich das westliche Europa schon längst von solch einer Kulturauffassung verabschiedet. Darin sieht Kundera den Hauptgrund, warum man im Westen „den Verlust seines wichtigsten kulturellen Zentrums“ (ebd.: 59) nicht bemerke. Die eigentliche Tragödie Zentraleuropas beruhe daher darin, dass sein Traum von einer europäischen kulturellen Einheit Europas nicht mehr mitteilbar ist. Für die Wahrnehmung seiner Freiheitsbestrebungen seien Westeuropa die entsprechenden Kategorien abhanden gekommen. Kundera interessiert weniger die Sowjetunion als vielmehr die westliche Gleichsetzung von Zentraleuropa mit Osteuropa. Sie zeuge davon, dass der Prozess jenes Verlustes vollzogen sei und es bleibe nur zu fragen, ob er umkehrbar sei, denn die Bemühungen der kleinen Nationen um eine mitteleuropäische Identität wirken in dieser Situation wie ein Anachronismus, ähnlich wie die Begriffe „Nation“ oder „Patriotismus“. Einen Schritt weiter ging György Konrád, der sich als nächster auf der internationalen Bühne zu Wort meldete. In seinem Beitrag „Mein Traum von Europa“ von 1985 verweist auch er auf die SolidarnoĞü-Bewegung, in der er das Ende einer politischen Epoche zu erkennen meint: „Erst in jüngster Vergangenheit konnten wir in Polen Zeugen sein vom Aufeinandertreffen der gewaltfeindlichen Autonomie und des Nationalismus (...). Mit dem Zauber der Uniform ist es jedenfalls vorbei (...). Wenn alles gut geht, dann wird Mitteleu-
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ropa durch die lange gewaltfreie und reflexive Revolution des organischen Netzes der Autonomien geschaffen werden. Unsere nationale Verschiedenartigkeit werden wir im konföderativen Vertrag wieder finden.“ (Konrád 1985: 94) Hierbei entwirft er die Zukunft von Mitteleuropa, ohne dessen Vergangenheit zu idealisieren. Er erinnert sogar daran, dass es ein Ort ist, an dem Kriege geführt wurden, in denen sich die Völker untereinander bekämpften. Er geht wie Kundera von der Erfahrung des Kommunismus aus, verweist jedoch darauf, was Mitteleuropa dem Westen anzubieten hätte, nämlich den demokratischen Sozialismus, der sich in den polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen „Emanzipationsversuchen“ herauskristallisiere. Aus ihm könne sich „eine Kultur entwickeln, die nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen, sondern auch zwischen den Staaten demokratische und verfassungsmäßige Verhältnisse beanspruchen, also die Europäer zu Bürgern eines zivilen Europa machen würde“ (ebd.: 85). Mit dieser Idee verbindet Konrád seine Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft als Utopie, die eine Herausforderung für alle Europäer darstellen müsste. Mitteleuropa wäre demnach eine Aufgabe für die Fortsetzung all dessen, was sich in den emanzipatorischen Bestrebungen sozialpolitisch positiv anbahnte. Seit Jahrzehnten versuche man hier z.B., mit kulturellen Differenzen auszukommen, sie auszuhalten, und das nicht wegen einer politischen Entscheidung, sondern weil diese Differenzen auf einem relativ kleinen Gebiet, dicht nebeneinander auftreten und gelebt werden müssen: „Die mitteleuropäische Idee bedeutet die blühende Vielfalt der Bestandteile des Bewusstseins der Diversität“ (ebd.: 86). Mitteleuropa erscheine dadurch als eine Haltung, eine Weltanschauung, durch die der geopolitische Status quo des heutigen Europas, der „künstlich, provisorisch, zersetzend und erodierend“ sei (ebd.), verändert werden könnte. Die Orangene Revolution in der Ukraine von 2004 und die polnische Vermittlung zwischen dem russischen Präsidenten Putin und dem ukrainischen Oppositionsführer und späteren Wahlsieger Juschtschenko sollten Konráds Diagnose viele Jahre später bestätigen. In den ukrainischen Protesten gegen den Wahlbetrug wurde Mitteleuropa erneut zum Signalwort für die Zugehörigkeit zur demokratischen Welt, die die polnische Regierung und ehemalige SolidarnoĞü-Vertreter mit Lech WaáĊsa an der Spitze mit vollem Einsatz unterstützten (vgl. Hnatiuk 2005). Mitteleuropa bildet aber nicht nur ein Signalwort, sondern es stellt auch eine Art Selbstdefinition, Selbstbestimmung und gleichzeitig ein Übergangsstadium dar, in dem demokratische Strukturen in der oppositionellen Praxis der Dissidenten und in der theoretischen Konzeptualisierung Mitteleuropas – Konrád spricht von Reflexion – geübt bzw. gedanklich ausprobiert werden. Die Wende von 1989 wäre ohne diese Schule nicht möglich gewesen. Die wirtschaftliche, rechtliche und institutionelle Transformation ist die Folge eines langjährigen sozialen Prozesses jenes Umdenkens.
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Föderative Konzepte in Mitteleuropa
Ein politisches Umdenken war in Mitteleuropa nach der Wende auch dank der politischen Ideen möglich, die hier im 19. Jahrhundert zum Thema der Konföderation konzipiert worden waren. Sie konnten sich im Europa von Jalta3 nicht weiterentwickeln. Immerhin blieben sie in Mitteleuropa lebendig, so dass man in den achtziger Jahren wieder an sie anknüp3
Auf der Konferenz von Jalta, 4.-11. Februar 1945, entschieden Stalin, Roosevelt und Churchill den Verlauf der politischen Grenzen im Nachkriegseuropa.
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fen konnte. Die Gleichberechtigung der Nationen und demokratische Machtstrukturen waren weder ein kultureller Fremdkörper noch ein politisches Novum. Eine Fülle von föderativen Konzepten entstand hier vor allem nach der Dreiteilung Polens im Jahre 1795, sowie im Zuge der demokratischen revolutionären Bewegungen in Tschechien und Ungarn um 1848. Ihr Ziel war es, die Unabhängigkeit ihrer Staaten in einer Konföderation entweder mit dem zaristischen Russland (das waren vor allem die Vorstellungen von Adam Czartoryski und später von Stanisáaw Staszic), mit dem Habsburgerreich (Frantisek Polacký), oder mit Deutschland (Ludwik Mierosáawski und später Józef Piásudski) zu gewinnen (vgl. Górny 2005: 13). Von der Föderation versprach man sich eine gewisse Autonomie, die unter der russischen oder österreichischen Vorherrschaft nicht möglich war. Man dachte auch an Koalitionen mit Nachbarstaaten, in der jeweils ein Staat, Polen oder Ungarn, die Rolle eines Vermittlers übernehmen könnte. Es gab aber auch Ideen, die nicht Interessen einer Nation oder einer Gruppe, wie der Slawen im Panslawismus, zum Ziele hatten, sondern eine friedliche Koexistenz möglichst vieler Nationen in Europa im Sinne der demokratischen Gerechtigkeit anstrebten. Man denke an die „Konstytucja dla Europy“ (Verfassung für Europa), die Wojciech Bogumiá JastrzĊbowski, ein polnischer Philosoph und Teilnehmer des Novemberaufstandes gegen das zaristische Russland, 1831 geschrieben hatte. Es war ein Entwurf zum ewigen Frieden zwischen allen europäischen Nationen, der sich heute wie ein Vorläufer der EU-Verfassung lesen lässt. JastrzĊbowski erkennt in diesem Text keinem der Mitgliedsstaaten Sonderrechte zu. In 77 Paragraphen definiert er föderative gleiche Regeln für europäische Nationen, die ein gemeinsames Europa bilden könnten, wenn sie sich auf diese Regeln einigten. Obwohl diese Verfassung in Polen 1985 in einem Neudruck erschien (JastrzĊbowski 1985), ist sie bis heute nicht in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Dieses Privileg genießt nur die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, die als die erste nationale Verfassung in Europa gilt. In der Revolution von 1848, vor allem in Mitteleuropa „Völkerfrühling“ genannt, lebte die Idee der europäischen Föderation wieder auf. So erklärte Karol Libelt, polnischer Philosoph und Anführer der Polnischen Liga in Berlin, kurz vor den Märzereignissen: „Unser großes mächtiges Polen, weithin von Meer zu Meer reichend, wird nicht mehr als ein einheitlicher Staat mit einer Nationalregierung auferstehen, sondern als eine Föderation der Litauer, Ruthenen, Preußen und anderer Völker“ (zitiert nach Sauerland 2003: 172). Obwohl Libelt die deutsche Unterdrückung der Slawen scharf kritisiert, betont er in seinen Schriften die nationale Unabhängigkeit aller Teile der Föderation, auch jener, in denen keine Slawen leben. Sein Konzept war u.a. auch für Deutsche und Juden offen (Tobolka 1958: 361-365). Der berühmte Sprachwissenschaftler und Intellektuelle Jan Baudouin de Courtenay ging um 1905 weiter als Libelt. Baudouin de Courtenay war Mitbegründer des Vereins der Autonomisten-Föderalisten, der sich gegen das zaristische Russland wandte. Er selbst nannte sich staaten- und konfessionslos. Den Nationalstaat und den Panslawismus lehnte er konsequent ab. Er war der Meinung, dass die Autonomie einer Nation nicht territorial realisiert werden sollte, sondern unabhängig von dem Aufenthaltsort ihrer Mitglieder. Gleichberechtigung für alle Nationen war sein Hauptpostulat, das sich nur in föderativen Strukturen friedlich verwirklichen lasse (vgl. Baudouin de Courtenay 1905). Allen diesen Konzepten, unabhängig von ihrer Entstehungszeit, war der demokratische Gedanke gemeinsam. Wie Demokratie aber politisch zu realisieren sei, wurde lediglich
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angedacht. Es nimmt dennoch nicht wunder, dass man sich in der Mitteleuropa-Debatte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts an diese Ideen gern erinnerte. Es geschah in Form von Neuauflagen älterer Texte, wie im Falle von JastrzĊbowski, oder durch Rückbezug auf ältere Konzepte, wie im Falle von György Dalos in Ungarn, der 1985 die konföderative Idee von Lajos Kossuth aufgriff und in seinen „Entwurf einer mitteleuropäischen Konföderation“ als „Befreiung der Sowjetunion von ihren Satelliten“ einbezog (Dalos 1985: 7ff).
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Wiederherstellung von Kontinuitäten
Zwar erinnert Konrád seine Leser nicht explizit daran, was in Bezug auf die europäische Einheit in Mitteleuropa bereits vorgedacht worden war. Er beruft sich jedoch auf die Idee des föderativen Charakters des künftigen Europas mit einer solchen Selbstverständlichkeit, die ohne die erwähnte Vorgeschichte nicht denkbar wäre. Der Westen sei ohne Osten nicht vorstellbar, der Osten ohne Westen auch nicht, sie gehörten einfach zusammen. Konrád beklagt daher nicht den Verlust von Mitteleuropa im westlichen Bewusstsein, sondern wertet es als eine Nahtstelle von West und Ost auf. Hierbei sollte man sich an die Erfahrungen erinnern, die im kulturellen Konglomerat der Vielvölkergesellschaft der Habsburger Monarchie gemacht wurden. Sie könnten, so Konrád, für die Gestaltung der Zukunft hilfreich sein. An dieses Postulat erinnerten Erhard Busek und Gerhard Wilflinger. Sie nahmen Kunderas und Konráds Überlegungen unter etwas geänderten Titeln in ihre Anthologie „Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents“ (1986) auf. Diesmal wurde eindeutig Mitteleuropa hervorgehoben. Kunderas Beitrag heißt nun „Die Tragödie Mitteleuropas“ und Konráds „Der Traum von Mitteleuropa“. Letzterer betont hier: „Wesentlich für Mitteleuropa ist die Tatsache, dass es in der Mitte liegt und die Randgebiete nicht abgegrenzt sind, wir wissen nicht, wo es endet“ (Konrád 1986: 94). Diese unklaren Grenzen machen aus Mitteleuropa nicht nur ein Übergangsgebiet im konzeptuellen, sondern auch im politischen Sinne. Konráds „wir hätten einiges zu sagen, was auch für andere interessant wäre“ (ebd.) wird durch die Tatsache bestätigt, dass diese Beiträge in einer Sammlung erschienen, in der auf die mitteleuropäischen Stimmen immer wieder Bezug genommen wurde. Der Band spielt geradezu mit dem Titel direkt auf Kunderas These vom Verlust Mitteleuropas für den Westen an, und insgesamt stellt er eine Art Rückbesinnung auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg dar, auf die Koexistenz vieler Völker und Nationen im Habsburgerreich. Gleichzeitig geht es aber nicht um die Rekonstruktion alter Machtkonstellationen, sondern vor allem um die Wiederaufnahme eines Fadens, der durch die Kriege und die jeweiligen politischen Nachkriegsentscheidungen verloren gegangen war. Somit findet Konráds Traum von der integrierenden Rolle Mitteleuropas für ein europäisches Gedächtnis seine Erfüllung. Die jüngsten Erfahrungen zeigen aber, dass dies erst dann möglich sein kann, wenn auch die Erinnerungspolitik in Mitteleuropa revidiert wird. Die kommunistische Umgangsweise mit Erinnerung, in der das Erinnerungsverbot die Hauptrolle spielte, stellt hier ein wichtiges Hindernis dar. Die Zensur als eines der wichtigsten Instrumenten des alten Regimes hat viele Informationen über unbequeme Ereignisse (RibbentropMolotow-Pakt, die Ermordung polnischer Offiziere in KatyĔ, Gulags, Antisemitismus u.a.) getilgt.
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Kunderas und Konráds Publikationen folgt eine Fülle von unterschiedlichen Stimmen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, unter denen sich Texte von ostmitteleuropäischen Dissidenten wie Vaclav Havel, Bronisáaw Geremek, Jan Józef Lipski, Ludwik Vaculik und vielen anderen befanden. Es erscheinen auch Periodika zu diesem Thema. Im polnischen Untergrund entsteht eine politisch-literarische Zeitschrift namens „Europa“, in der nicht nur darüber reflektiert wird, wie es möglich war, dass viele westliche Intellektuelle so lange von Stalin positiv beeindruckt sein konnten, sondern auch darüber, was Russland als kulturelles und politisches Phänomen ausmacht. Es werden dort auch „besonders treffende Stimmen aus laufenden europäischen Diskussionen zu Europa als kultureller Idee“ publiziert, wie die von Susan Sonntag „Die europäische Idee (noch eine Elegie)“, die sie auf einer Berliner Tagung über Europa vorgetragen hatte (Europa 1988). Der MitteleuropaDebatte ist das ganze zweite Heft von 1987 gewidmet. Sowohl westlich als auch östlich des Eisernen Vorhangs wurden Konferenzen und Symposien abgehalten, alle mit ähnlicher Intensität, jedoch unter unterschiedlichen Bedingungen, denn in Polen konnten sie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nur im Untergrund organisiert werden. Eine der größten konspirativen internationalen Tagungen fand 1987 in Krakau statt; an ihr beteiligten sich u.a. viele Vertreter der deutschen Grünen. Das Mitteleuropa-Konzept wurde auf diesen Treffen nicht nur positiv gesehen. Bei einer Podiumsdiskussion von 1987 in Mainz kam es sogar zu einer Kontroverse, in der kritisch angemerkt wurde, dass Mitteleuropa nur ein reines Instrument gegen die sowjetische Übermacht sei.4 In diese Richtung ging auch Aleksej Miller, der 2003 in seinem Beitrag „Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa“ Russland gegen Mitteleuropa in Schutz nimmt. Er versucht, die russische Sicht in Bezug auf die Mitteleuropa-Konzepte zu schildern, aus der diese einen eindeutig hegemonialen Charakter aufweisen. Miller berücksichtigt nicht nur Kunderas Stimme, sondern verweist auch auf die Ideen aus dem 19. Jahrhundert, die sich voneinander stark unterschieden, je nach dem Ort ihrer Entstehung: Es waren Ideen, nach denen entweder ein Mitteleuropa mit Deutschland und Österreich an der Spitze konzipiert wurde, oder ein Mitteleuropa kleiner Nationen im Osten. In dieser Darstellung wird vor allem die Differenz zwischen den deutschen Mitteleuropakonzepten und dem Panslawismus hervorgehoben. So ergänzt Miller die Mitteleuropa-Debatte um Fragestellungen, die in der Nachkriegszeit verdrängt worden waren, weil sie in Deutschland den Anfang der NS-Tradition bildeten. In seiner Schilderung reduziert er aber die Kontakte zwischen den polnischen und tschechischen Dissidenten in der SolidarnoĞü-Zeit auf „eine einzig für künftige Historiker und Historikerinnen interessante Episode der – um ein Klischee der sowjetischen Historiographie zu benutzen – ‚polnisch-tschechischen Konterrevolutionären Verbindungen’“ (Miller 2003: 143). Den Beitrag von Kundera wertet er als einen propagandistischen Text ab, dem sich vor allem eine Forderung nach Einmischung des Westens gegen Russland entnehmen lasse. Diese Auslegung ergibt sich aus einer verkürzten und zugespitzten Wiedergabe der Thesen Kunderas. Doch daran ist zu erkennen, dass, sobald Mitteleuropa als ein Identitätskonzept verstanden wird, Befürchtungen entstehen, es handle sich hier um den Willen zur Abgrenzung von anderen Völkern. Miller sieht solch eine Gefahr in Bezug auf das russische Volk, das unter dem Kommunismus genauso, wenn nicht schlimmer, weil länger – wie er unterstreicht –, leiden musste. Er wirft Kundera eine 4 Vgl. hierzu den Bericht „Gemeinsamkeiten über Systemgrenzen hin. 'Mitteleuropa – Nostalgie oder Programm' /Podiumsdiskussion an der Johannes-Gutenberg-Universität/ Resümee der Polentage“ hrsg. von Ulrike Zeuch, in: Allgemeine Zeitung, Mainz, 29.11.1988.
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Art „Viktimisierung“ der Mitteleuropäer vor, durch welche die Russen zu Tätern statuiert werden. Das Mitteleuropakonzept als Identitätskonzept versperrt Miller eindeutig den Weg zu einer positiven Wahrnehmung. Sollte die Trennung Mitteleuropas von Russland vollzogen werden – meint er –, werde Mitteleuropa „(...) zu einem 'Randeuropa'. Osteuropa verschwindet und Russland wird, ganz im Sinne der unverändert vorherrschenden polnischen Denktradition, als Eurasien oder Westasien qualifiziert“ (ebd.: 156). Diese Befürchtungen teilt Karl Schlögel als Autor des Essays „Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa“ von 1986 nicht. Als westdeutscher Historiker reflektiert er auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs über Europas Mitte. Er tut dies mit viel Sympathie für den Osten. Er greift die Hauptgedanken Konráds und Kunderas auf und ergänzt sie mit historischen Erläuterungen zu den Mitteleuropakonzepten. Unter anderem erwähnt er Giselher Wirsings Idee von Zwischeneuropa, das Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien umfasste, Friedrich Naumanns umfangreiches Buch „Mitteleuropa“ von 1915, in dem das Deutsche Reich und die österreichisch-ungarische Monarchie Europas Mitte bilden, und sogar Karl Haushofers geopolitische Sicht, die dem Expansionsdenken der Nationalsozialisten wichtige Impulse lieferte, aber auch Tomás Garrigue Masaryks Zentraleuropa-Gedanken, den dieser in Opposition zu Naumann entwickelt hatte. Dem Naumannschen Konzept nimmt Schlögel das Odium des deutschen Imperialismus,5 indem er betont: „Indes steht Naumann nicht nur für eine uns heute nicht mehr ganz geheuere Naivität, sondern auch für eine Kenntnis, die sich allein in einem Raume ausbilden konnte, der trotz aller Spannungen so etwas wie einen allen gemeinsamen Erfahrungsund Erwartungshorizont abgegeben hat“ (Schlögel 1986: 30). Besonders interessant bei Naumann ist, dass er für Mitteleuropa politische Strukturen konzipiert, die an die heutigen EU-Strukturen erinnern. Mit anderen Worten: Es soll unter der Überschrift Mitteleuropa kein neuer Staat geschaffen, sondern „ein Bund existierender Staaten geschlossen“ (Naumann 1915: 233) werden, der auf Grund eines Vertrags funktionieren soll. Dieser könnte die Grundlage für gemeinsame ausführende Kommissionen oder Ausschüsse bilden. „Sie unterliegen der Kritik aller beteiligten Parlamente, sind aber für die Vertragsdauer innerhalb ihres Tätigkeitsbereiches selbständig. Sie sind mitteleuropäische Organe, ohne dass es einen eigentlichen Staat Mitteleuropa gibt“ (ebd.: 240). Alle Kommissionen sollten an einem gemeinsamen Ort untergebracht werden. Diese Ideen kann man heute so lesen, als hätte Naumann die EU-Institutionen vorgedacht. Mehr noch, er wendet sich – ganz im Sinne der heutigen EU-Richtlinien zum Gender-Mainstreaming – an beide Geschlechter, Frauen und Männer, damit sie sich dem friedlichen Werk Mitteleuropa anschließen (ebd.: 61). Juden sieht er als ein in sich sehr vielfältiges Volk an, das für den Aufbau von Mitteleuropa wichtig ist (ebd.: 70 f.), und verlangt sogar die Revision der deutschen Politik den Polen gegenüber, vor allem „eine Loslösung vom Germanisierungszwang“ (ebd.: 75). Karl Schlögel bespricht die erwähnten Ideen nicht im Detail, sondern holt sie aus der Vergessenheit, um zu beweisen, dass Mitteleuropa im europäischen Denken vor dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichsten Formen präsent war. Sowohl in der Vergangenheit als auch heute verbirgt sich in diesen Konzepten die Idee, dass Mitteleuropa ein Hebel sei, „mit dem sich etwas gegen die Übermacht der Supermächte zuwege bringen lassen könnte“ 5
Als Beispiel solch einer Vereinnahmung Naumanns wäre die Arbeit von Wilhelm Schüßler „Mitteleuropa als Wirklichkeit und Schicksal“ von 1932 zu nennen, die Mitteleuropa als einen Teil Europas definiert, in dem Deutsche, wenn auch zerstreut, seit Generationen leben.
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(Schlögel 1986: 11). In seinem Essay beschäftigt ihn jedoch nicht die Übermacht, sondern vielmehr – aus deutscher Sicht – der Prozess, den Kundera das Verschwinden von Mitteleuropa im westeuropäischen Bewusstsein nennt. So bringt er seinen deutschen Lesern das Verlorengegangene in Erinnerung, indem er diesen leer gewordenen Raum mit mitteleuropäischen Stadtbildern füllt, um das Interesse der Westeuropäer für Ostmitteleuropa zu wecken. Er gibt auch eine Art Antwort auf Kunderas Frage nach dem Verlust: „Wenn es kein Bild der Deutschen vom mitteleuropäischen Raum mehr gibt, dann nicht deshalb, weil keines gerettet wurde, sondern wesentlich deshalb, weil die Deutschen unsicher geworden sind, ob sie es aus der Schublade, in der sie es geborgen haben, hervorholen dürfen“ (ebd.: 72). Zum Schluss nennt er Berlin als Ort, an dem die verlorene Mitte nicht nur ein literarischer Topos, sondern paradoxe Wirklichkeit ist, die in Ost- und Westberlin gelebt wird. Indem er betont, dass die Deutschen ihre Identität am deutlichsten aus der europäischen Mitte in Erfahrung bringen könnten, bindet er sie in Mitteleuropa ein, was die Dissidenten der achtziger Jahre nicht getan hatten. Ludwig Mehlhorn beklagte sogar die Ausgrenzung der DDR aus der Mitteleuropa-Debatte (Brandt 2002: 385-389).6
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Mitteleuropas Rückkehr
Wenn man meint, dass die Teilung von Jalta in Ost- und Westeuropa zur Auflösung der Mitte geführt hatte, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass die Aufhebung dieser Teilung durch die EU-Osterweiterung Mitteleuropa endlich wieder zum Vorschein bringen müsse. Es entstand jedoch eine paradoxe Situation: Man begann zu fragen, ob die Mitteleuropa-Idee überhaupt noch aktuell sei, da sich der Traum von der Rückkehr Mitteleuropas nach Europa vollzogen habe. Im „Postskriptum 15 Jahre danach“ zu „Die Mitte liegt ostwärts“ schreibt Schlögel: „Mitteleuropa ist keine Utopie, keine Idee, keine Erfindung, sondern eine Tatsache, die jeder, der sich dafür interessiert, auffinden, entdecken kann, eine historische Landschaft von großer Kohäsion. Es geht um Erfahrungen und Explorationen, weniger um ein Modewort, das mal Konjunktur hat, mal nicht“ (Schlögel 2002: 64). Mitteleuropa ist also nicht nur ein Konzept, ein Programm, eine Projektion, sondern auch ein geographischer Raum mit einer eigenen Geschichte, einer eigenen politischen und kulturellen Rolle. Es ist zugleich eine Wertegemeinschaft mit einem starken Willen zur Öffnung, zum Dialog und zur Kooperation. Sauerland spricht sogar von einer „neuen Kommunikationsgemeinschaft“, die sich im Dialog zwischen der tschechischen, polnischen und ungarischen Opposition der achtziger Jahre weiter entwickelt habe (Sauerland 1987: 66f.). Dieses mitteleuropäische Engagement wirkt nach, wie wir aus einem Interview mit 6
Marion Brandt verweist auf Mitteleuropa-Initiativen: „In Leipzig erschien im Oktober 1988 unter der Redaktion von Christoph Wonneberger u.a. in einer Auflage von 500 Exemplaren eine Publikation mit dem Titel 'Ostmitteleuropa. Arbeitstexte zu Kultur, Geschichte und Politik'. Sie enthielt einen Essay von Jens Reich (unter dem Pseudonym Thomas Asperger) zur Oppositionsgeschichte in den sozialistischen Ländern und deren Bezug zu nationalen Fragen, Auszüge aus Dokumenten der Demokratischen Initiative in der ýSSR, die Übersetzung des Artikels 'Widerstand, Abrüstung und die Armee' von Jacek Czaputowicz von WolnoĞü i Pokój, in dem die Einführung eines Wehrersatzdienstes in Polen gefordert wird, sowie einen Aufsatz mit dem Titel 'Unser Europa' von Czesáaw Miáosz. Als 'unser Europa' bezeichnet Miáosz hier Mitteleuropa. Die Publikation entstand offensichtlich im Zusammenhang mit der Mitteleuropa-Debatte, die osteuropäische Intellektuelle zu dieser Zeit mit der Hoffnung führten, Mitteleuropa könne als kulturelle und politische Einheit der Opposition in den sozialistischen Ländern einen Rahmen für gemeinsames Handeln geben“ (Brandt 2002: 414).
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dem ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany vom Mai 2005 erfahren. Er spricht von einem regen Interesse der mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten für weitere EUOsterweiterungen, indem er auf die ungarischen Bemühungen um den EU-Beitritt der Staaten Ex-Jugoslawiens verweist. Wenn man darüber hinaus an die polnischen Bemühungen um den EU-Beitritt der Ukraine denkt, sieht man, dass Mitteleuropa an einer weiteren Zusammenführung von Ost und West in der politischen Praxis auf EU-Ebene stärker interessiert ist, als es die alten Mitgliedsstaaten sind. Gyurcsany erklärt diesen Unterschied aus den Motivationen heraus, die ihren Beitritt begleiteten: „Für die neuen Mitgliedsstaaten ist der Beitritt mit einem Programm des nationalen Aufschwungs verbunden. Für die Gründerstaaten war das Europa des Friedens die Grundidee“ (SZ vom 20.05.2005, 8). Die Tatsache, dass er auf den Schutz vor der russischen Hegemonie nicht zu sprechen kommt, bestätigt die These, dass die Abwendung von der Sowjetunion nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte. So hat Mitteleuropa seinen Mittelpunkt gefunden, ja diesen – so könnte man sagen – auch für die EU statuiert. Über die Bedeutung der Mitte schrieb der polnische Bohemist Jacek Baluch (Baluch 1987), der nach der Wende Botschafter in Prag wurde. Er bezog sich zwar nur auf den tschechischen Kontext, aber seine Ausführungen lassen sich verallgemeinern. Er berücksichtigt in ihnen Eliades´ Auslegung der „Mitte“ als eines der ältesten Symbole der Menschheit, und Herders Idee zum Mittelpunkt, von dem aus erst alles andere verstanden werden könne. „Der Mittelpunkt der Glückseligkeit“, den nach Herder jede Nation „in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“ habe (Herder 1964: 44f.), lässt sich auf Mitteleuropa übertragen. Von dieser Mitte aus werden die erwähnten Bemühungen um weitere neue Beitrittsländer entwickelt, und von dieser Mitte aus lassen sich die Demokratisierungsbestrebungen dieser Länder erklären. Der Mitteleuropa-Begriff wurde von Nicht-Politikern geschaffen (vgl. Konrád 1985). Politiker sprechen im Kontext der Osterweiterung immer noch von einem Europa der Nationen, wodurch sie einen Gegensatz zu all jenen herstellen, die diesem Europa nicht angehören. Der Vielfalt der Mitteleuropa-Auffassungen hat sich dagegen die Wissenschaft angenommen. Mitteleuropa öffnet sich ihr als ein neues Forschungsgebiet für wissenschaftliche „Explorationen“, zu dem es mittlerweile so viele Publikationen in unterschiedlichen Disziplinen gibt, dass ihre vollständige Darstellung nicht mehr möglich ist. Unter den Forschern sind vor allem Historiker, Literaturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler besonders aktiv. Sie erkunden mitteleuropäische Regionen (Szewczyk/Dzikowska 2003) und Nationen (Rothe 1991), deren Geschichte (Ash 1999), Kunst und Literatur (Eberharter 2004), die sich herausbildende Zivilgesellschaft (Fuchs 2003), die ausgeblendeten, tabuisierten Ereignisse wie Pogrome (Gross 2001; Hirsch 2003) und Vertreibungen (KobyliĔska/Lawaty 1998, Brandes 2001), die neuen Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik (Bauman 2005). Diese Themen und das unten angeführtes Literaturverzeichnis können zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sie bezeugen jedoch die handfeste Existenz Mitteleuropas, die weit über den symbolischen und konzeptuellen Rahmen hinausgeht.
Literatur Arendt, Hannah, 1974: Über die Revolution. München: Piper.
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Die kulturelle Geographie des östlichen Europa
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Die kulturelle Geographie des östlichen Europa
Mit dem Fall der Berliner Mauer ist die Wiedervereinigung Europas, die man auch als die Neubildung Europas nach einem halben Jahrhundert Teilung des Kontinents bezeichnen kann, in Gang gekommen. Zwei Jahrzehnte dramatischer Veränderungen einschließlich der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten liegen bereits hinter uns. Alle diese Vorgänge waren, ob sie sich vor unseren Augen oder hinter unserem Rücken abgespielt haben, immer auch „kulturelle Vorgänge“. Die Veränderungen in Europa seit 1989 sind so rasch vor sich gegangen, dass sie zum Teil in den Köpfen noch immer nicht angekommen sind. Nicht nur die Mauer existiert in den Köpfen fort, sondern auch die Teilung Europas. Es gibt so etwas wie „Spätfolgen“, die man nicht per Beschluss beseitigen kann. Das Nichtvorhandensein des mittleren und östlichen Europas in den mental maps der Europäer ist eine der Spätfolgen der Weltkriegsepoche, vor allem aber der „Zeit nach Jalta“, die immerhin fast ein halbes Jahrhundert gedauert und den Horizont von gewiss zwei Generationen geprägt hat. Mit dem Ende der Teilung Europas wurde fast alles anders, nicht nur die politische Landkarte: der Lebens- und Erwartungshorizont, die Nachbarschaften, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, die Wahrnehmung der nächsten Umgebung, die vor kurzem noch ganz außerhalb der eigenen Erfahrungswelt lag, die Konfrontation verschiedener Generationserfahrungen, die Begegnung oder auch Nicht-Begegnung gänzlich unterschiedlicher Zeichensysteme und kultureller Verarbeitungsweisen. Wir alle sind in diesem neuen Europa noch nicht angekommen, der Westen noch weniger als der Osten; denn der Osten hat sich seit jeher mehr für den Westen interessiert. Hier liegt eine gravierende Asymmetrie von Wissen und Interesse. Die Karte Europas wird neu gezeichnet – politisch, ökonomisch, kulturell.1
1
Remapping Europe. Europa wird neu vermessen
Das andere Europa ist „uns“ aus bekannten Gründen abhanden gekommen. Es war nicht erst die Mauer, sondern es waren – was häufig vergessen wird – die Katastrophen der Weltkriegsepoche, die im mittleren und östlichen Europa keinen Stein auf dem anderen gelassen haben. Die Frage ist, was geschieht, wenn man die Entfremdung und die Traumatisierungen des 20. Jahrhunderts noch einmal durchmisst und sich umsieht im Europa vor den großen Brüchen. Gewiss tritt uns keine heile Welt entgegen, aber doch eine Landschaft, die nicht identisch ist mit Krieg, Lagern, Säuberung und Völkermord. Es gilt, das Europa, das es auch gegeben hat und das hinter der Feuerwand der Weltkriegsepoche versunken ist, wieder zu vergegenwärtigen, nicht in antiquarischer, sondern in lebendig-kritischer Absicht. Wenn man das neue Europa in den Blick nehmen will, muss man von dem Europa, 1 Dieser Beitrag fußt z.T. auf dem am 14. September 2004 auf dem Deutschen Historikertag in Kiel gehaltenen Kommentar zu den Vorträgen im Panel „Raumvorstellungen und Raumpolitik im Stalinismus“.
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das es vor der Katastrophe gegeben hat, etwas gesehen haben. Wenn man sich in die neue Nachbarschaft einüben will, muss man an die alten Nachbarschaften anknüpfen. Wenn man die Kräfte, die das neue Europa tragen und formen sollen, finden will, muss man sich von den Leistungen der Vergangenheit inspirieren lassen. Kurzum: Es geht um eine Exploration eines verschwunden, aus unserem Horizont heraus gefallenen kulturellen Raumes, von dessen Vielfalt und Reichtum heute nur noch wenige etwas ahnen. Alle kennen Siena, aber wer kennt schon Krakau; alle kennen Paris, aber wer kennt schon Sankt Petersburg; alle kennen New York, aber wer interessiert sich schon für Moskau. Die Vergegenwärtigung des Europas vor der Teilung und vor den Katastrophen würde uns helfen, Europa wieder als Ganzes zu denken und eine Vorstellung vom Reichtum des östlichen Europas zu bekommen, die nicht identisch ist mit der dürren Vorstellung vom „Ostblock“. Es kann sich dabei um die Entdeckung von Kulturlandschaften, Städten, alten Verbindungswegen, Spuren der Ausbreitung von Kultur handeln. Ein bedeutender Effekt wird sein, dass man in Deutschland endlich wieder versteht, dass es eine Geschichte im östlichen Europa vor dem Holocaust und vor der Austreibung der Deutschen gegeben hat, deren Wiederentdeckung ein Moment der Wiedervereinigung Europas nach dem Ende des 20. Jahrhunderts werden könnte.
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Sich ein Bild machen von der anderen Seite: Vergegenwärtigung
Je rascher der alte „Ostblock“ verschwindet, umso deutlicher wird, dass es „Osteuropa“ gar nicht gibt, sondern: ein mittleres (das alte Mitteleuropa), ein östliches (vor allem Russland), ein südöstliches („Balkan“), ein nordöstliches (um die Ostsee herum) Europa.2 Es wird nun, nach dem Ende der Ost-West-Spaltung, auch deutlich, dass auch Westeuropa ein allzu einfacher Nenner und Sammelbegriff der Nachkriegszeit war, unter dem ganz verschiedene Geschichtsregionen zusammengefasst worden waren: das Europa des Mittelmeers mit seinen starken historischen Verbindungen zur arabisch-islamisch-nordafrikanischen Welt oder zur Levante; der Nordwesten, der ohne seine transatlantischen Verbindungen gar nicht denkbar ist. 1989 ist daher nicht nur für den alten Ostblock eine Zäsur, das Datum einer Auflösung, sondern auch für das alte Westeuropa. Osteuropa als einheitlichen Komplex oder Nenner gibt es nicht mehr. Das hat Konsequenzen: Es gibt nicht eine, sondern viele Kulturen; es gibt nicht einen Jargon, sondern viele Sprachen; es gibt nicht einen kulturellen Code, sondern deren mehrere. Das östliche Europa ist unübersichtlich, vielfältig, chaotisch – in der Regel sind wir überfordert. Wir müssen neu in die Schule gehen, neu lernen, erst einmal zuhören, bevor wir Ratschläge erteilen. Vergegenwärtigung soll einfach heißen: Eintreten in den Erfahrungs- und Lebenszusammenhang durch Reisen, Besuche, Urlaub, Studieren, Geschäfte machen, Herstellung von Nähe und Routine, Überwindung der Vorstellung von exotischen Landschaften ubi leones, Herstellung von Arbeitsbeziehungen anstatt der Absolvierung von Stippvisiten, sich einstellen darauf, dass es neben dem Europa, das wir schon kennen, noch ein anderes gibt, das auch dazugehört, begreifen, dass hinter der Oder (oder jenseits des Bug) Europa nicht aufhört, sondern weitergeht, in vielem auch erst anfängt.
2
Zur Diskussion über die vier großen Regionen der osteuropäischen Geschichte vgl. Halecki 1956; Zernack 1977; Szücs 1983; Conze 1992; neuerdings: Troebst 2003.
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Das bedeutet, dass man sich in gewissem Sinne darüber klar wird, dass ein Westeuropa, das nur sich selber kennt, ziemlich provinziell ist. Es bedeutet, dass man sich nun anstelle des Zeitungswissens, auf das man sich vor 1989 ein Leben lang hat verlassen müssen, selbst einen Eindruck verschaffen kann. Es stimmt, was Marc Augé gesagt hat: Die Fremde, die es zu entdecken gilt, liegt nicht in weiter Ferne, sondern gleich nebenan. Die Entdeckungsfahrt der Ethnologen und Anthropologen heute geht in die nächste Nachbarschaft (Augé 1994). Über Europa, auch das östliche, spricht man vorzugsweise in politischen, diplomatischen, bündnispolitischen usf. Termini – das ist kein geringer Fortschritt gegenüber dem Europa der Militärblöcke, aber doch nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Es gibt ein Europa, das in den Kommuniqués der Konferenzen – ob in Brüssel oder Straßburg oder Berlin – in der Regel nicht vorkommt: das Europa, das sich lebensweltlich neu bildet und das sich in Kriechströmen bewegt, das von sich kein Aufhebens macht. Es ist das Europa der LKWs, des Staus an den Außengrenzen der Europäischen Union, die schon nicht mehr registrierte Bewegung der polnischen und ukrainischen Bauarbeiter, ohne die Berlin nicht funktionieren würde. Ihnen allen ist gemein, dass sie keine politischen Bewegungen, keine Parteien sind, keine Programme haben. Sie sind an Routinen, Geschäften, am Funktionieren der Grenzübergänge, an der Minderung der bürokratischen Prozeduren usf. interessiert. Es sind nicht immer die Berufs-Europäer, die sich im neuen Europa am besten auskennen, sondern oft die Praktiker, die einfach ihren Job tun. Dieses neue Europa wächst auch dann, wenn das Europa der Konferenzen, Kommissionen und Apparate auf der Stelle tritt. Daraus leitet sich eine ganze Reihe von nahe liegenden Aufgaben im Bereich von Ausbildung und Wissenschaft ab. Es gibt auch fast zwei Jahrzehnte nach 1989 einen großen Bedarf an Wissen, Kenntnis, Information, um der west-östlichen Asymmetrie beizukommen. Das andere Europa ist uns aus den geschichtlich bekannten Gründen – praktisch und mental – abhanden gekommen, fern gerückt. Das ist besonders für die Deutschen, die über Jahrhunderte eng mit dieser Region verbunden waren, schmerzlich. Vergegenwärtigung und Wiederanknüpfen an eine Kultur „davor“ – das wäre das Erste. Die zehn Jahre Umwälzung haben Beteiligte wie Beobachter überfordert. Denn es ist schwierig, eine Sprache für das zu finden, was geschehen ist. Eine Sprache für die Beschreibung der Veränderungen zu finden – das wäre das Zweite. Einer der hervorstechenden Züge der europäischen Umwälzung des letzten Jahrzehnts war die herausragende Rolle der Städte und der städtischen Gesellschaften als Schauplatz, „Tatort“, Umfeld der zivilen Revolution. Fast könnte man die Sequenz der Umwälzung mit den Orten, in der Regel den Hauptstädten der Region, identifizieren. Das Studium des neuen Städtenetzwerkes, der zwischen ihnen ablaufenden Transfers und Prozesse, der Konflikte an ihren Rändern sowie die Vergegenwärtigung der Städte als Zentren einer urbanzivilen Kultur – das wäre etwas, woran gearbeitet werden muss, selbstverständlich „interdisziplinär“. Das ist eigentlich eine Einladung zu einer Abenteuer- und Erkundungsfahrt, an deren Ende vermutlich die Karte des neuen Europa stehen wird. Die Teilung der europäischen Kultur in Ost und West ist ein relativ junges Phänomen. Es gab vor 1945, erst recht vor 1914 kein Ost- oder Westeuropa. Wer immer sich umsieht in der Entwicklung der europäischen Kultur und Kunst, die wichtigen Bewegungen sind allesamt transnational, international gewesen und haben sich um die Himmelsrichtungen nicht gekümmert. Es ginge um eine systematische Anstrengung, die kulturelle Karte Europas, die durch das 20. Jahrhundert so sehr lädiert worden ist, neu oder noch einmal zu
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zeichnen. Hier geht es um ganz elementare Arbeit: Landschaften, die auch im Westen Europas einmal einen besonderen Klang hatten, wieder „heraufzuholen“. In vielen Fällen ist es so etwas wie die Entdeckung von Atlantis: die Herrenhäuser und Altstädte des Baltikums, die vorgeschobenen Posten der Gotik in Nordeuropa, die Ausbreitung des Jugendstils von Helsinki bis zum Bosporus, die Reichweite der Parler und anderer Baumeister, die Wiederherrichtung der noch vorhandenen Synagogen. Der Neubildung Europas nach einem Jahrhundert der Selbstzerstörung und Spaltung entspricht die Bildung eines neuen Erfahrungshorizonts. „Europa denken“ heißt am Ende des 20. Jahrhunderts etwas anderes als 1945 oder 1989. Das ganze Koordinatensystem hat sich verschoben. Die Arbeit an der Europäisierung der Geschichtsschreibung ist in Gang gekommen (beispielhaft: Davies 1996; Schmale 2000).
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Die Wiederkehr des Raums auch in der Osteuropakunde
Es ist bemerkenswert, dass sich Osteuropa-Historiker wieder mit dem Raum beschäftigen. Das war längst überfällig, und man fragt sich, warum erst jetzt. Wahrscheinlich sind für das „Verschwinden des Raumes“ in der Osteuropakunde dieselben Gründe verantwortlich wie in den Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften im Allgemeinen.3 Für die Geschichte im Allgemeinen kann man wohl sagen, dass die Aufmerksamkeit sich jahrzehntelang auf etwas anderes als auf Raumverhältnisse gerichtet hat: auf politische und soziale Bewegungen, auf Ideologie und Utopie, totale Macht, Klassenstruktur und Klassenidentitäten, bürokratische Herrschaft und Apparate, später auch Alltags- und schließlich Kulturgeschichte. Jede Zeit hat eben ihre spezifischen Aufmerksamkeiten und ihre spezifischen Gleichgültigkeiten, ihre Foki und ihre toten Winkel. Die in der Vergangenheit zu beobachtende Gleichgültigkeit gegenüber den räumlichen Verhältnissen war in den seltensten Fällen explizit, sie war in den meisten Fällen nicht einmal polemisch, sondern von der Art eines nicht ausgesprochenen, impliziten Vorbehalts, ja Verdachts. Raum stand, wie Michel Foucault schon erfahren musste, für das Feste, Statische, Unhistorische, Reaktionäre. Im deutschen Fall kam die spezifische Belastung des „Raumes“ und der „Geopolitik“ im faschistischen Diskurs hinzu. Freilich sah man es einer Geschichte, die ohne Ort, ohne Orte, ohne Schauplätze und Tatorte auskam, auch immer an: Sie war ortlos, ubiquitär, sie konnte sich gleichsam überall abspielen. Kontingenz war in diesem Wahrnehmungs- und Beschreibungsrahmen nicht gerade ein Fremdwort, aber auch nicht besonders beliebt. Das hat sich im Laufe der letzten Jahre, Jahrzehnte aus verschiedenen Gründen geändert. Es waren erstens die Erfahrung des Zusammenbruchs der ost-westlichen Hemisphären, die Zeitgenossenschaft mit dem Ende der geteilten Welt und die Augenzeugenschaft bei der Entstehung eines neuen Raums mit neuen Frontverläufen, die den Raum als eine zentrale Dimension geschichtlicher Erfahrung rehabilitiert haben. Zweitens waren mit den Umwälzungen nach 1989 und den neuen Konflikten, in denen es ums Ganze ging, auch all die Theorien der Simulation und des Virtuellen, die in der Spätzeit der ost-westlichen Stabilität floriert hatten, aufgeflogen. Die Ge3
Generell zur Frage der Verräumlichung/Enträumlichung geschichtlicher Wahrnehmung vgl. Osterhammel 1994 und 1998, sowie, bisher kaum rezipiert innerhalb der Historiker, die systematische und inspirierende Arbeit von Peter Sloterdijk (1998-2004). Meine eigenen Ansichten zum Thema sind systematisch entfaltet in Schlögel 2003 (vgl. dort auch die Bibliographie 537-557).
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schichte, von der behauptet worden war, sie sei an ein Ende gekommen, hatte sich ungefragt in Bewegung gesetzt. Verhältnisse, die für immer fest zu stehen schienen, verflüssigten sich in einer historischen Sekunde. Aufmerksame Beobachter konnten inmitten der Abwicklung des alten Zustandes an einer „Geschichte der Gegenwart“ (Timothy Garton Ash) schreiben. Eine Zeit hatte begonnen, in der wieder etwas zu verlieren, aber auch zu gewinnen war. Ein Konstruktivismus, der sich straflos allzu weit vorgewagt hatte, kam in die Lage, zum ersten Mal über die Reichweite seiner Behauptungen nachzudenken. Was einst als postmoderne Verblüffungsrhetorik durchgegangen war, wurde nun nicht mehr so ganz ernst genommen: die Rede von den „aufgelösten Identitäten“ hatte dazugehört, aber auch das „Ende der Geschichte“ oder eben jenes sagenhafte „Verschwinden des Raumes“. Man fragte inzwischen wieder nach, wie das denn gemeint sein könnte. Der Realismus, der sich eine Weile für seine „Naivität“ hatte entschuldigen müssen, musste sich nun nicht mehr für seine Überzeugung rechtfertigen, dass es „Realität“ gibt. Es gibt einen Boden der Tatsachen, auf dem man aufschlagen kann, nicht nur Symbole oder Zeichen. Wir sprechen wieder von Risiken, von tödlichen Risiken. Es gab plötzlich wieder harte Themen, wo so viele gehofft hatten, sie wären längst Vergangenheit. Aber nun waren sie wieder da, faszinierend, erschreckend und rätselhaft. In einer Welt, die sich so rasend verändert hat wie im letzten Jahrzehnt, entstand ein riesiger Bedarf an Aufklärung, an konkreter, d.h. auch orts- und area-bezogener Expertise, die es in vielen, lebens- und überlebenswichtigen Fällen leider nicht gab. Man musste sich mit den konkreten Verhältnissen vertraut machen, nachdem die „Systeme“ und mit ihnen eine angebliche „Logik der Systeme“ sich aufgelöst hatten. Der proklamierte Universalismus, wollte er ernst genommen werden, musste auch vor Ort bestehen können.
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Spatial turn?
Den Raum denken oder mitdenken bedeutet nicht, ein neues Paradigma vom spatial turn oder vom topographical turn in die Welt hinauszuposaunen, sondern etwas, was viel weniger leicht zu haben ist: eine bestimmte Aufmerksamkeit oder eine bestimmte Sichtweise für einen Aspekt zu entwickeln, der einem deshalb so leicht entgeht, weil er sich wie von selbst versteht. Dass Geschichte im Raume spielt, dass Geschichte einen Ort hat, dass „Geschichte stattfindet“, dass sie einen Schauplatz und einen Tatort hat – das ist so banalselbstverständlich, dass sich die Rede darüber nicht einmal zu lohnen scheint. Aber es sind gerade die einfachen Fragen, mit denen etwas Neues anfängt oder etwas wieder aufgenommen wird, was vergessen worden ist. Es geht bei der Vergegenwärtigung der Räumlichkeit alles geschichtlichen Geschehens heute nicht um die alten Debatten, die meist um einen geographischen Determinismus, um eine Art Essentialismus des Räumlichen kreisten, sondern „lediglich“ darum, in allem die räumlichen Verhältnisse mit im Auge zu haben und mit zu bedenken. Die „Wiederkehr des Raums“, wenn sie dauerhaft und fruchtbar werden soll, steckt eher zwischen den Zeilen, ist eher eine explorierende und reflektierende Bewegung als eine Disziplin oder ein Beruf. Man sollte sich hüten, daraus eine neue Spezialität zu machen. Es ist wie mit der Kulturgeschichte, die ja ihren Gegenstand verfehlt, wenn sie Kultur als apartes „Subsystem“ neben, unter oder über anderen „Subsystemen“ versteht, statt als die geschärfte Wahrnehmung dafür, dass alles eine kulturelle Form hat, deren Analyse weit reichende Auf-
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schlüsse erlaubt. Es ist daher m.E. sinnlos, etwa einer „Beziehungsgeschichte“ oder „Strukturgeschichte“ eine Geschichte des Raumes entgegen- oder gegenüberstellen zu wollen; aber sehr wohl „bringt“ es etwas, Beziehungen und Strukturen, Institutionen usf. räumlich zu denken, zu verorten, zu verkörperlichen. Das Mitdenken der räumlichen Dimension und der örtlichen Bedingungen stärkt die Vetomacht des Konkreten gegen das Abstrakt-allzu-Abstrakte, es ist von Haus aus auf Anschauung und Veranschaulichung angewiesen – nicht als literarisch-rhetorischer Trick, sondern als Bedingung der Erkenntnis. An Orten läuft alles zusammen, in Räumen koexistiert das Diverse, Heterogene. Orte stehen für das Simultane, das Nebeneinander so wie die Chronik, die Chronologie, das historische Narrativ für das Nacheinander, für die Abfolge in der Zeit stehen. Ort und Raum bringen, wenn sie angemessen wahrgenommen und analysiert werden wollen, die Disziplinen zusammen. Den Ort ins Auge zu fassen ist soviel wie alles nebeneinander und gleichzeitig zu sehen: komplex. Eine räumlich geschärfte Wahrnehmung entfaltet die Komplexität, die Orten und Räumen inhärent ist. Der Ort ist amoralisch: Er verbindet Opfer und Täter, er ist gleichzeitig der Schauplatz für den Großen Terror und für das Puschkin-Jubiläum. Räumlich geschärfte Wahrnehmung reagiert hypersensibel auf „Reduktion von Komplexität“ (vgl. Schlögel 2003: 537-558).
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Der „Ostraum“ im nachfaschistischen Diskurs
Die Osteuropa-Historiker – aber auch andere Disziplinen – hätten immer einen besonders starken Grund haben können, die räumlichen Verhältnisse ihres „Gegenstandes“ mitzudenken. Aber sie haben es ganz besonders gemieden, sie zu thematisieren. Womit hängt das zusammen? Der „Ostraum“ war spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur ein intellektuelles, wissenschaftliches Projekt, sondern eines der Herrschaft, der Expansion.4 Es ging nie nur um Vermessung, Kartographierung, völkerkundliche Studien, Geographie und Geognostik, sondern alles war eingebunden in den Imperialzusammenhang zuerst Preußens, dann der verschiedenen Deutschen Reiche bis hin zum Zusammenbruch des ganzen „Ostraums“. „Der Osten“ oder gar „der Deutsche Osten“ war nie nur eine Ortsangabe, sondern auch eine Projektion, ein Kampfbegriff. Alles, was die anderen europäischen Imperialismen und Kolonialmächte an kultureller Vermessungs- und Beherrschungsarbeit in großer Ferne geleistet haben – Britisch-Indien, Französisch-Afrika usf. –, das hat sich im deutschen Kontext vorwiegend in der europäischen Nachbarschaft abgespielt.5 „Der Osten“ ist ein mixtum compositum aus Nationalgeschichte und dem, was man als deutschen Orientalismus bezeichnen könnte. Der „Ostraum“ ist eine hochkomplizierte, hochkomplexe Materie, ein Zentralstück aller deutschen Auseinandersetzung mit dem östlichen Europa – ein Zentralstück der Ostkunde, der Ostforschung, der Ostideologie.6 Es zu analysieren, diesem Komplex seine Melodie vorzusingen, das wäre eine wissenschaftliche und aufklärerische Großtat, die uns endlich herausbewegen würde aus dem Sog des faschis4
Exemplarisch für eine kritische Aufarbeitung von deutscher Ostforschung und dem Bild der Deutschen im östlichen Europa vgl. Burleigh 1988; Mühle 1997; Piskorski/Hackmann/Jaworski 2002 und das Nachwort dazu von Michael Burleigh; dazu auch Karp 1997; Klingemann 1999; Haar 1999; Oberkrome 1999; Roth 1999; Fahlbusch 2002 (223-238). 5 Beispielhaft für imperiale Konstruktion: Edney 1993. 6 Zur Geschichte der „Ostkunde“ gibt es inzwischen eine reichhaltige Forschungsliteratur. Zur kartographischen Repräsentation des „Ostraums“ vgl. Herb 1997.
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tischen Raumdiskurses. Es geht dabei um mehr als das, was Michael Burleigh vor vielen Jahren in „Germany Turns Eastwards“ gezeigt hat. Aber selbst wenn die Verstrickung der „Ostkunde“ in die Geschichte des Nationalsozialismus aufgeklärt ist, was in zahlreichen Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte ja betrieben worden ist, wenn also der „Raum“ dekontaminiert und aus dem faschistischen Raumdiskurs herausgelöst ist, bleibt die positive Formulierung des Problems. Ich habe nie verstanden und verstehe es bis heute nicht, warum eine strukturgeschichtlich angelegte Osteuropäische Geschichte nicht auch einen Ort, einen „Geschichtsraum“ haben kann und warum das verdächtig oder eine mindere Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis sein soll. Dass es geschichtlich-kulturell-geographische Räume gibt, Geschichtsregionen also – die Ostseeregion, die Schwarzmeerregion, Mitteleuropa usf. – wer wollte es bestreiten.7 Die Geschichtlichkeit ihres Zusammenhangs, ihrer Kohärenz zu erforschen und zu rekonstruieren ist eine der aufregendsten und bleibenden Aufgaben und geht in der bloßen Ideologiekritik von „Konzepten“ und deren „Dekonstruktion“ nicht auf. Es war vermutlich der auch nach 1945 nicht gründlich vollzogene Bruch mit konstitutiven Linien der deutschen Ostforschung – die im Übrigen in die Zeit nach 1918, in die Zeit von Weimar zurückreichen, und die nun im Zeitalter des Kalten Krieges neu instrumentiert und instrumentalisiert wurden –, der dafür gesorgt hat, dass um Raum und Geopolitik immer ein gewisses Odium des Reaktionären bestehen blieb – sehr im Unterschied etwa zur französischen oder amerikanischen Tradition.8 Der krasseste Fall des Ignorierens oder Verschweigens der räumlichen Dimension ist in der Regel Russland, die Sowjetunion. Es ist eigentlich ganz unbegreiflich, weshalb die naturräumlichen Verhältnisse, wenn sie überhaupt thematisiert werden, gleichsam in das für Erdkunde zuständige Einleitungskapitel abgedrängt werden, ansonsten aber keine Rolle spielen. Es kann aber wohl keine russische Geschichte geben, die sich um den naturräumlichen Schauplatz in seiner geschichtlichen Entwicklung nicht kümmert. Die banalelementare Aussage „Russland ist groß“ ist kein Bonmot, sondern fast so etwas wie eine epistemische Weichenstellung. Wer das bewusst formuliert, geht an diese Geschichte anders heran als jemand, in dessen Horizont dies nicht oder höchstens als illustrative Anekdote vorkommt. Wie kann man eine Geschichte russischer Staatsbildung ohne die Kolonisationsbewegung, eine Geschichte des Russischen Imperiums ohne die Unterwerfung der nichtrussischen Völkerschaften, die Geschichte der Eroberung Sibiriens, des Kaukasus, Zentralasiens usf. schreiben?9 Wie ist Geschichtsschreibung über die Bildung des Reichszusammenhangs und der Imperialkultur möglich ohne die Analyse der Erfahrung der russländischen frontier, ohne die Geschichte der Wegelosigkeit und der „Raumbewältigung“ durch Eisenbahn und Flussschifffahrt? Wie kann es eine Geschichte der Revolution und des Bürgerkriegs geben ohne die Geschichte des physischen und moralischen Zerfalls jener Achsen, die den imperialen Raum zusammengehalten haben, und ohne die Geschichte der Rekonstruktion jener elementaren Infrastruktur, die den sowjetischen Raum unter neuer Ägide zusammengefügt hat?10 Das ist weit mehr als nur „Technikgeschichte“. 7
Zur Neukonzipierung von Geschichtsräumen vgl. Troebst 2003; für die Neufassung einer Kunstgeographie, die sich ihrer Genealogie bewusst ist, vgl. Kaufmann 2004. Die Studie über Isaja Bowman in Smith 2003. Zur französischen Rezeption der Geopolitik: Foucher 1988; Korinman 1990. 9 Eine der wenigen Arbeiten zum Thema: Bassin 2002. Von russischer Seite vor allem: Kaganskij 2001. 10 Eine der wenigen Ausnahmen: Pethybridge 1972. 8
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Wie kann man eine Geschichte totalitärer Macht schreiben, ohne definiert zu haben, wo sich solche Macht überhaupt etabliert und verschanzt hat, und ohne jene Zonen zu eruieren, in die diese Macht vermutlich nie eingedrungen ist? Wie würde sich unser Bild von der Macht verändern, wenn sich herausstellte, dass es sich um eine auf städtische Zentren zurückgeworfene Macht gehandelt hat, die nach der Art eines Kolonial- und Besatzungsregimes agierte?11 Wie kann man die Geschichte des stalinistischen Russlands schreiben ohne die Topographie, nicht nur die Struktur des Gulag, und wie eine Geschichte des Gulag ohne ein Studium des Imperiums der Kälte?12 Was passiert, wenn wir die Geschichte der gewalttätigen Industrialisierung und Kollektivierung als Geschichte der Produktion eines sozialen Raumes, eben des „Stalinismus als Zivilisation“ (Stephen Kotkin) angehen?13 Man könnte fortfahren mit Fragen, von denen man nicht versteht, warum sie nie oder erst sehr spät gestellt worden sind. Aber so etwas kommt ja öfter vor.
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Kommunismus als Zivilisation. Soziale Topographie
In der Geschichte des Kommunismus als einer Geschichte der Kommandohöhen gab es keinen Platz für die Orte, an denen das Alltagsleben der Menschen zusammenlief. Die Gemeinschaftswohnung, die Kommunalka ist nur einer von ihnen (Lebina 1997; Obertreis 2004). Die sowjetische Kommunalka enthält prismatisch die Lebensverhältnisse, wie sie über 70 Jahre hin bestimmend waren. Sie markiert auf der Ebene der individuellen Lebensverhältnisse alle Brüche und Entwicklungen in der Gesellschaft. Sie ist der Ort der Zerstörung bürgerlicher Lebensverhältnisse, des Schutzraumes der Privatheit. Wo zuvor die bürgerliche Welt ihren Ausbreitungsraum hatte, breitet sich nach der Schwarzen Umteilung des Wohnraumes im Bürgerkrieg die nachrevolutionäre Gesellschaft aus: eventuell die ehemalige Besitzerin in einem Verschlag, Zugereiste und privilegierte Arbeiter im Salon als dem größten Raum. Die Kommunalka-Gesellschaft spiegelt exakt die Veränderungen im Lande wieder: Die Zimmer, die frei werden, deuten auf die Emigration oder die Flucht aufs Land in Zeiten der Hungersnot; die Neuzugänge und die Überfüllung auf die Landflucht nach der Kollektivierung und den Zusammenbruch des Wohnungswesens in den 30er Jahren. Ihr Mobiliar und ihre Interieurs sind ein Museum, bestückt mit den Resten aus dem ruinierten bürgerlichen Haushalt, vielleicht einer Bibliothek, die sich fand; die neuesten Errungenschaften, die den Aufstieg des Arbeiters dokumentieren – das Patefon, das Fahrrad und das Agitplakat14. Man ist in den eigenen vier Wänden von nun an nie mehr allein. Der Kampf für die Aufrechterhaltung einer wie immer gearteten Ordnung des privaten Alltags ist fast aussichtslos. Und doch ist es für viele, die es aus der Dorfhütte bis hierher geschafft haben, eine Schule des Zusammenlebens. Es ist der Ort der Destruktion von Privatheit und des auf Dauer gestellten kommunalen Daseins. Es ist ein Ort des permanenten Kriegs aller gegen alle und des überlebensnotwendigen Kompromisses. Es ist der Überlebensort der „ehemaligen Menschen“, die gefährdet sind, und der Ort, wo alle wissen, was geschieht, wenn es früh um vier Uhr an der Tür klingelt. Es ist der Ort der Auflösung einer kompakten Lebenswelt und 11
Dieser grundsätzliche Aspekt wird leider nicht behandelt in den Beiträgen in Dobrenko/Naiman 2003. Sehr aufschlussreich zum „Imperium der Kälte“: Hill/Gaddy 2003. 13 Paradigmatisch die Arbeit von Stephen Kotkin zu Magnitogorsk (1995). 14 Zu Ikonen des Aufstiegs stilisiert in der Autobiographie von A. Stachanov (1954). 12
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der der Neubildung einer „Flugsand-Gesellschaft“, wie Moshe Lewin die aus Entwurzelung und Urbanisierung hervorgehende Gesellschaft der 30er Jahre nannte (Lewin 1985). Die Kommunalka ist die Mikrowelt einer sozial amorph werdenden, ihre Struktur und Differenz verlierenden Gesellschaft, in der die Segregation und Konsolidierung sozialer und kultureller Milieus fast ausgeschlossen sind. Ihre Interieurs sind Panoramen einer Gesellschaft im Umbruch. Neben einem geretteten Empire-Möbel und einem Familienphoto aus Petersburger Tagen finden sich in der Vitrine der rote Arbeitsorden, die Ansichtskarte vom Gewerkschaftsurlaub auf der Krim, vielleicht auch das neue Klavier der Firma „Roter Oktober“. Und es gibt die ganz anderen Interieurs der High Society der 30er Jahre, die sich komplett im stalinistischen Art déco eingerichtet hat. Die Alltagsdramen der Kommunalka füllen die russische Literatur von Viktor Šklovskij bis Joseph Brodsky. Sie frisst einen großen Teil der Energie, die man zum Leben braucht. Sie bietet keinen Rückzugspunkt, und wer bei sich oder unter sich bleiben will, muss nach draußen fliehen – daher die bis heute nicht untersuchte Bedeutung der Datscha als Fluchtort und Insel der Freiheit. Die „Diktatur der Intimität“, der Genossenschaftlichkeit, der Kommunalität für Generationen, der Zusammenbruch der Formen der Distanz, die im Tumult der sozialen und kulturellen Umbrüche keine Chance hatten, hat eine ganz andere Genese und Bedeutung als die von Richard Sennett beschriebene. Es ist ein Mikrokosmos, an dem sich die Genese der sowjetischen Zivilisation studieren lässt (Garros/ Korenevskaya 1995; Hellbeck 1996). Kurz: Die Kommunalka ist ein zentraler Lebensort so sehr wie die Fabrik. Kein noch so großes Quellenproblem rechtfertigt ihre Abwesenheit und Nichtexistenz in der Geschichtsschreibung. Sie ist ein Studienobjekt für den Prozess der Zerstörung bzw. Neubildung von Intimität und Privatsphäre, für die Ruralisierung der Städte und für die Urbanisierung der Leute vom Dorf – also: ein zentraler Ort für die maßgeblichen Prozesse, die Russland prägen sollten.15 Ein anderer Ort wäre der öffentliche Platz. Die Analyse der öffentlichen Plätze enthüllte uns, wenn wir es unternehmen würden, die Geschichte des Verhältnisses von Gesellschaft und Macht. Dies fängt mit der Verwandlung von ehemaligen Rathäusern in Museen an und endet in der Transformation oder im Neubau eines ganzen städtischen Raumes.16 Die Musealisierung des Nevskij-Prospekt sagt uns etwas über die Stilllegung des business district, der Banken, des Zeitungswesens, der Unterhaltungs- und Massenkultur, über die Verwandlung eines Boulevards, der der städtischen Selbstdarstellung diente, in eine nach wie vor pompöse Demonstrationsstrecke. Die Leere der großen Plätze, die einmal Marktplätze gewesen sind, schuf Distanz. Die Abwesenheit von Cafés sagt etwas über die Auflösung der Kontaktzone zwischen öffentlicher und privater Sphäre und die Abdrängung städtischer Kommunikation in die Einsamkeit atomisierter Individuen oder die organisierten Orte der Freizeit im Club oder im Kultur- und Erholungspark. Die Dimension und die Konfiguration der neuen Platzgestalt lässt sich dechiffrieren als Emanzipation der Macht aus dem Gemeinwesen.17 In dieselbe Ordnung gehören auch Erscheinungen wie die Nichtexistenz von Telefon- und Adressbüchern oder von exakten Landkarten. Lehrreich ist natürlich, 15
Der Terminus der „Hyperurbanisierung“ vor allem bei Hofman 1994. Es ist ganz erstaunlich, wie wenig sich die Geschichtsbetrachtung auf das Sichtbare einlässt, also auf gebaute Räume, Stadtbilder, Architekturen usf. Und es ist erstaunlich, wie wenig Architekturgeschichten über die Architektur hinausblicken. Immerhin ein Anfang bei Tarkhanov/Kavtaradze 1992 und Noever 1994. 17 Eine inspirierende Pionierarbeit für dieses ganze Feld haben geliefert: Papernyj 1985; Groys 1988; vgl. auch Günther 1990; Bown 1991; Morozov 1995. 16
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was nun in postsowjetischen Zeiten mit eben diesen Plätzen geschieht: eine Art Säkularisierung, Entsakralisierung, Profanisierung, Reurbanisierung. Das Leningrad und Moskau der 1930er Jahre – wenn man das als die Geburt der sozialistischen Zivilisation gelten lässt – sind nur von oben betrachtet übersichtliche, wohlgeordnete Städte – so etwa in dem berühmten Bild von Pimenov – eine Frau im Fond eines neuen Straßenkreuzers vor der Skyline des neuen Moskau.18 Es ist die Perspektive der High Society. Aus einer anderen Perspektive sind das Moskau und Leningrad dieser Jahre eher Agglomerationen von Behausungen, die die Zeitgenossen „Shanghai“ genannt haben, Endpunkte einer beispiellosen Fluchtbewegung aus den Dörfern in die Stadt, unkontrollierbar, undurchsichtig, chaotisch – ein Ort zum Untertauchen und alles andere als die wohlorganisierte Metropole, wie sie der Generalplan 1935 sah.19 Es geht bei dem Versuch, sich die Topographie der sowjetischen Lebenswelten zu erschließen, freilich nicht nur um sichtbare Orte, sondern auch um die Koordinaten des geistigen oder soziokulturellen Raumes, der definiert ist durch die Urteile über Gut und Böse, über Hässlich und Schön, über Gerecht und Ungerecht, über Gleich und Ungleich, über Armut und Reichtum. Wir bräuchten eine Geschichte des Geschmacks, der Hochkultur und einer proletaroid gefärbten Massenkultur, auch des revolutionären Kitsches. Wir bräuchten eine Geschichte der Subkulturen – S. Frederick Starr hat das überzeugend mit der Geschichte des sowjetischen Jazz getan (Starr 1990) – , die nicht erst mit den Dissidenten anfangen, eine Geschichte des Eskapismus – darunter der Datschen-Kultur. Wir bräuchten eine Geschichte des „Sich-Durchwurschtelns“, die dem Scheitern der Planung komplementär ist, und der Bestechung, ohne die man das Funktionieren einer nicht funktionierenden Bürokratie gar nicht erklären kann. Wir bräuchten eine Geschichte des Schwarzhandels, ohne die auch die Kommandowirtschaft niemals funktioniert hat, und eine Geschichte der Milieus der stalinistischen High Society, ihrer Teegesellschaften und der Kultur aus Schwanensee, Pferderennen im Moskauer Hippodrom und Urlaub auf der Krim sowie mit den von der alten Elite übernommenen Kindermädchen, die oft wie in vorrevolutionären Zeiten die einzige Verbindung zur Welt der gewöhnlich Sterblichen draußen waren.20 Wir bräuchten Geschichten von den Großbaustellen, die durch Enthusiasmus und Terror zustande gebracht worden sind,21 und von den Biographien, die durch die Säuberungen beendet wurden oder aber erst durch sie möglich wurden. Wir bräuchten eine Geschichte der Mode, dem nach Benjamin elastischsten Medium des Zeitgeistes,22 und eine Geschichte der Erfolgsstorys
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Exemplarisches Material brachte die Ausstellung in Kassel 1994: Agitation zum Glück, Sowjetische Kunst der Stalinzeit; vgl. dazu die Beiträge des Symposiums in Gorzka 1994. 19 Zuletzt und umfassend dazu Colton 1995. 20 Der Kosmos, der hier nur angedeutet wird, ist in Memoiren leicht zu erschließen. Er wurde bisher „übersehen“, weil es kein Interesse dafür gab. Es bedarf neben der Erschließung neuer Quellen also auch eine ganz neue Lektüre schon so oft gelesener Texte. 21 Vgl. Löhmann 1990; Maier 1990; Kotkin 1995; auch die Sammlung von Essays über den Stalinismus als soziopsychologisches Phänomen in: Osmyslit´ kul´t Stalina, Moskva 1989. 22 „Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außerordentlichen Antizipationen. (...) Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, sie fruchtbar zu machen“ (Benjamin 1982: 112).
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der Stars und Helden der Stalinschen Epoche, also der Leitbilder, die Schule machten – der Filmschauspielerinnen, Akademie-Mitglieder, Militärkommandeure, Geiger und Flieger.23 Was wissen wir von den Vorgängen draußen im Lande, solange wir keine Geschichte von Voronež oder von Nižnyj Novgorod haben? Und was wissen wir über Hass, Widerstand, passiven Streik seitens der Bauernbevölkerung, solange wir nur die Erfolgsmeldungen der Kollektivierer lesen (Rittersporn 1997)? Solche Geschichten würden, wenn sie wahr sein sollen, von der Gleichzeitigkeit des unvereinbar Scheinenden berichten: von der Inthronisierung Puschkins als literarisch-kulturellem Über-Ich im Jahr des Massenterrors, von der Eröffnung des Kultur- und Erholungsparks – dieser sowjetischen Version des Luna-Parks – zur Zeit der Schauprozesse (Schlögel 2003b). Das alles ist nicht das Leben jenseits der großen Geschichte, die von Krieg, Bürgerkrieg, Deportationen, Zwangumsiedlungen, Lager und wieder Krieg markiert ist. Die Spur der Gewalt ist in alle Erscheinungen eingezeichnet. Die Lebensformen sind fast immer schon Überlebensformen. Das Gedränge wie die Zusammensetzung in der Kommunalka ist das Gedränge der „Ehemaligen“ und der Neuen, der Reste von alteingesessenen Petersburgern und des Stroms der Entwurzelten vom Lande, der Aufsteiger aus dem Dorfe und der davongekommenen Intelligenzija-Familien. Die Gewalt hat ihre Spur hinterlassen in der Störung der Generationenabfolge, in der Abwesenheit der Männer und in der Feminisierung der sowjetischen Gesellschaft, einer eigentümlichen Zwangsemanzipation, die den Frauen mehr als die Hälfte des Himmels aufgebürdet hat. Sie ist eingezeichnet in die Gedichte des „Wolfshund-Jahrhunderts“ von Osip Mandelstam, in die Familien, die alle ihre Gefallenen, ihre „Volksfeinde“, Schädlinge, Ermordeten, Dekulakisierten, im Lager Verschwundenen oder aber Lagerbewacher haben. Die Gewaltsamkeit kehrt wieder in der indirekten und verschlüsselten Rede, im breiten Strom des Lagerjargons, der die Sprache erneuert und zugleich verdorben hat. Sie ist anwesend im Schweigen und in der Erschöpfung.24 Was die Geschichte so unerhört schwierig macht, ist, dass sie eine des Erfolgs und des Scheiterns, des Aufbruchs und des Zusammenbruchs, der Begeisterung und der Demoralisierung, der Täter und der Opfer, oft auch der Täter, die Opfer wurden oder Opfer, die zu Tätern wurden, und dass sie vor allem eine Geschichte jener ist, die – sei es durch Zufall oder nicht – weder das eine noch das andere waren (Kopelew 1981). Es macht aus dieser Perspektive keinen Sinn mehr, die Geschichte von oben zu konterkarieren mit einer Geschichte von unten. Und es macht keinen Sinn, die Geschichte des Alltags mit einer Geschichte des Großgeschehens zu konfrontieren.25 Es geht schlicht darum, eine andere Verhandlungsebene einzunehmen, eine „Umdimensionierung des Untersuchungsfeldes“ zu versuchen, und zu integrieren, was im Leben selbst nur zusammen existiert. Stalinismus-Geschichte wird so, wie Stephen Kotkin in seiner Studie über Magnitogorsk gezeigt hat, zur Zivilisationsgeschichte. Was vielen als ein Rückzug aus einer politischen Geschichte in eine „unpolitische“, angeblich harmlosere Kulturgeschichte erscheinen mag, ist in Wahrheit der Vorstoß zu einer Geschichte, die endlich beides zusammenbringt: die große Politik und die Alltagswelt, die longue durée und den Katarakt von Ereignissen, 23
Aus ganz anderen als historiographischen Gründen ist die Geschichte der großen Virtuosen, Bühnen- und Filmstars am besten erforscht. Hier gab es ein Genre, das in der sowjetischen Historiographie aus konstitutionellen Gründen praktisch nicht existierte: die Biographie, genauer: die Biographie des Stars. 24 Noch immer m.E. am eindringlichsten beschrieben bei Solschenizyn (1974-1976); vgl. auch Heller 1975. 25 Die Genese der Anti-Position, wenn nicht des Affekts der Alltagsgeschichte ist klar – die Absetzung von der Geschichte der „Haupt- und Staatsaktionen“. Aber mit einer Quasi-Ontologisierung von Alltag ist der Sache am wenigsten gedient.
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die Kommandohöhen und die Lebenslagen der Mehrheit der Bevölkerung. Das Ergebnis ist vermutlich nicht eine ganz andere Geschichte, aber eine, die wir schon kennen, in anderem Licht und plausibler. Die Exploration eines Feldes, das bisher verschlossen war – oder ignoriert worden ist –, ist die erste Bedingung hierfür. Wie so etwas exemplarisch gemacht werden könnte, dafür gibt es Beispiele und Vorbilder. Walter Benjamins Versuch, im Passagenwerk die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts zu erfassen, also das bürgerliche Zeitalter in seiner prägnantesten Gestalt zu dechiffrieren, ist auch eine große Inspiration für die Arbeit an einer Hauptstadt des 20. Jahrhunderts – „Moskau 1937“.26 Es fällt, wenn man sich die Verhältnisse näher angesehen hat, schwer, überhaupt von „Gesellschaft“ zu sprechen. Eher ist es ein Kosmos, eine Gemengelage von ganz unterschiedlichen, unzusammenhängenden, in sich ruhenden Gemeinschaften und Milieus, Provinzen, Städten usf., die Begriffe wie „sowjetische Gesellschaft“ oder „Klassen“ wie Konstruktionen aussehen lassen.27 Nicht Homogenität, sondern Heterogenität, Ineinander von Vormoderne und Moderne, nicht Übersichtlichkeit und Geplantheit, sondern Unübersichtlichkeit und Chaos kommen der Beschreibung der Wirklichkeit näher. Denn Gesellschaften leben auf längere Dauer nicht von der Aussicht auf die Zukunft oder gar von Visionen, sondern durch die Bewältigung des Hier und Heute. Ihr Lebensmodus ist nicht Zukunftsstrategie, sondern das „Sich-Durchwurschteln“, Sich-Durchschlagen und das lebenslange Improvisieren – auch durch die Hinnahme von Befehlen, die man in Wahrheit unterläuft. Und beide Seiten wissen das. Die Neuvermessung des Forschungsfeldes in zivilisationsgeschichtlicher Absicht führt nicht dazu, dass Macht und Ideologie als zentrale Kennzeichen des sowjetischen Kommunismus nur noch „Faktoren unter anderen“ werden, wohl aber zu einer Neuverortung. Die Macht findet ihre Grenzen an der Eigenmächtigkeit der Gesellschaft, die sich nicht umstandslos kommandieren lässt (Rittersporn 1998). Gesellschaftsbildungen folgen nicht Planperioden und den Abständen zwischen Parteitagen, sie haben ihren eigenen Rhythmus. Die Geschichte folgt nur in den Köpfen ihrer selbsternannten Avantgarden einem Masterplan – umso erstaunlicher, dass den Glauben an den großen Plan auch viele der energischsten Kritiker der Avantgarde teilen. Gewaltsamkeit ist nicht nur ein Zeichen von Macht, sondern auch ein Indikator für Ohnmacht. Alles zusammengenommen gibt das ein Bild, das wenig gemein hat mit dem Bild von der totalen Machtvollkommenheit einer totalen Macht. Die Geschichte des Sowjetkommunismus lässt sich weniger entlang der Pläne als vielmehr entlang ihres Scheiterns erzählen. So gehört zur Geschichte des Plans immer schon das Unplanmäßige, im Plan nicht vorgesehene, ja Planwidrige. Planfetischismus ist gerade nicht der Beweis für das Funktionieren, sondern für das Scheitern von Plänen. Wir können den Diskurs über Macht und Ideologie eine Weile ruhen lassen und sollten erst einmal das Feld sondieren, in dem alles spielt. Viele Geschichten müssen erst noch erzählt werden. Und wenn wir sie haben, werden wir sehen, was dabei herauskommt – ohne Konstruktion einer Logik oder eines Endziels. Wir tauschen damit die bequemen Kurzfassungen, die Geschichten aus Diamat-Lehrbüchern und Parteidirektiven ableiten, gegen eine freilich heillos verworrene und schwierige Geschichte ein. Aber der Gewinn ist eine Geschichte als Geschichte und nicht eine Geschichte als Kopfgeburt, dem Haupte Lenins entsprungen. 26 27
An einem Buch unter diesem Titel arbeitet der Verfasser dieses Beitrages. Über das „Machen“ und die Beliebigkeit von „Klassenidentitäten“ vgl. Haimson 1989.
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Sage niemand, es habe an den Quellen gelegen, deren Mangel oder Sperrung ansonsten für viel herhalten kann. Es hat eher mit „Erkenntnis und Interesse“, mit Blickeinstellungen, Perspektiven, Fremdheitserfahrungen zu tun, weniger mit dem „Objekt“ selbst oder gar einer prinzipiellen Unzugänglichkeit. Wenn überhaupt, dann waren es andere Disziplinen, die sich zuerst für solche Sujets interessiert haben: Kunstwissenschaftler, Soziologen, bildende Künste – und immer wieder die Berichterstatter aus der Welt des Gegenwärtigen: die Journalisten. Nun also dämmert uns, dass es eine Bedeutung für das Verständnis der russischen Geschichte haben könnte, dass „das Land groß ist“, dass es zu großen Teilen unbewohnbar ist und in weiten Teilen nur mit Sklavenarbeit überhaupt bewohnbar gemacht werden konnte, und dass der ganze Raum des Imperiums der Kälte sich auflöst, sobald Menschen etwas wert sind und sich dem totalitären Staat entziehen können (was jetzt, da die von Sklaven errichteten Städte des russischen Nordens sterben, der Fall ist; der Mensch weicht zurück, die Natur rückt wieder vor). Die Wahrnehmung von außen ist über weite Strecken der offiziösen Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung gefolgt: Sie war wie diese politik- und institutionenzentriert, zentralistisch, hierarchisch, vertikal. Sie interessierte sich wenig für den Alltag, die kulturellen Formen, die Peripherie, das Land draußen. Sie interessierte sich immer mehr für die Vertikale der Macht als für die Horizontale, die Weite, das Nebeneinander, die Zwischenzonen. Und selbst wo die Macht kritisch ins Auge gefasst wird, wird sie oft nur entlarvt. Es ist kein Zufall, dass ein Großteil der antikommunistischen und antisowjetischen Literatur Enthüllungs- und Entlarvungsliteratur ist. Was hier konstatiert wird, ist freilich nicht der einzige Defekt, der zu beklagen ist. Noch verheerender ist vielleicht die Spur, die die Entpersönlichung, die Entindividualisierung, das Denken in Kollektiven und Kollektivbegriffen für die russisch-sowjetische Geschichte hinterlassen hat. Russische Geschichte im 20. Jahrhundert ist auf eine dramatische Weise menschenlos, gesichtslos, entpersönlicht. Es gibt kaum Biographien. Das Verschwinden der Menschen im „Jahrhundert der Gewalt“ (Jakowlew 2004) rächte sich noch einmal an der Historiographie: Sie hat kaum ein Bild von den Menschen, die diese Geschichte gemacht oder erlitten haben. Man könnte fast sagen: Erst ist der Mensch zur Unperson geworden, dann ist auch das Genre, die Biographie, die sich ein Bild von ihm machen soll, untergegangen.
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Russland im 20. Jahrhundert in räumlich geschärfter Wahrnehmung
Aber wenn nicht alles täuscht, sind wir bereits inmitten einer vielversprechenden Wendung. Sie vollzog sich nicht so sehr entlang der Naturverfasstheit Russlands und ihres Einflusses, sondern entlang anderer Themen und Sujets: der mental maps, der Produktion von kulturellen und sozialen Räumen, der Spezifik des Verhältnisses von öffentlichem und privatem Raum, der Inszenierung der Räume und der Bauformen der Macht, der Aufwertung der Rolle der russischen Provinz u.a. (vgl. Conrad 2002). In vielem mag hier die Rede vom russischen Raum nur eine neue façon de parler für ältere Diskurse – etwa die Regionalgeschichte oder die Geschichte von „Lebenswelten“ – sein, aber nicht nur. Offensichtlich nimmt die Zahl der „Studien vor Ort“, d.h. von Stadt-, Lokal- und Regionalstudien, zu, von Studien, in denen die Komplexität örtlicher Gesellschaft über eine genügend lange Zeit hinweg erforscht und analysiert wird. Auch wenn es sich oft um Studien zur Zivilgesell-
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schaft, zur Stadtentwicklung usf. handelt, haben sie ihren Focus doch in einem überschaubaren Feld. Sie handeln meist von kulturellen Topographien. So wird gleichsam die Geschichte des Reiches im 19. und 20. Jahrhundert von unten neu zusammengesetzt, mit Folgen, die sich noch nicht abschätzen lassen. Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, dass die Geschichte endlich „vom Kopf auf die Füße“ gestellt wird. Für eine Geschichte, die bis auf den heutigen Tag mehr als andere und anderswo als eine ideengeleitete und ideologiezentrierte behandelt wird, ist dies ein überaus folgenreicher Vorgang. Symptomatisch ist daran zweierlei: erstens die Blickeinstellung. Sie ist fast immer eine „mittlere“, d.h. eine Meso-Ebene, gleich weit entfernt von der Vogelperspektive von ganz oben wie von der Froschperspektive von ganz unten. Sie verlässt die strategische Drauf- und Allgemeinansicht ebenso wie die nahe, allzu nahe Nahsicht. Die mittlere Ebene entspricht offenbar am meisten dem tatsächlichen Lebenshorizont, der weder „ganz oben“ noch „ganz unten“ ist, sondern irgendwo dazwischen. Orte werden so zu Studien in „konkreter Totalität“. Menschliche Vergesellschaftung kreist in der Regel um bestimmte Orte, spielt in einem gewissen Raum. Der Raum ist die Grundlage, die Folie unserer Durchschnittserfahrung. Und das ist auch der Grund, warum er für die Rekonstruktion und das Verständnis historischer Lebenswelten von so zentraler Bedeutung ist. Zweitens ist auffällig, dass entscheidende Impulse für eine Blicköffnung aus Nachbardisziplinen gekommen sind, hier vor allem der Kunst- und Architekturgeschichte, der Technik- und Zivilisationsgeschichte. Frühe Arbeiten wie die von Vladimir Papernyj zu „Kultura dva“ oder Selim Chan-Magomedovs Studien zur Architektur und Stadtplanung der 20er und 30er Jahre haben (absichtslos und doch nachhaltig) endlich ihre Wirkung entfaltet (Chan-Magomedov 1983; Papernyj 1985).28 Schließlich ist die westliche Kulturgeschichte aufs östliche Feld übergesprungen, hat dort die „weißen Flecken“ entdeckt, die längst für eine Bearbeitung reif waren.29 Im Zentrum standen hierbei charakteristische Orte der sowjetischen Lebenswelt, also Darstellungen von Kommunalka, Kultur- und Erholungsparks, Metro, Sportanlagen, von berühmten „Baustellen des Sozialismus“, einzelnen Werken und Fabriken, Institutionen der Lebenswelt wie den Datschen oder den Warteschlangen, der Urlaubswelt und dem Tourismus der Werktätigen, der Krim als „roter Riviera“ und anderem.30 Dazu gehören selbstverständlich die Studien zu den mental maps, der kulturellen Repräsentation und Projektion von Herrschafts- und Kulturräumen in Russland bzw. der Sowjetunion – „the spaces of empire“ – sowie die Studien zu den großen spontanen wie gewaltsamen Wanderungsbewegungen und Bevölkerungsverschiebungen und ihren Auswirkungen auf die Ausbildung des sowjetischen Raumes (Poljan 2001; vor allem Kaganskij 2001). Wenn man diese Themenfelder Revue passieren lässt und das eine oder andere Werk vor Augen hat, dann wird schnell deutlich, dass neue Quellen und neue Quellengruppen, neue Medien ins Spiel kommen, die bislang eine eher periphere Rolle gespielt haben: Bilder, Bau- und Stilformen, Filme, Gesten und Umgangsweisen, Rituale und Zeremonielle, Ausstellungskataloge, Führer, Kartenmaterial, Reportagen, Memoiren, Lebensbeschreibungen usf.
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Zu einer kultursemiotischen Dechiffrierung des Stadtraums gehört auch meine frühe Arbeit (Schlögel 1984). Vgl. auch Rüthers/Carmen 2003 und Urussowa 2004. 29 Exemplarisch hierfür: Kelly/Shepherd 1998 a, b. 30 Auch hier nur stellvertretend für andere ein Beispiel: Lovell 2003.
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Die Entdeckung des Raumes als einer Dimension eröffnet Möglichkeiten der Geschichtsschreibung, die bisher kaum erkannt sind. Es ist m.E. aber noch nicht heraus, wie eine topographisch interessierte Geschichte auszusehen hätte. Es fehlt am Elementarsten: an einer Kultur der Ortsbeschreibung, die offenbar mit der Bilder- und der Datenrevolution vollständig aus der Mode gekommen ist. Man muss nur einmal einen Text von Alexander von Humboldt oder Carl Ritter gelesen haben, um zu verstehen, was hier gemeint ist: Es gab einmal Standards der „dichten topographischen Beschreibung“, an denen man ablesen kann, wie sehr diese Form der Welterfassung inzwischen verkümmert oder von anderen Medien übernommen worden ist. Es wird, denke ich, ohne eine neue Schule der Ortserkundung und Ortsbeschreibung, die sich an den Klassikern von Alexander von Humboldt, Carl Ritter, Friedrich Ratzel, Georg Simmel über Walter Benjamin und Pierre Bourdieu schult, nicht gehen. Man kann diesen Nachholbedarf selbst an so avancierten Arbeiten wie Carl Schorskes Arbeit zu Wien, Timothy Coltons Moskau-Studie, Katerina Clarks PetersburgBuch, Patricia Herlihis Studien zu Odessa und Kiew oder zuletzt David Harveys ParisBuch noch festmachen (Harvey 2003). Ob mit der topographischen Wende gar ein Weg zur Entideologisierung und Entmoralisierung einer moralischen oder moralistischen Geschichtsschreibung bezeichnet wird, wie Charles S. Maier (2000) meint, bleibe dahingestellt. Ich sehe vor allem die Probleme und Schwierigkeiten einer topographisch aufmerksam gewordenen Geschichtsschreibung. Diese bestehen darin, ein Narrativ zu entwickeln, das sich vom Standard-Narrativ der Geschichtsschreibung, also von der Ordnung des zeitlichen Nacheinander, von der Chronik und Chronologie löst und – Ort und Raum entsprechend – ein Narrativ des „Zeit-Raumen“ ist. Ich kann mir augenblicklich eine Form, die über Walter Benjamins Versuch zu Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts hinausweist, nicht vorstellen.31 Doch dieser blieb bekanntlich, und sicher nicht nur aus lebensgeschichtlichen Gründen, Fragment. Jeder Ort ist eine Welt in sich, „konkrete Totalität“. Ein „begriffener Ort“ ist so schwer zu haben wie eine „begriffene Geschichte“ (Hegel).
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Ortsbeschreibung als Zeitdiagnose
Der Marxsche Satz, dass in der Soziologie die Abstraktion die unmittelbare Anschauung ersetze, wird oft zu wörtlich genommen. So als müsste man sich nun nicht mehr umsehen. Das Gegenteil ist der Fall. In einer Gesellschaft des großen Umbruchs, in einer rasenden Zeit ist die Messung vor Ort unbedingt notwendig. Wenn es eines Beweises bedürfte, dann wären es die rasanten Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte und die hilflosen Reaktionen all jener Disziplinen, die mit der Diagnose der Gegenwart beschäftigt sind. Auch auf die Gefahr unzulässiger Pauschalisierung hin: Sie waren von Ausnahmen abgesehen nicht auf der Höhe der Zeit, sie lebten von den Büchern, die den alten Zustand beschrieben hatten (vgl. hierzu Schlögel 1995). Die Transformationsstudien der 1990er Jahre waren dazu verurteilt, immer zu spät zu kommen. Das Geschäft, mit der Gegenwart auf Augenhöhe zu sein, wurde von anderen betrieben: den professionellen Berichterstattern, den „Historikern der Gegenwart“, den Journalisten. Sie waren bei den zahllosen Momenten des „ersten Mals“ vor Ort und sie hielten die Augenblicke fest, in denen eine Routine zu Ende ging und etwas Neues begann. In der Berichterstattung in den Zeitungen und im Fernsehen wurde 31
Vgl. hierzu die nach wie vor erhellende Studie von Susan Buck-Morss (1991).
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das Protokoll der Transformation geschrieben. Unser Wissen vom Gang der Welt hing an der Genauigkeit der Beobachtung, der Beschreibung, der Berichterstattung vor Ort. Wir verdanken den professionellen Berichterstattern unendlich viel: dass wir inmitten rasender Veränderungen halbwegs auf der Höhe der Zeit geblieben sind. Ortsbesichtigung war soviel wie Zeitdiagnose. Das kann nicht genügend betont werden gegenüber einer Welt, die von alten Rezepten, von alten Erfahrungen lebt und auf Besitzständen basiert, die illusorisch geworden sind oder neu begründet werden müssen. Berichterstattung vor Ort, Detailkenntnis, Umsicht und Durchblick inmitten historischer Turbulenzen – das kann die Osteuropakunde von den professionellen Berichterstattern vor Ort lernen. Jedenfalls wird sie diese nicht ungestraft missachten.
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Die Europäisierung der „Osteuropakunde“ und die Neubegründung der area studies in der zweiten Globalisierung
Die These vom Ende der area studies war so vorschnell und vorlaut wie die vom Ende der Geschichte. Die Welt, die auseinander gefallen ist und sich neu ordnet, bedarf der konkreten empirisch dichten Expertise. Die Globalisierung hat area studies nicht überflüssig gemacht, indem sie die ganze Welt nivelliert und homogenisiert hat, sondern im Gegenteil: Sie treibt ihre Keile und Korridore in die ganze Welt, schafft neue Frontlinien, neue Übergangs- und Verwerfungszonen. Die mit der Globalisierung verbundene Deterritorialisierung produziert aus sich heraus eine neue, verwandelte Territorialität. Die Globalisierung ist der kraftvolle Motor weltweiter Vergesellschaftung und zugleich die Antriebskraft erneuter gigantischer Spaltung und Vermischung. Die Leistungskraft der area studies im Kalten Krieg beruhte auf der gezielten, straffen Ausrichtung eines multidisziplinär instrumentierten wissenschaftlichen Apparates auf eine bestimmte Aufgabe. Dadurch waren die Mittel, die interdisziplinären Arrangements, bestimmt. Sie haben – jedenfalls in ihrer innovativen Gründungszeit – politische Geistesgegenwart und traditionelle Gelehrsamkeit zusammengebracht. Wo sie bloß politisch und politikberatend waren, waren sie kurzatmig. Die area studies gerieten – ähnlich wie die politischen Bündnisse NATO u.a. – außer Tritt, als die Konstellation sich erledigt hatte, für die sie konstruiert worden waren. Für die Zeit nach dem Kalten Krieg, für die neue Konstellation, die bisher so vage „21. Jahrhundert“ genannt wird, sind die area studies neu zu erfinden. Sie müssen sich neu aufstellen und sie haben sich schon neu aufgestellt: Die Umbenennung der alten „Soviet Studies Centers“ in Amerika in „East Central European, Russian and Eurasian Studies“ hat dem Ende des alten Ostblocks unmittelbar Rechnung getragen. Eine kluge Wissenschaftspolitik justiert neu. Dass in Deutschland derzeit, im Moment der Neukonstituierung Europas ausgerechnet die Osteuropa-Studien gekürzt und gestutzt werden, ist, wenn es nicht ein gänzlich unangemessener Ausdruck wäre, ein schlechter Witz. Die These vom „Ende der osteuropäischen Geschichte“ (Jörg Baberowski) ist auf eine paradoxe Weise eine scharf beobachtete Tatsache und zugleich eine Übertreibung. Sie ist zutreffend, sofern es um die Integration des östlichen Europa in den europäischen Geschichtszusammenhang geht und um die Beendigung eines Sonderstatus, der viel mit der politischen Konstellation des Ost-West-Konfliktes, viel weniger aber mit der historischen Eigenart des östlichen Europa zu tun hatte. Doch betrifft der dramatische Aufruf zu einer
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Neukonstituierung des Fachs nicht nur die „Osteuropäer“, sondern nicht minder die „Westeuropäer“, die Abschied nehmen müssen von einer sehr ein- und halbseitigen und einer wie selbstverständlich als die „eigentliche“ wahrgenommenen Geschichte Europas. Wo die Widerstände gegen eine Europäisierung größer sind, wage ich nicht zu sagen. Jedenfalls gibt es keinen festen, unhinterfragten Punkt, auf den man sich gleichsam als gesichert zurückziehen könnte. Europa ist im Fluss. Es ordnet sich neu, es definiert seine Grenzen, seine Übergangszonen, seine Zentren und Peripherien neu, seine Orte und seine Un-Orte. Das neue Europa gleicht einem Archipel, der sich aus einer großen Flut heraushebt und dessen Umrisse wir gerade im Begriffe sind, neu zu vermessen. Das betrifft nicht nur die Gegenwart, sondern gerade auch die Sichten und Aneignungsweisen der europäischen Vergangenheit.
10 Aussichten – eine Nachbemerkung Das Idiom der Osteuropastudien ist heute das Englische. Das war bekanntlich nicht immer so. Für den jungen George F. Kennan war 1929 Berlin der Ort des „Training for Russia“. Wir wissen, warum das nicht mehr so ist. Aber es gibt doch einige Eigenheiten, Eigentümlichkeiten, ja Heimvorteile der Osteuropa-Studien in Europa, zumal in Deutschland. Sie haben etwas zu tun mit verschiedenen Geschichten, verschiedenen Wissenschaftskulturen, unterschiedlichem Umgang mit der Vergangenheit, und wiederum mit Ort und Zeit. Osteuropakunde ist eine Ausformung von Europakunde („European Studies“), ein Teil der wissenschaftlichen Selbstreflexion und Selbstaufklärung der Europäer. Sie besteht aus Feldstudien auf vielfach gefaltetem, aber immer eigenem Gelände. Sie handelt von den Schauplätzen europäischer Geschichte hier wie dort, nicht „vom anderen“. Nähe ist ein Heimvorteil. Exkursionen lassen sich mühelos als Meisterklassen historischer Recherche, als anspruchsvolle Form des forschenden Lehrens organisieren. Welche Kollegen aus Nordamerika beneiden uns nicht um die Balkonsituation, um die Recherchemöglichkeiten, um die fast familiale Nähe! Freilich handelt es sich auch oft genug um Verstrickung. Das mittlere und östliche Europa ist ein Streifen auf dem Kontinuum europäischer Kultur und Geschichte, eine Region auf dem einen großen geschichtlichen Schauplatz. Es ist Ort der Selbstbeobachtung, Selbstanalyse, Selbstreflexion und zunehmend auch der Konkurrenz der Deutungen, Interpretationen rivalisierender Geschichten. Unsere Exkursionen führen in die Nähe, die vorerst noch ganz fremd anmutet und wir fahren in die Fremde, um immer wieder auf die eigenen Spuren zu stoßen. Die neue Migration stellt Zusammenhänge her, die gerissen waren. Sie bringt Sprachen und kulturelle Kompetenzen zusammen, die im 20. Jahrhundert ruiniert worden sind. Es gibt zwar die eine lingua franca, aber darunter wächst eine neue Sprachenvielfalt. Wir sind erst am Anfang einer europäischen Geschichte, die sich nicht herbeireden, nicht herbeischreiben, nicht erzwingen lässt. Sie geht aus den vielen Erzählungen hervor, die ihre eigene Zeit brauchen und denen jedes Forcieren nur schaden kann. In dieser Selbsterkundung des europäischen Schauplatzes hat die Osteuropakunde, nicht zuletzt in Deutschland, noch viel vor. Eigentlich sind die Europäer „ganz gut aufgestellt“, wie man heute sagt. Sie scheinen es nur noch nicht zu wissen.
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Einige Vorbemerkungen
Das Studium der politischen Ideenlehre, zu der auch Überlegungen aus dem Gebiet der europäischen Integration gehören, ist für den Politikwissenschaftler ein nützliches Training, um Standpunkte, die von den eigenen abweichen, zu verstehen. Es lehrt den aufgeklärten Skeptizismus und erschüttert den im allgemeinen Bewusstsein wie in der Wissenschaft verankerten Glauben, dass der eigene Standpunkt gewissermaßen der natürliche sei, dessen Ablehnung von der geistigen Minderwertigkeit der Andersdenkenden zeuge. Das Kennenlernen fremder Positionen zu Phänomenen der zeitgenössischen Politik führt zur Ausformung eines Standpunktes, der nicht nur nicht statisch sein, sondern dem Postulat der ständigen Entwicklung, also der Dynamik, unterworfen bleiben sollte. In diesem Sinne ist ein Abgleichen des Wissens über Ideen des europäischen Integrationsprozesses über verschiedene Sprach- und Kulturgemeinschaften hinweg ein besonders interessantes Unterfangen. Einigungsideen gab es in vielen europäischen Ländern zu verschiedenen Zeiten; sie waren auch in Polen nicht fremd. Hier wie dort wurde die Notwendigkeit einer Integration der europäischen Staaten meist aus dem Streben nach Sicherheit, vor allem nach äußerer Sicherheit, abgeleitet. Wegen der prekären Lage des polnischen Nationalstaates während des 19. Jahrhunderts und der Leidensgeschichte während des Zweiten Weltkrieges und danach ist Polen in Europa in einer besonderen Lage. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn zum einen polnische Ideengeber der europäischen Integration einen besonderen Akzent auf die Rolle der Nation gesetzt haben. Zum anderen haben die Theorien und realen politischen Debatten um die europäische Einigung Polen während der sozialistischen Epoche hauptsächlich auf dem Umweg über Bibliotheken und Archive erreichen können, und auch das nicht in wünschenswertem und erforderlichem Maße. Daher ist das Wissen über die Ideen europäischer Integration, das in Polen heute verbreitet ist, in gewisser Weise nachholend erworben worden. Manche Ansätze, wie beispielsweise der Föderalismus, werden nicht mehr im Lichte der Auseinandersetzungen der 1960er- und 1970er-Jahre interpretiert. Vielmehr erreichte der Gedanke eines föderalistischen Europa Polen zu einem Zeitpunkt, als das Prinzip der Mehrebenenpolitik und der Subsidiarität in der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union längst erreicht war. Das Beispiel zeigt, dass es wichtig ist, gegebene Ideen vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu betrachten. Bei der Untersuchung der Ideen begegnen wir bis zum 18. Jahrhundert einem aufklärerischen Verständnis, das einstige Vorurteile entlarvte und sämtliche Ansichten in vernünftige und unvernünftige unterteilte. Ein Umbruch vollzog sich im 19. Jahrhundert, als Karl Marx einen neuen Stil der Analyse gesellschaftstheoretischer Überlegungen einführte. Die Ansichten gesellschaftswissenschaftlicher Denker, also ihre Ideen, nahm er als Ausdruck 1
Übersetzung: Thekla Lange.
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einer historisch bestimmten gesellschaftlichen Situation wahr. Das heißt, wenn die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise denken, dann geschieht dies nicht nur aufgrund ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Vernunft, sondern wird auch beeinflusst durch die gesellschaftliche Situation, die dem Denker nur einen bestimmten Möglichkeitsbereich, nur diesen Winkel der Realität zuweist. Gesellschaftliche Ideen sind nicht nur Antworten auf andere Ideen oder Theorien, sondern auch ein Element der gesellschaftlichen Prozesse, die sie zu erhellen versuchen. Auch wenn wir ältere Konzepte aus historischer Perspektive als inhaltlich kohärent ansehen können, scheinen sie uns aus heutiger Sicht oft als merkwürdiges Gewirr. Die Entwicklung gesellschaftlichen Wissens wird nicht ausschließlich von der akademischen Diskussion beeinflusst, deshalb ist es unerlässlich, sie im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu betrachten. In diesem Sinne sollen die folgenden Abschnitte dazu dienen, deutschen Lesern den Wissensstand über die europäische Integration, wie er in Polen besteht, nahe zu bringen. Die Einordnungen und Einschätzungen sind im Hinblick auf gesamteuropäische Interpretationsmuster zur Diskussion zu stellen: Die Dynamik des realen Integrationsprozesses wird von der ständigen Entwicklung, Neu- und Umdeutung dieses Prozesses auf der Ebene der Ideen begleitet.
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Integration – Begriff und Gegenstandsbereich
Integration ist – wie viele andere Begriffe aus dem Bereich der Sozialwissenschaften – ein mehrdeutiger Begriff. Der Ausdruck stammt vom lateinischen Wort integratio. Meist wird Integration ihrer etymologischen Bedeutung gemäß mit einem Vereinigungs- oder Verschmelzungsprozess assoziiert, der aus Teilen ein Ganzes schafft. Dabei handelt es sich um einen Prozess, dessen Ziel es ist, zu einer neuen Qualität zu gelangen, wobei aber die Eigenschaften der Einzelelemente in einem bestimmten Umfang erhalten bleiben. Auf der sozialwissenschaftlichen Ebene versteht man unter Integration den Prozess, in dessen Rahmen die Institutionen allen Bürgern, unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Rasse und ihrer Herkunft, zugänglich gemacht werden, mit der Absicht, eine einheitliche Bürgergesellschaft in den Grenzen eines einheitlichen Staates zu schaffen (Scruton 2002: 141). Der Begriff Integration ist eng verbunden mit dem Ausdruck Desintegration. Bestimmte Faktoren oder Elemente, die sich miteinander integrieren, desintegrieren sich gleichzeitig von anderen (Doliwa-Klepacki 2000: 25). Integration und Desintegration gibt es somit seit den Anfängen der menschlichen Existenz, im individuellen und institutionellen Bereich ebenso wie unter Gruppen. Wenn wir das Problem der Integration aus der Perspektive eines antiken Denkers betrachten, so ist „das Ganze mehr als die Summe der einzelnen Bestandteile“. Das bedeutet, dass wir es beim Ergebnis der Integration mit einer neuen Qualität, einem funktionellen Gewinn zu tun haben, der daraus resultiert, dass die Einzelelemente zu einer organischen Einheit zusammengefügt worden sind. Dieses Phänomen geht oft mit einem Zustand der Synergie einher – die eng beieinander existierenden Organismen leben nicht nebeneinander her, auch nicht, wenn sie verschiedenen Arten angehören, sondern interagieren, wobei sie gegenseitig voneinander profitieren. Eine in Polen populäre Definition von Wáadisáaw KopaliĔski beschreibt Integration als einen „zielgerichteten, bewussten Prozess, der sich infolge geplanter Maßnahmen von Ge-
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meinschaften (Stämmen, Völkern) sowie gesellschaftlichen Gruppen oder Individuen vollzieht, die von diesem Prozess betroffen sind oder ihn aktiv unterstützen“ (Wądolowska 2003: 15). Diese Definition fügt den bereits genannten Aspekten die Plan- und Steuerbarkeit durch menschliche Gruppen oder Individuen hinzu. Integration hat nicht immer freiwilligen Charakter, nämlich dann nicht, wenn sie das Ergebnis aggressiver Handlungen ist. Zwar haben wir es auch in diesem Fall mit einem Prozess der Vereinigung zu tun, allerdings mit einer Zwangsvereinigung. Heutzutage wird ein solches Vorgehen in Europa i.d.R. nicht mehr akzeptiert, was nicht heißt, dass in der Praxis keine derartigen Versuche mehr unternommen werden. Meist wird Integration als ein internationaler Prozess verstanden, in dessen Verlauf die einzelnen Staaten gemeinsame Mechanismen und Institutionen schaffen, die mit Kompetenzen ausgestattet sind, die zuvor bei den Staaten lagen (Koáodziejczyk-Konarska 2003: 11). Die Vereinigung Europas, die sich auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene vollzieht, hat gewisse institutionell-rechtliche und politische Folgen und wirkt sich dadurch auf die Ebene des menschlichen Bewusstseins aus (Borowczyk 1993: 73). Es entsteht ein neues Institutionengefüge, in dem supranationale Institutionen eine Reihe ehemals nationalstaatlicher Schlüsselkompetenzen übernommen haben, so dass die an diesem Prozess beteiligten Staaten Souveränität abgeben müssen. Dies wirft ein neues Licht auf das traditionelle Verständnis von Souveränität bzw. staatlicher Hoheit, dem entsprechend diese eine unbegrenzt fortwährende, unveräußerliche, bedingungslose und unabhängige Macht darstellt, die sich in der Befugnis äußert, rechtsgültige Anordnungen zu beschließen (Antoszewski/àoĞ-Nowak 1999: 574). Wir können also davon ausgehen, dass der klassische Souveränitätsbegriff in Richtung einer begrifflichen Verengung modifiziert werden muss. Dies erlaubt, ihn weiterhin zu verwenden, obwohl die Mitgliedsstaaten im Zuge der Integration über immer begrenztere Entscheidungskompetenzen verfügen. Immer wieder werden bestimmte Voraussetzungen genannt, die zu Integration führen. Zu ihnen gehören: politischer Wille der involvierten Akteure, Komplementarität der Interessen der zu integrierenden Subjekte, geographische Nähe, ein gleichartiges politisches und wirtschaftliches System und eine begünstigende Handelspolitik. Oft beschäftigen sich Analysen vor allem mit dem wirtschaftlichen Bereich, der als besonders wichtig für den Integrationsprozess angesehen wird. Man unterscheidet fünf Etappen der wirtschaftlichen Integration (Koáodziejczyk-Konarska 2003: 12): 1. Freihandelszone; 2. Zollunion; 3. Gemeinsamer Markt; 4. Wirtschafts- und Währungsunion; 5. politische Union. Im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess kann man also die Hypothese aufstellen, die Integration auf der politischen Ebene sei durch die Fortschritte der wirtschaftlichen Integration bestimmt, denn diese gibt das Tempo und die Richtung für die Vereinigung auf den anderen Ebenen vor. Integration ist kein Selbstzweck. In ökonomischer Hinsicht ist sie die einzige Möglichkeit, einen höheren Grad an Spezialisierung und Kooperation zu erreichen, was schließlich zu schnellerem Wirtschaftswachstum und mehr Wohlstand führt. Auch im außerwirtschaftlichen Bereich bringen Integrationsprozesse viele positive Ergebnisse mit sich; unter anderem senken sie die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch bewaffneter Konflikte und führen zu größerer politischer Stabilität und einer stärkeren Verankerung der Demokratie als Grundlage der weiteren Entwicklung (CzarczyĔska/ĝledziewska 2003: 2; Suchocka 1999: 14).
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Stanisáaw Zyborowicz Die europäische Vereinigungsidee von der Antike bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
Nachdem sie von Zeus entführt und nach Kreta gebracht worden war, wurde Europa, die Tochter des Königs von Tyre, Königin der Insel und Begründerin einer Dynastie. Das Königreich Tyre gilt als die Wiege der europäischen Zivilisation (Maurin 2004: 9). Die Griechen benutzten den Namen Europa nicht nur zur Bezeichnung der eigenen Gebiete, sondern nannten so auch jene, die im Norden und Westen davon lagen. Die erste wirtschaftliche, politische und kulturelle Vereinigung eines größeren heterogenen Gebietes auf dem europäischen Kontinent ist mit dem von Julius Cäsar begründeten Römischen Imperium im Jahre 59-48 v. Chr. verbunden. Eroberungen galten zu seiner Zeit allgemein als legal und moralisch korrekt. Das Königreich Karls des Großen (gegründet 800 n. Chr.) und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (962-1806) waren politische Organismen, die sich durch eine hohe Entwicklungsdynamik mit integrativer Zielsetzung auszeichneten. Schließlich strebten sowohl Napoleon I. Bonaparte als auch Adolf Hitler nach der Weltherrschaft und beschworen dabei den gesellschaftlichen Fortschritt. Während im Falle Napoleons für Europa zum Teil positive Hinterlassenschaften, wie zum Beispiel der Code Napoléon, gesehen werden, werden sie in Bezug auf Hitler vollkommen abgelehnt. Betrachten wir die Ideen, die die Grundlage für das Wirken in Richtung einer Integration bilden. Wir wollen bei den antiken Werten beginnen, die für die Europäer von weit reichender Bedeutung waren. Einige Elemente entstammen dem griechischen Erbe: der Kritizismus, der sich in den Strukturen der Grammatik und der Philosophie wieder findet; das Bestreben, die Wahrheit über die uns umgebende Wirklichkeit zu erfahren; das Streben nach Vollkommenheit, das im Geist der intellektuellen Freiheit (griechische Demokratie) enthalten ist; die Liebe zur Schönheit, darunter zur Kunst. Darüber hinaus ist die Europaidee von einigen Elementen aus dem römischen Erbe geprägt: dem hohen Organisationsgrad des gesellschaftlichen und politischen Lebens; der Herausbildung einer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung gemäß bestimmter Rechtsnormen; dem Respekt vor dem Staat, vor Vereinbarungen, Abkommen und Bündnissen. Schließlich ist seit der römischen Zeit das Christentum zu nennen, dessen Werte sich im Wirken des menschlichen Individuums im Dienste des Nächsten manifestieren. Diese Auflistung zeigt, dass die Diskussion um die europäische Einigung seit 25 Jahrhunderten ununterbrochen anhält. Seit Beginn der Geschichte stellt sich der Mensch die Frage, was man tun kann, um Kriege zu verhindern. Es ist zu bemerken, dass gerade der Wunsch, eine Welt ohne Bedrohung aufzubauen, das Leitmotiv bei der Suche nach einer neuen Form der zwischenmenschlichen Beziehungen war – sowohl das Verhältnis zwischen Individuen als auch das zwischen Gruppen betreffend. Im antiken Griechenland war man sich bewusst, dass das Entstehen von Integrationsblöcken zur Beseitigung der Grenzen zwischen ihren Mitgliedern führt, wodurch Grenzkriege gegenstandslos würden. Als weiteres Ergebnis wurde eine größere Machtposition des integrierten Gefüges gegenüber denjenigen Staaten erwartet, die außerhalb der Integrationsfraktion verblieben (Marszaáek 2000: 19). Man kann auf Thales von Milet hinweisen, der den Ioniern riet, die griechischen Stadtstaaten zu einem Bundesstaat zusammenzuschließen. Im Mittelalter übernahm die katholische Kirche eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Vereinigungsidee. So präsentierte der Heilige Augustinus in seinem Werk „De Civitate Dei“ seine Idee von einem großen, alle Völker umfassenden friedlichen Imperium,
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und der Heilige Thomas von Aquin erdachte eine hierarchische Macht- und Weltstruktur. In seiner „Summa theologica“ wies er auf das Böse hin, dass den von Gott verbotenen Kriegen entspringt. Der Friede jedoch könne durch einen dem Papst unterstellten Monarchen an der Spitze erlangt werden. Dem Gedankengut der Vorrenaissance verpflichtet, sah Dante Alighieri an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert in seiner Schrift „De monarchia“ die Möglichkeit zum Frieden in der Entstehung einer Weltmonarchie, die von einem mit starker exklusiver Macht ausgestatteten Kaiser regiert werden sollte. Sein Vorbild war dabei das Römische Kaiserreich Pax Romana aus der Zeit des Augustus (geboren als Gaius Octavius). Zu den Wegbereitern der mittelalterlichen Vereinigungsidee gehört weiterhin Pierre Dubois, ein Rechtsgelehrter des französischen Königs Philipp IV. des Schönen. In seiner im 14. Jahrhundert veröffentlichten Schrift „De recuperatione terrae Sanctae“ postuliert er die Gründung einer europäischen Föderation. Unter Föderation verstand er ein Staatenbündnis, in das die einzelnen Nationalstaaten eingebunden sind. Auf diese Weise würde ein Staat entstehen, dessen Aufgabe es wäre, die Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik umzusetzen. Die dem Bündnis angehörenden Staaten müssten ihre Souveränität teilweise zugunsten der supranationalen Organe, die die Interessen des Staatenbundes als ganzes vertreten, aufgeben. Die Föderation sollte also über die nationale Ebene hinausgehende Zielsetzungen erfüllen, die die einzelnen Staaten nicht verwirklichen konnten. In der Neuzeit intensivierten sich nationale Fragen und Überlegungen zur staatlichen Souveränität. Souveränität sollte, als ein Garant von Beständigkeit und Effektivität, die Grundlage für die Entstehung von Integrationsfraktionen sein. Der böhmische König Georg von Podiebrad schlug beispielsweise im 15. Jahrhundert ein Bündnis der europäischen Herrscher christlichen Glaubens vor. Offensichtlich schwebten ihm konkrete politische Pläne vor, die ihn zu der Empfehlung veranlassten, sowohl den Kaiser als auch den Papst aus diesem Kreise auszuschließen. Sein Streben galt der Anerkennung des Primats des Nationalitätenprinzips, womit er die mittelalterlichen universalistischen Tendenzen zurückwies. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert knüpfte der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam wiederum an die universalistischen Konzepte des Mittelalters an. Die menschliche Gemeinschaft sollte auf der Grundlage christlicher Werte das Fundament für Frieden und Liebe bilden. Ein wichtiges Instrument sollte dabei ein internationales Schiedsgericht sein, das er als Mittel zur Lösung von Konflikten sah. Zu dieser Gruppe gehört auch der im 16. Jahrhundert lebende Herzog Maximilian de Sully, ein Berater des französischen Königs Heinrich IV. Auf seinen Rat hin setzte sich der König für die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa ein. Seine Grundaxiome bezogen sich auf die Regelung der Beziehungen zwischen den einzelnen christlichen Religionen und Territorien sowie auf ausgeglichene Machtverhältnisse zwischen den Staaten. Um dies zu verwirklichen, plante er, Europa in 15 selbständige Staaten zu gliedern und einen Christlichen Rat (Conseil très chrétien) einzuberufen. Als Befürworter der Integration wird auch der im 17. Jahrhundert wirkende Denker William Penn, ein englischer Quäker, geführt. Ein aufklärerischer Denker, der die Gründung der Europäischen Union voraussah, war Abbé Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre. Er schlug ein dauerhaftes, durch ein Parlament abgesichertes Staatenbündnis gleichberechtigter Staaten vor. Jedoch waren seine Visionen ihrer Zeit voraus und fanden kein Verständnis in Europa. An Saint-Pierres Ideen knüpfte Jean-Jacques Rousseau an, der feststellte, dass Monarchen zwei Ziele verfolgen: Die Vergrößerung ihres Königreiches und die Stärkung ihrer Alleinherrschaft.
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Im 18. Jahrhundert präsentierte der Philosoph Immanuel Kant in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ ein Konzept zur Sicherung des Weltfriedens. In diesem postuliert er die Einrichtung einer übergeordneten politischen Einheit, einer Weltföderation. Das Ziel dieses Bündnisses sollte vor allem die Sicherung des ewigen Friedens sein, das heißt, die Bewahrung eines Zustands, der seine Begründung im kategorischen Imperativ findet. Das Ziel der Föderation war nicht die Übernahme staatlicher Funktionen, vielmehr sollten die einzelnen Staaten ihre Kräfte darauf konzentrieren, den Mitgliedsstaaten Frieden und Freiheit zu garantieren. Bei dieser Zielsetzung war es unerlässlich, dass sich die Mitgliedsstaaten der Föderation festgelegten Regeln unterwarfen. Diese Konzeption steht in enger Beziehung zur Kantschen Fortschrittsidee, die die Entwicklung der Menschheit von einem moralischen Standpunkt aus als einen unaufhörlichen Prozess zum Besseren betrachtet (Filipowicz/Mleczarek/PieliĔski/TaĔski 1998: 119). In Kants „Ewigem Frieden“ heißt es entsprechend: „Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen“ (Kant 1977: 240). In Frankreich wurde Napoleon I. Bonapartes Konzeption relevant, der als Hauptziel die Vereinigung der zerschlagenen Völker verkündete. Die Völker sollten gleiche allgemeine Bildung genießen und bei übereinstimmenden Anschauungen und Interessen gemäß eines einheitlichen Rechts-, Regel- und Meinungskodex als eine große europäische Familie leben, in einer Struktur nach dem Vorbild des Kongresses der Amerikanischen Union im 18. Jahrhundert. Wie bereits angedeutet, versuchte Napoleon I. diese Ziele mit militärischen Mitteln umzusetzen und zweifelte auch dann nicht an deren Richtigkeit, als er bereits in der Verbannung auf der Insel St. Helena lebte. Ein anderer Denker dieser Epoche, Claude Henri de Saint-Simon, postulierte zusammen mit Augustin Thierry die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa, in denen die Gewalt durch parlamentarische Regierungen, welche die Oberhoheit eines Europäischen Parlamentes anerkennen, ausgeübt werden sollte. In einer solchen Föderation der europäischen Nationen sollte dem Europäischen Parlament die Aufgabe zukommen, über die Einhaltung der Rechte der Völker und gesellschaftlichen Gruppen zu wachen. Im 19. Jahrhundert waren viele der herausragenden Intellektuellen, die sich für föderale Strukturen in Europa aussprachen, mit der Ideologie der Gruppe „Junges Europa“ verbunden. Pro-europäisch äußerten sich Victor Hugo, Giuseppe Mazzini und Jules Michelet. Auch Vertreter früher sozialistischer Konzeptionen ergriffen in dieser Angelegenheit das Wort. Der bekannteste von ihnen ist vielleicht Pierre Joseph Proudhon, ein Anhänger des universellen Föderalismus, der sich für die Schaffung einer „Konföderation in der Konföderation“ einsetzte, in der kleine Verwaltungseinheiten die Bestandteile einer größeren übergeordneten Konföderation bilden sollten. Zu den Befürwortern der Vereinigten Staaten von Europa gehörte auch Robert Owen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das spezifische Einheitskonzept, das die Schöpfer der kommunistischen Idee vertraten. Karl Marx´ und Friedrich Engels´ Vision sah die Vereinigung des europäischen Proletariats vor. Ihre Parole lautete deshalb: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ In der Gruppe der Befürworter einer europäischen Integration befinden sich auch polnische Autoren. In ihren Konzeptionen steht die Integration Europas in enger Beziehung zu der Frage nach der Unabhängigkeit Polens. Stanisáaw Wawrzyniec Staszic (1755-1826) strebte die Schaffung einer Gesellschaftsordnung auf der Grundlage des Naturrechts an, das er für klug und gerecht hielt. Er vertrat die Meinung, dass ein Zusammenschluss der Slawen
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im Rahmen des russischen Kaiserreiches zu einer Vereinigung Europas sowie zur Liquidation von Kriegen und zur Entstehung eines dauerhaften Friedens führen könnte. Adam Jerzy Czartoryski (1770-1861) plädierte für die Einberufung eines Völkerbundes, der den Frieden unter den Völkern garantieren sollte. Die Gründung dieses Bündnisses sollte von der allmählichen Realisierung bestimmter Bedingungen abhängen: vom Fortschritt der Zivilisation, von der Korrektur staatlicher Grenzen entsprechend dem Nationalitätenprinzip und von der Etablierung liberaler Institutionen und Repräsentativregierungen in der Mehrzahl der Länder. Zwischen den integrierten Subjekten sollten festgelegte Regeln gelten, wobei Czartoryski Russland, Frankreich und England eine bedeutsame Funktion zudachte. Die damaligen Großmächte sollten innerhalb des Bündnisses eine wichtige Rolle spielen und die Beständigkeit des Bundes garantieren. Josef Maria Hoene-WroĔski (1776-1853) postulierte die Gründung eines Staatenbündnisses, dessen Ziel „die Sicherung der einzelnen Staaten und ihrer gegenseitigen Unabhängigkeit sowie das Streben nach einer Gesamtgesellschaft sein sollte“ (zitiert nach Marszaáek 2000: 23). Wojciech Bogumiá JastrzĊbowski (1799-1882) vertrat in Anlehnung an den Gedanken des Livius „Pax data in has leges“ die Meinung, dass der Schlüssel zum Frieden das Recht sei, das kluge, gerechte und gleiche Recht. Er ist der Verfasser eines „Entwurfs einer Europäischen Verfassung“. Ein europäischer Kongress sollte europäisches Recht beschließen, der Sejm hingegen nationales Recht setzen. Die Aufgabe des Sejm wäre somit, für das Leben und die Freiheit eines jeden Mitglieds der Nation Sorge zu tragen, die des Kongresses, sich um die Existenz, die Unabhängigkeit und das Eigentum eines jeden Volkes zu kümmern. Zum Kreis der Einigungsbefürworter gehört auch Josef Heronimus Retinger (18881960), der für eine europäische Integration warb. Er vertrat die Ansicht, dass zu diesem Zweck die Schaffung von Subföderationen notwendig sei, die sich dann wiederum zu einer europäischen Gesamtföderation zusammenschließen sollten. An Retingers Verdienste für die engere Zusammenarbeit zwischen den Benelux-Staaten erinnert Paul-Henri Spaak in seinen Tagebüchern (zitiert nach Witkowski 2000: 8). Auf Initiative von J. Retinger und P. van Zeeland wurde die unabhängige „Liga für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ gegründet, die einen ersten Schritt in Richtung eines vereinigten Europas darstellen sollte. Einen wichtigen Beitrag zur europäischen Idee leisteten auch deutsche Denker. Man kann zwei Denkströmungen unterscheiden: 1. Anknüpfungen an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und den Ausbau zu Mitteleuropakonzeptionen und 2. eine Strömung, die die Notwendigkeit zur Expansion mit einer internationalen Arbeitsteilung verband und in das Konzept einer Großraumwirtschaft überführte. Zu der ersten Richtung zählt man Denker wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich List, Constantin Frantz, Fürst Felix zu Schwarzenberg, Karl Ludwig von Bruck, Leo von Caprivi, Alexander Peez, Friedrich Ratzel und Friedrich Naumann. Der zweiten Strömung gehören an: August Satorius von Waltershausen, Roger Battaglia, Karl Renner und Elemer Hantos. In vielen deutschen Europakonzeptionen dominierte ein protektionistischer Ansatz, der aus der besonderen Position der deutschen Nation abgeleitet wurde. Später führte diese Denkweise zu nationalistischen Verallgemeinerungen, die schließlich den Nährboden für die Theorien und Praktiken der Nationalsozialisten bildeten. Eine rationalere Denkrichtung innerhalb der deutschen Doktrin folgerte wiederum die Notwendigkeit zur Integration aus den Veränderungen in der Weltwirtschaft.
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Auch in Frankreich entstanden Konzeptionen für eine Einigung Europas. Sie hatten ihren Ursprung oft im ambivalenten Verhältnis zu Großbritannien, das in historischen Kategorien als Gegner, oft sogar als Feind Frankreichs wahrgenommen wurde. Zu den französischen Befürwortern der Paneuropa-Bewegung gehören Edouard Herriot und Aristide Briand. So plädierte Briand 1929 vor dem Völkerbund für die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa. Er befürwortete eine europäische Integration, die durch drei Pfeiler – Frankreich, Deutschland und Großbritannien – gestützt werden sollte. Dieses Bündnis sollte in wirtschaftlicher Hinsicht gegen den Druck des amerikanischen Kapitals gerichtet sein. Während sein Vorschlag in Frankreich mit Zurückhaltung aufgenommen wurde, verstand man ihn in Deutschland als eine Fortführung der Gedanken Kalergis. Auch viele andere europäische Staaten nahmen das sogenannte „Briand-Memorandum“ aus dem Jahre 1930, das die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa vorschlug, mit Skepsis auf. Ebenfalls in der Zwischenkriegszeit entwickelte André Tardieu ein Konzept für eine „Föderation der Donaustaaten“, das zunächst von André François-Poncet vorbereitet worden war. Die Konzeption sah die Intensivierung der Pläne für die wirtschaftliche Entwicklung der Staaten in dieser Region – Österreich, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien und Ungarn – vor. Dem stand vor allem die Weltwirtschaftskrise im Weg. Eine wichtige Rolle spielte im 20. Jahrhundert schließlich der Denker und Autor des Buches „Pan-Europa“, Richard Nicolaus Coudenhove-Kalergi, der als Begründer der paneuropäischen Doktrin beziehungsweise der gleichnamigen Bewegung gilt. Der Sohn eines österreichischen Aristokraten und einer Japanerin sah die Gefahr, die vom europäischen Nationalismus, Imperialismus und Totalitarismus sowie von der dominanten Rolle der USA in der Welt ausging. Der Imperialismus sei eng mit dem Nationalismus verbunden, der Totalitarismus hingegen mit Russland – trotz seiner ideologischen Provenienz. Der Europäer sollte nach Coudenhove-Kalergi frei von jeglichem Nationalismus und weltoffen sein. Dieser Mensch sollte in den Vereinigten Staaten von Europa leben, einer politischen und wirtschaftlichen Einheit. Auf diese Weise könnte eine europäische Nation mit einem gemeinsamen Stamm, aber unterschiedlichen Zweigen entstehen. Coudenhove-Kalergis Idee, aber auch sein aktives Auftreten inspirierten das pro-europäische Denken nach dem Zweiten Weltkrieg. Er schuf die Kontur einer Europäischen Bundesverfassung (CoudenhoveKalergi 1998).
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Europäische Theorien und Integrationskonzeptionen nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhren die Integrationsprozesse in Europa eine Beschleunigung. Diese war eine Folge der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation. Vor allem unter Westeuropäern wurde pro-europäisches Denken dominant. Die neue politische Konfiguration – das Resultat der Beteiligung der Sowjetunion an der AntiHitler-Koalition und der Einnahme weiter Teile Europas durch die Rote Armee – zwang den Westen dazu, die Vereinigungsideen in die Praxis umzusetzen. Darüber hinaus verlangten die empfindlichen materiellen Schäden, die infolge der Kriegshandlungen entstanden waren, nach der Aufnahme eines Wiederaufbauprogramms. Es stellte sich nicht nur die Frage nach den gemeinsamen Zielen, sondern auch nach den Methoden und Mitteln, durch die sie erreicht werden konnten. Trotz der genannten Faktoren blieben zwischen den Staa-
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ten, die die Integration eingehen wollten, wirtschaftliche und politische Divergenzen bestehen. Eine Gruppe Intellektueller und Politiker setzte sich das klare Ziel, den Kontinent zu einen. Meist werden sie „die Väter“ Europas genannt, die in keiner Darstellung übergangen werden dürfen: Alcide de Gasperi, der Politiker der italienischen Christdemokratie, auf dessen Betreiben sich Italien am Integrationsprozess beteiligte; Robert Schuman, der französische Christdemokrat, Staatsmann und Fürsprecher der deutsch-französischen Versöhnung; Jean Monnet, der französische Politiker und Initiator der gemeinsamen Kontrolle über die Ausbeutung der Kohle- und Stahlvorkommen in Frankreich und Westdeutschland; Konrad Adenauer, der deutsche Staatsmann und Vorsitzende der deutschen Christdemokraten, der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Befürworter der europäischen Integration; Paul-Henri Spaak, der belgische Politiker, dessen Bericht die Grundlage der Römischen Verträge wurde; sowie Winston Leonard Spencer Churchill, der britische Staatsmann, der u.a. wegen seiner Züricher Rede von 1946 europapolitische Kontur gewann. Sie alle waren zentrale Akteure des Vereinigungsprozesses. Teils bewusst, teils unbewusst stützten sich die Akteure auf einige wichtige Theorien des Integrationsprozesses.2 Die funktionalistische Theorie misst dem Funktionsbegriff eine besondere Bedeutung bei und postuliert die Suche nach funktionalen Abhängigkeiten. Am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrat David Mitrany diesen Ansatz auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen. Seine Annahmen gründeten auf einer Kritik an föderalistischen Postulaten (siehe unten). Er teilte nicht die Ansicht, dass Föderationen erfolgreich Kriege eliminieren können und erwartete zudem ernsthafte Probleme beim praktischen Aufbau einer solchen Konstruktion. Deshalb schlug er vor, ein „funktionierendes Friedenssystem“ aufzubauen, das auf der Zunahme des Einflusses internationaler Organisationen basieren sollte, die integrierend auf die Interessen und das Leben aller Nationen einwirken würden. Sein Ansatz ging zudem davon aus, dass in bestimmten Bereichen getrenntes Handeln notwendig sei. Das sollte jedoch gemeinsame Unternehmungen in kontinentalem (z.B. Bahn), interkontinentalem (z.B. Gütertransport zur See) und globalem (z.B. Flugsysteme und Radiosysteme) Umfang nicht ausschließen. Die Funktion sollte die Exekutivinstrumente für angemessenes Handeln bestimmen. Die neofunktionalistische Theorie, wie sie in verschiedenen Varianten von Ernst Haas, Leon Lindberg, Donald Puchala, Stuart Scheingold und Philippe Schmitter vertreten wurde und wird, sieht die Möglichkeit eines Regierens außerhalb der nationalstaatlichen Ebene vor. Sie versteht Politik als einen fortschreitenden Problemlösungsprozess – durch die schrittweise Übergabe von Problemlösungskompetenzen von der nationalen an die internationale Ebene, aus europäischem Blickwinkel an die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft. Damit verbunden ist eine positive Bewertung der Leistungsfähigkeit der europäischen Institutionen, die zunehmend mehr Ansehen und Vertrauen unter den integrierten Subjekten erlangen. Es wird ein allmähliches spill-over der Integration auf verschiedene Bereiche und Ebenen vorausgesetzt. Dabei wird von einem funktionalen und politischen spill-over ausgegangen. Im ersten Fall entsteht ein spezifischer Integrationsdruck, der zur unaufhörlichen Erweiterung der Integration führt. Im zweiten Fall tritt ein selbständiger Prozess ein, der zur Stärkung der gegründeten Gemeinschaftsinstitutionen führt. In den 2 An dieser Stelle werden lediglich die Ansätze mit einer ausgeprägten ideengeschichtlichen Dimension vorgestellt; für weitere Theorien und Ansätze der europäischen Integration siehe den Beitrag von Beichelt in diesem Band.
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Augen der Funktionalisten spielt die Europäische Kommission als Modell einer modernen, supranationalen Bürokratie eine besonders wichtige Rolle. Der neofunktionalistische Ansatz wird in der Theorie der Internationalen Beziehungen vor allem aus der Position des Realismus kritisiert. Die Theorie des intergouvernementalen Realismus legte ihren Schwerpunkt auf die Bedeutung internationaler Verhandlungen zwischen den am Integrationsprozess beteiligten Subjekten. Sie betrachtete die Staaten als Billardkugeln. Eine modifizierte Variante der realistischen Theorie, die als liberal-intergouvernementaler Ansatz bezeichnet wird, geht von folgenden Annahmen aus: Die Staaten verhalten sich rational; Präferenzen, die das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft betreffen, werden formuliert. Der liberal-intergouvernementale Ansatz analysiert Verhandlungen zwischen den Integrationspartnern auf internationaler Ebene (JesieĔ 2000: 42). Den bis hier vorgestellten Theorien sind eine Reihe von Ansätzen entgegenzustellen, die ihren Ursprung in der politischen Praxis hatten oder haben: der Föderalismus, die Monnet-Methode, das Konzept eines Europa als freier Markt und das eines flexiblen Europa. Das Konzept für einen europaweiten Föderalismus wurde in den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geboren. Die Gründe für sein Entstehen sind in den Bedingungen zu sehen, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führten. Der in der Krise steckende Nationalstaat wird als einer der Ausgangspunkte des Konzepts gesehen. Die Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs bestätigten die Befürworter dieses Ansatzes in ihrer Überzeugung, dass die Nationalstaaten nicht in der Lage waren, den Nationalismus zu bezwingen, so dass sie auf wirtschaftlicher Ebene rivalisierten, ohne auf moralische Grundsätze zu achten. Nur die Aufnahme einer engen Zusammenarbeit auf vielen Ebenen könne helfen, den bisherigen Standpunkt zu überwinden. Der Integrationsprozess wurde von den Vereinigten Staaten unterstützt, die in diesem einen Nutzen für Europas Stabilität und somit auch einen Gewinn für die Welt sahen. Nach dem Föderalismuskonzept bleiben die Eigenheiten der staatlichen Bestandteile erhalten, aber das Ganze erhält neue, in den Bestandteilen nicht enthaltene spezifische Eigenschaften – wir haben es also mit einem Prozess der Aggregation zu tun. Das Ziel des Föderalismus ist das Entstehen einer Einheit bei gleichzeitiger Akzeptanz von Verschiedenheit, mit der Absicht, eine neue Struktur zu erlangen, die vom Standpunkt der sie bildenden Elemente aus funktionell ist. Ein kompliziertes Problem ist die Tatsache, dass der Vereinigungsprozess in einer Zeit abläuft, in der ein Großteil der daran beteiligten Bevölkerung noch die traditionelle Bindung an den Nationalstaat aufweist, denn diese Einstellung verbindet sich mit einem gewissen Misstrauen und oft sogar Unwillen gegenüber der Schaffung föderaler Strukturen. Die Ursachen für diesen Sachverhalt sind unterschiedlich und reichen von Bedenken bezüglich der Durchsetzung nationaler und ethnischer Interessen bis zu Gruppeninteressen wirtschaftlicher Art. Es ist nicht vorhersehbar, wie das Endergebnis dieses Aufbaus föderaler Strukturen aussehen wird, denn der unterschiedliche Entwicklungsstand der einzelnen Subjekte könnte ein reales Hindernis für die Schaffung eines neuen staatlichen Organismus darstellen. Zum Kreis der Föderalisten werden unter anderem Etienne Hirsch, Pierre Uri, Robert Triffin, Paul-Henri Spaak und Altiero Spinelli gezählt. Die Monnet-Methode, mancherorts auch Gemeinschaftsmethode genannt, sieht vor, die Integration durch das Abstecken wirtschaftlicher Ziele zu realisieren. Dieser Vorschlag wurde im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften bereits in den 1950er-Jahren umgesetzt. Diese Vorgehensweise zog die Einrichtung der Europäischen Kommission (zu Be-
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ginn die „Hohe Behörde“) nach sich, die die Aufsicht über die Einhaltung und Umsetzung der Gründungsverträge führt. Später wurde dieses Instrument durch die Einführung und sukzessive Stärkung des Europäischen Gerichtshofes gestärkt. Die Monnet-Methode zwingt die supranationalen und intergouvernementalen Institutionen der EU zur täglichen Zusammenarbeit. Es ist eine äußerst schwierige, aber dennoch mögliche Aufgabe, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, nationale mit supranationalen Interessen zu vereinbaren. Die Voraussetzung dafür ist der politische Wille zur Integration. Aus taktischen Gründen legt die Monnet-Methode nicht ausführlich die politischen Ziele der Integration fest. Diese sind eher im taktischen Bereich angesiedelt, orientieren sich also am aktuellen Bedarf nach Regelungen bestimmter politischer Fragen, wie z.B. die Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk. Jedoch weisen die Anhänger dieser als Ansatz zunehmend akzeptierten Vorgehensweise – z.B. bei der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung, des Euro – darauf hin, dass die Entstehung eines europäischen Staatsorganismus als Ziel nicht ausgeschlossen sei. Die mit der Monnet-Methode konkurrierende Konzeption ist die Konzeption Europas als freier Markt. Ihr Hauptbefürworter war und ist Großbritannien, das in den fünfziger Jahren starke Zurückhaltung gegenüber der Idee eines vereinigten Europa wahrte. Allerdings wandelte sich diese Haltung recht schnell, da sich die mit dem Commonwealth verbundenen Erwartungen als wenig realistisch erwiesen. In den sechziger Jahren wurde der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft von Frankreich verhindert, das auf der europäischen Bühne die Hauptrolle spielen wollte. Erst der Rücktritt von General Charles de Gaulle ermöglichte es Großbritannien, in den Kreis der Gemeinschaftsmitglieder aufgenommen zu werden. Das hat das Verhältnis der Briten zur politischen Integration jedoch nicht verändert. Sie wollten die Europäische Gemeinschaft als eine Wirtschaftsgemeinschaft sehen, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit, am besten im Handelsbereich, fördern sollte. Angesichts des raschen Entkolonialisierungsprozesses war Großbritannien gezwungen gewesen, die eigene Lage realistisch zu beurteilen. Die positiven Erfahrungen, die sie mit dem Freihandel gemacht hatten, bestärkten die Briten zunächst in ihrer Überzeugung, dass die Europäische Gemeinschaft genauso funktionieren sollte. Als sich jedoch herausstellte, dass die Gemeinschaftsmethode erfolgreich war, revidierten sie ihre Meinung und reichten einen Antrag auf Mitgliedschaft ein. Das bedeutete aber nicht eine Unterordnung unter Monnets Konzept. Das Konzept eines flexiblen Europa ist eine modifizierte Form der gegenwärtig angewendeten Gemeinschaftsmethode. Bedenkt man die Heterogenität der beteiligten Subjekte und die wachsende Zahl der Mitgliedsstaaten, dann ist Flexibilität zur Lösung der Probleme, die die Integration mit sich bringt, unerlässlich. Sie kann besonders dann hilfreich sein, wenn in einem nicht einmütigen Entscheidungsprozess Schwierigkeiten auftreten. Ohne sie wäre es sehr schwierig, manchmal geradezu unmöglich, gemeinsame Entscheidungen zu fällen. Einer der Mechanismen der Flexibilität lautet, vorläufige Ausnahmen von der Verpflichtung auf Teile des acquis communautaire zu gewähren. Übergangsfristen sind ein klassischer Fall von innervertraglicher Flexibilität. Eine andere Variante ist eine Lösung vom Typus Ausnahme oder Abweichung (opt-out). Eine weitere Möglichkeit ist außervertragliche Flexibilität, die ein schnelleres Fortschreiten der Integration ermöglicht. Es gibt viele Klassifikationen von Flexibilität: Meist werden drei Formen genannt: Die Integration à la carte, in konzentrischen Kreisen und eine avantgardistische Form um einen harten Kern. Die Integration à la carte sieht eine relativ freie Wahl aus den Integrationsan-
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geboten vor. Die beteiligten Subjekte können frei bestimmen, in welchen Bereichen sie kooperieren wollen. Dieses Konzept stimmt in gewisser Weise mit dem britischen Verständnis von Integration überein; das Land nimmt bekanntlich nicht am Schengener Abkommen und auch nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion teil. Die Formel von den konzentrischen Kreisen geht von der Existenz verschiedener Stufen der Integration aus, auf denen die verschiedenen Mitgliedsstaaten stehen. Der avantgardistische Ansatz um einen harten Kern berücksichtigt die Möglichkeit, dass nur eine bestimmte Gruppe der Mitgliedsstaaten sich an weitgehenden Projekten der Zusammenarbeit beteiligt. Es lassen sich viele Varianten dieses Modells nennen, zum Beispiel die „variable Geometrie“ oder die „Gleise mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten“. Generell ist Flexibilität ein wichtiges Element der Verfassungsordnung der Gemeinschaft. Obwohl sie nirgends präzise formuliert wurde, ist sie eine Antwort auf die Schwierigkeiten, die im Vereinigungsprozess der um Konsens ringenden Staaten auftreten. Der Wille zur Integration bildet das wichtigste Element für die Ausbildung eines Mechanismus, der es erlaubt, auf neue, veränderte Situationen zu reagieren. Nicht immer gelingt es, ein Modell zu erstellen, das in der Lage wäre, alle Bedingungen einer sich ständig wandelnden Welt vorherzusehen. *** Oft wird gesagt, Europa solle das gemeinsame Haus der Europäer sein. Diese Metapher gibt treffend die Verfasstheit der Europäischen Union wieder. In Polen wird ein anderes Bild angeführt: Europa ist eine Kathedrale, die nicht aus Stein und Glas gebaut ist, sondern aus klugen Köpfen und Intelligenz (Brodecki 2002: 15). Damit diese Kathedrale entstehen konnte, musste Europa einen schwierigen Weg zurücklegen, um schließlich die Ideen der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – erneut zu verinnerlichen. Nachdem sie in den USA übernommen wurden, kehrten diese Ideen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshallplan nach Europa zurück. Es ist schwierig, sich die europäische Integration ohne die Axiome von Solidarität und Subsidiarität vorzustellen. Diese Ideen fanden in konkreten Konzepten Ausdruck, die man, mit der Zustimmung und gemäß der Erwartungen sehr vieler Menschen, in die Realität umzusetzen begann. Auch wenn auf institutioneller Ebene unterschiedliche Vorstellungen davon herrschen, wie das vereinigte Europa aussehen soll, ist man doch zu einem Konsens gekommen, welche Richtung es einschlagen soll, nämlich: weitere Integration.
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Timm Beichelt
Politik in Europa zwischen Nationalstaaten und Europäischer Union
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Einleitung
Das Studium der europäischen Politik, d.h. im Wesentlichen der politischen Prozesse in der Europäischen Union (EU) sowie deren Wechselwirkungen mit benachbarten Staaten und Regionen, ist innerhalb der Politikwissenschaft nicht eindeutig verortet. An den meisten europäischen, auf jeden Fall an den deutschen Universitäten wurde der europäischen Politik noch vor wenigen Jahren nicht in institutionalisierter Form Aufmerksamkeit geschenkt. Europäische Politik wurde zunächst im Rahmen einer Subdisziplin der Politikwissenschaft, den Internationalen Beziehungen, untersucht. Das lag in erster Linie daran, dass der europäische Integrationsprozess in den ersten Jahrzehnten zwar erstaunliche Ergebnisse bei der Überwindung alter Feindschaften zwischen den europäischen Staaten brachte, in globaler Perspektive jedoch lediglich als ein Sonderfall regionaler Integrationsbündnisse galt. Als solcher wurde die Europäische Gemeinschaft (EG) und sogar noch die EU (seit 1991/92) behandelt (List u.a. 1995: 84). In der EG hatten die Nationalstaaten zwar in außergewöhnlichem Umfang Souveränitätsrechte an die Zentren der Integration in Brüssel (Ministerrat, Kommission), Luxemburg (Europäischer Gerichtshof, EuGH) und Straßburg (Europäisches Parlament) abgegeben. Im Prinzip handelte es sich bei der EG jedoch um eine internationale Organisation wie viele andere. Aber nach Jahren der „Eurosklerose“ in den 1970er- und der ersten Hälfte der 1980erJahre beschleunigte und vertiefte sich die Integration mit dem Amtsantritt der EUKommission unter dem Franzosen Jacques Delors und der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA, 1986) sowie den Verträgen von Maastricht (1991), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) zusehends – die Einrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung des Euro und die Etablierung des Schengen-Raumes sind nur zwei unter mehreren Beispielen. Zeitgleich vollzog sich in der EG/EU-Forschung ein Wandel. Der Untersuchungsgegenstand „europäische Integration“ vergrößerte sich stetig, sowohl hinsichtlich der betroffenen Länder in West-, Süd- und Nordeuropa als auch hinsichtlich der betroffenen Politikbereiche. Gleichzeitig wurde die EU-Forschung immer wichtiger. Dies bedeutete jedoch auch, dass die politikwissenschaftliche Verankerung im Bereich der Internationalen Politik nach und nach aufgebrochen werden musste. Zwar verfügen die Nationalstaaten der EU nach wie vor über den Status völkerrechtlich eigenständiger Subjekte. Insofern hat die Behandlung der EU im Paradigma der Internationalen Politik durchaus ihren Sinn, zumal sich die Außen- und Sicherheitspolitik der EU trotz aller Schwächen weiter fortentwickelt. Durch die fortschreitende Vertiefung wurde und wird jedoch die Substanz der Politik in den Nationalstaaten deutlich tangiert. Bereits Mitte der 1980er-Jahre äußerte Jacques Delors, etwa 80% der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten werde durch
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Brüssel maßgeblich beeinflusst (Hölscheidt 2001: 56). Obwohl diese Schätzung quantitativ kaum zu verifizieren ist, hat sich die Bedeutung der europäischen Ebene für die nationale Politik seither noch einmal deutlich verstärkt. Zunehmend öffnet sich daher die Subdisziplin der Vergleichenden Regierungslehre der europäischen Ebene (Schmidt 2002); bisweilen wird sie sogar als der am besten geeignete Ansatz zum Verständnis der EU-Politik angesehen (Hix 1994). Entlang dieser Entwicklungslinie werden in diesem Text zunächst die „traditionellen“ Ansätze der EU-Forschung vorgestellt (Abschnitt 2), bevor die vergleichende Sichtweise auf die EU als „politisches System“ (Abschnitt 3) behandelt wird. Abgeschlossen wird der Text dann durch einen Ausblick auf Herausforderungen an die EU-Forschung (Abschnitt 4), die sich für die Politikwissenschaft im Rahmen der Europastudien ergeben.
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Die Paradigmen der EU-Integrationsforschung
Der Begriff der Integration wurde im 19. Jahrhundert durch Soziologen wie Auguste Comte, Herbert Spencer und Émile Durkheim in die Sozialwissenschaft eingeführt. Besonders Spencer und Durkheim verbanden Integration mit evolutionärer gesellschaftlicher Differenzierung in Modernisierungsprozessen. Bis heute wird der Integrationsbegriff deshalb oft funktionalistisch gebraucht. Wie viele andere Theoretiker der 1940er- bis 1960er-Jahre ließ der in den USA lehrende Politikwissenschaftler Karl Deutsch eine solche funktionale Logik in die frühe EG/EU-Forschung einfließen. Er sah soziale Kommunikation (social communication) als wichtigste Triebfeder für die mit Arbeitsteilung und der Teilautonomisierung der Gesellschaft gegenüber staatlicher Herrschaft verbundene nationale Integration vormals disparater Regionen und Bevölkerungen (Deutsch 1953; Deutsch 1992) und übertrug diesen Ansatz des „Trans-Aktionalismus“ auch auf die europäische Ebene. Eine der einflussreichsten Theorieschulen jener Zeit hieß sogar (Neo)funktionalismus: Die Überwindung des Krieges in Europa sollte mit der Implementierung gemeinsamer Aufgabenbereiche und Institutionen geleistet werden, aus denen weitere Integrationsschritte fast zwangsläufig erwartet wurden (siehe unten). Durch diese funktionalistische Grundierung bekam der Integrationsbegriff eine normative Färbung. Nach zwei katastrophalen Weltkriegen erschien politische Integration für die Bewahrung des Friedens ohne Alternative. Die überlegene Effizienz des integrierten Systems wurde angesichts der global abnehmenden Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten fraglos angenommen. Politische Konflikte, die innerhalb Europas mit der steigenden Integration zwangsläufig zunehmen mussten, wurden als Schauläufe aus einer früheren, überwunden geglaubten Zeit interpretiert. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl wurde beispielsweise nie müde, eine Rückkehr zu „machtpolitischen Rivalitäten“ bei den politischen Auseinandersetzungen in Europa anzuprangern (so z.B. bei seiner europapolitischen Regierungserklärung am 25. September 1992, vgl. Plessen 2003: 354). Mit anderen Worten: Die europäische Integration wurden über lange Jahre im Hinblick auf ihre Zwangsläufigkeit, ihre Regulierungs- und Steuerungsfähigkeit und ihre harmonisierende Wirkung idealisiert. Eine wichtige Entwicklung der EU-Forschung in den letzten Jahren ist die meist implizite partielle Zurückweisung dieser Idealisierung. Das hat v.a. mit der Entglorifizierung der europäischen Integration durch den Übergang ins business as usual zu tun, für die die
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Ablehnungen der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden im Frühsommer 2005 stehen. Während die früheren Ansätze der EU-Integrationsforschung sich mit einer prospektiven westeuropäischen Friedensarchitektur beschäftigten, gibt es seit 1989/91 kein rechtes Negativmodell mehr, gegen das sich grundsätzliche Befürworter des Integrationsprozesses abgrenzen müssten. Folglich können die funktionalen Defizite der Integration – die relative Bürgerferne, die Hyperkomplexität, die schwache Effizienz – als das angesehen werden, was sie letztlich sind: potenzielle Gefahren für die Stabilität des gesamten Gebildes. Das Verblassen des normativen Anstrichs spiegelt sich auch in der Auswahl der im Folgenden diskutierten Ansätze der EU-Forschung wider. Nicht mehr die Meinungsverschiedenheiten zwischen „Realisten“ und „Idealisten“, und erst recht nicht der Gegensatz zwischen Föderalisten und Funktionalisten prägen heute die wissenschaftliche Debatte. Während in der politischen Öffentlichkeit vielleicht stärker als in den letzten Jahren über das Ziel – EU-Verfassung? – und über die Grenzen – EU-Beitritt der Türkei? – diskutiert wird, sind in der Wissenschaft nüchterne, d.h. deskriptiv-analytisch orientierte Ansätze en vogue.
2.1 Theoretische und theorieähnliche Ansätze der EU-Integrationsforschung Parallel zur Dynamik der europäischen Integration können drei Phasen der Theoriebildung der EU-Integrationsforschung unterschieden werden. (1) Die frühen Theoretiker der europäischen Integration wurden von der Frage umgetrieben, wie Krieg vermieden werden konnte. Aus heutiger Sicht hatten dabei vor allem idealistische Entwürfe eine bleibende Wirkung. Als idealistisch galten Entwürfe, die auf die Überwindung des Kriegs durch überstaatliche Zusammenschlüsse setzten – nicht zuletzt in der Tradition Kants, der in seinem Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ (Kant 1984) einen „Föderalismus“ bzw. einen „Friedensbund“ der europäischen Staaten forderte. Idealistisch war zweifellos David Mitranys Konzept des Funktionalismus, in dem „internationale Agenturen“ für die technokratische Bearbeitung ökonomischer und sozialer Probleme zuständig sein sollten (Mitrany 1943). Und auch die andere der heute noch referierten Strömungen aus jener Zeit, die des europäischen Föderalismus, setzte auf Institutionenbildung. Im Gegensatz zum Funktionalismus wurde allerdings nicht nach Agenturen, sondern auf viel höherem Niveau nach einer europäischen Verfassung gerufen (z.B. Spinelli 1972 (1957)). Dem Idealismus gegenüber stand die realistische Schule. In ihr sind in der Nachkriegszeit Entwürfe zur Vermeidung eines erneuten Krieges in einer globalen Perspektive entstanden. Der Kalte Krieg mit der Truman-Doktrin des containment, der Eindämmung des Kommunismus am Ende der 1940er-Jahre, war keineswegs auf Europa beschränkt. Allerdings nahm das geteilte Europa auch nicht den Rang einer Region unter vielen ein, sondern es enthielt die wichtigste Bruchlinie zwischen den Blöcken in Ost und West. Die wichtigste Einheit realistischen Denkens war seit dem 19. Jahrhundert, als das Gleichgewichtsdenken im Hinblick auf die großen Mächte Europas die internationale Politik dominierte, der Staat (Morgenthau 1948). In der Frühphase des Kalten Krieges hatten aber einzelne Staaten an Gewicht verloren; für die Frage von Krieg und Frieden waren mit den USA und der Sowjetunion nur noch zwei von ihnen wirklich von Relevanz. Mit dem Nordatlantikpakt (NATO) und später auch der EG/EU entwickelten sich „Sicherheitsgemein-
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schaften“ (Deutsch 1992), innerhalb derer in Westeuropa (plus Nordamerika) ein Krieg tatsächlich wenig wahrscheinlich erschien. (2) Die nächste Etappe der Integrationsforschung widmete sich der Frage, wie der andauernde Integrationsprozess in Westeuropa begründet werden könne. Allein die Art der Fragestellung weist darauf hin, dass sich in dieser Phase fast alles um die Stellung des Nationalstaats im institutionellen Tableau drehte. Der Realismus hatte sich auf das Grundaxiom der Verfolgung eigennütziger Interessen durch Staaten in einem anarchischen internationalen System gestützt. Was sich in der EG an zwischenstaatlicher Kooperation entwickelt hatte, sah aber gar nicht so sehr nach Anarchie aus. Vielmehr hatten die beteiligten Staaten wenigstens in manchen Bereichen ganz freiwillig auf ihre Souveränität verzichtet. Als Reaktion entwickelte sich aus dem Realismus der Neorealismus, nach dem auch durch ein anarchisches System Ordnung produziert werden kann. In dieser Ordnung ist allerdings die Kooperation zwischen den Staaten immer von deren Willen zum Überleben dominiert. In einer sich internationalisierenden Wirtschaft und unter der Drohung des Ost-WestKonflikts kann es dem Überleben der einzelnen Nationalstaaten durchaus förderlich sein, in einzelnen Bereichen die Ressourcen zusammenzulegen (Waltz 1979). Vertreter des Neorealismus vertraten jedoch die Meinung, der Prozess der europäischen Integration bleibe unter der Kontrolle nationaler Regierungen, die immer nur so viel Souveränität abzugeben bereit seien, wie es ihrem Interessenkalkül entspreche (Moravcsik 1991). Trotz seiner allgemein dominierenden Stellung in der Lehre der Internationalen Politik befand sich realistisches Denken zu jener Zeit eher in der Defensive, was den europäischen Einigungsprozess anging. Der aus dem „naiven“ Funktionalismus entwickelte Neofunktionalismus hatte die Erklärungshoheit inne (Haas 1968; Lindberg/Scheingold 1970), was allerdings zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass der Ansatz im nachhinein und allein im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess entwickelt wurde. Dem Neorealismus war es dagegen darum gegangen, seine vom Anspruch her allgemeingültigen Theoreme auch über den Sonderfall der europäischen Integration hinweg zu retten. Die Kernaussage des Neofunktionalismus bestand darin, dass von einer institutionellen Integration in einigen Wirtschaftssektoren funktionale Zwänge zur Integration in benachbarten Sektoren ausgehen, die im Laufe der Zeit zu einer Verschiebung der „Loyalitäten, Erwartungen und politischen Aktivitäten auf ein neues Zentrum“ führen (Haas 1968: 16). Der wichtigste Beleg hierfür bestand nach neofunktionalistischer Auffassung in der Entwicklung von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1951 über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957/58) für alle Industriegüter zur Gründung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) im Jahr 1962. Eine ungebrochene Fortsetzung dieses Trends hätte wohl tatsächlich das realistische Denken nachhaltig erschüttert, denn sie hätte eine Ablösung nationalstaatlicher Machtpolitik durch eine supranationale Konsenspolitik bedeutet. Allerdings ging es bei der Integration nicht mit gleichem Tempo weiter, so dass die französische Politik des leeren Stuhls – es ging um die Bewahrung nationaler Entscheidungsfreiräume in der GAP – und die wenige Jahre später diagnostizierte „Eurosklerose“ auch den Integrationsenthusiasmus der Neofunktionalisten dämpften. Die Ausführungen verdeutlichen auch, warum der Neofunktionalismus kaum als Theorie im engeren Sinne gesehen werden kann: Erstens stützte sich der Ansatz auf nur einen Fall. Zweitens waren seine normativen Vorstellungen über Wünschbares nicht hinreichend von den deskriptiv-analytischen Bestandteilen getrennt.
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Zeitlich etwas später, aber bezogen auf den Anspruch der Erklärung des Integrationsprozesses wenigstens teilweise auf einer Ebene mit dem Neorealismus und dem Neofunktionalismus, widmete sich die metatheoretische Schule des Konstruktivismus der europäischen Integration. Im Konstruktivismus wird davon ausgegangen, dass Ideen die materielle Welt in entscheidendem Maße mitbeeinflussen. Entsprechend fragt der Zweig des Sozialkonstruktivismus nach dem Charakter sozialer Realität (Ruggie 1998) und misst hier den in sozialen Erfahrungen erworbenen Grundeinstellungen große Bedeutung bei. Die wachsende soziale Interaktion in Europa hat demnach Konsequenzen für die Sichtweise der nationalen Regierungen auf die Internationale Politik und der Bevölkerungen auf den Europäisierungsprozess: Da die soziale Realität wenigstens in Westeuropa durch die europäische Einigung geprägt war, stützen und beeinflussen Ideen, Meinungen und Einstellungen der Europäer eben jenen Integrationsprozess in vielleicht entscheidender Weise (vgl. Christiansen/Jørgensen/Wiener 2001). (3) Im Laufe der Jahre wurde die Frage immer wichtiger, wie denn nun die EG/EU funktioniert. In den Verträgen von Paris (1951) und Rom (1957), der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA, 1986) sowie den Verträgen von Maastricht (1991), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) wurden jeweils Kompetenzbereiche auf die europäische Ebene verschoben und europäische Institutionen entweder neu geschaffen oder in ihrer Position gestärkt. Konnte man in den 1970er Jahren vielleicht von Eurosklerose sprechen, so sind seit der EEA kein einziges Mal mehr als sechs Jahre ohne – kleinere oder größere – Vertiefungen des europäischen Integrationsprozesses vergangen. Die Frage, warum es zu diesen Integrationsschritten kommen konnte, blieb dadurch zwar weiter aktuell. Angesichts der wachsenden Relevanz der europäischen Ebene wuchs allerdings der Bedarf an Wissen und Erklärungsmomenten für den Charakter der Politik in Europa, d.h. in den Institutionen in Brüssel, Straßburg und Luxemburg sowie in den Nationalstaaten. In der dritten, bis heute anhaltenden Phase der Theorieentwicklung rund um die europäische Integration setzen sich die Wissenschaftler also mit der Frage auseinander, wie die EU funktioniert. Dabei gibt es eine sehr große Anzahl von Ansätzen mit vielen Verästelungen; sie können hier aus Platzgründen nicht erschöpfend dargestellt werden (v.a. Rosamond 2000; Kohler-Koch/Conzelmann/ Knodt 2004). Ich beschränke mich auf die wichtigen Ansätze: a) Multi-Level-Governance, b) Neo-Institutionalismus und c) Consociationalism. a) Der Ansatz der Multi-Level-Governance (bisweilen MLG abgekürzt) behandelt die EU als „Mehrebenensystem“. Ausgangspunkt ist hier die Existenz überlappender Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen des Regierungssystems. Wichtig sind damit sowohl die Brüsseler Institutionen als auch die Regierungen, die aber jeweils bei weitem nicht die einzigen Akteure darstellen. Vielmehr wird das EU-System gerade in seiner Vielschichtigkeit analysiert, die z.B. in der Strukturpolitik ganz andere Akteure an den zentralen Stellen sieht als in der Außen-, Sicherheits- oder Währungspolitik. Durch die Komplexität, die im EU-System durch unterschiedliche Regeln für viele Politikfelder entsteht, orientiert sich der Mehrebenen-Ansatz nicht so stark an einigen wenigen Institutionen, wie es die Vergleichende Regierungslehre im Hinblick auf Nationalstaaten tut. Viel häufiger geht es um die Analyse von Netzwerken, die Akteure auf den verschiedenen Ebenen und in verschiedenen regionalen Zentren untereinander geknüpft haben. Durch diese Netzwerke wird zwar auch politische Herrschaft ausgeübt, aber die Herrschaft bündelt sich nicht in einer Regierung im eigentlichen Sinne des Wortes. Governance wird daher mitunter auch ganz einfach als „Regieren ohne Regierung“ übersetzt (Rosenau/Czempiel 1992).
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b) Der Neo-Institutionalismus wird häufig in drei Untertypen geteilt, wobei das einigende Band die Aussage ist: Institutions matter. Institutionen üben demnach auf die Gestalt politischer Ergebnisse entscheidenden Einfluss aus (Rosamond 2000: 113). Unterteilt werden neo-institutionalistische Ansätze in eine historische, eine dem rational choice (RC) verhaftete und eine soziologische Sparte. Der historische Institutionalismus sieht die Verteilung von Macht durch institutionelle Arrangements weitgehend vorbestimmt. Über bestehende institutionelle Konfigurationen entstehen „Pfadabhängigkeiten“, d.h. die historische Genese von Institutionen verkleinert die Bandbreite solcher Aktionen, die mit dem bestehenden institutionellen Setting kompatibel sind, und somit den Spielraum politischen Handelns stetig (Bulmer 1994). Der institutionelle RC-Ansatz, der am prominentesten von Douglass North (1992) vertreten wird, sieht Institutionen vor allem als Handlungskorridore für politische Akteure. Die politischen Akteure sind – analog zu Wirtschaftssubjekten in der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik – grundsätzlich interessenorientiert, können ihre Interessen aber wegen der institutionellen Beschränkungen nicht ohne weiteres maximieren. Die Vertreter des soziologischen Institutionalismus schließlich nehmen einen anderen Fokus ein, indem sie nach dem Ursprung institutioneller Formen und Praktiken in den sie umgebenden Kulturen fragen – also Institutionen von unabhängigen zu abhängigen Variablen machen. Darin sind sie den weiter oben skizzierten Konstruktivisten nicht unähnlich. Alle drei Formen des Neo-Institutionalismus müssen als Fortsätze allgemeinerer Theoriediskussionen gesehen werden, die im Kontext der EU-Forschung überwiegend von einem Revisionsanspruch leben: Die juristisch dominierte EU-Forschung hat die historische Seite sowie den kulturellen Kontext der europäischen Institutionen außer Acht gelassen, die Neoklassik legt einen unbeschränkt handlungsfähigen Akteur zugrunde. Aus der Formulierung der genannten Gegenpositionen folgt aber auch, dass die Untertypen des NeoInstitutionalismus von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und daher insgesamt einen wenig kohärenten Typus bilden. c) Auch das von dem niederländisch-amerikanischen Politikwissenschaftler Arend Lijphart entwickelte Konzept des Consociationalism wurde zunächst nicht im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess entwickelt. Der Begriff ist nicht nur schwer auszusprechen, sondern auch schwer zu übersetzen, und wird deshalb meist in seiner englischen Form in die deutsche Fachsprache übernommen. Er wird definiert als „Typus einer Demokratie (...) mit ausgeprägter Spaltung in religiöse, ethnische oder regionale Segmente (...), in der a) große Koalitionen herrschen und b) die Gesellschaftssegmente über ausgeprägte Autonomie verfügen“ (Schmidt 1995: 196-197). Ursprünglich erklärte Lijphart die Stabilität und Leistungsfähigkeit der Niederlande durch das Vorhandensein des Consociationalism – das Konzept eignet sich jedoch auch in besonderer Weise für die Beurteilung des EU-Institutionensystems. Die Grundbestandteile des niederländischen Modells, das sich durch Entscheidungsfindung auf der Basis von Kompromiss und Konsens auszeichnet, finden sich auch in der EU. Während nämlich z.B. in der politischen Öffentlichkeit häufig über das fragmentierte, wenig übersichtliche und schwerfällige Entscheidungssystem geklagt wird, heben Lijphart und andere (z.B. Chryssochoou 2001) die Vorzüge dieses Modells hervor. Die kulturelle Fragmentierung der EU müsse nun einmal überbrückt werden, und das gehe nicht durch die dauerhafte Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Segmente der europäischen Gesellschaft(en). Im Gegenteil könne der Konsenszwang sogar zu einer Stärkung der kollekti-
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ven Identität und zu einem von allen akzeptierten Verhältnis von Zentrum und Peripherie führen. Die Kehrseite des konsensuellen Politikverständnisses kann dann allerdings die partielle Immobilität des Entscheidungssystems sein.
2.2 Die Europa-Strategien der EU-Mitglieder: Europäische Einigung als Ziel Die bisher skizzierten Ansätze gehen von einer Vielzahl von Fragen aus, deren Erkenntnisinteresse in erster Linie ein theoretisches war und ist. Jenseits der theoretischen Fragestellungen lässt sich europäische Integration jedoch grundsätzlich nach zwei Perspektiven ordnen. Zum einen kann Integration als Prozess verstanden werden, in dem Nationalstaaten Souveränität abgeben und dadurch – unterschiedliche – Europa-Strategien verfolgen. Die Ergebnisse des Integrationsprozesses lassen sich dann vorrangig auf der EU-Ebene besichtigen. Die entsprechende Sichtweise wird häufig „Bottom-up-Perspektive“ genannt (siehe z.B. Börzel 2003: 2). Der Charakter der Integration ergibt sich demzufolge aus dem Zusammenspiel der auf die EU einwirkenden Kräfte, zu denen nicht nur die Nationalstaaten, sondern auch externe Akteure (z.B. in der Sicherheitspolitik die NATO), sowie bestimmte Akteure oder Institutionen auf der EU-Ebene selbst gehören. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Integrationsperspektive notwendigerweise mit Veränderungsprozessen auf der EU-Ebene verknüpft ist. Besonders in den beiden letzten Jahrzehnten, als eine Vertragsrevision die nächste jagte, war die Rede von der Integration beim Blick auf das Gesamte sicherlich berechtigt. Dennoch bestehen innerhalb der EU, z.B. mit der Agrarpolitik oder der Strukturpolitik, Bereiche, in denen die Grunddeterminanten seit langem ähnlich geblieben sind. Konflikte über den Umfang der hier zu verteilenden Mittel unterscheiden sich wenig von Verteilungskonflikten in Nationalstaaten. Deshalb verwenden Autoren auch zunehmend den Begriff und das Konzept des politischen Systems (Easton 1965), um politische Prozesse in diesen EU-Politikfeldern zu untersuchen. Das Paradigma der Integration ist dann überholt, ebenso wie bei der Bildung von Nationalstaaten nur noch im Rückblick von Integration gesprochen wird. In der Substanz der Wirkungsrichtungen von den Nationalstaaten in Richtung EUEbene lassen sich zwei idealtypische nationalstaatliche Europa-Strategien identifizieren. Dabei handelt es sich um eine „souveränitätsorientierte“ und eine „integrationistische“ Europa-Strategie. Dem einen oder dem anderen Modell hat sich die auf die EU gerichtete Politik der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten meist, wenigstens über bestimmte Phasen hinweg, mehr oder weniger deutlich zugeneigt (Beichelt 2004, Kap. 2). Unter EuropaStrategien werden die von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene ausgehenden Impulse verstanden, die im Hinblick auf die Bereitschaft von Bevölkerung, Parteien und Institutionen zur Souveränitätsaufgabe bzw. deren Wahrung gruppiert werden. Souveränitätsorientiert ist eine Europa-Strategie, wenn nationale Politiker in einer Vielzahl von Politikfeldern und bei anstehenden institutionellen Reformen für eine möglichst umfangreiche Beibehaltung nationaler Souveränitätsrechte plädieren und diese Rechte auch real verteidigen. Die Gegenstrategie beläuft sich auf die tendenzielle Bereitschaft, Souveränitätsrechte in einer integrierten oder integrationistischen Politikformulierung und -durchführung aufgehen zu lassen. Das vielleicht klarste Abbild der souveränitätsorientierten Europa-Strategie lässt sich bei dem ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle finden (vgl. de Gaulle
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2001). Bei ihm ging es um die Verwirklichung der gemeinsamen europäischen Interessen im Rahmen starker Nationalstaaten, um ein „Europa der Nationen“. Ausdruck dieses Politikverständnisses war die „Politik des leeren Stuhls“ im Winter 1965/66, also die französische Blockade des Ministerrates, weil im Agrarministerrat die Einführung supranationaler Entscheidungsregeln drohte. Dabei setzte sich Frankreich gegen die Interessen der übrigen Mitgliedsstaaten durch und erreichte, dass fortan bei der Erklärung „vitaler nationaler Interessen“ jeder Staat ein Vetorecht behalten würde (vgl. Prate 1993: 209). Nachdem de Gaulle im Jahre 1968 von der politischen Bühne abgetreten war, änderte sich mit den eher integrationistisch eingestellten Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing (1974-1981) und François Mitterrand (1981-1995) die französische Europa-Strategie deutlich. Nach seinem Beitritt 1973 übernahm jedoch Großbritannien, und zwar im Großen und Ganzen unabhängig von der politischen Ausrichtung der gerade im Amt befindlichen Regierung, die Rolle des Bewahrers nationalstaatlicher Souveränität in der EG (vgl. Hübner/Münch 1998). Es gibt aber auch andere Länder, deren Regierungen sich in der Geschichte der EG/EU regelmäßig eher souveränitätsorientiert als integrationistisch verhalten haben. Die griechische Politik etwa war/ist in der Türkeifrage, in der Handelspolitik, bei der Einheitlichen Europäischen Akte, bei der Entwicklung des Binnenmarktes sowie bei den Balkankonflikten nach 1992 durch integrationsskeptisches Handeln geprägt (Markou/Nakos/Zahariadis 2001). Auch die dänische und schwedische Politik ist wenigstens in einigen Sektoren als souveränitätsorientiert einzustufen. Beide Länder nehmen nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion, einer der tragenden Säulen der EU nach dem Maastrichter Vertrag, teil. Dänemark hat die Abstinenz von der Währungsunion in Folge des gescheiterten Maastricht-Referendums im Juni 1992 außerdem sogar in einem Zusatzprotokoll zum Vertrag festlegen lassen, in dem auch weitere Ausnahmen von den Integrationsanforderungen der Union formuliert werden (Rasmussen/Hoekkerup 2000). Auch beim schwedischen Fall wird – z.B. in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Sozial-, Umwelt- und Frauenpolitik – eine Distanz zu immer weiteren Integrationsschritten diagnostiziert (Anderson 2001). Im Gegensatz zur souveränitätsorientierten steht die integrationistische Haltung in historischer Perspektive für die aktive Unterstützung von Vertiefungsschritten der EG/EU, insbesondere seit dem Integrationsschub durch die EEA 1986 und die späteren Regierungskonferenzen und Vertragsrevisionen. Im Hinblick auf die tägliche Europapolitik bedeutet eine integrationistische Ausrichtung den Hang zum Kompromiss, das Bemühen um Nichteskalation von Konflikten und eine Stützung der Gemeinschaftsinstitutionen Kommission und Parlament. Wie auch bei der ersten Gruppe lassen sich keine Länder ausmachen, die diesem Idealtyp vollständig entsprechen; Tendenzaussagen sind dennoch möglich. Dabei sieht die vorliegende Literatur zum Beispiel in Belgien und Irland Fälle, in denen eine integrationistische Politik besonders verbreitet ist (Dardenne 1999; Finnegan 2001). Die Nachteile der Souveränitätsabtretung werden dort natürlich durchaus diskutiert, sie prägen aber nur in Ausnahmefällen – die Ablehnung des Nizza-Vertrags durch die irische Bevölkerung war einer davon – die öffentliche Debatte und die allgemeine Richtung der Politik. Sicherlich ist die integrationistische Ausrichtung kleiner oder mittelgroßer Länder kein Zufall. Auch Finnland oder Luxemburg sind eher dem integrationistischen Lager zuzuordnen. Bei Frankreich und Deutschland, dem langjährigen „Tandem“ der europäischen Integration, ist dagegen trotz allgemein integrationsfreundlich geprägter Rhetorik Vorsicht geboten. Zuletzt haben beide Länder zwar bei der Stärkung von EU-Institutionen in der Verfassungsgebung und bei der Betonung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik erneut integra-
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tionistische Positionen eingenommen (siehe z.B. Chirac/Schröder 2003). Auf der anderen Seite verfügen diese großen EU-Mitgliedsstaaten jedoch auch über die Machtressourcen, EU-politische Fragen in ihrem Sinne durchzusetzen. So besteht Deutschland seit Jahren auf der Aufrechterhaltung seiner Standards in der Asylpolitik. Auch haben beide Länder keine Probleme damit, den von ihnen selbst geforderten und durchgesetzten Stabilitätspakt in der Wirtschafts- und Währungspolitik zu unterlaufen und gezielt Konflikte mit der Kommission und anderen Mitgliedsstaaten einzugehen. Dabei handelt es sich um Positionen, die von kleineren oder mittleren Ländern wohl nur unter der Hinnahme großer Opfer durchzuhalten wären – sie liefen Gefahr, im Ministerrat bei anderen Fragen marginalisiert zu werden. Denn in der EU können die Verhandlungsarenen in den verschiedenen Politikfeldern nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Vielmehr ist im Entscheidungssystem der „politische Tausch bei mehrdimensionalen Entscheidungen“ (Pappi/Henning 2003: 293) die Regel; d.h. die Positionierung in einem Politikfeld beeinflusst die Stellung in anderen Politikfeldern in maßgeblicher Weise. Länder, die – wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien – über ein hohes Stimmgewicht und über Geberpositionen im EU-Haushalt verfügen und damit potentiell Druckmittel gegenüber Regierungen mit abweichenden Meinungen besitzen, können sich viel eher eine souveränitätsorientierte Europa-Strategie erlauben als Länder, die nicht über die entsprechenden politischen Ressourcen verfügen. Insofern ist es auch wenig verwunderlich, dass die größten Empfängerstaaten des EU-Haushalts, Irland, Portugal und Spanien, im Allgemeinen mit einer integrationistischen Europa-Strategie in Verbindung gebracht werden. Wie allerdings an den Beispielen Dänemark und Griechenland gesehen, gilt diese Regel nicht uneingeschränkt. Vielmehr können Aspekte der politischen Kultur sowie innenund außenpolitische Sondereinflüsse zur Erklärung abweichender Länderpositionen herangezogen werden. Auch wäre es verfehlt, aus dem Gesagten hinsichtlich Deutschlands und Frankreichs grundsätzlich eine souveränitätsorientierte Europa-Strategie abzuleiten. Allerdings verfügen die Regierungen beider Länder über viel größere Möglichkeiten, die Substanz des integrationistischen Idealtyps selbst zu bestimmen, und man sollte die Rhetorik des Integrationismus in Beziehung zur Logik der national ausgerichteten Machtpolitik in den großen Mitgliedsstaaten setzen. Noch unklar bleibt in diesem Zusammenhang die Europa-strategische Ausrichtung der zum 1. Mai 2004 beigetretenen Neumitglieder der EU. Eine Analyse aus dem Frühsommer 2004 hat ergeben, dass besonders in der Tschechischen Republik und Polen, aber auch in Estland und Lettland eher Voraussetzungen für eine mittelfristig souveränitätsorientierte Europa-Strategie bestehen (Beichelt 2004: 142). Stimmt diese Diagnose, würden sich künftig in der EU die Gewichte deutlich zugunsten der souveränitätsorientiert auftretenden Regierungen und Länder verschieben.
2.3 Die Europäisierungsperspektive: zur Bedeutung der europäischen Ebene für die Nationalstaaten Die Gegenperspektive zum „Bottom-up-Ansatz“, für den der Begriff der Integration letztlich steht, besteht im „Top-down-Ansatz“, in dem die Auswirkungen der Integration auf die Nationalstaaten der EU untersucht werden. Die Metapher des Verhältnisses von oben und unten ist dabei der Föderalismus-Forschung entlehnt; „unten“ befinden sich die Gliedstaaten einer Föderation, „oben“ ist das Zentrum angesiedelt (vgl. z.B. Kilper/Lhotta 1996: 51-
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56). Das bedeutet aber natürlich nicht, dass der Top-down-Ansatz automatisch von einer Konzipierung der EU als föderales System ausgeht. Allerdings werden im Vergleich zum Bottom-up-Ansatz die abhängige und die unabhängige Variable ausgetauscht. Während der Integrationsansatz die von den Nationalstaaten ausgehenden Änderungen auf das Zentrum – z.B. die EU-Institutionen, die Loyalitäten der Bürger gegenüber der EU, den Charakter der EU-Politiken etc. – untersucht, kehrt der Top-down-Ansatz die Frage um: Welche Auswirkungen haben die europäische Integration bzw. die EU auf politische Prozesse in den einzelnen Nationalstaaten (zuerst Wallace 1972)? Dabei muss zunächst an die technische Notwendigkeit gedacht werden, den aus Verordnungen, Direktiven, und Entscheidungen bestehenden Korpus des europäischen Rechts auf die nationale Ebene zu übertragen. Insgesamt handelt es sich dabei um ca. 80.000 bedruckte Seiten rechtsrelevanter Vorschriften, den Acquis Communautaire. Im Einzelnen sind Verordnungen und Entscheidungen unmittelbar in den Mitgliedsstaaten gültig, Direktiven können von den Nationalstaaten individuell umgesetzt werden. Bei allen drei Akten ist die Kompatibilität der EU-Entscheidungen mit der nationalstaatlichen Ebene nicht automatisch gegeben; die Fähigkeit zur „Adaption“ (Anderson 2000) des Gemeinschaftsregelwerkes variiert mit der institutionellen Ordnung und der Übereinstimmung mit den in den Nationalstaaten vorliegenden Interessen. Wenn Entscheidungen des EU-Zentrums die Politik in den Nationalstaaten beeinflussen, lässt sich von Europäisierung sprechen. Dabei lassen sich drei Ebenen unterscheiden (McCormick 2001): die Übersetzung von EU-Recht in nationales Recht, die Umsetzung bzw. Implementierung des nationalen Rechts sowie die justizielle Überwachung der Effekte von EU-induzierter Politik. Die Übersetzung in nationales Recht, im EU-Jargon die compliance der Mitgliedsstaaten, hat sich in den letzten zehn Jahren stark verbessert. Noch zu Beginn der 1990er-Jahre wurde das Implementationsdefizit als ernstes Problem angesehen (Metcalfe 1992). Mittlerweile haben jedoch selbst die in dieser Hinsicht rückständigsten Mitgliedsstaaten – im Jahre 2003 waren das Deutschland, Luxemburg und Griechenland1 – mehr als 97 Prozent der Richtlinien adaptiert; eine seit einigen Jahren von der Kommission unternommene Offensive zur verstärkten Übernahme von Gemeinschaftsrecht trägt also sichtbar Früchte. Über die tatsächliche Implementation von Verordnungen und Richtlinien in den Mitgliedsstaaten lassen sich nur sehr schwer allgemeine Aussagen treffen, denn in der EU existiert kein einheitliches Implementierungssystem. Die unterschiedlichen Verwaltungskulturen in den einzelnen Ländern erschweren eine vergleichende Bewertung; Untersuchungen beschränken sich daher häufig auf einzelne Bereiche oder Sektoren. Da Implementierungsprozesse bei den Richtlinien i.d.R. das nationale Parlament durchlaufen müssen, bestehen durchaus Möglichkeiten der Interpretation. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die EU-Vorgaben nur offiziell befolgt werden. Für eine Überprüfung verfügt die Kommission wegen ihrer relativ geringen Größe häufig nicht über genügend Ressourcen (Peters 2000: 193). Die justizielle Überwachung durch den EuGH lässt sich demgegenüber leichter quantifizieren, da über die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren eine nach Mitgliedsstaaten differenzierte Statistik geführt wird.2 Demnach führten im Jahre 2003 Frankreich mit 199 und Italien mit 192 Verfahren die Liste an, Deutschland (154) und Spanien 1
Siehe http://europa.eu.int/comm/secretariat_general/sgb/droit_com/index_en.htm. Siehe hierzu http://europa.eu.int/comm/secretariat_general/sgb/droit_com/pdf/rapport_an-nuel/annexe2_de.pdf, S. 6-8.
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Politik in Europa zwischen Nationalstaaten und Europäischer Union
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(148) folgten. Eher souveränitätsorientierte Länder wie Großbritannien (99), Schweden (50) oder Dänemark (40) sind mit vergleichsweise wenigen Verfahren vor dem EuGH anhängig. Europäisierung findet jedoch nicht allein auf der technisch-administrativen Ebene statt; vielmehr handelt es sich um einen Prozess, in dem sich Nationalstaaten, ihre Institutionen und die politischen Kulturen in umfassender Weise durch die Orientierung an der EUEbene transformieren. Die einschlägige Literatur behandelt daher unter dem Schlagwort der Europäisierung ganz allgemein den Einfluss der EU auf die politischen Prozesse in den EUMitgliedsstaaten (Goetz/Hix 2000; Cowles/Caporaso/Risse 2001; Börzel/Risse 2005). Die wichtigsten Befunde dabei lauten, dass Europäisierung heute zu einem wesentlichen Bestandteil fast aller Aspekte nationaler Politik geworden ist, dass mit der Europäisierung nicht automatisch eine Schwächung der Nationalstaaten einhergeht, und dass das Ausmaß der nationalstaatlichen Anpassungsleistungen nicht allein mit dem Änderungsdruck, sondern auch mit dem Adaptionspotenzial der Nationalstaaten variiert. Besonders der letzte Punkt illustriert die Komplexität des Europäisierungsprozesses als Forschungsfeld. Gesicherte Erkenntnisse lassen sich nur gewinnen, wenn die politischen Systeme der EU sowie der Mitgliedsstaaten gleichermaßen und mit einiger Tiefenschärfe betrachtet werden. Mit der Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder ist es sehr schwer geworden, beide Dimensionen angemessen zu berücksichtigen. In theoretischer Absicht setzt sich insbesondere ein Unterzweig des Sozialkonstruktivismus, der in Abschnitt 2.1 kurz erläutert wurde, mit dem Phänomen der Europäisierung auseinander (Diez 1999; Risse 2001). Diese Autoren arbeiten mit der Hypothese, der Prozess der Europäisierung sei nur bei der Mitbetrachtung der ideellen Ebene zu verstehen. So wie Verwaltungen und Parlamente europäische Impulse aufnehmen und verarbeiten müssen, sehen sich die Individuen und politischen Akteure gezwungen, europäisch und nicht mehr allein regional, nationalstaatlich und global zu denken. Anders gesagt: Mit der institutionellen Europäisierung geht eine Europäisierung der Normen einher. Dadurch entsteht nicht zuletzt eine europäische Identität, die der Verschiebung von Loyalitäten auf das neue Zentrum zusätzlichen Vorschub leistet.
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Das Resultat der Integration: das politische System der EU
Aus forschungspraktischer Sicht stellt sich nach dem Gesagten neben der Frage nach dem Wesen des europäischen Integrationsprozesses diejenige nach einem Instrumentarium zur Analyse der europäischen Politik. Dabei wurde bereits wenige Jahre nach der Etablierung der ersten Gemeinsamen Politik der Begriff des politischen Systems ins Spiel gebracht (Lindberg/Scheingold 1970). Dieser bezeichnet „die Gesamtheit der politischen Institutionen, der politischen Prozesse und der Inhalte politischer Entscheidungen“ (Schmidt 1995: 756). Bei Lindberg und Scheingold bestand das Neue allerdings nicht in der Definition, sondern in der Sichtweise auf den politischen Entscheidungsraum der seinerzeit sechs Mitglieder als einen einzigen, und nicht sechs verschiedene Systeme. In der Vergleichenden Politikwissenschaft impliziert die Verwendung des Systembegriffs das Vorhandensein eines Volkes, das über Forderungen und Erwartungen einen Input an die politischen Institutionen formuliert, dem diese – und die in den Institutionen handelnden Akteure – dann entsprechen müssen, um Legitimität und damit Systemstabilität zu erhalten (Easton 1965). Natürlich ist bei weitem nicht ausgemacht, ob im Falle der EU trotz aller Loyalitätsver-
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Timm Beichelt
schiebungen von einem Volk gesprochen werden kann. Da das politische Geschehen auf EU-Ebene jedoch jede Menge an Outputs hervorbringt, und auf der anderen Seite von mehreren Ebenen Inputs an die europäischen Institutionen und Akteure herangetragen werden, ist die Betrachtung der EU als politisches System üblich geworden (Hix 1999; Hartmann 2002). Demzufolge lässt sich die EU entlang der Phasen des Policy-Zyklus analysieren. Dieser beginnt bei der/n Bevölkerung/en, die Forderungen an die Entscheidungsträger formulieren, die idealtypisch von zivilgesellschaftlichen Gruppen und/oder Interessengruppen artikuliert werden. Die artikulierten Interessen werden u.a. von Parteien aggregiert und zu entscheidungsfähigen Alternativen weiterentwickelt. Zwischen diesen wird dann in den Kerninstitutionen – v.a. in Parlament und Regierung – gewählt, so dass Gesetze, Verordnungen oder andere Rechtsakte entstehen. Werden diese von der Verwaltung implementiert, handelt es sich im systemischen Sinn um ein Output, das mehr oder weniger den eingangs des Zyklus geäußerten Forderungen und Erwartungen entspricht. Bestehen zu große Diskrepanzen, ist die Bevölkerung unzufrieden und der Zyklus beginnt von neuem: Eine Rückkopplung hat eingesetzt. Aus Platzgründen lassen sich nun nicht alle Instanzen des politischen Prozesses ausführlich darstellen; Hinweise auf einige Forschungsergebnisse müssen genügen. Auf der Input-Seite werden die Erwartungen und Forderungen der Bevölkerung mit dem Ansatz der „politischen Kultur“ erfasst (Almond/Verba 1963). In vielen Nuancen wird hier im Hinblick auf die EU der Kern der Integrationsdefinition von Ernst Haas untersucht, ob sich nämlich Loyalitäten von der nationalen auf die europäische Ebene verschieben oder verschoben haben. Vor etwa zehn Jahren kam eine einschlägige Studie zu dem Ergebnis, auf der einen Seite seien „die politischen Einstellungen und Werthaltungen der Bürgerinnen und Bürger der EG-Mitgliedsstaaten (…) relativ ähnlich“, auf der anderen Seite blieben jedoch „starke nationale Besonderheiten in den Beziehungen der Bevölkerung zur Politik bestehen, die nicht allein aus Unterschieden in der Sozialstruktur resultieren und ihren Niederschlag in unterschiedlichen politischen Verhaltensmustern finden“ (Gabriel 1994: 130-131). Die Tendenz hat sich bis heute gehalten: In der EU existiert ein „Vorrang der national definierten Solidargemeinschaft gegenüber der europäischen“ (Delhey 2004: 41). Die Einstellungen gegenüber der EU, so zeigt sich damit seit den späten 1960er-Jahren, lassen sich auf den Nenner eines „permissiven Konsensus“ (Lindberg/Scheingold 1970) bringen: Die Bürger unterstützen im Großen und Ganzen die europäische Integration, überlassen es aber weitgehend den Eliten, den Charakter und die Substanz des Integrationsprozesses zu bestimmen. In den letzten Jahren werden allerdings auch einige für die Legitimation der europäischen Akteure und Institutionen problematische Aspekte diskutiert. Zunächst wird in Öffentlichkeit und Wissenschaft ein Demokratiedefizit diagnostiziert. Demzufolge besteht in der EU eine Diskrepanz zwischen den vielfältigen Aufgaben der politischen Institutionen und der Möglichkeit der Bürger, bei der Erfüllung dieser Aufgaben mitzuwirken und so repräsentiert zu sein. Die Bürger sind deshalb bei der Entwicklung ihrer Erwartungshaltungen in hohem Maße auf das Output und das Outcome des europäischen politischen Prozesses fixiert. Das macht die Unterstützung des Integrationsprozesses und der EU tendenziell instabil – werden die politischen Ergebnisse einmal negativ bewertet, existieren keine legitimen Institutionen, die den Vertrauensverlust auffangen können (vgl. Kielmannsegg 1996;
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Scharpf 1999). Es gibt allerdings Meinungsverschiedenheiten, was dessen Relevanz angeht. Während die gerade genannten Autoren im Demokratiedefizit wohl ein ernsthaftes, weil potenziell delegitimierendes Phänomen sehen, werden die Auswirkungen des Demokratiedefizits von anderen als „nicht so gravierend wie (…) befürchtet“ bewertet (Fuchs 2003: 51, siehe auch Schmidt 2000: 425-430). Im Bereich der EU-zugewandten Forschung zur politischen Kultur werden viele weitere Probleme diskutiert. Ein guter Eindruck lässt sich mit den überblicksartigen Zusammenstellungen von Einstellungsdaten gewinnen, die im Rahmen des Eurobarometer halbjährlich von der Kommission in Auftrag gegeben werden und in deren Umfeld neben dem reichhaltigen Datenmaterial hunderte von Studien zur politischen Kultur in Europa veröffentlicht wurden.3 Die Phasen der Interessenartikulation und -aggregation wurden und werden in der Politikwissenschaft vorrangig im Paradigma nationaler Systeme untersucht. Dort spielt sich die Vermittlung von Interessen teils in der Öffentlichkeit, teils im spärlich beleuchteten Verhandlungsraum von Regierungen, Administrationen und Interessengruppen ab. In Brüssel und den anderen europäischen Entscheidungszentren ist das Element der Politik im Verborgenen noch stärker, weil europäische Medien oder andere Instanzen der europäischen politischen Öffentlichkeit nur schwach entwickelt sind. Dadurch fehlt es an einem wichtigen Instrument, um das Wirken der offiziell 137 bei der Kommission registrierten Interessengruppen,4 der etwa 200 Verbindungsbüros multinationaler Konzerne, der zahlreichen nationalen Verbände und der etwa 250 kommerziellen Lobby-Agenturen zu kontrollieren (Zahlen bei Platzer 2002). Der Einfluss von Interessengruppen auf den politischen Prozess wird dabei aber trotz der geballten Präsenz von Lobbyisten in Brüssel als eher begrenzt eingeschätzt. Europäische Interessengruppen leiden häufig daran, dass sie gegenläufige Interessen aus den einzelnen Mitgliedsstaaten aggregieren müssen und daher kein Verhandlungsmandat erarbeiten können. Strategisch überwiegen daher bei den Euro-Verbänden „Defensivmechanismen über die Grenzen hinweg“, mit denen Zumutungen für die eine oder andere Gruppe abgewendet werden sollen. Das Gremium zur Abwehr von europäischen Gesetzesentwürfen ist allerdings der Rat, zu dem – bzw. zu dessen von nationalen Regierungen entsandten Akteuren – dann wieder nationale Verbände einen bevorzugten Zugang haben (Thesen bei Sturm/Pehle 2001: 118-137). Zu einer abgewogenen Einschätzung ist es daher im Bereich der Interessengruppen notwendig, neben der Empirie des EU-Lobbyismus dessen strukturelle Lagerung zu beachten. Von einer weiteren traditionellen Instanz des Willensbildungsprozesses, den politischen Parteien, heißt es in einem Einführungsband zur EU: „Mit gesamteuropäischen Parteien hapert es in der EU“ (Hartmann 2002: 148). Daraus darf jedoch nicht abgeleitet werden, dass Parteien im politischen Prozess der EU generell eine nachrangige Rolle spielen würden. Fast alle politischen Akteure in der EU, also auch die Vertreter im Ministerrat und in der Kommission, sind Parteipolitiker. Weiterhin sind Parteien in Wahlkämpfen – auch zum Europäischen Parlament – zentral, da sie für die Verbindung zwischen Bevölkerung und nationalstaatlichen wie supranationalen Institutionen stehen. Oft wird eingewendet, das Wahlverhalten bei Europawahlen sei häufig (auch) von starken innenpolitischen Motiven geprägt. Ungeachtet dessen müssen hinterher die Akteure im Parlament ein EU-bezogenes 3 4
Die Daten und Berichte des Eurobarometer finden sich unter http://europa.eu.int/comm/public_opinion/. Siehe http://europa.eu.int/comm/civil_society/coneccs/.
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Programm entwickeln, mit dem sie sich später vor den Wählern, aber vor allem auch innerparteilich verantworten müssen. Deshalb entstehen trotz der vermeintlichen Vernachlässigung durch die Wähler einigermaßen strukturierte Europapolitiken der europäischen Parteien, und folglich werden sie auch als wichtigster Transmissionsriemen für das Verhältnis von Inputs und Outputs auf europäischer Ebene bezeichnet (Hix 1999: 168). Tabelle 1: Zusammensetzung von Rat und Europäischem Parlament in der EU-25 Mitgliedsstaat
Deutschland Großbritannien Frankreich Italien Spanien Polen Niederlande Griechenland Tschechien Belgien Portugal Ungarn Schweden Österreich Slowakei Dänemark Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta Summe EU-25
Bevölkerung absolut 82.2 59.6 58.7 57.7 39.4 38.7 15.9 10.5 10.3 10.2 10.0 10.0 8.9 8.1 5.4 5.3 5.2 3.8 3.7 2.4 2.0 1.4 0.8 0.4 0.4 451.0
in % 18.23 13.22 13.02 12.79 8.74 8.58 3.53 2.33 2.28 2.26 2.22 2.22 1.97 1.80 1.20 1.18 1.15 0.84 0.82 0.53 0.44 0.31 0.18 0.09 0.09 100.00
Stimmen im Rat absolut 29 29 29 29 27 27 13 12 12 12 12 12 10 10 7 7 7 7 7 4 4 4 4 4 3 321
In % 9.03 9.03 9.03 9.03 8.41 8.41 4.05 3.74 3.74 3.74 3.74 3.74 3.12 3.12 2.18 2.18 2.18 2.18 2.18 1.25 1.25 1.25 1.25 1.25 0.93 100.00
Abgeordnete im Europäischen Parlament absolut in % 99 13.52 78 10.66 78 10.66 78 10.66 54 7.38 54 7.38 27 3.69 24 3.28 24 3.28 24 3.28 24 3.28 24 3.28 19 2.60 18 2.46 14 1.91 14 1.91 14 1.91 13 1.78 13 1.78 9 1.23 7 0.96 6 0.82 6 0.82 6 0.82 5 0.68 732 100.00
Quelle für Spalte 2: Maurer (2002: 354).
Die nächste Stufe im politischen Prozess nehmen im nationalen System die Kerninstitutionen – das Parlament, die Regierung, der Präsident etc. – ein. Im EU-System ist dies ähnlich, allerdings tauchen einige der Institutionen an ungewohnten Stellen auf. Vor allem ist zu beachten, dass manche Akteure in zwei Institutionen auftauchen. Das gilt für das Europäische Parlament, wo zwar nicht dieselben Akteure, aber i.d.R. doch dieselben Parteien wie in den nationalen Parlamenten sitzen. Von der Ebene der Nationalstaaten gehen (auf direktem und indirektem Wege) Forderungen an die EU-Ebene aus, an deren Formulierung die Parteien in den heimischen Parlamenten beteiligt sind. Zu einem späteren Zeitpunkt ent-
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scheiden sie dann im Parlament erneut diese Forderungen. Ähnlich ist es bei den Regierungen, die zum einen nationale Standpunkte entwickeln, diese dann aber im Ministerrat je nach Verhandlungslage abändern können und müssen. Die Kommission – neben dem Europaparlament und dem Rat die dritte Kerninstitution im täglichen Geschäft der EU – verfügt über eine Doppelfunktion, indem sie zugleich das entscheidende Organ zur Initiierung europäischer Gesetzgebung und „Wächterin der Verträge“ ist. Bis mindestens zum Jahre 2014 verfügt jedes Mitgliedsland der EU über je einen Kommissar. Die Verteilung der Sitze und Stimmen im Parlament und im Rat können der Tabelle entnommen werden; sie folgt dem Prinzip der gemäßigten Überrepräsentierung kleiner und der gemäßigten Unterrepräsentierung großer Mitgliedsstaaten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spielt bei der Überprüfung der Implementation der europäischen Gesetzgebung eine Rolle. Umgesetzt wird diese, da die EG/EU nicht über eine eigene Administration verfügt, über die Verwaltungen der Mitgliedsstaaten. Entspricht die Implementation nicht der ursprünglichen Intention, kann nach Erschöpfung der politischen Möglichkeiten auch der Rechtsweg beschritten werden, denn nach Art. 230 EGV „überwacht (der EuGH) die Rechtmäßigkeit der gemeinsamen Handlungen des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Handlungen des Rates, der Kommission und der EZB (…) mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten.“ Weiterhin entscheidet der EuGH „im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Vertrags“ (Art. 234 EGV). Mit diesen Instrumenten hat sich der EuGH zu einer der wichtigsten Integrationsinstanzen in der EG/EU entwickelt, indem er im Zweifelsfalle i.d.R. zugunsten einer gemeinschaftsfreundlichen Auslegung des EG-Rechts entschieden hat (vgl. Weiler 1994). Bei alledem wird deutlich, dass das politische System einen „Mehrebenencharakter“ hat. Ebenso wie das deutsche System nur verstanden werden kann, wenn Länder- und Bundesebene gleichermaßen beachtet werden, eröffnet sich ein vollständiger Blick auf das EUSystem nur bei einer Betrachtung von Nationalstaaten und den Institutionen der EU. Da einige Nationalstaaten föderal aufgebaut sind und zudem die EU seit einigen Jahren die „Regionen“ in ihren autonomen Handlungsspielräumen gestärkt hat, existieren also in der EU mindestens drei Ebenen. Hinzu kommen natürlich noch kommunale Zusammenhänge und die Einbettung der EU in das globale System. Die Ebenen lassen sich weder in der Theorie noch in der Praxis vollständig voneinander trennen, und deshalb wurde aus dem deutschen Föderalismus der Begriff der „Verflechtung“ der Ebenen übernommen. Mit dem Begriff der „Politikverflechtung“ ist allerdings nicht nur eine Zustandsbeschreibung verbunden, sondern auch eine Diagnose über ein zum kleinsten gemeinsamen Nenner tendierendes Entscheidungssystem, da keiner der wichtigen Akteure ohne die Kooperation der anderen eine autonome Entscheidung fällen kann. Trotz des qualifizierten Mehrheitsentscheids tendiert insbesondere der Rat zum Konsens; in den allermeisten Fällen wird solange verhandelt, bis kein Regierungsmitglied mehr Einspruch erhebt (Hayes-Renshaw/ Wallace 1997: 19). Zusammengefasst weist das politische System der EU somit aus historischen Gründen hochkomplexe Züge auf. Damit Staaten mit einer eher souveränitätsorientierten EuropaStrategie sich zu den sukzessiven Integrationsschritten entschließen konnten, wurden institutionelle Vorkehrungen gegen die Überstimmung struktureller Minderheiten getroffen. Eine bedenkenswerte Konsequenz des legitimitätserhaltenden Konsenssystems besteht in einer Tendenz zur Ineffizienz, weil auch bei solchen Problemen, die in der Sache eine supranationale Lösung erfordern, eine nicht konsenswillige Regierung de facto ein Veto einle-
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gen kann. Legitimität und Effizienz sind auch auf europäischer Ebene politische Ziele, die nicht ohne weiteres gleichzeitig erreicht werden können (Scharpf 1985; Benz 2003). So gesehen ist also die Leistungsfähigkeit des europäischen politischen Systems – die Fähigkeit zur Erbringung von Outputs und Outcomes, die den Erwartungen der Bevölkerung(en) entsprechen – auf der Effizienzseite deutlich eingeschränkt. Allerdings finden sich in der Politikwissenschaft einige Ansätze, die dieses Defizit aus demokratietheoretischer Sicht auch positiv qualifizieren. Ein solcher Ansatz, der von Arend Lijphart entworfene Consociationalism, wurde im Abschnitt zu den Theorien bereits vorgestellt. Demnach erscheint es verfehlt, allein die negativen Seiten der Hyperkomplexität zu sehen und die vermeintlich geringe Effizienz nur auf die stets drohende Blockademacht einzelner Akteure zu beziehen. Auf der Habenseite war und ist das Entscheidungssystem der EU in der Lage, die Legitimität der Akteure in den EU-Institutionen zu sichern. Wenn man beispielsweise an die regelmäßige Missachtung des UNO-Sicherheitsrates durch nationalstaatliche Regierungen denkt, ist die Leistungsbilanz des politischen Systems der EU durchaus beachtenswert.
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Herausforderungen an die EU-Forschung
Die wichtigsten Herausforderungen an die EU-Forschung liegen auf der einen Seite innerhalb der in diesem Text hervorgehobenen Paradigmen, auf der anderen Seite jedoch in Bereichen, die jenseits der Paradigmen anzusiedeln oder an Schnittstellen zu finden sind. Die Theorien der Integration (Abschnitt 2.1) sind sicherlich dem Bereich zuzurechnen, in dem die meiste EU-Forschung stattfindet und in dem die verschiedenen Ansätze einen bemerkenswerten Grad an Reife gewonnen haben. Nur wenige der skizzierten Gedankengebäude schließen einander aus, vielmehr lebt die Praxis der theoretisch inspirierten EUForschung vom Methodenpluralismus, in dem das Verwenden verschiedener Ansätze eher als Tugend angesehen wird; unterschiedliche Fragestellungen und Problemlagen erfordern eben die Verwendung unterschiedlicher Ansätze. Insofern bestehen die Herausforderungen vor allem in der immer neuen Reaktion auf die Dynamik der europäischen Integration selbst, wobei eine der wichtigsten Fragen der Theorieentwicklung stets diejenige ist, ob anderswo entwickelte Modelle und Theorien auf die EU übertragen, oder ob für das Gebilde sui generis auch Modelle und Theorien sui generis entwickelt werden. Im Bereich der Forschung zu den nationalstaatlichen Impulsen auf die europäische Ebene – oben in Abschnitt 2.2 mit „Europa-Strategien“ tituliert – lassen sich dagegen Leerstellen ausmachen. Gewiss, in einer Reihe von Einführungsbüchern werden Strategien der Nationalstaaten im Hinblick auf die europäische Integration thematisiert und mehr oder minder systematisch dargestellt; insofern handelt es sich nicht um ein gänzlich unbeackertes Feld. Insgesamt besteht jedoch über die Mechanismen der Entwicklung von EuropaStrategien ein ebenso geringes systematisches Wissen wie über die Transmission der Europa-Strategien im Parallelogramm der EG/EU-Institutionen. Zwar kann der interessierte Leser etwas über die Positionierung der einzelnen Institutionen des bundesdeutschen Systems im Hinblick auf die europäische Ebene erfahren (Sturm/Pehle 2001); äquivalente Aufsätze und Monographien existieren auch für andere EU-Mitgliedsländer. Geht es jedoch dabei in den einzelnen Ländern (immer noch?) um das Verfolgen eines nationalen Interesses, oder orientieren sich die Akteure aus den einzelnen Mitgliedsstaaten eher aneinander bei der Verfolgung eines gemeinsamen europäischen Wohls? Setzen sich in erster Linie die
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ressourcenreichen großen Mitgliedsstaaten mit ihren Europa-Strategien durch, oder haben manche kleine Länder tatsächlich ein überproportionales Gewicht? Noch weiter: Ist die Metapher eines Kräfteparallelogramms überhaupt gerechtfertigt, oder transformieren die Brüsseler Institutionen die nationalen Inputs nicht systematisch in einem gemeinschaftlichen Sinne? Auf all diese – wie ich meine: zentralen – Fragen liegen in der EU-Forschung derzeit höchstens bruchstückhafte Antworten vor. Ähnlich sieht es im nächsten vorgestellten Bereich, der Europäisierungsperspektive (Abschnitt 2.3) aus. Trotz des Erscheinens der oben zitierten Werke von Cowles/ Caporaso/Risse (2001) und Goetz/Hix (2000) steckt das gesamte Forschungsgebiet noch in den Kinderschuhen (Buller 2003: 528). Das schlägt sich auch darin nieder, dass die wenigen Publikationen mit einigermaßen systematischem Anspruch zu unterschiedlichen Diagnosen kommen, was den Charakter von Europäisierung angeht. Während Cowles/ Caporaso/Risse die Europäisierung bei großen Differenzen zwischen einem konkreten nationalen und dem europäischen System für wahrscheinlicher halten, gehen andere Publikationen eher von einem Europäisierungsschub im Falle der Ähnlichkeit administrativer und politischer Systeme (ebd.: 533) aus. Da sich Europäisierung angesichts der Zerklüftung der europäischen Verträge nicht sehr gut pauschal beobachten lässt, scheinen im Bereich der Europäisierungsperspektive noch sehr viele Fragen im Hinblick auf einzelne Politikfelder, aber auch im Hinblick auf Vergleiche zwischen Politikfeldern unbeantwortet zu sein. Es wurde angedeutet, dass das Paradigma des politischen Systems (Abschnitt 3) zwar in jüngerer Zeit häufiger für die Analyse der EU verwendet wurde, dass es sich aber dennoch um eine vergleichsweise wenig etablierte Sichtweise handelt. Deswegen sind Forschungslücken wenig überraschend. Sie verteilen sich aber nicht gleichmäßig über die Instanzen des Policy-Zyklus. Auf der Input-Seite des Systems wurde und wird die politische Kultur der europäischen Bevölkerung(en) recht intensiv erforscht. Auf der anderen Seite klaffen bei einigen der wichtigsten EU-Institutionen empfindliche Lücken. Monographien oder monographieähnliche Sammelbände etwa zum Ministerrat, zum Europäischen Parlament oder zur Europäischen Kommission existieren nur auf Englisch und auch dort nicht in wirklicher Fülle (Hayes-Renshaw/Wallace 1997; Corbett/Jacobs/Shackleton 2000; Nugent 2001). Insofern kann trotz einer numerisch großen Zahl an EU-Forschern keineswegs die Rede davon sein, dass das europäische politische System auch nur annähernd so dicht durchleuchtet sei wie i.d.R. die nationalen Systeme. Zu einem Teil hat dies wissenschaftsorganisatorische Gründe. Da sich die EU-Forschung zunächst als Wurmfortsatz der Internationalen Beziehungen entwickelte, standen bei einer Vielzahl von Forschern nicht institutionelle Fragen, sondern solche der Dynamik und des Verhältnisses von Nationalstaat und internationaler Organisation im Vordergrund. Außerdem gilt innerhalb der Politikwissenschaft die Lehre von den Internationalen Beziehungen als besonders theorie- und methodengeleitete Teildisziplin, so dass für viele Europawissenschaftler die Verfassung eher empirisch ausgerichteter Studien karrieretechnisch nicht attraktiv ist. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund. In nationalen Systemen ebenso wie in Straßburg, Luxemburg oder Brüssel tagen viele Gremien hinter verschlossenen Türen; dies ist auch notwendig, um einzelnen Akteuren Verhandlungsspielraum zu gewähren. In nationalen Systemen existiert allerdings i.d.R. eine politische Öffentlichkeit, in der Massenmedien und die Zivilgesellschaft relevante Themen aufgreifen und so eine wichtige Informationsfunktion übernehmen. In der EU ist die Öffentlichkeit dagegen stark unterent-
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wickelt; manche sagen sogar: prinzipiell nicht entwicklungsfähig (vgl. nochmals Kielmannsegg 2003). Dadurch erfordert die Untersuchung der EU-Kerninstitutionen ein extrem hohes Maß an Aufmerksamkeit, welches Wissenschaftler ohne Sitz in einer der EUHauptstädte Straßburg oder Brüssel nur in Ausnahmefällen aufbringen können. Die Erforschung von Parlament, Kommission und Rat erfordert das Maß an persönlicher Nähe, das in nationalen Systemen durch die politische Öffentlichkeit kompensiert werden kann. Abschließend sollen noch zwei Herausforderungen genannt werden, die sich nicht ohne weiteres einem der Abschnitte oder Unterabschnitte des vorliegenden Textes zuordnen lassen, da sie übergreifenden Charakter haben. Die erste Herausforderung besteht im Status des Demokratiebegriffs in der EU-Wissenschaft. In der Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft hat sich die Einsicht durchgesetzt, der EU hafte ein Demokratiedefizit an. Ein Problem besteht aber nun darin, dass nicht zuletzt in der Politikwissenschaft die gesellschaftlichen Haltungen und Einstellungen zum Prozess der Integration und zum politischen System der EU diskursiv gesetzt werden. Die dauernde Rede vom Demokratiedefizit und verschiedenen Dilemmata ist wenig dazu geeignet, im Zusammenhang mit den stark abnehmenden Zustimmungsraten zur EU (Hrbek 2002) ein positiveres Bild zu entwickeln. Nicht nur Legitimität und Effizienz stehen also in einem Spannungsverhältnis, sondern auch die diagnostizierende Beschreibung und der normative Anspruch der „demokratiewissenschaftlichen“ Politikwissenschaft, wie sie z.B. in der frühen Bundesrepublik Deutschland betrieben wurde. Bei einem historischen Prozess wie der Überwindung von Gewalt und Krieg auf dem europäischen Kontinent können sich Politologen nicht immer so deutlich von der normativen Ebene trennen, wie dies nach den anerkannten Standards der Sozialwissenschaft allgemein üblich ist. Indem sich also der mainstream der Europawissenschaft von normativen Fragen wegbewegt hat, ist damit gleichzeitig eine früher – z.B bei Haas oder den Föderalisten – legitimitätsgebende Stütze des europäischen Einigungsprozesses brüchig geworden. Zuletzt ist die globale Einbettung des europäischen Einigungsprozesses zu bedenken. Er ist heute nicht mehr allein als Projekt zur Überwindung des latenten Kriegszustandes in Europa zu verstehen. Vielmehr muss die Integration im Rahmen von internationalen Verflechtungen verstanden werden, die auch in vergangenen Zeiten schon stattgefunden haben (Osterhammel/Peterson 2003). In der besten gegenwärtig vorliegenden Einführung in die Theorie der europäischen Integration ist deswegen bemerkt worden, die theoretische Debatte müsse sich zukünftig verstärkt um Verbindungen der Integrationstheorie zu den Theorien der Internationalen Beziehungen bemühen (Rosamond 2000: 157-185). Gleichzeitig läuft in Europa jedoch ein Prozess der Regionalisierung ab, in dem das in den EU-Vertrag aufgenommene Prinzip der Subsidiarität wenigstens teilweise verwirklicht wird. Die „Verschiebung der Loyalitäten auf ein neues Zentrum“ (Ernst Haas) sowie die Herausbildung eines europäischen Systems der politischen Entscheidungsfindung haben also Implikationen für das althergebrachte Demokratiemodell auf nationaler Ebene sowie für die Strukturierung der Internationalen Beziehungen. Gleichzeitig kann die internationale Perspektive jedoch nur dann zu produktiven Einsichten führen, wenn nationale und sub-nationale Ebenen mitberücksichtigt werden und damit zusätzlich Ansätze und Theorien der Vergleichenden Politikwissenschaft mit einem Bewusstsein für die sozialen, strukturellen und regionalen Differenzen in der erweiterten EU verbunden werden.
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Einfalt in der Vielheit: der europäische Rechtsradikalismus im Lichte der vergleichenden Politikforschung Einfalt in der Vielheit: der europäische Rechtsradikalismus
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Einführung
Häufig wird davon ausgegangen, Europastudien in Lehre und Forschung bezögen sich allein auf den Gegenstand der Europäischen Integration. Während dies für den Schwerpunkt einschlägiger Lehrprogramme und Publikationen sicherlich zutrifft, erscheint es 15 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht (1992) unzutreffend, europäische Politik vorrangig auf der EU-Ebene zu verorten. Akteure der europäischen Politik müssen immer zwei Sphären im Auge behalten, die europäische und die innenpolitische. In der erstgenannten Sphäre können in der Regel nur solche Aspekte verhandelt werden, die innenpolitisch bereits diskursiv behandelt und von nationalstaatlichen Akteuren vorformuliert wurden. Die Analyse der Politik in Europa verlangt daher auch vor dem Hintergrund bedeutender Fortschritte im Vergemeinschaftungsprozess in allen Säulen des EU-Vertrags die Einbeziehung der nationalen Ebene. Obwohl sich viele Kompetenzen nach Brüssel verlagert haben, bleiben die Nationalstaaten in vielerlei Hinsicht zentral. Wenigstens die Bürger erwarten die politische Lösung sozialer Probleme noch weitgehend von Akteuren auf der nationalen Ebene, wie nicht zuletzt der Vergleich der Wahlbeteiligungen bei Wahlen zum Europaparlament und zu den nationalen Parlamenten zeigt. Damit geraten die politikwissenschaftlichen Dimensionen der polity, der politics und der policy auf nationaler Ebene ins Blickfeld der Analyse europäischer Politik (siehe unten). Aus dem breiten Spektrum der vergleichenden Politikwissenschaft soll hier ein Aspekt beispielhaft behandelt werden, der stellvertretend für die Relevanz gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen in den EU-Staaten steht, die dann ihrerseits in Brüssel, Straßburg und anderswo in die politischen Prozesse auf EU-Ebene eingespeist werden. Sechzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus gehören rechtsradikale Bewegungen und Parteien zur europäischen politischen Normalität. Das Phänomen ist beileibe kein Spezifikum dieses Kontinents, wie ein Blick nach Nordamerika verrät. Aber seit mehr als zehn (in einigen Ländern Westeuropas schon seit zwanzig) Jahren verzeichnet es in den wichtigsten politischen Arenen Europas, den Wahlen und den Parlamenten, zum Teil beängstigende Erfolge. Der vorliegende Beitrag möchte diesem Phänomen nachgehen und einige Erklärungsansätze bieten. Zugleich will er an diesem Beispiel die Vorgehensweise der vergleichenden Politikforschung deutlich machen, wie sie im Kontext des zusammenwachsenden Europa komplementär zur Integrationswissenschaft Verwendung findet. Es handelt sich also um einen ebenso substanziell wie methodisch orientierten Beitrag, um eine Darstellung des Fachs wie auch eines spezifischen Untersuchungsgegenstands. Er orientiert sich an drei fundamentalen Einsichten in den aktuellen Rechtsradikalismus in Europa, die die Anwen-
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dungsmöglichkeiten der vergleichenden Politikforschung auf besondere Weise zu illustrieren vermögen (vgl. Minkenberg 1998: 359-379). Erstens, der europäische Rechtsradikalismus der Gegenwart ist ein internationales Phänomen, dem die vielen oft in nationalen Nabelschauen betriebenen Fallstudien nicht gerecht werden können. Der (synchrone) Vergleich über mehrere Länder hinweg kann nicht nur die zweifellos vorhandenen nationalen Eigenarten der jeweiligen radikalen Rechten besser herausarbeiten als die Einzelfallstudie, er kann auch eher als diese zu verallgemeinerbaren Analysen und Erklärungen führen. Zweitens, der europäische Rechtsradikalismus der Gegenwart ist ein modernes Phänomen, das zeitgeschichtlich einzuordnen ist. Der (diachrone) Vergleich über mehrere Epochen macht deutlich, dass der Rechtsradikalismus als Folge eines Modernisierungsschubs der westlichen Nachkriegsgesellschaften eine Phase der Erneuerung durchlaufen hat und nur noch eingeschränkt mit früheren Varianten verknüpft ist. Schlagworte wie Faschismus oder Neofaschismus, die auf eine historische Kontinuität von der Münchener Feldherrnhalle bis zu Mölln und Magdeburg abzielen, treffen zunehmend ins Leere. Drittens, der europäische Rechtsradikalismus der Gegenwart ist trotz seiner simplen Parolen („Deutschland den Deutschen!“) und der übersichtlichen Strukturen seines hierarchischen Politikmodells ein vielschichtiges Phänomen. Die vergleichende Politikforschung hat eine Reihe von Analysemodellen hervorgebracht, die die vielen Gesichter des modernen Rechtsradikalismus deutlich hervortreten lassen und zudem darauf verweisen, dass diese letztlich am besten durch eine die Disziplinen übergreifende Herangehensweise zu erforschen sind. Von diesen Einsichten ausgehend will der vorliegende Beitrag in einige Kategorien und Analysemodelle der vergleichenden Politikforschung einführen und am Beispiel des europäischen Rechtsradikalismus exemplarisch illustrieren. Dass es sich dabei nicht um eine umfassende Einführung in die vergleichende Politikwissenschaft handelt, liegt auf der Hand (vgl. hierzu Lauth 2002 sowie Kropp/Minkenberg 2005). Darüber hinaus richtet sich das Augenmerk vor allem auf die Länder Westeuropas, bzw. die konsolidierten Demokratien in Europa. Die Analyse des mittel- und osteuropäischen Rechtsradikalismus im Zeichen des Regimewechsels und der Vorbereitungen auf den EU-Beitritt einzelner Länder wirft noch ganz andere Fragen des internationalen Vergleichs auf, die hier aber nicht weiter verfolgt werden (vgl. Beichelt/Minkenberg 2002; Minkenberg 2002a, b).
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Die vergleichende Politikforschung: ein Überblick
Gegenstand der Politikwissenschaft, insbesondere der vergleichenden Politikwissenschaft, ist ganz allgemein die Erforschung politischer Strukturen und Prozesse, politischer Entscheidungen und ihrer Konsequenzen. Eine derartig breite Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes hängt entscheidend von dem zugrunde gelegten Politikbegriff ab. Dieser variiert in der grundlegenden politikwissenschaftlichen Literatur stark. Von Alemann und Forndran (1995: 34-41) unterscheiden in ihrem Einführungstext zwischen institutionalistischen, normativen und konfliktorientierten Begriffen. Institutionalistische Politikbegriffe beziehen sich auf die Institutionen und Strukturen von Staat, Macht und Herrschaft und können durch folgendes Zitat illustriert werden: „Die politische Wissenschaft (...) lässt sich als derjenige Spezialzweig der Sozialwissenschaften definieren, der sachlich-kritisch den Staat unter seinem Machtaspekt sowie alle sonstigen Machtphänomene unter Einbezie-
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hung sonstiger Zielsetzungen insoweit untersucht, wie diese Machtphänomene mehr oder weniger unmittelbar mit dem Staat zusammenhängen“ (Ossip K. Flechtheim, in: ebd.: 36). Normative Politikbegriffe beziehen sich in der Regel auf wünschenswerte politische Ziele wie die rechte politische Ordnung, Freiheit, Demokratie. So heißt es zum Beispiel bei einigen Klassikern der Politikwissenschaft ganz lapidar: „Politische Wissenschaft ist die Wissenschaft von der Freiheit“ (Franz Neumann, in: ebd.) oder „Politik ist Kampf um die rechte Ordnung“ (Otto Suhr, in: ebd.). Von diesen Begriffen, die nicht selten in Staatsbejahung oder -kritik oder in harmonisierende Gemeinwohlvorstellungen münden, lässt sich ein konfliktorientierter Politikbegriff unterscheiden. Seine Verwender, sofern sie nicht der marxistisch-leninistischen Klassenkampfsemantik huldigen, vertreten die Position, dass ein solcher Begriff deskriptiv, empirisch-analytisch und interessenneutral sei. Die von Gerhard Lehmbruch formulierte Begriffsbestimmung, der zufolge „Politik gesellschaftliches Handeln [ist] (...), welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Werte verbindlich zu regeln“ (in: ebd.: 37), beansprucht, objektiv das typisch Politische von anderen sozialen Verhältnissen abzugrenzen. Sie ist die mehr oder weniger direkte Übertragung des systemtheoretischen Politikbegriffs von David Easton, welcher Politik als „authoritative allocation of values“ definierte (Easton 1965: 24). Dem entspricht die ältere und berühmte Formulierung von Harold Laswell (1936): In der Politik geht es um „who gets what, when, and how“. Dieser konfliktorientierte und systemtheoretisch begründete Politikbegriff verweist allerdings auf eine Autorität, die die Konflikte verbindlich regelt, und somit zurück auf den Staat oder äquivalente Institutionen. Es bietet sich also an, die Kategorien von Staat und Herrschaft sowie der autoritativen Konfliktregelung gleichermaßen heranzuziehen, um das spezifisch Politische von anderen gesellschaftlichen Phänomenen abzugrenzen. Dabei ist ein Rückgriff auf Max Weber äußerst hilfreich. Denn bei Weber bedeutet Herrschaft bekanntlich eine Machtbeziehung, die auf dem Glauben an ihre Legitimität beruht, und der Staat ist dementsprechend ein „politischer Anstaltsbetrieb (...), wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (Weber 1980: 29). Dieser konflikt- und staatsorientierte Politikbegriff hat sich zwar nicht umfassend durchgesetzt, bestimmt aber mehr oder weniger den mainstream des Fachgebietes, insbesondere in der vergleichenden Politikwissenschaft, und er soll auch hier zugrunde gelegt werden. Für den Rechtsradikalismus bedeutet dies, dass dieser als politisches Phänomen nicht nur ein bestimmtes Menschenbild, sondern auch Vorstellungen einer politischen Ordnung enthält und dass er Herrschaftsbeziehungen, bzw. staatliche Macht beeinflussen will und sich entsprechend politisch formiert (z.B. als Kleingruppe, als Lobby, als Bewegung oder Partei). Insofern wäre Rechtsradikalismus von (politisch nicht organisiertem) Rassismus als Diskurs oder Strukturmerkmal gesellschaftlicher Beziehungen oder von Fremdenfeindlichkeit als individuelle oder gesellschaftliche (Abwehr-)Haltung abzugrenzen. Das Besondere der vergleichenden Politikwissenschaft bei der Erforschung des Rechtsradikalismus (und anderer politischer Phänomene) hängt aber nicht nur vom Politikbegriff, sondern auch von der Bedeutung des Vergleichens ab. Hierzu gibt es in der Politikwissenschaft eine inzwischen sehr reichhaltige Diskussion (vgl. z.B. Berg-Schlosser/ Müller-Rommel 1997; Peters 1998; Lauth 2002; Pickel u.a. 2003; Kropp/Minkenberg 2005). Eine der Kernfragen in dieser Diskussion betrifft die Bedeutung und den Stellenwert des Vergleichs. In seinem Richtung weisenden Eintrag „Vergleichende Methode“ in dem
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von ihm mitherausgegebenen ersten Band des „Pipers Wörterbuch zur Politik“ wies Dieter Nohlen bereits 1985 darauf hin, dass man hinsichtlich des Vergleichs ein umfassenderes und ein engeres Grundverständnis unterscheiden sollte: „Für das umfassendere wäre angebracht, vom Vergleich oder Vergleichen zu sprechen, um den Begriff Methode für striktere Verfahren zur Erzielung wiss. Erkenntnis zu reservieren“ (Nohlen 1985: 1079). Inwieweit sich bestimmte Fragen der Methode des Vergleichs aus bestimmten Erkenntniszielen ergeben oder inwieweit quantitative und qualitative Methoden vereinbar sind statt einen Gegensatz zu bilden, das sind einige der kontroversen Fragen in dieser Methodendiskussion (vgl. dazu Aarebrot/Bakka 1997; Lauth/Wagner 2002). Grundsätzlich gilt aber, was Dieter Nohlen, Klaus von Beyme und andere Komparatisten feststellen, dass „der Vergleich (...) in der Politikwissenschaft größere Bedeutung erlangt [hat] als in anderen Sozialwissenschaften“ (von Beyme 1988a: 50). Das Vergleichen ist in der Politikwissenschaft in dem Sinne ubiquitär, dass es nicht nur einer „vergleichenden Politikwissenschaft“ als comparative politics oder gar noch enger einer „vergleichenden Regierungslehre“ (eine einschränkende Übersetzung des amerikanischen comparative government) zuzuordnen ist, sondern dass auch in den politikwissenschaftlichen Untergebieten der „Innenpolitik“ und der „internationalen Beziehungen“ verglichen wird (ebd.). Aber eine solche Sicht hat den Nachteil, die forschungsrelevanten Spezifika des jeweiligen Vergleichens zugunsten einer unterstellten Ähnlichkeit des Verfahrens nachrangig zu betrachten und somit zu einer Überschätzung des Vergleichs als Verfahren beizutragen (vgl. Nohlen 1985: 1080). Die Sache wird nicht einfacher dadurch, dass die Diskussionen über das Vergleichen und über den Vergleich als Methode im Laufe der Zeit spezialisierter wurden, das Feld sich also differenziert hat. Noch Ende der achtziger Jahre machte Klaus von Beyme fünf Hauptgruppen von vergleichenden Vorgehensweisen aus: a) der kausale Zusammenhang als Grundlage (die Isolierung einzelner Faktoren und ihre Klassifizierung als Variable und Konstante); b) Korrelationsanalysen (allgemeine gesetzmäßige Zusammenhänge); c) der geographische Faktor als Grundlage (das Studium einzelner Länder und die area studies); d) die differenzierende Klassifikation (Typenbildung); und e) der funktionale Zusammenhang als Grundlage (die funktionale Systemtheorie) (von Beyme 1988a: 52). Diese Arten des Vergleichens schließen sich nicht gegenseitig aus und bauen, wie z.B. a) und b), aufeinander auf. Große Unterschiede gibt es vor allem zwischen den Verfechtern von a) und b) einerseits, und von c) und d) andererseits: hier treffen die „Lager“ der quantitativen und der qualitativen Komparatistik aufeinander (vgl. Ragin 1987). Allerdings ist fragwürdig, ob man heute noch von einer solchen Übersichtlichkeit ausgehen kann. Nach wie vor ist die grundsätzliche Unterscheidung der Vergleichsebenen, wie sie Nohlen vorschlägt, sinnvoll: a) staatliche synchrone Vergleiche (hohe Fallzahl; heterogene Kontextvariablen); b) staatliche diachrone Vergleiche (niedrige Fallzahl; homogene Kontextvariablen); c) intrastaatliche synchrone Vergleiche (hohe Fallzahl; homogene Kontextvariablen); d) suprastaatliche synchrone Vergleiche (niedrige Fallzahl; heterogene Kontextvariablen); und e) weltgesellschaftliche diachrone Vergleiche (niedrige Fallzahl bzw. N=1 und heterogene Kontextvariablen) (Nohlen 1985: 1083). Im Mittelpunkt dieser Unterscheidung steht die Frage, ob Vergleiche diachron, d.h. entlang einer Zeitachse, aber innerhalb desselben (geographischen, nationalstaatlichen usw.) Raumes, oder synchron, d.h. zu gleichen Zeitpunkten, aber über verschiedene Raumeinheiten hinweg, vorgenommen werden. Man muss Nohlen dabei nicht folgen, wenn er eine stark vereinfachende Zuordnung
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der quantitativen, d.h. die Zahl der Fälle betreffenden, und qualitativen, d.h. die Homogenität der Kontextvariablen betreffenden, Charakteristika zu den Raum-Zeit-Dimensionen von Vergleichen vornimmt. Immerhin verdeutlicht diese kleine Übersicht, dass die heute relativ breiten Raum einnehmende Diskussion über die Überlegenheit der Variablen- gegenüber der Fallorientierung bzw. der quantitativen gegenüber der qualitativen Methoden oder die fast weltanschauliche Auseinandersetzung über die Vorzüge des most different system design und des most similar system design (vgl. Lauth/Winkler 2002; Tiemann 2003; Jahn 2005) nur einen kleinen Bereich dessen abdeckt, was bei Vergleichen methodisch zu beachten ist. Für die vergleichende Europaforschung, die sich nicht allein der EU- oder Integrationsforschung verschrieben hat (vgl. Schmidt 2002 sowie Beichelt in diesem Band), steht die erste Ebene des synchronischen, internationalen Vergleichs im Mittelpunkt. Diese in Deutschland auch als Vergleichende Regierungslehre oder Vergleichende Systemforschung etikettierte Forschung hat sich als ein weites und in sich inzwischen wiederum differenziertes Forschungsfeld etabliert (vgl. Dogan/Pelassy 1990; Hartmann 1997). Ein Band der amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und G. Bingham Powell (1978) gilt als wichtigster Klassiker dieses strukturfunktionalistischen Ansatzes. In ihm legen die Autoren ihre Modelle und Konzepte für alle Vergleichsräume von subnational (lokal) bis supranational an, exemplifizieren diese dann jedoch auf der Ebene der internationalen Vergleiche, was sie auch in Nachfolgewerken fortführen (dies. 1996). An den oben vorgestellten Politikbegriff anknüpfend und unter Einbeziehung dieser methodologischen Überlegungen zur inter-staatlichen Ebene als Hauptfeld der vergleichenden Europaforschung liegt eine Heuristik nahe, die vom Systembegriff ausgehend eine Bestimmung der Input- und Output-Faktoren politischer Konfliktregelungsprozesse vornimmt. Wichtiger als die deskriptive Erfassung der einzelnen Strukturen oder Akteure eines politischen Systems (z.B. Parteien und Verbände, Legislative und Exekutive, Bürokratie und Justiz) wären für den Vergleich politischer Systeme demnach die verschiedenen Funktionen eines politischen Systems, seiner Teile bzw. Subsysteme und die diesen Funktionen zugedachten „Träger“ (vgl. Keman 2005). Dem Werk von Almond und Powell folgend kann man drei Funktionsbündel unterscheiden: erstens die die Normen des politischen Systems generierenden Input-Funktionen von Sozialisierung, Elitenrekrutierung und Kommunikation, die alle anderen Prozesse beeinflussen; zweitens die Input-Funktionen von Interessenartikulation, Interessenaggregation, Policy-making und Policy-Implementierung (wobei den politischen Kernorganisationen und -institutionen Parteien, Verbänden, Parlamenten und Regierungen Schlüsselfunktionen zukommen); sowie, drittens, die Output-Funktionen von Regulierung und Verteilung durch das politische System (z.B. Steuergerechtigkeit, Normen der öffentlichen Ordnung usw.) (Almond/Powell 1978, 1996; vgl. auch Hartmann 1997: 35-39). Dieses etwas abstrakt erscheinende Modell hat sich allerdings so sehr bewährt, dass es als Standardbegriff in die vergleichende Politikforschung eingegangen ist: „Vor allem das Systemmodell Almonds schwingt in Vorstellungen von – gesellschaftlichen – Inputs und – staatlichen – Outputs, von gesellschaftlicher Interessenartikulation und von komplizierten Aggregations- bzw. Interessenvermittlungsprozessen an der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft mit. Das globale Systemmodell der amerikanischen Komparatistik-Klassiker ist durch speziellere heuristische Modelle wie den Korporatismus, die Staatskapazität oder das Regime geschärft worden und dabei selbst eher in den Hintergrund getreten. Doch gerade diese bestä-
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Michael Minkenberg
tigen die Vitalität des dahinter erkennbaren Grundmusters: der Annahme eines umfassenden politischen Systems, das Geschichte, Kultur, Gesellschaft und Staat zu einem Spannungsfeld verknüpft, in dem politische Herausforderungen, Institutionen und Problemlösungen entstehen“ (Hartmann 1997: 47). Der Gegenstand der vergleichenden Politikforschung soll auf der Basis des Systemmodells von Almond und Powell anhand einer tabellarischen Übersicht etwas näher bestimmt werden. Ihr liegt eine Verknüpfung der oben vorgestellten Politikbegriffe mit den Hauptkomponenten des Systemmodells zugrunde, die zu einer grundsätzlichen Unterscheidung der Politikdimensionen in polity, politics und policy führt (vgl. Lauth/Wagner 2002: 17-22). Polity entspricht der institutionellen Dimension von Politik, die sich in den Strukturen und Formen von Politik, in Verfassungen, Gesetzgebungen, Spielregeln ausdrückt. Bei politics stehen politische Konflikte und Interessen sowie die zur Findung und Durchsetzung einer verbindlichen Regelung nötigen Entscheidungsprozesse im Mittelpunkt. Mit Lasswell geht es hier um das „Wer“ und das „Wie“ der Politik. Bei policies schließlich handelt es sich um den output des Systems und die Gründe und Einflussfaktoren für bestimmte Entscheidungen sowie deren Effekte. Zu letzteren gehören auch Rückwirkungen auf die ersten beiden Dimensionen, das sogenannte feedback – wie etwa bei Kürzungen von sozialstaatlichen Leistungen und darauf folgenden Protesten und „Nachbesserungen“ von Gesetzen oder bei Verboten von extremen Parteien und Organisationen und darauf folgenden Radikalisierungen und steigender Militanz (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Gegenstand der vergleichenden Politikforschung (Regierungslehre) Dimension Erkenntnisinteresse
Polity Rahmenbedingungen von Politik Ausrichtung Institutionenorientiert Erscheinungsformen Verfassungen, Gesetze, Normen, formelle und informelle „Spielregeln“
Politics Ausgestaltung politischer Prozesse Input-orientiert
Policy Inhalte von Politik
Einstellungen, Interessen, Verhalten, Konflikte, Handlungspotenziale, Entscheidungsfindung und durchsetzung
Untersuchungsgegenstände
Parteien, Interessengruppen, Verbände, politische Kultur, politische Prozesse
Ziele, Aufgaben, Einflussfaktoren auf Politikfelder, Tun und Lassen von Regierungen und anderen Akteuren, politische Steuerung, Ergebnisse Politikfelder (z.B. Wirtschafts-, Bildungs-, Umwelt-, Einwanderungspolitik); Staatstätigkeit
Verfassungsrecht, Staats- und Herrschaftsformen, Regimetypen, Regierungssysteme, formelle und informelle Institutionen
Quelle: Lauth/Wagner (2002: 22).
Output-orientiert
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In Umsetzung dieser Kategorien und Unterscheidungen wird in der politikwissenschaftlichen Rechtsradikalismusforschung grundsätzlich unterschieden zwischen a) einem auf Herrschaftssysteme (Regime) bezogenen Untersuchungsgegenstand, wie etwa dem Nationalsozialismus oder rechten Diktaturen (vgl. Bracher 1969; Linz 1975; Kershaw 1985), b) diversen Organisationen und Institutionen, die im Kontext des politischen Systems die Funktionen der Artikulation und Aggregation von Interessen wahrnehmen, sowie c) den Einflüssen rechtsradikaler Akteure auf politische Inhalte (z.B. Einwanderungspolitik) (vgl. Winkler/Jaschke/Falter 1996: 10-12; Minkenberg 1998: Kap. 1, 9). Diese drei Dimensionen haben in der Forschung sehr unterschiedliches Gewicht. Auf der Verfassungs- und Regimeebene spielt in Europa der Rechtsradikalismus seit dem Ende der rechten Diktaturen in Südeuropa in den 1970er Jahren keine Rolle mehr. Demgegenüber sind neben den rechtsradikalen Bewegungen, formellen und informellen Gruppierungen vor allem rechtsradikale Parteien von außerordentlichem Interesse, da sie (empirisch) recht verbreitet sind und ihnen (theoretisch) die verschiedensten Funktionen im politischen System zukommen: von der Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen über die Zielfindung in Ideologie und Programmatik (im Sinne der verbindlichen Regelung gesellschaftlicher Werte) und die Mobilisierung und Sozialisierung der Bürger vor allem bei Wahlen bis hin zur Rekrutierung des politischen Personals und der Regierungsbildung (vgl. von Beyme 1984: 25). Schließlich befindet sich die policy-Forschung des Rechtsradikalismus erst noch im Werden, nicht zuletzt wegen der bislang nur wenigen Fälle von Regierungsbeteiligung wie in Österreich und Italien (vgl. Minkenberg 2001; Heinisch 2003). Im Folgenden soll daher der europäische Rechtsradikalismus vor allem in den verschiedenen Dimensionen von politics in einer Gegenüberstellung von diachronem und synchronem Vergleich näher ausgeführt werden. Zunächst jedoch erfolgt eine knappe Definition des Gegenstandes Rechtsradikalismus und seine Verortung in der Politikwissenschaft.
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Definition, Konzepte, Verortung: Rechtsradikalismus und vergleichende Politikforschung
Die Begriffe Rechtsradikalismus bzw. Rechtsextremismus sind in der Regel in den einschlägigen politikwissenschaftlichen Wörterbüchern anzutreffen (vgl. Drechsler/Hilligen/ Neumann 1980; Schmidt 1995; Nohlen 2003). Allerdings gibt es – im Gegensatz zu Liberalismus und Sozialismus – keinen Rechtsradikalismus, der sich als eigenständige politische Strömung etabliert und in Parteiform verfestigt hat. Definitionen des Rechtsradikalismus variieren daher enorm, von abstrakt räumlichen Positionierungen über unterschiedliche ideologische Umschreibungen bis hin zu sozio-strukturellen Charakterisierungen. Ganz allgemein werden damit jene politischen Ideen und Bestrebungen bezeichnet, welche im politischen Spektrum am äußersten rechten Rand anzutreffen sind und die Bereiche von Staat und Gesellschaft nach autoritären, ultranationalistischen und antidemokratischen Prinzipien ordnen wollen (vgl. Minkenberg 1998: 29-35; ders. 2003a). Der ultranationalistische Kern im rechtsradikalen Denken besteht darin, dass in der Konstruktion nationaler Zugehörigkeit spezifische ethnische, kulturelle, oder religiöse Ausgrenzungskriterien verschärft, zu kollektiven Homogenitätsvorstellungen verdichtet und mit autoritären Politikmodellen verknüpft werden. Demgegenüber ist der Begriff Faschismus durch historische Erfahrungen und Bezugsgrößen inhaltlich stärker eingegrenzt (vgl. hierzu
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Michael Minkenberg
Griffin 1991), während der neuere Begriff Rechtspopulismus unbestimmt bleibt und sehr unterschiedliche Gruppierungen wie die deutschen Republikaner, die italienische Forza Italia, die britische BNP, die kanadische Reform Party und die amerikanische Ross PerotBewegung zu umschließen beansprucht (vgl. hierzu Decker 2000). Das im deutschen Extremismusbegriff enthaltene Element der Verfassungsgegnerschaft (vgl. hierzu Backes/Jesse 1989) beinhaltet demgegenüber eine staatlich-normative Deutung und Ausgrenzung, die sich ebenso wie die parteiensoziologische Forschung lediglich auf Parteien, Gruppen und deren Programme bezieht. Der gesellschaftliche Ort des Rechtsradikalismus findet sich jedoch in Organisationen ebenso sehr wie in Einstellungen, Orientierungen und Milieus der Bevölkerung. Seine öffentliche Resonanz und Mobilisierung wird oft als Resultat intensiver Modernisierungsschübe in entwickelten Industriegesellschaften angesehen. Historisch kann die nach 1945 einsetzende politikwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Rechtsradikalismus als Auseinandersetzung mit dem Aufstieg, der Politik und den Wirkungen des Faschismus bzw. Nationalsozialismus der Zwischenkriegszeit charakterisiert werden (vgl. z.B. Lipset 1960). Sie unterlag damit von Anfang an einem normativen Impuls, der trotz unterschiedlicher Methoden, Fragestellungen und wissenschaftlicher Herkunft die Rechtsradikalismusforschung einte: „Studien über Rechtsextremismus sollten dazu beitragen, die Bevölkerung und die politisch verantwortlichen Stellen über demokratie-feindliche Bestrebungen von rechtsaußen aufzuklären und Kriterien zur Beurteilung politischer Prozesse bereitzustellen. Sie sollten mithin Informationen systematisch erheben und bewerten sowie Prinzipien entwickeln, die die erhobenen Informationen erklären“ (Winkler/Jaschke/Falter 1996: 10). Dass dies vor allem eine Aufgabe für die in der Frühphase der Bundesrepublik neugegründete Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“ war, liegt auf der Hand. Eine solche „demokratiewissenschaftliche“ Forschungsrichtung, die stark institutionenorientiert war, ist die Totalitarismustheorie (Brzezinski/Friedrich 1956). Sie richtet sich auf die Untersuchung von Herrschaftsformen (polities) oder darauf bezüglichen Ordnungsvorstellungen, die die Gesellschaft und die Individuen einer totalen Kontrolle unterwerfen wollen, wobei diese Kontrolle weder durch Grundrechte noch durch Gewaltenteilung beschränkt wird (vgl. Nohlen 2003: 518f.). Von diesem stark normativen und institutionentheoretischen Politikbegriff hat sich die vergleichende Rechtsradikalismusforschung mit wenigen Ausnahmen (wie z.B. der extremismustheoretischen Schule von Backes und Jesse) inzwischen abgewandt. Sie legt eher einen empirisch-analytischen, konfliktorientierten und systemtheoretisch begründeten Politikbegriff zugrunde (vgl. oben). Generell ist es immer noch schwierig, den Gegenstand der Rechtsradikalismusforschung fachspezifisch genau zu umreißen. Denn die Politikwissenschaft teilt diesen Forschungsgegenstand sowohl mit einer Reihe von Nachbardisziplinen wie der Soziologie, der Psychologie, der Pädagogik und der Geschichtswissenschaft als auch mit einigen ihrer Subdisziplinen (Ideengeschichte, Parteienforschung, Wahlforschung, politische Soziologie u.a.). Am deutlichsten wird die Abgrenzung in der Parteien- und Wahlforschung (siehe weiter unten). Aber auch hier bemächtigt sich die Politikwissenschaft unterschiedlichster, teilweise den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen verhafteter Herangehensweisen. Es können aber insgesamt zwei Hauptstränge identifiziert werden, die in vielen länderübergreifenden Vergleichsstudien angetroffen werden: die Erforschung der Einstellungsdimen-
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sion (Ideologie, Programmatik) und die Erforschung der Verhaltensdimension (Organisation, kollektives Handeln). Was die Einstellungsdimension betrifft, waren einige ältere Ansätze der Nachkriegszeit noch stark an Charaktereigenschaften interessiert, wie die psychologisch orientierte und aus der Frankfurter Schule hervorgegangene Studie vom „autoritären Charakter“ (Adorno 1950). Daraus entwickelte sich ein Schwerpunkt der Rechtsradikalismusforschung in der meist mit Methoden der Umfrageforschung vorgenommenen Untersuchung der rechtsradikalen Orientierungen, die in Gesellschaft und Politik anzutreffen sind. Bei diesen nehmen die Komponenten des Autoritarismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Ethnozentrismus, des Antisemitismus und Nationalismus sowie antidemokratische Haltungen einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Gabriel 1996; Niedermayer/Stöss 1998). Es ist jedoch schwierig, von einzelnen Einstellungen auf das Vorhandensein einer geschlossenen rechtsradikalen Ideologie in der Bevölkerung zu schließen. Immerhin liefern sie einige empirische Anhaltspunkte über die Charakteristika eines rechtsradikalen Mobilisierungspotenzials im weiteren Sinne (vgl. Minkenberg 1998: 168f.). Insgesamt jedoch steckt die vergleichende Forschung zu rechtsradikalen Einstellungen und Mobilisierungspotenzialen noch in den Kinderschuhen. Größere Fortschritte machte die Komparatistik andererseits bei sozialstrukturellen Erklärungsmodellen. Den frühen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten Modellen zufolge ist der Rechtsradikalismus Ausdruck einer „Anomie“, d.h. ein Resultat der Atomisierung und Radikalisierung der Menschen in der Massengesellschaft (Kornhauser 1959), oder Ausdruck von „Statusinkonsistenz“, d.h. eine Reaktion der in Krisenzeiten statusbedrohten Mittelschichten (Lipset 1960). Diese Vorarbeiten flossen in den achtziger und neunziger Jahren in verschiedene innovative Erklärungsansätze ein, welche überwiegend der Parteienforschung, der Jugendsoziologie und der Bewegungsforschung entstammen. Bei fast allen Ansätzen findet sich der Gedanke eines Übergangs westlicher Gesellschaften in eine Phase des post-industriellen Kapitalismus oder der Postmoderne und der Auflösung traditioneller sozialer und politischer Bindungen. So macht die Parteienforschung den Erfolg neuer rechtsradikaler Parteien an der Individualisierung von Risiken und den davon besonders betroffenen Modernisierungsverlierern (Betz 1994; Betz/Immerfall 1998) oder der Herausbildung einer neuen postindustriellen Konfliktlinie mit linkslibertären (Grünen) Parteien an einem Ende, rechtsautoritären Parteien am anderen Ende (Minkenberg 1993; Kitschelt 1995) fest. Neuere von der Erforschung sozialer Bewegungen inspirierte Ansätze beziehen neben den institutionellen auch die politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen sowie die Interaktion zwischen dem bewegungsförmigen und parteiförmigen Rechtsradikalismus und dessen gesellschaftlichen Kontext historisch-vergleichend in die Analyse mit ein (Jaschke 1994; Minkenberg 1998).
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Rechtsradikale Mobilisierung in Europa im diachronen und synchronen Vergleich
Die vergleichende Politikforschung zum Rechtsradikalismus in Europa widmet sich fast ausschließlich der Erklärung von Mobilisierungserfolgen und ist insofern stark inputorientiert. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen Parteien und Wahlen, auch Bewegungen und Klientelpolitik sowie deren Ideologien und die Kontextfaktoren politische
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Kultur und politische Prozesse. Als erstes Beispiel eines europaweiten Vergleichs des Rechtsradikalismus soll die Argumentation einer Erneuerung des Rechtsradikalismus und einer damit einhergehenden Erschließung neuer Chancen vorgestellt werden. Dies ist eine Illustration der vergleichenden Ideologie- und Organisationsforschung, in welcher gemäß Tabelle 1 die Ausgestaltung politischer Prozesse, die Rolle politischer Akteure (hier rechtsradikale Parteien) sowie deren Interessen und Verhalten im Zentrum stehen. Die vergleichende Parteienforschung hat immer wieder die Bedeutung von Konfliktlinien und des Organisationsgrades als Schlüsselfaktoren für die Mobilisierungserfolge von Parteien eingestuft, in der jüngeren Parteienforschung wurde dem programmatischen Angebot und seinem Anklang auf der Nachfrageseite des Wählermarktes, d.h. dem strategischen Verhalten der Parteien, ein vergleichsweise großes Gewicht beigemessen (vgl. Duverger 1954; von Beyme 1984; Kitschelt 1994, 1995). Nach dem Ende der faschistischen Regime der Zwischenkriegszeit lassen sich in Europa (und Nordamerika) drei Phasen rechtsradikaler Mobilisierung unterscheiden: 1. die unmittelbare Nachkriegsära (Poujadismus in Frankreich, SRP und DRP in der Bundesrepublik, MSI in Italien); 2. die sechziger und frühen siebziger Jahre (NPD in der Bundesrepublik, Powellism und National Front in Großbritannien); 3. die achtziger und neunziger Jahre, in denen sich in fast allen Demokratien rechtsradikale Parteien und Bewegungen etabliert haben (siehe weiter unten Tab. 2). Man kann in diesem Zusammenhang von einer Erneuerung des Rechtsradikalismus nach 1968 sprechen. Noch in den sechziger Jahren war in verschiedenen Ländern die Mobilisierung einer „nationalen Opposition“ zu beobachten, die sich gegen das politische Regime richtete und um ein zentrales Thema der Demokratisierung erfolgte. In Frankreich und Großbritannien war es vor allem das Ende der Kolonialreiche, das einen revanchistischen Rechtsradikalismus beflügelte. In der Bundesrepublik ist das Erstarken der NPD im Zusammenhang mit der staatlichen Teilung und der Westintegration, d.h. dem Abschied vom autoritären Nationalstaat, zu sehen. Nur in Italien hielt sich dieses Phänomen über mehrere Jahrzehnte: von der Nachkriegsära bis zu seiner Reform Mitte der 1990er Jahre hatte sich der am Faschismus orientierte Movimento Sociale Italiano (MSI) als rechtsradikale Systemopposition etabliert. Die Erneuerung des Rechtsradikalismus lässt sich in verschiedenen Erscheinungsformen, sowohl auf der ideologischen als auch auf der organisatorischen Ebene, beobachten. In Westeuropa hat sich die Idee und das Konzept des „Ethnopluralismus“ verbreitet, das sich von der traditionellen, biologistisch begründeten Hierarchie der Rassenunterschiede abhebt, gleichwohl aber die Unvereinbarkeiten von Kulturen und Ethnien hervorhebt. Es ist somit eine modernisierte Abwehrstrategie gegen Immigration und Integration. Bei dieser ideologischen Erneuerung haben die Denkzirkel, Intellektuellengruppen, Politunternehmer und think tanks der „Neuen Rechten“ eine besondere Rolle gespielt: die französische Nouvelle Droite mit den Gruppierungen GRECE und Club de l'Horloge, die italienische Nuova Destra sowie die deutsche Neue Rechte um Armin Mohler, den Deutschlandrat und die Zeitschriften „criticon“ und „Junge Freiheit“ (vgl. Gessenharter 1989; Greß/Jaschke/ Schönekäs 1990; Minkenberg 1998). Diese Neue Rechte tritt durch ihr Bemühen hervor, einen Gegendiskurs zu den „Ideen von 1968“ zu entwerfen. Dabei steht der Versuch, einen „Kulturkampf von rechts“ zu initiieren und eine kulturelle Hegemonie im vorpolitischen Raum herzustellen, im Mittelpunkt. Dieser „Kulturkampf“ war eng mit einer europapolitischen Vision verknüpft, die Europa als einheitlichen Kulturraum begriff und sich zunächst mit der Formel vom „dritten Weg“ sowohl gegen die kapitalistischen USA als auch gegen
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die kommunistische Sowjetunion (von der radikalen Rechten zusammenfassend als „Wodka-Cola-Imperialismus“ etikettiert) richtete. Die Akzente haben sich inzwischen etwas verschoben, Nationsgedanke und Nationalstaat wieder mehr Bedeutung erlangt – so änderte die Redaktion der deutschen rechtsradikalen Zeitschrift „Nation Europa“ den Namen 1990 in „Nation und Europa“ (vgl. Minkenberg 1998: 159). Heute steht daher eine immer intensivere Kritik am europäischen Integrationsprozess und der EU, die auch von den rechtsradikalen Parteien und Parteipolitikern geteilt wird, im Mittelpunkt dieser Strategie. Diese ideologische Entwicklung wurde vom Auftreten einer Vielzahl neuer rechtsradikaler Parteien und Bewegungen begleitet. In Westeuropa wurden zwischen 1965 und 1995 neunzehn rechtsradikale Parteien gegründet (Kitschelt 1995), die Hälfte von ihnen erzielte ab Anfang der achtziger Jahre durchschnittlich vier oder mehr Prozent in nationalen Wahlen (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien (in %) in nationalen Parlamentswahlen in Westeuropa, 1980 – 1999 (Durchschnittswerte)
Belgien (B) Dänemark (DK) Deutschland (D) Frankreich (F) Großbritannien (GB) Italien (I) Norwegen (N) Österreich (A) Schweden (S) Schweiz (CH) Durchschnitt (Ø)
19801984 1.1 6.4 0.2 0.4 -.6.8 4.5 5.0 -.3.8
19851989 1.7 6.9 0.6 9.9 0.6 5.9 8.4 9.7 -.6.3
19901994 6.6 6.4 2.3 12.7 0.9 17.8 6.0 19.6 4.0 10.9
19951999 10.9 9.8 3.3 14.9 -.26.7 15.3 24.4 -.9.3
Ø in den 1990ern 8.7 8.1 2.8 13.8 0.4 22.2 10.6 22.0 2.0 10.1
2.8
5.0
8.7
11.5
10.1
Quelle: eigene Recherche.
Folgende Parteien wurden in die Berechnung einbezogen: Belgien: Vlaams Blok (VB), Front National (FNB); Dänemark: Fremskridtsparti, Dansk Folkeparti; Deutschland: Republikaner, DVU, NPD; Frankreich: Front National (FN); Großbritannien: British National Party, National Front; Italien: Movimento Sociale Italiano (MSI), Alleanza Nazionale (AN), Movimento Sociale-Fiamma Tricolore, Lega Nord; Norwegen: Fremskrittsparti; Österreich: FPÖ; Schweden: Ny Demokrati; Schweiz: Autopartei, Schweizer Demokraten, Lega dei Ticinesi.
Auf der Ebene des Parteiendiskurses ist hervorzuheben, dass kaum eine der rechtsradikalen Parteien noch eindeutig diktatorische oder autokratische Politikkonzepte vertritt (vgl. im folgenden Minkenberg 1998: 269-282; 289-300). Dies trifft vor allem auf die besonders erfolgreichen Parteien in Belgien, Österreich, Frankreich und Italien zu. Sie wollen die Demokratie nicht abschaffen, aber im Sinne einer „Ethnokratie“ umdeuten. Fast allen Parteien gemeinsam ist ein exklusives Nationsverständnis, das mit den Parolen: „Les Français d'abord!“, „Deutschland den Deutschen!“ die Zugehörigkeit zur Nation und die Teilhaberechte an den Gütern und Leistungen des Systems (insbesondere am Wohlfahrtsstaat) an ethnischen Kriterien festmacht. Diese Slogans unterscheiden sich von früheren Forderun-
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Michael Minkenberg
gen eines Algérie française oder dem NPD-Aufruf der sechziger und siebziger Jahre „Breslau, Königsberg, Stettin – deutsche Städte wie Berlin!“. Allerdings bestehen im Fall der deutschen Parteien revanchistische Gedanken einer Rückkehr verlorener Gebiete noch fort. Der französische Front National ist in der ideologischen Erneuerung am weitesten fortgeschritten. Mit dem Verlust Algeriens hat er sich abgefunden. Vom Poujadismus der 1950er Jahre hat er zwar den Populismus übernommen, nicht jedoch dessen antimodernes Wirtschaftsprogramm. Bei fast allen Parteien der neuen radikalen Rechten ist die alte wirtschaftspolitische Suche nach dem „dritten Weg“ jenseits des „Wodka-Cola-Imperialismus“ zugunsten einer prinzipiellen, aber nicht uneingeschränkten Bejahung der Marktwirtschaft abgeschlossen. Hier mischen sich wohlfahrtschauvinistische, sozialprotektionistische und fremdenfeindliche Bezüge mit einem systemkritischen (d.h. vor allem gegen die Parteien, Parlamente und das politische Establishment gerichteten), aber nicht demokratiefeindlichen Populismus (vgl. hierzu Betz 2003; Ignazi 2003). Man kann vor allem an dieser Stelle der Rechtsradikalismusforschung eine Verknüpfung der politics-Dimension mit den Dimensionen von polity (die Frage der Systemgegnerschaft) und policy (die einwanderungs-, wirtschafts-, sozial- und außenpolitischen Forderungen dieser Parteien) feststellen. Neben der programmatischen Entwicklung stehen in der vergleichenden Parteienforschung die organisations- und wahlsoziologischen Aspekte im Mittelpunkt. Organisatorisch korrespondieren rechtsradikale Parteien meist mit Verfassungsprinzipien und Strukturen des jeweiligen politischen Systems (z.B. Zentralismus vs. Föderalismus), jedoch findet sich überall ein auf eine prominente Führerfigur zugeschnittenes hierarchisches Organisationsprinzip. Statt innerparteilicher Demokratie dominiert ein im rechtsradikalen Denken verwurzeltes autoritäres Politikverständnis und ein Willensbildungsprozess von oben nach unten. Besonders charismatische Führer (Le Pen, Haider) haben zweifellos zu den Erfolgen einzelner Parteien oder Bewegungen beigetragen, ebenso der Aufbau eines Netzwerks von Vorfeldorganisationen und innerparteilichen Gruppen (Jugendgruppen, Frauenverbände, Gewerkschaften, Bildungsvereine) wie vor allem beim französischen Front National, belgischen Vlaams Block oder der österreichischen FPÖ. Der Organisationsgrad einzelner Parteien entspricht deren Wahlerfolgen. Die FPÖ mit ca. 50.000 Mitgliedern (1999) und die italienische AN mit ca. 485.000 Mitgliedern (1998) sind die im Verhältnis zur Bevölkerungszahl stärksten der europäischen rechtsradikalen Parteien – allerdings zählt die AN ab Ende der 1990er Jahre nicht mehr zum rechtsradikalen Lager. Dahinter stehen mit einigem Abstand der FN (ca. 60.000 im Jahr 1999) und der VB (ca. 10.000 im Jahr 1999) (Mair/van Biezen 2001). Die deutschen rechtsradikalen Parteien kommen zusammen auf 24.500 Mitglieder (2003), davon ist die DVU mit 11.500 die größte (NPD: 5000) (Bundesministerium des Innern 2004). Bei der Analyse der Unterstützung rechtsradikaler Parteien spricht die Wahlforschung von Protestwählern und Modernisierungsverlierern (vgl. Betz 1994; Minkenberg 1998: Kap. 8). Ein wichtiger Indikator ist die politische Unzufriedenheit, dazu kommen die Dimensionen der Ideologie und der politischen Vermittlung (vgl. Falter 1994; Mayer 1999; Perrineau 2001). Aber weder die aktuelle Höhe der Arbeitslosigkeit noch die Präsenz von Zuwanderern stehen in einem direkten Zusammenhang mit einem Anwachsen rechtsradikalen Wahlverhaltens. Sozialstrukturell handelt es sich eher um Angehörige der Arbeiterschaft und unteren Mittelschichten mit geringerer formaler Bildung; so liegt der Arbeiteranteil an den Wählern rechtsradikaler Parteien in vielen Ländern derzeit um die 30%. Zudem sind diese Wähler häufig überdurchschnittlich jung und männlich. Soziale Variablen allein
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erklären hier nur wenig. Bei den rechtsradikalen Parteien hat sich im Laufe der Zeit eine Wählerkoalition herauskristallisiert, die weder quer durch alle sozialen Schichten verläuft, noch das untere Ende der sozialen Leiter darstellt. Diese Wähler sind nicht Opfer eines sozialen Abstiegs, sondern eher als „Verlierer“ in einem Prozess der Ausdifferenzierung neuer Lebenschancen und Gegner einer weiteren Pluralisierung der Gesellschaft zu betrachten. In der Regel treffen geringe Bildung, rigides Denken und traditionelle Werte aufeinander und verstärken sich gegenseitig. Man müsste daher besser von Modernisierungsverlierern in einem subjektiven Sinne oder „Modernisierungsgegnern“ reden. Dieser Trend widerspricht der Argumentation, die in den neuen rechtsradikalen Parteien den Typ einer rechtspopulistischen catch-all party sehen will. Generell ist festzustellen, dass rechtsradikale Parteien in Europa dort erfolgreich waren, d.h. ihre Relevanz als Input-Faktoren im politischen System steigern konnten, wo es ihnen gelang, Flexibilisierung, die Verhinderung von Marginalisierung und Profilierung miteinander zu verknüpfen und sich dadurch gesellschaftlich zu verankern. D.h. der Erfolg wurde vor allem durch eine Bündelung folgender Faktoren erreicht: eine Modernisierung der Ideologie und Strategie rechtsradikaler Parteien, eine Anpassung an die Gelegenheitsstrukturen und Wahrung von Anschlussmöglichkeiten an den traditionellen Nationsgedanken sowie die Herausbildung eines eigenen Profils in Abgrenzung zu anderen politischen Akteuren. Der hier skizzierte diachrone Vergleich kann allerdings eher den allgemeinen Aufschwung rechtsradikaler Parteien in Europa ab den 1980er Jahren erklären. Unter welchen Bedingungen haben rechtsradikale Kräfte nun Aussicht auf erfolgreiche Mobilisierung? Zur Beantwortung dieser Frage müssen die zum Teil beträchtlichen Unterschiede in den Wahlerfolgen auch im Lichte des jeweiligen strukturellen und kulturellen Kontextes und der Konfiguration von Kontextvariablen gesehen werden (vgl. Behr 2002). Bereits 1988 forderte Klaus von Beyme in einem Überblick über den europäischen Rechtsradikalismus, sich von der engen Fixierung auf Parteien und Wahlen zu lösen: „Future studies of right-wing extremism will have to pay more attention to the whole political context of this political movement” (von Beyme 1988b: 16). Diese Anregung wird hier, wie aufgrund des bisher Gesagten klar geworden sein sollte, aufgegriffen. Der damit einhergehende Perspektivenwechsel ist zugleich als kritische Ergänzung einer allzu engen Auslegung des Politikbegriffs in den Dimensionen der Tabelle 1 zu sehen, die die Rahmenbedingungen für Politik lediglich an institutionellen oder formellen Strukturen festmacht, ohne auf die dynamischen Elemente von informellen Kontextfaktoren (abgesehen von der politischen Kultur) näher einzugehen (vgl. auch Beichelt 2005). In Anlehnung an eigene Vorarbeiten (vgl. Minkenberg 1998: Kap. 7, 9 sowie Minkenberg 2003a) kann damit ein Modell zur Erklärung rechtsradikaler Mobilisierung in Europa unter der Berücksichtigung von strukturellen und kulturellen Kontextfaktoren zur Diskussion gestellt werden (zusammenfassend Tabelle 3, siehe unten). Zu den kulturellen Kontextfaktoren können vorherrschende nationale Traditionen („Nationstyp“), die politische Kultur sowie die Religion gezählt werden. Rechtsradikale Mobilisierung kann, erstens, vor allem dort gelingen, wo ein dem mainstream gegenüberstehendes Nationskonzept angeboten wird, das dennoch durch Anschluss an nationale Traditionen eine besondere Legitimität beanspruchen kann. Rechtsradikale Akteure können, zweitens, besonders dort Legitimität erwarten, wo autoritäre Muster und der Unterordnungsgedanke weit verbreitet sind. Drittens hat die Forschung immer wieder auf die mobilisierungshemmende Kraft des Katholizismus verwiesen.
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Michael Minkenberg
Bei den strukturellen Kontextfaktoren sind vor allem die vorherrschenden Konfliktlinien im Parteienwettbewerb (die dominanten Konfliktthemen und der Grad der politischen Polarisierung) sowie die politischen Gelegenheitsstrukturen (Wahlrecht und Repressionsstrategien wichtiger Akteure) zu nennen (vgl. Kitschelt 1986, 1994; Rucht 1994). So wird eine Konvergenz der etablierten Parteien als besonders begünstigend für rechtsradikale Parteien eingestuft. Auch wird davon ausgegangen, dass Repression des Staates bzw. deutliche Ausgrenzung durch die anderen Parteien mobilisierungshemmend wirken, während das Verhältniswahlrecht im Vergleich zum Mehrheitswahlrecht begünstigend für kleine, neue (und damit auch rechtsradikale) Parteien wirkt. Schließlich muss zwischen dem Rechtsradikalismus in Parteienform und der nicht-parteiförmigen radikalen Rechten (Bewegungen, Szenen, Subkulturen) unterschieden werden. In Tabelle 3 werden die länderspezifischen Ausprägungen all dieser Faktoren zusammengefasst. Hier handelt es sich zunächst um einen eher impressionistischen als einen methodisch abgestützten Überblick, der allerdings einige Hypothesen zu stützen bzw. neue zu generieren vermag. Tabelle 3: Parteien- und Bewegungsstärke der radikalen Rechten und Kontextfaktoren in Westeuropa 1a
1b
1c
2a
2b
2c
2d
Parteienstärke
Bewegungsstärke
Österreich Frankreich Italien Belgien
0.5 0.5 0.5 (0)
0.5 0.5 0.5 0.5
1 1 1 1
1 0 0 1
0.5 0.5 0.5 0
1 1 1 0.5
1 0.5 0.5 1
HOCH HOCH HOCH HOCHMED.
NIEDRIG NIEDRIG NIEDRIG MEDIUM
Dänemark Norwegen Schweiz
1 1 0
0 0 0
0 0 0.5
0.5 0.5 1
1 0.5 k. Daten
0.5 0 0.5
1 1 1
MEDIUM MEDIUM MEDIUM
MEDIUM HOCH MED.-HOCH
Deutschland (W)
0.5
0
0.5
0.5
1
0
1
NIEDRIG
MEDIUM
Deutschland (O)
1
1
0
0
0
0
1
NIEDRIG
HOCH
Großbritannien Schweden
1 1
0 0
0 0
0 0.5
1 0.5
0 0
0 1
NIEDRIG NIEDRIG
HOCH HOCH
Kontextfaktoren und Variablen: Faktor 1 – Kultur: Var 1a Nationstyp: ethnokulturell 1, politisch/zivil 0 Var 1b politische Kultur: traditional 1, liberal-demokratisch 0 Var 1c dominante religiöse Tradition: katholisch 1, protestantisch 0 Faktor 2 – Strukturen: Var 2a Cleavages: Konvergenz 1, Polarisierung 0 Var 2b Cleavages: starke Neue Politik 1, schwache Neue Politik 0 Var 2c pol. Gelegenheitsstrukturen: schwacher Staat/Parteienreaktion 1, Ausgrenzung/Repression 0 Var 2d pol. Gelegenheitsstrukturen: Verhältniswahlrecht 1, Mehrheitswahlrecht 0 Quelle: Minkenberg (2003a), S. 166.
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Beim Blick auf Tabelle 3 fällt zuerst einmal folgendes Muster auf: Der Gruppe von Ländern, in denen der rechtradikale Parteiensektor stark, der Bewegungssektor jedoch eher schwach ist (Österreich, Frankreich, Italien und Belgien, wenn man berücksichtigt, dass in Belgien der Vlaams Blok nicht im wallonischen Landesteil antritt, und man infolgedessen nur die Wahlergebnisse in Brüssel und Flandern heranzieht), steht eine andere Gruppe gegenüber, in der es sich genau umgekehrt verhält (Deutschland, Großbritannien, Schweden). Diese Variationen lassen sich eher mit kulturellen als mit strukturellen Faktoren erklären. Denn alle vier Länder mit starkem rechtsradikalem Parteiensektor sind überwiegend katholisch, während die drei Länder mit schwachem Parteien- und starkem Bewegungssektor überwiegend protestantisch sind. Das wird im innerdeutschen Vergleich noch einmal bestätigt: denn in den neuen Ländern, die man als protestantisch oder gar völlig entkirchlicht einstufen kann, ist der Bewegungssektor besonders stark ausgeprägt, während der Parteiensektor vor allem in den alten Ländern, und hier noch einmal besonders im katholischen Süden stark ist. Diese Tendenz wird vom Faktor Nationstyp verstärkt, obwohl er für sich genommen weniger aussagekräftig scheint. Die Wirkung struktureller Faktoren ist weniger deutlich. Von den politischen Gelegenheitsstrukturen kommt der Reaktion anderer politischer Akteure auf die radikale Rechte ein größeres Gewicht zu als etwa dem Wahlsystem: Repression oder Ausgrenzung hemmt die rechtsradikalen Parteien, scheint aber nicht zu verhindern, dass sich der Bewegungssektor vergleichsweise stark entfaltet. Dies wirft wichtige Fragen nach dem richtigen Umgang mit Rechtsradikalismus und nach der Auswahl der Mittel mit Blick auf die beabsichtigten Ziele auf (vgl. Minkenberg 2003b).
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Fazit
Für die vergleichende Politikforschung in Europa bietet das Studium des Rechtsradikalismus aufschlussreiche Einsichten in die politischen Prozesse europäischer Demokratien. Wie in diesem Beitrag deutlich gemacht wurde, spielen die rechtsradikalen Parteien sowie die Mobilisierung rechtsradikaler Wählerpotenziale in der vergleichenden Politikwissenschaft eine besondere Rolle, die mit der zentralen Funktion politischer Parteien in demokratischen Systemen zusammen hängt. Allerdings dürfen darüber nicht die anderen Facetten des Rechtsradikalismus vernachlässigt werden, insbesondere die Rolle von rechten Bewegungen und Subkulturen. Generell liefert die vergleichende Politikforschung Erkenntnisse überwiegend in den Bereichen der rechtsradikalen Akteure und Gruppen. Dies betrifft Fragen ihrer unterschiedlichen Ausprägungen im Vergleich einzelner Länder (z.B. die Stärke des Bewegungssektors oder die jeweilige ideologische Ausrichtung). Dazu zählen aber auch die Dimensionen ihrer Interaktionen mit dem Umfeld (z.B. die Chance ihrer Duldung durch andere Akteure) und der Kontextbedingungen, die sich auf das Auftreten und die Mobilisierung des Rechtsradikalismus auswirken. Mit diachronen und synchronen Vergleichen der rechtsradikalen Mobilisierungserfolge können systematisch gewonnene Erkenntnisse aufgezeigt werden, die in EinzellandStudien nur ansatzweise erzielt werden können. Diese betreffen erstens allgemeine Aussagen über kausale Zusammenhänge bei einer Unterscheidung und Isolierung einzelner Faktoren und ihrer Klassifizierung (als zu erklärende Variable, als Kontextfaktor). Hier konnte gezeigt werden, dass einerseits strukturellen Faktoren wie dem Wahlsystem weniger Gewicht beizumessen ist als in der Parteienforschung üblich, und dass andererseits kulturellen
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Michael Minkenberg
Faktoren, die bislang stark vernachlässigt wurden (wie religiösen Traditionen), mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Andererseits erweist sich der geographische Faktor als Grundlage für das Studium einzelner Länder und vor allem für die area studies als relevant. Die daraus hervorgehende differenzierende Klassifikation und Typenbildung zeigt bestimmte cluster von Ländern, in denen der rechtsradikale Parteiensektor stark, der Bewegungssektor hingegen schwach ist, und andere Länder, in denen es sich eher umgekehrt zu verhalten scheint. Hier kann eine konfigurationsanalytische oder auch stärker quantitativ orientierte vergleichende Politikforschung anknüpfen, um z.B. die relative Bedeutung einzelner Kontextfaktoren und das Zusammenspiel von Binnen- und Außenfaktoren näher zu untersuchen. Der hier dargestellte Befund des europäischen Rechtsradikalismus muss in seiner Wirkung auf die EU anders beurteilt werden als im nationalstaatlichen Rahmen. Grundsätzlich sind direkte Einflüsse auf den Prozess der Integration und das Funktionieren der EU als eher gering einzustufen. Das zeigt zum Beispiel das insgesamt magere Abschneiden dieser Parteien in den Wahlen zum Europa-Parlament, trotz der in einzelnen Ländern über dem nationalen Durchschnitt liegenden elektoralen Unterstützung. Vor den EP-Wahlen vom Juni 2004 gab es 19 rechtsradikale Abgeordnete in Straßburg (3% der 626 Sitze), danach, im erweiterten Parlament, waren es 29 (4% der 732 Sitze). Außerdem treten die Rechtsradikalen anders als die Sozialisten oder die EVP nicht einheitlich auf, sondern führen viele Grabenkämpfe (vgl. Minkenberg/Perrineau 2005). Wirkungen des Rechtsradikalismus auf die EU sind in dem Maße nachweisbar, wie sich Wirkungen auf die Politik nationaler Regierungen belegen lassen. Hier steckt die Forschung allerdings noch in den Anfängen. Denn die vergleichende Politikwissenschaft beschäftigt sich eher mit den Ursachen rechtsradikaler Mobilisierungserfolge (zu denen auch die fortschreitende Europäisierung nationaler Politik zu zählen ist) als mit deren Effekten. Ein Beispiel möglicher Effekte auf die EU-Ebene besteht in der Politisierung der Einwanderungsfrage durch Rechtsradikale in einzelnen Ländern und der Reaktion der nationalen Politik darauf (Schain 2002; Minkenberg 2001, 2003c). Es würde allerdings wohl zu weit führen, die Harmonisierung der europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik auf das Auftreten rechtsradikaler Akteure zurück zu führen. Eher könnte man Gegenmaßnahmen der EU als Effekt von Rechtsradikalismus einstufen, so z.B. die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU oder die fruchtlose Reaktion der EU auf die erstmalige Regierungsbeteiligung der österreichischen FPÖ im Februar 2000.
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Die regionale Dimension der europäischen Entwicklung
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Stefan Krätke
Die regionale Dimension der europäischen Entwicklung
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Einleitung
Die Europäische Union hat sich zu einer institutionell und ökonomisch stark vernetzten transnationalen Wirtschaftsgemeinschaft mit einem einheitlichen Binnenmarkt für Kapital, Arbeit, Waren und Dienstleistungen entwickelt. Als ein Kernstück des europäischen Integrationsprozesses ist die Wirtschaftsintegration bereits weit vorangeschritten. Die Handelsbeziehungen und Unternehmensverflechtungen zwischen den EU-Ländern haben sich fortschreitend intensiviert, und auch die aktuelle EU-Osterweiterung trägt zu einer weiteren Vertiefung der wirtschaftlichen Integration Europas bei. Die Europäische Union wird zunehmend als ein Wirtschaftsblock betrachtet, der sich im globalen Wettbewerb gegenüber den anderen großen Wirtschaftsblöcken in Nordamerika und Asien behaupten muss. Dabei hat sich die EU das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2010 zum Wirtschaftsraum mit der weltweit stärksten Dynamik im Bereich der wissensintensiven Wirtschaft zu werden (sog. LissabonProzess). Gleichwohl ist die EU-Wirtschaftsintegration mit Problemen und Widersprüchen konfrontiert: Zwischen den Volkswirtschaften der EU-Länder und noch mehr zwischen den Regionen1 Europas bestehen nach wie vor erhebliche Struktur- und Entwicklungsifferenzen. Die starken Ungleichgewichte auf regionaler Ebene und das Ziel, den Zusammenhalt der Regionen zu stärken und eine „ausgewogene Entwicklung“ des europäischen Raums zu erreichen, haben der regionalen Strukturpolitik und der ressortübergreifend konzipierten Raumentwicklungspolitik eine prominente Stellung unter den Politikfeldern der Europäischen Union gegeben. Dabei hat die regionale Dimension europäischer Entwicklung auch eine erhebliche Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung und globale Wettbewerbsfähigkeit der EU: Die wirtschaftlichen Entwicklungs-Zentren Europas sind nicht auf der Ebene von nationalen Ökonomien zu fassen, sondern in bestimmten regionalen Wirtschaftszentren zu verorten. Bei diesen kann es sich um größere prosperierende Wirtschaftsregionen ebenso wie um strukturstarke Stadtregionen oder auch Metropolräume handeln. Sowohl in der „alten“ EU als auch auf dem Gebiet der Beitrittskandidaten gibt es ausgeprägte regionale Disparitäten, d.h. starke Abweichungen in der Wirtschaftskraft, Arbeitsmarktsituation, im Zugang zu Bildung und Wissen sowie in der Lebens- und Umweltqualität. Die Regionen Europas unterscheiden sich in West und Ost insbesondere nach ihren ökonomischen und institutionellen Ressourcen sowie nach ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
1
Unter „Regionen“ werden meist administrative Gebietseinheiten verstanden, die unterhalb der Maßstabsebene des nationalstaatlichen Territoriums angesiedelt sind, jedoch oberhalb der Maßstabsebene einzelner Landkreise und Orte. In wirtschaftsgeographischer Perspektive bestehen Regionen aus einem funktionalen Zusammenhang mehrerer Orte und Standorte, die ein Interaktionsfeld wirtschaftlich-sozialer Akteure bilden (z.B. Arbeitsmarktregionen). Regionen sind im Kern sozio-ökonomische Verflechtungsräume, die aber für Zwecke der Politik und Administration, Planung und Wirtschaftsförderung meist in „pragmatischer“ Weise territorial abgegrenzt werden.
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Stefan Krätke
Die Raumentwicklung in Europa ist heute zu einem Querschnittsbereich der europäischen Politik geworden, in dem wirtschaftliche und soziale Ziele besonderen Stellenwert haben, wobei das von den Mitgliedsstaaten vereinbarte „Europäische Raumentwicklungskonzept“ zwischen Ausgleichszielen – der besonderen Förderung strukturschwacher Regionen zum Abbau von Disparitäten – und Wachstumszielen – der Stärkung von regionalen Wirtschaftszentren Europas als Motoren der globalen Wettbewerbsfähigkeit – schwankt. Eine besondere Herausforderung für die regionalwirtschaftliche Entwicklung im EU-Raum stellt die aktuelle EU-Osterweiterung dar: Die Auswirkung der EU-Osterweiterung betrifft viele Regionen Europas, und es wird bevorteilte und benachteiligte Regionen in der „alten“ EU wie auch in den Beitrittsländern geben. Nutzen und Lasten aus der Erweiterung (und ihrer Finanzierung) werden sich sowohl zwischen den verschiedenen EU-Ländern als auch zwischen Industriezweigen und Regionen unterschiedlich verteilen. In diesem Beitrag sollen erstens Grundmerkmale der sozio-ökonomischen Raumstruktur Europas und die regionalen Disparitäten im europäischen Raum skizziert werden. In diesem Zusammenhang ist die regionale Strukturpolitik der Europäischen Union anzusprechen und auf die für die Zukunft der Städte und Regionen relevanten Einflussfaktoren der regionalen Wettbewerbsfähigkeit hinzuweisen. Zweitens wird das von den EU-Mitgliedsstaaten vereinbarte „Europäische Raumentwicklungs-Konzept“ (EUREK) als zentrales programmatisches Dokument der europäischen Raumentwicklungspolitik behandelt, das die Raumentwicklung der EU als eine ressortübergreifende Querschnittsaufgabe europäischer Politik betrachtet. In dieser Konzeption kommt auch das Spannungsverhältnis zwischen den Ausgleichs- und Wachstumszielen einer europäischen Raumentwicklungspolitik zum Ausdruck, die den Zusammenhalt der Regionen stärken und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Rahmen der Globalisierung steigern möchte. Insgesamt möchte der Beitrag anhand exemplarischer Themen die Probleme beleuchten, die auf der regionalen Ebene europäischer Entwicklung zu erkennen und zu bearbeiten sind, womit auch aktuelle Herausforderungen für die interdisziplinäre europäische Stadt- und Regionalforschung ins Blickfeld kommen. Die regionale Dimension der europäischen Entwicklung schließt auch die Städte Europas insofern ein, als urbane Verdichtungs- und Metropolräume einen besonderen Regionstypus bilden. Städte werden in diesem Zusammenhang also nicht auf ihre Funktion als lokale administrative Gebietseinheiten reduziert, sondern primär als räumlich verdichtete wirtschaftliche Aktivitätszentren betrachtet. Die urbanen Verdichtungsräume sind mit ihrer Konzentration von wirtschaftlichen Entwicklungsressourcen und Innovationspotenzialen von größter Bedeutung für das wirtschaftliche Regionalsystem eines nationalstaatlichen Territoriums wie auch der EU insgesamt. Aus diesem Grunde werden in der neueren Regionalforschung die Stadtregionen und urbanen Verdichtungsräume besonders intensiv behandelt. In diesem Sinne wird die Rolle von Städten im wirtschaftlichen Regionalsystem auch in diesem Artikel herausgestellt.
Die regionale Dimension der europäischen Entwicklung 2
205
Regionale Disparitäten und Raumstrukturen in Europa
2.1 Regionale Wirtschaftskraft-Differenzen und ihre Entwicklungsrichtung Die Raumstruktur Europas zeigt beträchtliche ökonomische Disparitäten zwischen Regionen und Städten,2 auf deren Basis auch die Frage nach einer Polarisierung des gesamten Raumgefüges der EU in „Zentrum (Kernraum) und Peripherie“ diskutiert wird. Die regionalen Disparitäten im europäischen Raum werden in erster Linie an regionalen Wirtschaftskraft-Differenzen nach dem groben Indikator des Bruttoinlandsprodukts (BIP) je Einwohner (in Kaufkraftstandards) gemessen. Dieser Indikator fungiert zugleich als die zentrale Variable zur Festlegung von förderungswürdigen Regionen im Rahmen der europäischen Strukturpolitik. Die Spannweite des BIP pro Kopf ist auf der regionalen Maßstabsebene wesentlich größer als im Vergleich der Nationalstaaten Europas, wobei insbesondere die überaus starke Abweichung der Wirtschaftskraft führender Metropolregionen Europas von den nationalen Durchschnittswerten zu Buche schlägt. Im Jahre 2000 reichte die Spannweite des regionalen BIP pro Kopf von 3.678 EUR im Nordosten Rumäniens (was 16,3 % des Durchschnitts der 15 EU-Mitgliedsländer im Jahre 2000 entspricht) bis hin zu 54.565 EUR in der britischen Hauptstadtregion Inner London, die somit 241,4 % des Durchschnitts der EU-15 erreicht (vgl. Eurostat 2003; s. auch die Aufstellung in Tabelle 1). Die regionalen Wirtschaftskraft-Differenzen im europäischen Raum lassen verschiedene Muster erkennen: Die verschiedenen europäischen Länder zeigen eine unterschiedlich große Spannweite der regionalen Disparitäten: In Deutschland z.B. reicht diese von 64,2 % des Durchschnitts der 15 EU-Mitgliedsländer in der ostdeutschen Region Dessau bis 181,5 % in der Region Hamburg. In Spanien z.B. reicht die Spannweite dagegen von 53,0 % in der Extremadura bis zu 110,0 % in der Region Madrid (vgl. Eurostat 2003; s. auch die Aufstellung in Tab 1). Die Wirtschaftskraft in den führenden urbanen Wirtschaftszentren bzw. Metropolregionen der EU-Länder ist häufig um ein Vielfaches größer als in den jeweiligen „strukturschwächsten“ Regionen (bei denen es sich meist um periphere ländliche Gebiete oder auch um altindustrielle Gebiete im Niedergang handelt). In Griechenland und Portugal erreichen selbst die Regionen mit der im jeweiligen nationalen Raum höchsten Wirtschaftskraft nicht den Durchschnittswert der EU-15. In dieser Hinsicht sind beide Länder bereits von den Hauptstadt-Regionen der Tschechischen Republik und der Slowakei „überholt“ worden.
2 Städte repräsentieren – siehe unten – einen bestimmten Typus von Regionen und werden zunehmend als „Stadtregionen“ betrachtet, deren wirtschaftlich-sozialer Verflechtungsraum häufig über die administrative Stadtgrenze hinausreicht.
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Stefan Krätke
Tabelle 1: Regionale Wirtschaftskraft-Differenzen in Europa 2000 (BIP pro Einwohner in KKS auf NUTS 2 -Ebene*; Durchschnitt EU-15: 22603 (ohne Beitrittsländer 2004, ohne Rumänien und Bulgarien)) BIP/EW (KKS) Land
niedrigster
höchster
Wert
Wert
EU-15 = 100 niedrigster höchster
Regions-Name niedrigster
Wert
Wert
Wert
65
241
Cornwall & Isl. Scilly
höchster Wert
Großbritannien
14685
54565
Inner London
Belgien
16003
49191
71
218
Hainaut
Bruxelles
Deutschland
14502
41025
64
182
Dessau
Hamburg
Frankreich
17188
35783
76
158
Corse
Ile de France
Österreich
16556
35483
73
157
Burgenland
Wien
Schweden
20570
33235
91
147
Norra Mellansverige
Stockholm
Finnland
16849
32365
75
143
Itä-Suomi
Uusimaa
Niederlande
18062
31711
80
140
Flevoland
Utrecht
Italien
14047
30804
62
136
Calabria
Trentino-Alto Adige
Irland
18940
28571
84
126
Border, Midl. & West. Southern & Eastern
Tschechien
10167
27354
45
121
Stredni Morava
Spanien
11980
24855
53
110
Extremadura
Madrid
Slowakei
8014
22134
35
98
Vychodne Slovensko
Bratislavsky
Portugal
11683
20538
52
91
Acores
Lisboa & V. do Tejo
Griechenland
10643
18030
47
80
Ipeiros
Notio Aigaio
Ungarn
7123
17094
32
76
Eszak-Alföld
Közep-Magyarorszag
Polen
6019
13316
27
59
Lubelskie
Mazowieckie
Rumänien
3678
10876
16
48
Nord-Est
Bucuresti
Bulgarien
4781
7593
21
34
Yuzhen Tsentralen
Yugozapaden
Praha
*) ohne Darstellung für Dänemark, Luxemburg, Estland, Slowenien, Lettland, Litauen, Malta und Zypern (da keine regionale Differenzierung auf NUTS 2 -Ebene gegeben) Quelle: Eurostat (Hg.): Regionen – Statistisches Jahrbuch 2003. Luxemburg 2003.
Die EU-Beitrittsländer Ostmitteleuropas weichen in den nationalen Durchschnittswerten bekanntlich von allen bisherigen EU-Mitgliedsländern deutlich nach unten ab. Dabei zeigen aber auch die Beitrittsländer Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen ausgeprägte regionale Wirtschaftskraft-Differenzen innerhalb des jeweiligen nationalstaatlichen Territoriums, wobei in jedem dieser Länder die Hauptstadtregion weit über dem Landesdurchschnitt liegt (vgl. Eurostat 2003; s. auch Aufstellung in Tabelle 1). Die Region von Prag (Tschechien) konnte im Jahre 2000 bereits eine Wirtschaftskraft von 121,0 % des Durchschnitts der EU15 vorweisen. Ähnlich wie bei der regionalen Wirtschaftskraft sind auch bei der Arbeitsmarktsituation in den Regionen Europas starke Disparitäten zu verzeichnen: Gemessen an den jeweils offiziell registrierten Arbeitslosenquoten reichte im April 2001 die Spannweite auf regionaler Ebene von 1,2 % bis 33,3 % in den „alten“ EU-Ländern, und von 2,0 % bis 32,8 % in den neuen EU-Beitrittsländern (vgl. Eurostat 2003: 53).
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Für die Perspektiven der europäischen Integration und des „Zusammenhalts“ zwischen den Ländern und Regionen Europas ist auf diesem Hintergrund die Frage von Bedeutung, ob sich in der längerfristigen Entwicklung der Wirtschaftskraft-Differenzen eine Tendenz zur Konvergenz (d.h. Abbau von Disparitäten) oder Divergenz (d.h. Akzentuierung oder Verstärkung von Disparitäten) feststellen lässt. Ziel der Europäischen Union ist es, im Zuge der wirtschaftlichen Integrationsprozesse die ärmeren bzw. schwächeren Länder und Regionen besser zu stellen und – mit Bezug auf den EU-Raum insgesamt – die Disparitäten längerfristig zu reduzieren (Arnold 1995), damit nicht ein Teil der Mitgliedsländer und Regionen immer weiter gegenüber den strukturstarken EU-Räumen zurückfällt und den Anschluss an die gesamteuropäische Entwicklung verliert. Im Zeitraum 1988 bis 1998 zeigt sich mit Bezug auf die Konvergenz-Frage eine zwiespältige Entwicklung: Die Wirtschaftskraft-Disparitäten haben sich zwischen den EU-Mitgliedsländern insgesamt geringfügig verringert; dagegen haben sich die Differenzen zwischen den Regionen innerhalb der EU in diesem Zeitraum deutlich weiter auseinander entwickelt (Brasche 2003: 229), d.h. die regionalen Disparitäten haben zugenommen. Mit der EU-Osterweiterung werden die regionalen Disparitäten im EU-Raum zunächst noch weiter zunehmen, da die Regionen der Beitrittsländer zum größten Teil noch eine vergleichsweise geringe Wirtschaftskraft aufweisen, die deutlich unter dem Durchschnitt der Regionen der „alten“ EU-Länder liegt.
2.2 Europäische Raumstrukturmodelle Die wirtschaftlich starken und schwachen Regionen sind nicht zufällig über die Landkarte Europas verstreut, sondern bilden großräumige Muster (wie zusammenhängende Korridore oder großflächige „Kernräume“ mit strukturstarken Wirtschaftsregionen). Die geographischen Verteilungsmuster der wirtschaftlich starken Regionen sind immer wieder als Ausgangspunkt der Konstruktion von Raumstrukturmodellen Europas genutzt worden, wobei die Herausbildung einer polarisierten Raumstruktur (zunächst im Raum der „alten“ EULänder) konstatiert wurde: Schon während der Vorbereitungsphase zur Schaffung des europäischen Binnenmarktes wurden Untersuchungen über europäische „Wachstumszentren der Zukunft“ erstellt (vgl. RECLUS 1989; Ifo 1990; Schätzl 1993), welche die kurz vor der deutschen Wiedervereinigung und der Öffnung ostmitteleuropäischer Länder gegebene wirtschaftsräumliche Konstellation in einem Raumstrukturmodell zu verdeutlichen suchten. Danach gibt es im Gebiet der „alten“ Europäischen Union zwei verdichtete wirtschaftliche „Kraftfelder“, und zwar erstens eine Nord-Süd-Achse in Europas am dichtesten besiedeltem und höchstentwickeltem Raum, die von Süd-England über die Rhein-Rhone-Linie bis in die Lombardei reicht (mit London und Mailand als Endpunkten) – die so genannte „Banane“; daneben hat sich zweitens eine Ost-West-Achse von der Toskana über Mailand, Lyon bis Barcelona und Valencia ausgebildet – dieser europäische Sunbelt erscheint als Ost-WestSchiene am Mittelmeer. Die zugrunde liegenden Studien gingen davon aus, dass im Europa der 1990er Jahre traditionelle nationale Metropolräume wie London, Paris und Madrid wirtschaftlich prosperieren würden. Hervorragende Wachstumsaussichten wurden aber darüber hinaus für regionale Wirtschaftszentren prognostiziert, die durch eine führende Stellung in hochwertiger industrieller Fertigung und bei produktionsorientierten Dienstleistungen gekennzeichnet sind („Aufsteiger“-Regionen). Zugleich wurde den peripher zu den Kraftfeldern Zentraleu-
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ropas gelegenen Gebieten wie Irland, Nordengland, Süditalien, Griechenland und Portugal eine relative Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Position vorausgesagt, wobei auch ländliche Räume wie das französische Zentralmassiv sowie altindustrielle Problemregionen wie Lothringen den schwachen Regionen (bzw. „Absteigern“) zugerechnet wurden. Im Falle Irlands hat sich diese Prognose nicht bewahrheitet, denn das Land gilt heute als Erfolgsbeispiel für die über EU-Regionalförderung und umfangreiche ausländische Direktinvestitionen beförderte Integration eines ehemals strukturschwachen Gebiets in den Kreis der wachstumsstarken EU-Räume. Der unter dem Namen „Banane“ bekannt gewordene Korridor London-Mailand (vgl. RECLUS 1989; Vries 1984) sollte eine großräumige Polarisierung des europäischen Raumgefüges versinnbildlichen. Mit der Öffnung Ostmitteleuropas wurde das Raumstrukturbild Europas seit 1990 aufs Neue modifiziert. So wurde z.B. östlich vom Nord-Süd-Korridor der Banane die Ausbildung eines neuen Nord-Ost-Korridors postuliert: Den Stadtregionen Berlin, Prag, Wien und Budapest wurden Brückenkopf-Funktionen in dem sich neu formierenden erweiterten europäischen Wirtschaftsraum zugeschrieben, und damit war die Vorstellung verbunden, dass sich eine neue Nord-Ost-Achse im Osten Mitteleuropas herausbildet, die von Kopenhagen über Berlin, Dresden, Prag und Wien bis Budapest reichen würde (vgl. Ifo 1992). Die Frage nach den Entwicklungsfaktoren der regionalen Ökonomien Europas und nach den regionalen Entwicklungszentren des erweiterten Europa ist aber mit der Konstruktion von großräumigen Entwicklungskorridoren nicht angemessen zu beantworten. Die Einbeziehung der Länder Ostmitteleuropas in den gesamteuropäischen Wirtschaftsraum hat polnische Regionalforscher veranlasst, aus ostmitteleuropäischer Perspektive eine weitere Modifikation europäischer Raumstrukturmodelle vorzustellen. Auf Basis der regional ungleich mäßigen Intensität ökonomischer Transformationsprozesse wurde eine Hauptachse der Transformationsprozesse in Gestalt des ostmitteleuropäischen „Bumerangs“ identifiziert (Gorzelak 1996; 1998): Diese Entwicklungsachse umschließt die Regionen mit besonders intensiven Transformationsprozessen in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, und Polen (wobei die Region Warschau ein Hauptzentrum der Transformation darstellt, das außerhalb des Bumerangs liegt). Als Indikatoren der Intensität wirtschaftlicher Transformation in den Regionen Ostmitteleuropas wurde z.B. die Anzahl von Firmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, die Anzahl der privatisierten Unternehmen u.ä. herangezogen. Der ostmitteleuropäische Bumerang erstreckt sich von GdaĔsk im Nordosten über PoznaĔ und Wrocáaw nach Prag, wo er in südöstlicher Richtung abknickt und über Brno und Bratislava bis nach Budapest reicht. Die Aussagekraft des Bumerang-Modells ist insofern begrenzt, als die Intensität von Transformationsprozessen und deren ungleichmäßige räumliche Verteilung nichts über die Art der Integration ostmitteleuropäischer Regionen in das neue wirtschaftsräumliche Gefüge Europas besagt. Nicht alle Regionen Ostmitteleuropas können sich in die Reihe der wettbewerbsfähigen regionalen Wirtschaftszentren Europas eingliedern. Etliche dieser Regionen werden auch in die Richtung von regionalen branch plant economies transformiert, d.h. zu Gebieten mit einer Spezialisierung auf gering qualifizierte Produktionsfunktionen. Die regionale Entwicklung in Polen zeigt allerdings zum einen, dass die im Bumerang-Modell ausgewiesenen „Zentren der Transformation“ die bevorzugten Zielregionen für ausländische Direktinvestitionen in Polen sind, und zum anderen, dass diese Ballungsräume bzw. urbanen Wirtschaftszentren den höchsten Anteil von Direktinvestitionen in
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technologie- bzw. F&E-intensiven3 Branchen (und den niedrigsten Anteil in lohnintensiven Branchen) aufweisen (vgl. Krätke/Borst 2004). Es würde demnach ein falsches Bild von den Entwicklungsperspektiven der Wirtschaftsregionen Polens entstehen, wenn man allein die relative Konzentration von Auslandsinvestitionen in lohnintensiven Branchen im westpolnischen Grenzraum in den Blick nimmt. Der weitaus größte Teil der neuen grenzüberschreitenden Wirtschaftsverbindungen richtet sich auf die Ballungsräume und urbanen Wirtschaftszentren im Inneren des Landes Polen. Außerdem zeigen die meisten Regionen des Landes ein mehr oder weniger starkes Übergewicht von Auslandsinvestitionen in technologie- und/oder F&E-intensiven Branchen gegenüber den Investitionen in lohnintensiven Branchen. So liegen auch der Entwicklungsschwerpunkt und die Perspektive deutschpolnischer Wirtschaftsbeziehungen nicht in einer funktional-räumlichen Arbeitsteilung zwischen Technologie-Regionen in Deutschland und Niedriglohn-Regionen in Polen. Auf längere Sicht kann Polen gerade über ausländische Direktinvestitionen in den technologiebzw. F&E-intensiven Branchen eine „höherwertige“ Integration in die EU-Wirtschaft erreichen, d.h. einen industriellen Entwicklungspfad, der mit den fortgeschrittenen Strukturen der EU-Wirtschaft harmoniert. Die weitere wirtschaftliche Integration von Regionen der Beitrittsländer wird weniger über die Nutzung von Standort-Kostendifferenzen als über die Standort-Qualifizierung, d.h. Nutzung und Ausbau regionaler Kompetenzen im Rahmen transnationaler Wertschöpfungspartnerschaften (vgl. Zschiedrich 2000) herbeigeführt. Raumstrukturmodelle wie die oben genannte „Banane“ sind bildlich einprägsam, indem sie eine Reihe von regionalen Wirtschaftszentren weiträumig umschließen, und dabei von strukturellen Differenzen der eingekreisten Regionen abstrahieren. Die Basis derartiger Raumkonstruktionen ist eine Bewertung von Standortqualitäten europäischer Regionen, wobei meist traditionelle „Potenzialfaktoren“ wie Branchenstruktur, (verkehrs-)geographische Lage und Infrastrukturausstattung zugrunde gelegt werden. Die Frage nach den wirtschaftlichen Funktionsbedingungen der Aufsteiger-Regionen Europas ist aber mit traditionellen Ansätzen der Regionalanalyse, die sich mehr an Raum-Ausstattungen und Branchenstrukturen als an regionsspezifischen Kompetenzfeldern, Spezialisierungsprofilen und wirtschaftlichen Interaktionsformen orientieren, nicht zu beantworten.
2.3 Regionalpolitik der Europäischen Union und Einflussfaktoren der regionalen Wettbewerbsfähigkeit Die regionalen Disparitäten im EU-Raum sind seit langem im Fokus der Regionalpolitik der Europäischen Union, die über ihre Strukturfonds rund ein Drittel des EU-Haushalts (im Zeitraum 2000-2006) für regional- und strukturpolitische Ziele einsetzt. Nur die europäische Agrarpolitik beansprucht einen noch größeren Teil des EU-Budgets. Über 70 % der Strukturfonds-Mittel werden dabei zur strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand eingesetzt (vgl. Brasche 2003) – es handelt sich um die so genannten „Ziel 1“-Regionen, deren Wirtschaftskraft unter 75 % des EU-Durchschnitts liegt4. Weitere 11,5 3
„F&E“ ist ein Kürzel für Forschung und Entwicklung. Da die Regionen der neuen EU-Beitrittsländer bis auf wenige Einzelfälle unter 75 % des EU-Durchschnitts der Wirtschaftskraft liegen, wird durch die aktuelle EU-Osterweiterung der Kreis der nach Ziel 1 förderfähigen Regionen stark ausgeweitet. Da jedoch das insgesamt verfügbare Förderungsbudget begrenzt bleibt, entsteht im erweiterten EU-Raum eine starke Fördermittel-Konkurrenz unter den Regionen mit Entwicklungsrückstand (wie z.B. zwischen den Ziel 1-Regionen in Ostdeutschland und den Regionen der Beitrittsländer).
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% der Mittel werden für die wirtschaftliche und soziale Umstellung von Gebieten mit Strukturproblemen (z.B. vom Niedergang traditioneller Industrien geprägte Regionen) und weitere 12,3 % der Mittel für die Modernisierung der Bildungs- und Ausbildungssysteme und zur Beschäftigungsförderung außerhalb der Ziel 1-Regionen verwendet. Darüber hinaus fließen 5,3 % der Mittel in sog. „Gemeinschaftsinitiativen“, die zur Lösung spezieller Probleme beitragen sollen – hierzu gehören z.B. das Programm „Interreg III“ für die grenzüberschreitende, transnationale und inter-regionale Zusammenarbeit und das Programm „Urban II“ für die nachhaltige Entwicklung krisenbetroffener Städte und Stadtviertel im europäischen Raum. Mit den Strukturfondsmitteln werden mehrjährige Programme finanziert, die von den Regionen, den Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission partnerschaftlich festgelegt werden. Allerdings ist es schwierig, die Wirksamkeit der europäischen Regionalpolitik zu überprüfen. Selbst wenn die einzelnen Maßnahmen im Blick auf eine nachhaltige Stärkung regionaler Wirtschaftspotenziale sinnvoll sind – was nicht immer der Fall ist, da mit EU-Mitteln in manchen Regionen z.B. aufwendige Schnellstraßen gebaut wurden, für die überhaupt kein Bedarf bestand –, kann man in konkreten Regionen den Beitrag der EU-Förderung zur Stärkung der Wirtschaftskraft nicht vom Beitrag der jeweiligen nationalstaatlichen Regionalpolitik und der Entwicklungspolitik der jeweiligen Region selbst abgrenzen. In der strategischen Orientierung hat die Regionalpolitik der EU im Laufe der Zeit veränderte Schwerpunktsetzungen vorgenommen. Während für lange Zeit die Förderung des Ausbaus regionaler Infrastrukturen (insbesondere der Verkehrsinfrastrukturen) und die Förderung von Unternehmensansiedlungen im Vordergrund standen, wird in jüngster Zeit – auf Basis von Erkenntnissen der neueren europäischen Stadt- und Regionalforschung – die Förderung der Innovationspotenziale regionaler Ökonomien zu einem strategischen Schwerpunkt mit wachsender Gewichtung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass in der EU in den letzten Jahren zwar beträchtliche Fortschritte hinsichtlich des Abbaus der Ungleichgewichte im Bereich der Infrastrukturen erzielt werden konnten, doch zwischen den Regionen Europas nach wie vor erhebliche Unterschiede im Bereich der Innovationstätigkeit, Forschung und technologischen Entwicklung bestehen (vgl. Stemberg 1999; Cooke/Boekholt/ Tödtling 2000; Grotz/Schätzl 2001; Europäische Kommission 2004). Dieser Bereich wird heute zunehmend als „Schlüsselfaktor“ zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen betrachtet, mit der Begründung, dass sich im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft und des beschleunigten technologischen Wandels vor allem wissensintensive Tätigkeiten und der Einsatz neuer Technologien zu den vorrangigen Herausforderungen für die Regionen in der Europäischen Union entwickelt haben (vgl. Europäische Kommission 2004). Die „strukturstarken“ Regionen der heutigen EU sind regionale und urbane Wirtschaftszentren mit hoch entwickelten ökonomischen, technologischen und institutionellen Ressourcen (vgl. Amin/Thrift 1994; Storper 1997; Krätke 2001). Aus regionalwissenschaftlicher Sicht kann man viele dieser Gebiete auch als Regionen mit spezifischen Kompetenzen, Wissensbeständen und Innovationskapazitäten charakterisieren, die über regionsinterne Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen nicht zuletzt ihr „soziales Kapital“ entwickelt haben. Das soziale Kapital der regionalen Ökonomien wird heute auch in der Programmatik der Europäischen Union als bedeutender institutioneller Entwicklungsfaktor betrachtet: „Die große Bedeutung von institutionellen Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit wird immer mehr erkannt. Zu diesen Faktoren gehört auch das Sozialkapital (...), welches für die
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regionale Entwicklung von besonderer Wichtigkeit ist. Netzwerke zwischen Unternehmen sind sowohl Folge als auch Teil des Sozialkapitals. Sie verknüpfen Größenvorteile, die normalerweise nur Großunternehmen zugute kommen, mit der Dynamik und der Flexibilität kleinerer Einheiten und sind insofern für die Innovationstätigkeit von besonderer Bedeutung. Sozialkapital (bzw. dessen Fehlen) ist somit ein entscheidender Faktor für die regionale Wettbewerbsfähigkeit. (...) Das relativ niedrige Sozialkapital in vielen rückständigen Regionen der Europäischen Union ist mit großer Sicherheit eines der größten Hindernisse für ihre Wettbewerbsfähigkeit“ (Europäische Kommission 1999). Ausgehend von der These, dass im Rahmen einer zunehmend innovationsgetriebenen Ökonomie und eines Bedeutungszuwachses von wissensintensiven Aktivitätszweigen der Wirtschaft die Entwicklungsaussichten von Städten und Regionen von Potenzialen der interaktiven Wissensgenerierung und Lernfähigkeit der regionalwirtschaftlichen Akteure bestimmt sind, werden in neuerer Zeit in der Wirtschaftsgeographie und Regionalforschung die Perspektiven einer „wissensbasierten“ Regionalentwicklung thematisiert (Cooke 2002; Lo/Schamp 2003; Krätke 2004). Diese regionalwissenschaftliche Debatte verweist auf den Stellenwert von Wissensressourcen sowie Forschungs- und Bildungs-Infrastrukturen, auf die Bedeutung der interaktiven Wissensgenerierung in Unternehmensnetzwerken für die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen, und nicht zuletzt auf Ansatzpunkte zur Stärkung der Entwicklungsaussichten von Städten und Regionen durch die Entwicklung von wissensintensiven Aktivitätszweigen der Regionalwirtschaft. Im Bereich technologie- und wissensintensiver Wirtschaftsaktivitäten gewinnt darüber hinaus die Bildung regionaler Unternehmens-Cluster zunehmende Bedeutung für ein erfolgreiches Bestehen auf dem Weltmarkt. Die Cluster-Bildung im Sinne der Konzentration von Unternehmen und Institutionen einer Wertschöpfungskette in bestimmten Regionen ist eine Form der territorialen Integration von Wirtschaftsaktivitäten bzw. der „Regionalisierung“, wobei funktionsfähige Cluster durch intensive Transaktions- und Kommunikationsbeziehungen zwischen diesen regionalen Firmen und Institutionen charakterisiert sind und für die Beteiligten besondere, gesellschaftlich produzierte Standortvorteile generieren. Diese Form der Regionalisierung machen sich heute gerade die Global Players zunutze, indem sie sich in regionalen Unternehmens-Clustern mit eigenen Organisationseinheiten verankern, um direkten Zugang zu den spezifischen Wissens- und Innovationsressourcen einer solchen Standortregion zu gewinnen. Die Einbettung globaler Unternehmen in regionale Wirtschaftscluster befördert zugleich die supra-regionale und weltweite Vernetzung der regionalen Ökonomien. Regionen und Metropolräume mit Clustern in spezifischen Kompetenzfeldern bilden dabei wettbewerbsfähige „lokale Knotenpunkte“ in globalen Produktionsnetzen und Markträumen. Die Entwicklungspolitik auf regionaler Ebene kreist heute um die Frage, welche regionalwirtschaftlichen Strukturen und Organisationsformen geeignet sein können, unter den Bedingungen der Globalisierung, eines verstärkten Wettbewerbs im europäischen Raum und einer wachsenden Bedeutung von Innovations- und Qualitätswettbewerb die Wirtschaft einer Stadt oder Region zu stabilisieren und erfolgreich weiterzuentwickeln. Gerade heute, wo man Kapital, Güter, Technik und Information weltweit oft per Mausklick beschaffen kann, sind die nachhaltigen Wettbewerbsvorteile in regionalen Qualitäten zu finden – in spezifischen Kenntnissen, Fähigkeiten und wirtschaftlichen Beziehungsnetzen, die weder im globalen noch im europäischen Raum beliebig „transferierbar“ sind. So hat sich die anhaltende Debatte über die Determinanten der Wettbewerbsfähigkeit von Städten und
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Regionen in neuerer Zeit auf die Frage nach ihren spezifischen Kompetenzen, Wissensressourcen und Innovationspotenzialen im wirtschaftlichen Bereich zugespitzt. Im Blick auf die übergreifenden Tendenzen der Raumentwicklung ist festzustellen, dass die Entwicklung Europas von einem „doppelten“ Prozess geprägt wird, der zum einen eine fortschreitende wirtschaftliche Integration innerhalb des EU-Raumes („Europäisierung“) beinhaltet, zum anderen die Einbindung Europas in eine neue Entwicklungsphase der Weltwirtschaft („Globalisierung“) umfasst. Städte bzw. Stadtregionen spielen hierbei in ihrer Funktion als urbane Wirtschaftszentren eine bedeutende Rolle – sie gelten in beiden Prozessen als Steuerungseinheiten und/oder „Motoren“ der gesamt- und regionalwirtschaftlichen Entwicklung. Die Integration Europas spielt sich daher ganz wesentlich auf dem Feld der grenzüberschreitenden Integration von (ehemals nationalen) Stadtsystemen ab, mit der Wirkung der Aufwertung bestimmter Städte und des Wandels ihrer funktionalen Reichweiten. Die dominanten wirtschaftlichen Entwicklungszentren im EU-Raum sind dynamische Stadtregionen, in denen sich insbesondere die wissensintensiven Dienstleistungen sowie die forschungsintensiven Industrieaktivitäten konzentrieren. Gerade in diesen Schlüsselsektoren einer zunehmend wissensbasierten und innovationsgetriebenen Wirtschaft sind häufig Prozesse der Clusterbildung festzustellen, die sich überwiegend im Raum von dynamischen Stadtregionen entfalten und die wirtschaftliche Produktivität, Leistungsund Innovationskraft solcher urbanen Wirtschaftszentren zusätzlich erhöhen (Krätke 2005). Da sich im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels die Wirkungskräfte der räumlichen Agglomeration (über die kollektive Generierung und Nutzung von Lokalisations- und Urbanisationsvorteilen) tendenziell verstärken, kann die wirtschaftsräumliche Entwicklung Europas weithin als ein Prozess der „Metropolisierung“ von wirtschaftlichen Entwicklungsund Innovationspotenzialen betrachtet werden. Die Metropolräume sind dabei „Motoren“ der gesamt- und regionalwirtschaftlichen Entwicklung im EU-Raum und zugleich die herausragenden Knotenpunkte der weltwirtschaftlichen Integration Europas. Die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Entwicklungs- und Innovationspotenziale (insbesondere im Bereich von wissensintensiven Dienstleistungen und technologie- sowie forschungsintensiven Industrien) auf dynamische Metropolräume ist allerdings auch eine wesentliche Triebkraft bei der Verstärkung regionaler Disparitäten in Europa. Nicht nur strukturschwache ländliche Regionen, sondern auch viele der weniger dynamischen Stadtregionen Europas drohen im Prozess der Metropolisierung zurückzubleiben, wenn sie nicht mit den Metropolräumen wirtschaftlich vernetzt sind. Nicht nur der Prozess der „Europäisierung“ bzw. der fortschreitenden wirtschaftlichen Integration der EU-Länder hat das traditionelle Denken in nationalen Stadtsystemen obsolet gemacht – viel mehr noch hat der Prozess der Globalisierung die wirtschaftsgeographische Stadt- und Regionalforschung veranlasst, nicht nur die inter-regionale, sondern auch die transnationale (bzw. transkontinentale) wirtschaftliche Vernetzung der Städte und Regionen als eine bedeutende Triebkraft ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und der besonderen Kreativitäts- und Innovationspotenziale von Metropolräumen zu begreifen (Krätke 2002). Nach wie vor besteht jedoch ein Forschungsdefizit hinsichtlich der Fragen, in welcher Form die wirtschaftliche Integration von Städten und Metropolräumen innerhalb des europäischen Stadtsystems fortschreitet (Transaktionsbeziehungen, Organisations- und Kommunikationsnetze sowie Wissensflüsse), welche Struktur das wirtschaftliche Beziehungsgefüge zwischen den urbanen Knotenpunkten der europäischen Wirtschaft hat, welche Metropolräume die stärksten urbanen Knotenpunkte europäischer und globaler Verbindungen in
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jeweils verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitätszweigen sind – gemäß der These, dass es verschiedene Geographien der Globalisierung gibt -, und in welcher Weise die einzelnen Metropolräume Europas – über die etablierten Global Cities im EU-Raum wie London und Paris hinaus – in globale wirtschaftliche Beziehungsnetze eingebunden sind.
2.4 Das europäische Städtesystem als ein besonderer Fokus der Raumentwicklung Die politische und wirtschaftliche Entwicklungsgeschichte Europas hat die Herausbildung eines polyzentrischen Städtesystems befördert. Diese polyzentrische Struktur wird als eine der Stärken des europäischen Wirtschaftsraumes angesehen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel der Gegenwart hat Auswirkungen auf dieses polyzentrische System von Standortzentren im Hinblick auf die (ungleichmäßige) Verteilung neuer Funktionen, die ungleichmäßige Entwicklung wirtschaftlicher Potenziale und Innovationskapazitäten, die zunehmende soziale Segregation und Ausbreitung von Armutsquartieren selbst in „starken“ städtischen Wirtschaftszentren Europas und den wachsenden Siedlungsdruck auf das Umland in vielen Stadtregionen. Die Rede von einem Städtesystem Europas ist so zu verstehen, dass die europäische Raumstruktur eine Vielzahl von dynamischen „Knotenpunkten“ der räumlichen Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft aufweist, die miteinander über physische Verkehrsinfrastrukturen und Kommunikationsverbindungen ebenso wie durch wirtschaftliche Verflechtungsbeziehungen (und bestimmte Muster der Arbeitsteilung) sowie politische und kulturelle Kommunikationsbeziehungen verbunden sind; davon zu unterscheiden sind Städtenetze im europäischen Raum, die sich auf die politische Handlungsebene der Akteure beziehen und somit eine politische Zusammenarbeit der beteiligten Stadtregionen voraussetzen (Blotevogel 1998). Mit Bezug auf das polyzentrische System der Stadtregionen Europas wird die kulturelle und baulich-räumliche Verschiedenartigkeit und Vielfalt europäischer Städte zu Recht als erhaltenswertes Spezifikum des europäischen Raumes begriffen, wohingegen die Ungleichheit der wirtschaftlichen Kapazitäten und Entwicklungspotenziale ebenso wie der sozialen Verhältnisse der Städte eine Problemdimension berührt, auf die europäische Regionalpolitik konstruktiv Einfluss nehmen kann. Von einem polyzentrischen Städtesystem lässt sich vor allem in gesamteuropäischer Perspektive sprechen, während sich auf der Ebene der einzelnen Mitgliedsstaaten sowohl polyzentrische als auch eher monozentrische Städtesysteme finden: Die Bundesrepublik Deutschland z.B. steht für ein polyzentrisches Städtesystem, das sich von der Struktur des Städtesystems in Frankreich deutlich unterscheidet; in Ostmitteleuropa z.B. steht Polen für ein polyzentrisches Städtesystem, das sich von dem monozentrisch strukturierten Städtesystem der Tschechischen Republik unterscheidet. Das europäische Städtesystem wird auch künftig von einzelnen herausragenden Global City Regions wie London und Paris, und einer Reihe damit eng verbundener europäischer Metropolregionen (wie z.B. Brüssel, Mailand, Madrid, Barcelona, Zürich, Frankfurt/Main, Rhein-Ruhr, Hamburg, Berlin, Wien) dominiert werden. In längerfristiger Perspektive werden auch einige Stadtregionen Ostmitteleuropas Anschluss an diese Gruppe finden, soweit sie zum Standort von Komplexen strategischer Unternehmensaktivitäten für die Einbindung der Märkte Ostmitteleuropas und Osteuropas ausgebaut werden (z.B. Prag, Warschau, Budapest). Im Städtesystem des erweiterten gesamteuropäischen Wirtschafts-
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raumes findet darüber hinaus eine Neugruppierung von „Zentren“ und „Peripherien“ statt: Zu den Zentren mit hohem Entwicklungspotenzial gehören eine Reihe von Metropolräumen und dynamischen Stadtregionen, in denen sich innovative regionale Produktionssysteme formieren – sie zusammen bilden die künftigen regionalen Entwicklungs-Zentren im wirtschaftlichen Raumgefüge Europas. Unter den Stadtregionen der Länder Ostmitteleuropas können vor allem jene Anschluss an das Netz der europäischen Wirtschaftszentren finden, die strategische Unternehmensaktivitäten an sich ziehen, Forschungs- und Entwicklungskapazitäten ausbauen und ihre industriellen Kapazitäten in Verbindung mit ausländischen Direktinvestitionen modernisieren. Auf den „unteren Etagen“ der ökonomisch-funktionalen Schichtung des europäischen Wirtschaftsraumes liegen erstens die vom Netz der europäischen metropolitanen Zentren abhängigen, auf standardisierte Produktionsfunktionen spezialisierten Städte und Regionen, und zweitens die vom europäischen Produktionszusammenhang abgekoppelten (marginalisierten) Städte/Regionen. Diese beiden Kategorien werden die ökonomisch-funktionale „Peripherie“ des europäischen Stadt- und Regionalsystems bilden, die sich geographisch bisher vor allem in einzelnen Regionen Nordwesteuropas und im südeuropäischen Raum lokalisieren ließ. Durch die Einbeziehung der ostmitteleuropäischen Länder in den erweiterten gesamteuropäischen Wirtschaftsraum kann sich diese „Peripherie“ des europäischen Stadt- und Regionalsystems auch nach Osten hin erstrecken. Im neuen Europa wächst ja auch die Konkurrenz unter den ökonomisch schwachen Regionen, die meist auf die Anpassungsstrategie einer Profilierung als Niedriglohn-Standort setzen. In diesem Kontext ist die Frage nach der Art und Weise der Integration ostmitteleuropäischer Städte in das gesamteuropäische Städtesystem zu stellen: Welchen dieser Städte kann durch Modernisierung ihrer Produktionsstrukturen und den Ausbau wissens- und technologieintensiver Wirtschaftsaktivitäten die Eingliederung in das Netz der wettbewerbsfähigen dynamischen Stadtregionen Europas gelingen, in welchen Städten wird sich eher eine Spezialisierung auf gering qualifizierte Produktionsfunktionen durchsetzen, und welchen Städten droht eine Marginalisierung im erweiterten europäischen Wirtschaftsraum? Aus der kurzsichtigen Perspektive neoliberaler Wirtschaftsideologien ist die Integration vor allem nach dem Muster funktional-räumlicher Arbeitsteilung zu betreiben: Danach sollten sich die Städte und Regionen Ostmitteleuropas auf arbeitsintensive Produktionen spezialisieren, während sich die westeuropäischen Städte und Regionen eher auf wissensund technologieintensive Produktionen konzentrieren. Dies wird mitunter euphorisch als das für Städte und Regionen in West und Ost gleichermaßen vorteilhafte Konzept „dualer Restrukturierung“ propagiert (vgl. Kröger 1994). Demgegenüber wurde in der europäischen Raumforschung längst herausgearbeitet, dass die Verlagerung von Produktionsaktivitäten an neue Niedriglohn-Standorte keineswegs die bestimmende Tendenz bei der ökonomischen Restrukturierung des gesamteuropäischen Stadt- und Regionalsystems darstellt. Vielmehr werden eine ganze Reihe von Stadtregionen Ostmitteleuropas heute auf der Basis von Strategien der Markterschließung in europaweite Produktionsnetze eingebunden, und einzelne Stadtregionen in der Standortpolitik weitsichtiger europäischer Unternehmen sogar in Richtung auf innovative Produktionssysteme umgestaltet und als regionale Kompetenzzentren für spezielle Technologiefelder aufgewertet (vgl. Krätke/Heeg/Stein 1997). Die Herausforderung einer „integrativen“ europäischen Politik zur Einbindung der Stadtregionen Ostmitteleuropas in ein polyzentrisches gesamteuropäisches Städtesystem liegt darin, im östlichen Teil Europas nicht einfach
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die Formierung einer neuen Peripherie des Stadt- und Regionalsystems zu befördern, sondern eine entwicklungsfähige qualifizierte Einbindung zu unterstützen (Krätke/Borst 2004). In die Programmatik der EU sind allerdings teilweise Formulierungen eingeflossen, die im Geiste neoliberaler Küchenrezepte den peripher gelegenen Städten und Regionen Europas anempfehlen, besonders „ihre spezifischen Vorteile (..) wie zum Beispiel niedrige Arbeitskosten“ zu nutzen (Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 23). Solche Vorstellungen stehen im Widerspruch zu innovations- und kompetenzbasierten wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien für Städte und Regionen, die in der EU-Programmatik an anderer Stelle wiederum ausdrücklich hervorgehoben werden (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 31).
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Weiterentwicklung des polyzentrischen Stadt- und Regionalsystems in Europa: Das europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK)
Die europäische Raumentwicklung ist in wachsendem Maße von einem transnationalen Wirkungsgeflecht ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse bestimmt. Zugleich ist im Zuge der europäischen Integration das Bewusstsein gewachsen, dass viele der EUFachpolitiken transnationale räumliche Wirkungen haben, und dass sich auch die Politik der Mitgliedsstaaten sowie der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften auf angrenzende Räume auswirken bzw. „grenzüberschreitende“ Effekte mit sich bringen. Um sich diesen Herausforderungen mittels einer verstärkten Zusammenarbeit auf EU-Ebene zu stellen, wurde im Mai 1999 das erste „Europäische Raumentwicklungskonzept“ (EUREK) vereinbart, das eine gemeinsame Konzeption zur räumlichen Entwicklung auf dem Gebiet der EU-Mitgliedsstaaten enthält, und eine integrale Perspektive der europäischen Raumordnung befördert, die über rein fachpolitische Sichtweisen und Maßnahmen hinausgeht. Das Europäische Raumentwicklungskonzept ist das zentrale programmatische Dokument der EU zu den Fragen der künftigen Entwicklung des Territoriums der EU. Es soll als gemeinsamer Orientierungsrahmen mit bestimmten Leitzielen fungieren, wobei die Stärkung und Weiterentwicklung einer ausgewogenen Raum- und Siedlungsstruktur als übergreifende Zielsetzung formuliert ist, die durch Entwicklung eines ausgewogenen und polyzentrischen Städtesystems, die Sicherung eines gleichwertigen Zugangs zu Infrastruktur und Wissen sowie ein intelligentes Management beim Schutz von Natur und Kulturerbe näher umschrieben wird. Das EUREK soll kein „zentralistisches“ Planungsdokument sein, sondern ein konsensbasiertes politisches Rahmenkonzept der EU-Mitgliedsstaaten darstellen und als Orientierungsrahmen für die Strukturpolitiken einschließlich der StrukturfondsProgramme sowie für die einzelstaatlichen und regionalen Planungen und Fachpolitiken fungieren. Die produktive Funktion des EUREK besteht darin, die europäische Dimension der Raumentwicklung herauszustellen, damit die Mitgliedsstaaten in ihren raumbedeutsamen Politiken „inselhafte Betrachtungen ihres Territoriums überwinden und europäische Bezüge und Verflechtungen von vornherein berücksichtigen“ (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999; ARL 2001). Das EUREK stellt unter den „Themen der Raumentwicklung von europäischer Bedeutung“ insbesondere die Rolle der europäischen Städte und Stadtregionen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt, soziale Entwicklung und Kultur heraus. Da heute bereits rund drei Viertel aller Europäer in städtischen Räumen leben und arbeiten, ist es nur konsequent, die gegen-
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wärtige und zukünftige Politik stärker auf die Problemfelder der Entwicklung von Städten und Stadtregionen auszurichten. Noch gravierender ist jedoch die Bedeutung vieler Stadtregionen als „Motoren“ der regionalen Entwicklung wie auch der Wirtschaftsentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit des EU-Territoriums insgesamt, da diese Stadtregionen als Räume der Konzentration von wissensintensiven Wirtschaftsaktivitäten, Forschungskapazitäten und Innovationspotenzialen und als herausragende Knotenpunkte weltwirtschaftlicher Verbindungen für die Wirtschaftsentwicklung der EU von strategischer Bedeutung sind. Allerdings hat sich in der Gegenwart die Konkurrenz der Städte und Regionen um Investitionen und den Ausbau neuer Wachstumssektoren beträchtlich verstärkt. Zwar formieren sich auf europäischer Ebene zunehmend auch Kooperationsnetze zwischen Städten – sie fungieren aber in erster Linie als „strategische Allianzen“ in einem europaweiten Standortwettbewerb der Stadtregionen, so dass sich das europäische Städtesystem aus regionalökonomischer Perspektive nach wie vor als ein System konkurrierender Standortzentren darstellt. Je nachdem, ob diese Städtekonkurrenz von den politischen und wirtschaftlichen Akteuren auf regionaler und lokaler Ebene mehr in Richtung eines Qualitäts- und Innovationswettbewerbs oder in Richtung eines Kostensenkungs-Wettbewerbs (über Subventionen oder die Profilierung als Anbieter von „billigen“ Arbeitskräften) ausgestaltet wird, können problematische Konsequenzen für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Städte und Regionen Europas die Folge sein. Diese Aussage ist als kritische Anmerkung zum EUREK zu verstehen, das an vielen Stellen über die „Wettbewerbsfähigkeit“ von Städten, Regionen, und der EU insgesamt spricht, aber das Problem ausblendet, dass z.B. eine Stärkung der Wettbewerbsposition bestimmter Zentren des europäischen Städtesystems nicht automatisch eine nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamteuropäischen Städtesystems bedeutet und sogar auf Kosten der Wettbewerbsposition und Entwicklungschancen anderer Städte gehen kann (in dynamischen Systemen konkurrierender Städte und Regionen gibt es gewöhnlich Gewinner und Verlierer).
3.1 Strategische Handlungsansätze der europäischen Raumentwicklungspolitik Das übergeordnete Leitbild des EUREK soll dazu dienen, zugunsten einer ausgewogenen Entwicklung die weitere übermäßige Konzentration von Wirtschaftskraft und Bevölkerung im so genannten Kernraum der EU zu vermeiden. Dieser Kernraum umschreibt (als Variante des eingangs beschriebenen Raumstrukturmodells der „Banane“) das von den Metropolen London, Paris, Mailand, München und Hamburg begrenzte Gebiet, in dem sich ein Großteil der führenden städtischen Standortzentren Europas, „hochwertige globale Wirtschaftsfunktionen“ und gut entwickelte Infrastrukturen konzentrieren (wobei außerhalb des Kernraums noch einige starke Zentren wie z.B. Barcelona in eher isolierter Lage zu finden sind). Der Kernraum wird im EUREK als die „herausragende geographische Zone weltwirtschaftlicher Integration“ der EU charakterisiert (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 21). Gleichwohl umfasst diese Zone eine Vielzahl unterschiedlicher Städte und Stadtregionen, die in sehr ungleicher Art und Weise an der weltwirtschaftlichen Integration teilhaben: Diesbezüglich liegen nach wie vor Welten zwischen Frankfurt-Main und Wuppertal, Paris und Bielefeld, Amsterdam und Duisburg, usw. Selbst innerhalb des Kernraums der EU weist das Städtesystem eine ausgeprägte ökonomisch-funktionale Heterogenität und
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eine höchst selektive Verteilung von „globalen“ Wirtschaftsfunktionen auf. Im EUREK wird hervorgehoben, dass die gegenwärtigen räumlichen Entwicklungstrends eine weitere selektive Konzentration „von hochwertigen und globalen Funktionen auf den Kernraum der EU und daneben nur noch auf wenige Metropolen“ erkennen lassen. Gleichzeitig wird betont, dass gerade auch angesichts der Osterweiterung der EU die weitere Konzentration der Raumentwicklung auf eine einzige global herausragende Integrationszone eine polarisierte Raumstruktur Europas verfestigen und wachsende Disparitäten zwischen der Kernzone und einer sich vergrößernden Peripherie mit sich bringen würde (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 21). Dieser Entwicklungstrend soll im Sinne des Leitbilds der ausgewogenen Raumentwicklung korrigiert werden – das Ziel des EUREK ist die „Schaffung von mehreren dynamischen Zonen weltwirtschaftlicher Integration, die im Raum der EU gut verteilt sind und aus miteinander vernetzten, international gut erreichbaren Metropolregionen und daran angebundenen Städten und ländlichen Gebieten unterschiedlicher Größe bestehen“ (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 21). Die weltwirtschaftliche Integration Europas erfolgt bei genauerer Betrachtung nicht über ausgedehnte „Zonen“ des EU-Raumes, sondern über eine Reihe von geographischen Knotenpunkten, und als solche fungieren bestimmte Standortzentren des europäischen Städtesystems, nämlich in erster Linie die oben erläuterten europäischen Metropolregionen. Innerhalb dieser Gruppe der führenden Standortzentren gibt es wiederum eine ungleichmäßige Verteilung globaler Wirtschaftsfunktionen (vgl. Krätke 2002). Die Vorstellung, weitere Zonen weltwirtschaftlicher Integration außerhalb des Kernraums der EU zu entwickeln, scheint angesichts der bereits vorhandenen Ungleichgewichte im europäischen Stadt- und Regionalsystem wenig realistisch – eher denkbar ist der Ausbau eines polyzentrischen Gefüges mit mehreren Knotenpunkten, z.B. durch Stärkung der heute (in geographischem und/oder ökonomischem Sinne) eher „peripher“ situierten Metropolregionen und Großstädte Europas. Auch im Kreise der europäischen Metropolen und Großstädte sind die wirtschaftlichen Kontroll- und Steuerungskapazitäten ebenso wie die Entwicklungs- und Innovationskapazitäten ungleichmäßig verteilt bzw. entwickelt. Das EUREK hat diesbezüglich die Perspektive formuliert, höherwertige Dienstleistungen auch in den Metropolregionen und Großstädten außerhalb des EU-Kernraums auszubauen, in den Städten auch außerhalb der globalen Integrationszone und außerhalb der Metropolregionen ein ausreichendes wirtschaftliches Potenzial zu schaffen oder zu sichern sowie die Verbreitung von Innovation und Wissen bzw. den Ausbau von Innovationspotenzialen auch in den Städten und Stadtregionen außerhalb der Kernzone zu befördern. Diese Programmatik ist von Ausgleichszielen bestimmt und entspricht dem Leitziel der Stärkung eines ausgewogenen polyzentralen Städtesystems in Europa gegenüber den mit der Globalisierung verbundenen Prozessen der selektiven räumlichen Konzentration wirtschaftlicher Potenziale, die zweierlei Aspekte aufweisen: erstens die selektive Konzentration von wirtschaftlichen Kontrollkapazitäten sowie unternehmensbezogenen Dienstleistungsaktivitäten in ausgewählten metropolitanen Standortzentren, zweitens die selektive Konzentration von wettbewerbsfähigen innovativen Industrien in ausgewählten städtischen Wirtschaftsgebieten. In den europäischen Metropolregionen sind stets beide Aspekte überlagert, so dass wirtschaftliche Prosperität hier sowohl auf starken raumübergreifenden Kontrollkapazitäten als auch auf wettbewerbsstarken regionalen Industriestrukturen basieren kann – und beide Aspekte können auch gegenläufig ausgeprägt sein. Demnach ist es heute irreführend, Städte einseitig in ihrer Rolle als „Dienstleistungszentren“ oder als „Industrie-
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zentren“ zu betrachten. Gerade jene Stadtregionen, die eine positive Entwicklung im Industriesektor aufweisen, haben auch Beschäftigungsgewinne im unternehmensbezogenen Dienstleistungssektor, wohingegen Städte mit einem strukturschwachen Produktionssektor kaum eine nachhaltige Expansion ihres Dienstleistungssektors erwarten können. Jenseits der ökonomisch-funktionalen Polaritäten des heutigen Städtesystems steht aber die europäische Stadtpolitik vor der Herausforderung, dass gerade auch die im globalen Standortwettbewerb „erfolgreichen“ Metropolen und Stadtregionen mit sozialen und sozial-räumlichen Polarisierungstendenzen konfrontiert sind, so dass sich in den europäischen Zentren der wirtschaftlichen Modernisierung Armut und Armutsquartiere ausbreiten. Der informelle Ministerrat der für Raumentwicklung, Stadt- und Regionalpolitik zuständigen EU-Minister hat im Rahmen der „Initiative Städtedialog“ herausgestellt, dass jenseits der bestehenden Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Stadtregionen Europas eine Reihe von „Schlüsselthemen“ identifizierbar sind, die für alle Mitgliedsstaaten der EU von Bedeutung sind. Dies spricht in Verbindung mit der Feststellung, dass Stadtentwicklung längst eine transnationale Dimension angenommen hat, für eine Fortsetzung der Initiativen zur europäischen Kooperation auf dem Gebiet der Stadtentwicklung. Den Städten Europas wird eine zunehmende Bedeutung als Zentren der regionalen Wirtschaftsentwicklung und der sozialen Integration zugeschrieben, wobei der Ministerrat ausdrücklich feststellt, dass sowohl die Rolle der Städte als regionale wirtschaftliche Entwicklungszentren als auch die soziale Entwicklung der Städte gleichermaßen wichtig seien und die künftige Politik beide Themen bzw. Aktionsfelder auf die Tagesordnung setzen müsse.5 Eine Vernachlässigung der sozialen und sozialräumlichen Problemdimension der Entwicklung europäischer Städte könnte sich über kurz oder lang als Hindernis für Fortschritte in Richtung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in Europa erweisen. Ferner wurde die Bedeutung einer Integration von raumbezogenen Fachpolitiken zu einer kohärenten Vorgehensweise betont (die sich auch auf die Kohärenz von lokaler bzw. regionaler, nationalstaatlicher, und supranationaler europäischer Entwicklungspolitik bezieht). Die Förderung eines integrierten Ansatzes der Stadtentwicklungspolitik gehört zu den wichtigen Aktionsbereichen der künftigen Raumentwicklungspolitik in Europa.
3.2 Zielkonflikte der Raumentwicklungspolitik und neue kompetenzbasierte Strategien für Stadtregionen Das Vorliegen einer polyzentralen Struktur des gesamteuropäischen Städtesystems kommt dem Leitziel ausgewogener Raumstrukturen entgegen. Insofern ist es nur logisch, auf die Stärkung und Weiterentwicklung dieses polyzentralen Städtesystems zu setzen. Seit 1999 wird ein europaweiter Austausch über die Frage organisiert, welche praktische Interpretation die verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten den Leitzielen des EUREK in ihrer nationalen Politik geben wollen. Die Frage nach der praktischen Interpretation und Prioritätensetzung der EU-Mitgliedsstaaten ist insofern von Bedeutung, als das EUREK potentielle Zielkonflikte zwischen dem Wachstumsziel und dem Ausgleichsziel der Raumentwicklungspolitik enthält: Das EUREK geht zu Recht davon aus, dass der europäische Raum und die EU heute in eine globale Perspektive gerückt werden müssen, und die Entwicklung der Städte 5
Vgl. Presidency Conclusions at the Informal Meeting of EU Ministers responsible for Spatial Planning and Urban/Regional Policy held in Tampere on 4-5 October 1999, unveröffentlichtes Manuskript.
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und Regionen Europas unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung und des weltweiten Wettbewerbs gefördert werden müsse. Die mit „Globalisierung“ umschriebene Rahmenbedingung kann allerdings einen Zielkonflikt mit sich bringen, indem der europäische Raum einschließlich seiner städtischen Dimension nach den Leitzielen des EUREK eine Struktur entwickeln oder bewahren soll, welche die Wettbewerbsfähigkeit der EU auf dem Weltmarkt festigt und gleichzeitig die nachhaltige Entwicklung sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Regionen Europas fördert. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und ökonomisch-sozialer Zusammenhalt des europäischen Regionalsystems sich wechselseitig konfliktfrei ergänzen. Eher ist anzunehmen, dass eine Politik zur Stärkung der Weltmarkt-Konkurrenzfähigkeit meist auf die bevorzugte Entwicklung der bereits führenden regionalen Wirtschaftszentren Europas und damit auf eine polarisierte Raumstruktur hinausläuft, die den ökonomisch-sozialen Zusammenhalt des europäischen Stadt- und Regionalsystems tendenziell untergräbt. Nach der von vielen Entscheidungsträgern der Wirtschaft und Politik herausgestellten Sachzwanglogik der Globalisierung könnte auf gesamteuropäischer Ebene Weltmarkt-Konkurrenzfähigkeit gerade durch eine prioritäre Stärkung des Kernraums der EU, der sich als die „Kernzone weltwirtschaftlicher Integration“ mit der stärksten Konzentration von globalen Wirtschaftsfunktionen und dem höchsten Wachstumspotenzial darstellt, erreicht oder gesichert werden. Konzepte, die den bereits stärksten Raumzonen bzw. Entwicklungszentren und damit dem Wachstumsziel Priorität geben, verweisen meist auf die (theoretisch) von den Wachstumsinseln ausgehenden positiven Sickereffekte bzw. räumlich linearen Ausstrahlungseffekte auf benachbarte Gebiete, und vernachlässigen die von den Wachstumsinseln ebenso ausgehenden Polarisierungseffekte bzw. räumlichen Entzugseffekte und Übersprungeffekte (Krätke/Heeg/Stein 1997). Auch auf der regionalen Ebene wird heute die vermeintliche Sachzwanglogik der globalen Konkurrenz gegen Entwicklungskonzepte ins Feld geführt, die eine „ausgewogene“ Raumstruktur fördern möchten (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 1997). Strategien zur Stärkung eines ausgewogenen europäischen Städtesystems würden dem Grundsatz Vorrang geben, dass die Politik der verschiedenen Handlungsebenen und Fachressorts nicht die Polarisierung von Raumstrukturen zwecks Weltmarktkonkurrenzfähigkeit einzelner Zentren (oder bestimmter Städtetpen) noch verstärken, sondern eher die „Chancenstruktur“ der nicht zu den stärksten Zentren zählenden Orte verbessern soll. Hierfür werden integrierte Entwicklungsansätze benötigt, und das heißt (unter den gegenwärtigen Bedingungen des wirtschaftlichen Strukturwandels in Richtung einer zunehmend wissensintensiven und innovationsgetriebenen Wirtschaft) insbesondere die Integration von Ansätzen zur Stärkung „dynamischer und attraktiver Städte“ (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 23f. und 27ff.) mit Ansätzen zur „Verbreitung von Innovation und Wissen“ (vgl. Europäisches Raumentwicklungskonzept 1999: 31f.). Im Rahmen der EU“Initiative für Städtedialog“ wurde bereits 1999 der Ansatz für eine „kompetenzbasierte wirtschaftliche Entwicklung von Stadtregionen“ vorgestellt und diskutiert (vgl. Initiative für Städtedialog III 1999). In der Stadtforschung wird inzwischen der ganz ähnlich fokussierte Ansatz einer „wissensbasierten Stadtentwicklung“ bzw. Stadtpolitik diskutiert (vgl. Matthiesen 2004). Während die von der Ausbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien ausgelöste Debatte um „Telematik und Stadtentwicklung“ vorwiegend um physische (Kommunikations-) Infrastrukturen kreiste, stellt die Debatte um eine kompetenzbasierte Stadtentwicklung vor allem die Qualität der wirtschaftlichen Organisations-
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formen und institutionellen Infrastrukturen städtischer und regionaler Ökonomien in den Mittelpunkt. Dieser Ansatz ist mit Konzepten der wissensbasierten und innovationsorientierten Stadt- und Regionalentwicklung aufs Engste verknüpft und stellt heraus, dass die Chancen einer erfolgreichen Entwicklungspolitik dort am größten sind, wo sich lokale oder regionale „Cluster“ von spezialisierten Unternehmen und anderen Akteuren identifizieren (bzw. auch fördern oder ausbauen) lassen – die „Akteure“ umfassen Produzenten und Dienstleister, Forschungseinrichtungen, regionale Kooperations- und Transfereinrichtungen, Branchenverbände und Arbeitnehmerorganisationen –, und wo es gelingt, diese Unternehmen und Akteure miteinander zu „vernetzen“, d.h. vor allem zu einem intensiven Austausch von Wissen, spezifischen Kenntnissen und Innovationsimpulsen zu bringen. Hier geht es nicht um die überall verfügbare „Information“, sondern um spezielles, häufig regional und lokal konzentriertes Erfahrungswissen (vgl. Krätke 2004). Die genannten Cluster formieren sich auf bestimmten Kompetenzfeldern, die häufig die überkommenen Sektoren und Branchengliederungen der Stadt- und Regionalökonomie überschreiten und in neuartiger Weise kombinieren (wie z.B. im Kompetenzfeld „Multimedia-Produktion“). Die in europäischen Städten und Regionen identifizierbaren Cluster schließen eine breit gefächerte Palette an Industriezweigen ein, die von traditionellen Produktionszweigen bis zu den neuen, von technologie-, forschungs- und wissensintensiven Produktionen bestimmten Industriezweigen (wie z.B. Biotechnologie, Optoelektronik, Nanotechnologie) reichen und darüber hinaus insbesondere wissensintensive Dienstleistungen umfassen. Insofern ist der Ansatz einer kompetenzbasierten Stadt- und Regionalentwicklung keineswegs identisch mit der altbekannten Hochtechnologie-Förderung, wie sie in nahezu allen Städten und Regionen Europas häufig ungeachtet der realen Chancenstruktur betrieben wird. Gleichwohl versuchen viele Städte Europas, regionale „Kompetenzzentren“ zu werden auf gerade jenen Gebieten, die als künftige Wachstumsfelder der europäischen und globalen Wirtschaft gelten: Die Standardliste umfasst Informations- und Kommunikationstechnologie, Medizintechnik, Biotechnologie, Umwelttechnologie, Medienwirtschaft, Kultur und Bildung usw. (vgl. Initiative für Städtedialog III 1999), wobei dann eine regional spezifische Auswahl aus dieser Liste erfolgt. Das Problem liegt in einer Verkürzung des Konzeptes der Entwicklung von Kompetenzzentren auf meist die gleichen High-Tech-Zweige, wobei viele Städte und Regionen ihre ganz spezifischen und entwicklungsfähigen Kompetenzfelder möglicherweise übersehen (d.h. gar nicht hinreichend identifizieren). Es gibt weiterhin Tendenzen in der europäischen Raumentwicklung, die der EUREKKonzeption und Politik der Stärkung eines ausgewogenen Städtesystems entgegenwirken, und mit deren Einfluss die europäische Politik rechnen muss: Dazu gehört erstens der möglicherweise begrenzte Wirkungsgrad der eingesetzten EU-Strukturfonds im Verhältnis zu dem unter Berufung auf die so genannte Globalisierung intensivierten StandortsubventionsWettbewerb der Städte bzw. Regionen und den dabei aufgewendeten Mitteln. Zweitens ist das Problem der Asymmetrie der wirtschaftlichen Kontrollbeziehungen im Städtesystem zu nennen als ein Hinweis auf die Schwierigkeit, ausgewogene Entwicklungschancen für Städte und Regionen zu erreichen in einer Konstellation, in der die besonders einflussreichen Entscheidungsträger der wirtschaftlichen Raumentwicklung – nämlich die großen transeuropäischen Unternehmen – wenig Verantwortung zur Arbeitsmarktentwicklung individueller europäischer Städte/Regionen übernehmen, sondern diese eher als auswechselbare und gegeneinander auszuspielende „Standorte“ behandeln. Das große Monopoly-Spiel im euro-
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päischen Unternehmenssektor bringt heute nahezu wöchentlich in irgendeiner Stadt/Region den von externen Entscheidungszentren veranlassten Abbau von Arbeitsplätzen, der die (im günstigen Falle) an anderer Stelle erzielten Erfolge einer beschäftigungswirksamen regionalen Entwicklungspolitik nachhaltig konterkariert. Hiermit ist zugleich das Problem einer begrenzten Steuerungskapazität der europäischen und der nationalstaatlichen Politik im Verhältnis zur Steuerungskapazität der großen transeuropäischen Unternehmen hinsichtlich der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung europäischer Städte und Regionen angesprochen.
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Zusammenfassung
Das Territorium der Europäischen Union einschließlich der neuen Beitrittsländer ist durch starke regionale Disparitäten gekennzeichnet, insbesondere durch große Unterschiede in der Wirtschaftskraft und Arbeitsmarktsituation. Die Regionen und Städte Europas unterscheiden sich in West und Ost nach ihren ökonomischen und institutionellen Ressourcen sowie nach ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Die starken Ungleichgewichte auf regionaler Ebene und das Ziel, den Zusammenhalt der Regionen zu stärken und eine ausgewogene Entwicklung des europäischen Raums zu erreichen, haben der regionalen Strukturpolitik und der ressortübergreifend konzipierten Raumentwicklungspolitik eine prominente Stellung unter den Politikfeldern der Europäischen Union gegeben. Die regionale Dimension europäischer Entwicklung ist auch für die ökonomischen Potenziale und die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU von Bedeutung, da die wirtschaftlichen Innovations- und Entwicklungs-Zentren Europas nicht auf der Ebene von nationalen Ökonomien, sondern in bestimmten regionalen Wirtschaftszentren zu finden sind, die insbesondere strukturstarke Industrieregionen und Metropolräume umfassen. Die neuere Regionalforschung charakterisiert die strukturstarken Gebiete auch als Regionen mit spezifischen Kompetenzen, Wissensbeständen und Innovationskapazitäten. Damit korrespondierend erhält die Regionalpolitik der EU heute eine veränderte inhaltlich-strategische Fokussierung: Während für lange Zeit die Förderung des Ausbaus regionaler Infrastrukturen und die Ansiedlungsförderung im Vordergrund standen, wird in jüngster Zeit die Förderung der Innovationspotenziale regionaler Ökonomien zu einem strategischen Schwerpunkt mit wachsender Gewichtung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass zwischen den Regionen Europas nach wie vor erhebliche Unterschiede im Bereich der Innovationstätigkeit, Forschung und technologischen Entwicklung bestehen. So wird dieser Bereich heute zunehmend als Schlüsselfaktor zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen betrachtet. Mit dem Ziel der Stärkung und Weiterentwicklung einer ausgewogenen Raum- und Siedlungsstruktur Europas haben die EU-Mitgliedsstaaten ein „Europäisches Raumentwicklungskonzept“ (EUREK) als gemeinsamen Orientierungsrahmen beschlossen. Hervorzuheben ist dabei der Versuch einer Ausrichtung der verschiedenen Fachpolitiken von EU und Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Konzeption zur europäischen Raumentwicklung. Als größte Herausforderung für die europäischen Raumentwicklungspolitiken werden heute die Prozesse der Metropolisierung und Globalisierung im Stadt- und Regionalsystem wahrgenommen. Offene Fragen sind dabei u.a., auf welchen institutionellen Maßstabsebenen (supranational, national, regional, multi-level governance) eine wirtschaftliche Entwicklungspolitik für Städte und Regionen überhaupt greifen könnte, und welche strategi-
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schen Ansätze nicht nur zur weiteren Stärkung der dynamischen Metropolräume Europas, sondern auch zur Entwicklung der Städte und Regionen mit wirtschaftlichen Stagnationserscheinungen oder sogar krisenhaften Schrumpfungsprozessen sinnvoll sein könnten. Zu den Schwerpunktthemen der gegenwärtigen europäischen Regionalforschung gehört die Analyse der Entwicklung regionalwirtschaftlicher Ungleichgewichte und Funktionsdifferenzierungen in Europa, die unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Strukturwandels in Richtung einer zunehmend wissensintensiven und innovationsgetriebenen Wirtschaft zu erwarten sind. Eine weitere Herausforderung für die Regionalforschung ergibt sich aus der Frage, wie weit regionale Cluster wissensintensiver Wirtschaftsaktivitäten durch transnationale bzw. globale Verbindungen gestärkt werden. Dies unterstreicht den Stellenwert von Analysen der Struktur des heutigen globalen Netzwerks von Stadtregionen, das sich aus der transnationalen Verbindung regionaler Ökonomien über die Organisationsnetze von global agierenden Unternehmen entwickelt. Forschungen über „Europas Städte und Regionen im Kontext der Globalisierung“ können neue Erkenntnisse zu den transnationalen (inner- wie außereuropäischen) Wirtschaftsverbindungen der Stadtregionen Europas in vergleichender und sektoral differenzierter Form erbringen und damit auch zur Weiterentwicklung der europäischen Raumentwicklungspolitiken beitragen.
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Beata Przybylska
Polen in der Europäischen Union
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Einleitung
Die politische und wirtschaftliche Wende Anfang der 90er Jahre öffnete Polen den Weg in die Transformation. Zum bestimmenden Faktor und zur Antriebskraft des Systemwechsels wurde die europäische Integration. Die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union war einer der Anreize dafür, die vollständige Umsetzung der Prinzipien der Marktwirtschaft zu beschleunigen, Verzögerungen aufzuholen, Standards umzusetzen und nach wirtschaftlichem Wachstum zu streben. Die Integration verlangte, dass sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich Maßnahmen zur Anpassung ergriffen werden mussten. Die Bewertung dieser Maßnahmen durch die Gesellschaft änderte sich mit der Zeit und war mit großem Kostenaufwand verbunden. Zweifellos gehört die Bewertung der inneren Veränderungen und Anpassungsprozesse der EUBeitrittskandidaten zu den interessantesten Fragestellungen bei der Untersuchung des Erweiterungsprozesses. Im vorliegenden Text wird dies im Hinblick auf das größte Land der Osterweiterung, Polen, versucht. Dafür ist es zunächst notwendig, Polens Weg in die Vollmitgliedschaft sowie die rechtlichen Grundlagen der Erweiterung nachzuzeichnen. Anschließend sollen die Chancen und Gefahren, mit denen Polen in der ersten Phase nach dem Beitritt konfrontiert sein wird, problematisiert werden.
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Polens Weg in die EU – die Anfänge
Im Rückblick begann die Annäherung Polens an die Europäische Union bereits vor dem Wendejahr 1989. Schon im Jahre 1988 nahm Polen diplomatische Beziehungen zur EWG und Verhandlungen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Ein Jahr darauf wurde in Warschau das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen Polen und der EG unterzeichnet. Im selben Zeitraum begann die polnische Seite, in Brüssel inoffizielle Gespräche über die Aufnahme von Assoziierungsverhandlungen zwischen Polen und der Europäischen Gemeinschaft zu führen, die 1990 mit dem offiziellen Antrag Polens auf die Aufnahme von Verhandlungen über einen Assoziierungsvertrag mit der EG endeten. Die Unterzeichnung des Europa-Abkommens, das die Assoziierung der Republik Polen mit der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten festschrieb, entschied endgültig darüber, welchen Weg Polens Entwicklung in den nächsten Jahren nehmen würde. Gleichzeitig wurde 1991 ein Übergangsvertrag unterzeichnet, der die Handelsbeziehungen der Vertragsparteien bis zum Inkrafttreten des Europa-Abkommens regeln sollte. Das Europa-Abkommen war ein internationaler Vertrag, der den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Beziehungen zwischen Polen und der EU für die Dauer ihrer Assoziation festlegte. Er trat am 1. Februar 1994 in Kraft, nachdem der Ratifizierungsprozess auf beiden Seiten abgeschlossen war. Bereits vor diesem Termin, nämlich ab dem 1. März 1992, wurde jedoch begonnen, den
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handelspolitischen Teil des Abkommens in Gestalt eines sogenannten Übergangsabkommens (Interim Agreement) umzusetzen.1 Vor dem Inkrafttreten des Europa-Abkommens wurden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Republik Polen und der EG kraft des Handels- und Kooperationsabkommens vom 19. September 1989 geregelt. Das Europa-Abkommen bestimmte nun nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern schuf auch den Rahmen für die Intensivierung der politischen Beziehungen sowie für die Hilfeleistungen der EU bei den wirtschaftlichen Reformen und der Demokratisierung Polens. Die Präambel des Abkommens enthält den wichtigen Satz, dass „Polen letztlich die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft anstrebt und dass diese Assoziation nach Auffassung der Vertragsparteien zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen wird.“ Dieser Satz war eine von vielen asymmetrischen Bestimmungen, aber er erregte die meisten Kontroversen. Artikel 1 legte als Ziel des Abkommens fest, „einen geeigneten Rahmen für den politischen Dialog zu schaffen, der die Entwicklung enger politischer Beziehungen zwischen den Vertragsparteien ermöglicht; die Ausweitung des Handels und ausgewogene Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern und so die dynamische wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand in Polen zu begünstigen; eine Grundlage für die finanzielle und technische Hilfe zu schaffen, die die Gemeinschaft Polen gewährt; einen geeigneten Rahmen für die schrittweise Integration Polens in die Gemeinschaft zu bieten; die Zusammenarbeit in kulturellen Angelegenheiten zu fördern“ fest. Titel III („Freier Warenverkehr“) sah die Einrichtung einer Freihandelszone innerhalb von zehn Jahren vor. Damit gingen die Vertragspartner die Verpflichtung ein, zu einem festgelegten Termin Zölle und Abgaben mit vergleichbaren Folgen sowie mengenmäßige Begrenzungen und Instrumente mit ähnlichen Auswirkungen abzuschaffen, und zwar bei gleichzeitiger Beibehaltung der völligen Freiheit in der Anwendung dieser Instrumente im Verhältnis zu Drittstaaten. Die Polen und die EG-Staaten umfassende Freihandelszone sollte zunächst, entsprechend dem Europa-Abkommen, nur für Industrieprodukte gelten. Für unverarbeitete und verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse sah das Abkommen nur eine begrenzte Liberalisierung des Handels vor, die durch die teilweise Reduzierung von Zöllen, Ausgleichsabgaben sowie eine Beseitigung mengenmäßiger Begrenzungen erreicht werden sollte. In späteren Verhandlungen zwischen der Europäischen Kommission und der polnischen Regierung wurde aber die weitgehende Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vereinbart. Eine entsprechende Vereinbarung wurde am 27. September 2000 in Warschau unterzeichnet. Die Rechte, mit denen Polen und die Europäische Gemeinschaft sich gegenseitig den Zugang zu ihren Märkten gewährten, hatten Vorzugscharakter, was bedeutet, dass sie von der Wirkung der Präferenzklausel ausgenommen waren und nicht auf Drittstaaten ausgeweitet werden mussten.2 Mit dem Inkrafttreten des Europa-Abkommens galt für die Handelsbeziehungen zwischen Polen und der Gemeinschaft das Prinzip des Stillstands (standstill). Dieses verpflichtete die Vertragspartner dazu, keine neuen Export- oder Importzölle sowie andere Abgaben ähnlichen Zwecks einzuführen und verbot die Erhöhung bereits bestehender Zölle und Abgaben. Die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Polen vereinbarte Liberalisierung des Handels war asymmetrisch angelegt. Die EG öffnete als wirtschaftlich stärkerer 1
Dziennik Ustaw RP, Nr. 11, Pos. 38 vom 27.01.1994 und Informationsbulletin der EU, OJL 348/93. Das Europa-Abkommen beruft sich in diesem Zusammenhang auf das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), das in Art. XXIV Freihandelszonen sowie EU-Zölle von der Wirkung der Vorzugsklausel ausnimmt.
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Partner Polen früher ihren Markt im Güter- und Dienstleistungssektor. Ab dem 1. Januar 1997 waren die Importzölle für polnische Produkte innerhalb der EU aufgehoben und ein Jahr später wurden die letzten mengenmäßigen Begrenzungen (Importkontingente) abgeschafft. Polen seinerseits sollte als letztes, nämlich erst ab dem 1. Januar 2002, die Zollabgaben auf aus der EU importierte Autos aufheben. Eine vollständige Freihandelszone für Industrieprodukte entstand somit im Jahr 2002. Das Europa-Abkommen sah die Möglichkeit vor, in bestimmten Situationen einige Begrenzungen wieder einzuführen oder neue Schutzmechanismen zu etablieren. Diese sogenannten Schutzklauseln galten für beide Seiten gleichermaßen, so z.B. die Schutzklausel für den Agrarhandel (Art. 21) oder die Anti-Dumping-Klausel (Art. 29). Zudem waren für Polen, den schwächeren Wirtschaftspartner, einseitig geltende Schutzklauseln vorgesehen, beispielsweise die Restrukturierungsklausel (Art. 28). 1993 legten die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Kopenhagen den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union als gemeinsames Ziel fest, jedoch wurde die zukünftige Mitgliedschaft an die Erfüllung bestimmter politischer und wirtschaftlicher Kriterien, der sogenannten Kopenhagener Kriterien, durch die beitrittswilligen Staaten geknüpft. Diese Kriterien waren: Stabilität der Demokratie und ihrer Institutionen, Rechtsstaat, Achtung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz der Minderheitenrechte, eine freie Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standhält, Fähigkeit zur Übernahme der Pflichten, die aus der Mitgliedschaft resultieren, darunter die Bestimmungen für eine politische, wirtschaftliche und monetäre Union. Die Beitrittskandidaten wurde darüber hinaus verpflichtet, den Gemeinsamen Besitzstand der Europäischen Union, den acquis communautaire, auf dessen Grundlage die Gemeinschaft funktioniert, zu übernehmen. Das Inkrafttreten des Europa-Abkommens 1994, mit dem die Assoziation zwischen der Republik Polen und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten besiegelt wurde, ging der Übergabe des offiziellen Antrags auf Mitgliedschaft Polens in der EU – auf der Grundlage des Art. O EUV – voraus, den der polnische Außenminister Andrzej Olechowski in Athen dem griechischen Präsidenten überreichte. Dieses Ereignis markiert den Beginn eines lange andauernden Prozesses der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft, der mit umfassenden legislativen Anpassungen sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen verbunden war. Den Anpassungsprozess bestimmten zwei EU-Dokumente: „Die Strategie zur Vorbereitung für den Beitritt“ vom Dezember 1994 und „Das Weißbuch über die Vorbereitung der assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas auf die Integration in den Binnenmarkt“ vom Juni 1995. Auf der Grundlage dieser Dokumente erstellte die polnische Regierung einen Kalender der zu leistenden Maßnahmen und schrieb diesen 1997 zusammen mit anderen detaillierten Bestimmungen in der „Nationalen Strategie zur Integration“ fest. Als Antwort auf dieses Regierungsdokument, das durch das „Komitee für Europäische Integration“ vorbereitet worden war, präsentierte die Europäische Kommission vor dem Europäischen Parlament ihre Stellungnahme zu den von den assoziierten Staaten MittelOsteuropas eingereichten Anträgen auf Beitritt zur Europäischen Union. Die Kommission empfahl, zunächst mit sechs Kandidaten Verhandlungen aufzunehmen: mit fünf mittel- und osteuropäischen Staaten (Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn) und mit Zypern. Auf dem Europäischen Rat in Luxemburg folgten die Staats- und Regierungschefs diesem Vorschlag. Neben der Stellungnahme präsentierte die Kommission
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weitere Dokumente, die Bestandteile der Agenda 2000 waren, darunter die Dokumente „For a stronger and wider Union“ und „The Challenge of Enlargement“, die für die weiteren Verhandlungen und die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft von Bedeutung waren.
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Verhandlungen und Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft
Auf dem EU-Gipfel in Luxemburg fiel die Entscheidung, den Erweiterungsprozess der Union (der alle für den Beitritt kandidierenden mittel- und osteuropäischen Länder und Zypern einschließen sollte) am 30. März 1998 zu beginnen. Zudem wurde für den 31. März 1998 die Einberufung bilateraler Regierungskonferenzen beschlossen, in deren Rahmen die Beitrittsverhandlungen geführt werden sollten, zunächst mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern – der Luxemburg-Gruppe. Mit seiner Entscheidung, gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten eine intensivierte Heranführungsstrategie zu verfolgen, hatte der Europäische Rat seine Absicht bekundet, die Durchführung der für die Vollmitgliedschaft notwendigen Reformen beratend und finanziell zu unterstützen. Ein Element der verstärkten Zusammenarbeit war das EU-Programm „Partnerschaft für Mitgliedschaft“, das die vorrangigen kurz- und mittelfristigen Aufgaben und den Rahmen für die finanzielle Unterstützung bei ihrer Durchführung festlegte.3 1998 vollzog die Europäische Kommission den nächsten Schritt und präsentierte den Fahrplan für die Anpassung Polens an einzelne Sektoren des Einheitlichen Marktes (Road Map). Gleichzeitig dauerte der Verhandlungsprozess an. Per Dekret schuf der polnische Ministerrat das Amt eines Regierungsbeauftragten für die Beitrittsverhandlungen Polens mit der Europäischen Union. Für den Posten wurde Jan Kuáakowski, Staatssekretär in der Kanzlei des Ministerpräsidenten, nominiert.4 Die Verhandlungen wurden zwischen den Außenministern und ihren Stellvertretern in Form von bilateralen Regierungskonferenzen geführt, die am 31. März 1998 in Brüssel aufgenommen wurden. Praktische Tätigkeiten, die mit weiteren Sitzungen verbunden waren, wurden durch den Vorsitzenden der EUDelegation im Rahmen seiner Pflichten der Gastgeberseite umgesetzt. Die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und Polen liefen in zwei Etappen ab: Die erste Etappe war das sogenannte screening, d.h. die Überprüfung der Gesetzgebung des Kandidatenlandes auf Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftlichen Besitzstand der EU (acquis communautaire). Das screening wurde in 31 sogenannten Verhandlungskapiteln durchgeführt.5 Während des multilateralen screenings, das in Brüssel unter Beisein von Experten der Europäischen Kommission und Stellvertretern der Beitrittsländer stattfand, wurde allgemein das für das jeweilige Kapitel geltende EU-Recht vorgestellt. Das bilaterale screening erfolgte hingegen während gemeinsamer Sitzungen der EUKommission mit einem Beitrittskandidaten. Die Vertreter des jeweiligen Staates legten dann ein Positionspapier zu jedem Rechtsakt des betreffenden Verhandlungskapitels vor. Die Durchleuchtung der Gesetzgebung ermöglichte es, in den Beitrittsländern jene Bereiche 3
Dazu diente besonders die neue Funktionsweise des PHARE-Programms. Seit 2000 wurde finanzielle Hilfe auch im Rahmen der Programme SAPARD und ISPA gewährt. Für die Beitrittspartnerschaften, die für die Jahre 20022003 während des Gipfels in Laeken im Dezember 2001 geschlossen wurden, war ein zusätzliches Hilfsinstrument vorgesehen, nämlich die den Beitritt vorbereitende Prozedur der Steueraufsicht. 4 Später wurde er durch Jan TruszczyĔski ersetzt. 5 Die erste Phase der Beitrittsverhandlungen Polens mit der EU fand in Form eines bilateralen und multilateralen screenings zwischen April 1998 und November 1999 statt.
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zu ermitteln, in denen das geltende Recht nicht mit dem acquis communautaire übereinstimmte und wo also Verhandlungen geführt werden mussten. Erst in der zweiten Phase wurde tatsächlich verhandelt. Polen bestimmte – wie die anderen Beitrittsstaaten – seine Verhandlungspositionen hinsichtlich der einzelnen Kapitel und legte sie der aktuellen Präsidentschaft der EU vor. Mit dem Ziel, die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen, wurde beschlossen, dass die zweite Phase bereits beginnen sollte, während die erste noch andauerte. Praktisch wurden dann jene Kapitel, deren screening bereits abgeschlossen war, nach und nach in die Verhandlungen aufgenommen. Nachdem die Beitrittskandidaten ihre Verhandlungspositionen vorgelegt hatten, oblag es der Europäischen Kommission – in Abstimmung mit den EU-Mitgliedsstaaten –, die Verhandlungspositionen der EU festzulegen. Daraufhin erfolgte die sogenannte „Öffnung“ der Kapitel, das heißt die bilateralen Verhandlungen konnten für das jeweilige Gebiet aufgenommen werden. Die Entscheidung, in welchen Kapiteln eine abschließende Einigung erzielt wurde, fiel in den Arbeitsgruppen der Stellvertreter (d.h. unter den Permanenten Vertretern der Mitgliedstaaten bei der EU und den Chefunterhändlern der Beitrittsstaaten) und anschließend auf Sitzungen der Außenminister, die im Rahmen der Beitrittskonferenzen abgehalten wurden. Bei alledem galten alle Vereinbarungen nur vorläufig bis zur Verabschiedung des Gesamtpaketes. Aus diesem Grund erfolgte das multilaterale und bilaterale Durchleuchten des Rechtsbestands (screening). Ein wichtiges Dokument des Ministerrats der Republik Polen war in diesem Zusammenhang das „Nationale Programm zur Vorbereitung auf die EUMitgliedschaft“, das die Richtung der notwendigen Anpassungen vorgab und einen Zeitplan festlegte, wie diese in den Jahren 1998-2002 umgesetzt werden sollten. Einen wesentlichen Einfluss auf die Anpassungsleistungen hatte in diesem Zeitraum die 1999 von der Kommission gefällte Entscheidung, wie die Mittel der Heranführungshilfe auf die Beitrittskandidaten verteilt werden sollten. Der für Polen aus den Mitteln des Programms ISPA bestimmte jährliche Betrag betrug eingangs 312-385 Mio. Euro, der aus den Mitteln des Programms SAPARD 168 Mio. Euro. Im Jahr 2000 beispielsweise erhielt Polen unter Einbeziehung der PHARE-Mittel somit eine Heranführungshilfe von fast 900 Mio. Euro.6 Zusätzlich wurden die von der EU bereitgestellten Mittel im polnischen Staatshaushalt in beträchtlichem Maße erweitert.7 Eine Beschleunigung erfuhr der Verhandlungsprozess nach der Wahl einer neuen EUKommission. Kommissionspräsident wurde Romano Prodi, und Günther Verheugen wurde zum für die Erweiterung verantwortlichen Kommissar ernannt. Innerhalb der Kommission entstand die neue „Generaldirektion Erweiterung“, die Aufgaben übernahm, welche zuvor von der Generaldirektion 1A, dem „Amt für Informationsaustausch über technische Hilfe“ (TAIEX) sowie der „Task Force für die Beitrittsverhandlungen“ wahrgenommen worden waren. Am 13. Oktober 1998 veröffentlichte die Kommission ihren ersten Jahresbericht über die Fortschritte Polens auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft. In diesem kritisierte sie besonders die zu langsamen justiziellen Anpassungen an den acquis communautaire, die Ineffizienz beim Kampf gegen Korruption und Schmuggel und die zu zögerliche Restrukturierung des Bergbaus und der Schwerindustrie. Weiterhin empfahl die Kommission Polen, 6
Siehe http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/e40106.htm. Siehe http://www.mofnet.gov.pl/. Die Seite enthält ein Archiv des polnischen Finanzministeriums mit allen Haushaltsgesetzen zwischen 1999 und 2006.
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die Umsetzung der Anpassungen im Bereich der Landwirtschaft und des Umweltschutzes zu beschleunigen und Maßnahmen zur Stärkung der Administration zu forcieren. Trotz des kritischen Berichtes zeugten jedoch die makroökonomischen Daten von einer vergleichsweise starken Position Polens unter den Kandidaten der sogenannten ersten Runde. Auf dem EU-Gipfel vom 11.-13. Dezember in Helsinki wurden die Kandidaten der sogenannten zweiten Runde, Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Malta zu Beitrittsverhandlungen eingeladen. Von diesem Moment an verhandelten zwei Ländergruppen, die „Luxemburg-Gruppe“ und die „Helsinki-Gruppe“, gemeinsam um ihre zukünftige Mitgliedschaft in der EU. Das Ereignis mit der vielleicht größten Bedeutung auf dem Weg zur Mitgliedschaft war der Gipfel in Nizza. Vom 7.-9. Dezember 2000 setzte sich der Europäische Rat mit dem Jahresbericht der Kommission über die Fortschritte der Beitrittsstaaten auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft auseinander und nahm die von der Kommission vorgeschlagene Strategie zur Erweiterung der EU an. Am 10.-11. Dezember verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs den Vertrag von Nizza, der das Ergebnis der seit dem 14. Februar 2000 stattfindenden Regierungskonferenz zur institutionellen Reform der EU war. Der Vertrag machte den Weg frei für die Erweiterung der Europäischen Union, denn er ermöglichte die notwendigen institutionellen Anpassungen für eine EU der 27. Der Vertragsvorschlag berücksichtigte auch jene zwei Staaten, die nicht in der ersten Erweiterungsrunde beitraten, Rumänien und Bulgarien. Die Ratifizierung ging nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten. Die irischen Wähler lehnten in einem ersten Referendum den Vertrag von Nizza ab, was dazu führte, dass sich der Ratifizierungsprozess in die Länge zog und Sorgen hinsichtlich des Endergebnisses der institutionellen Reformen für die erweiterte EU weckte.8 Im Jahr 2002 nahm der Europäische Konvent seine Arbeit mit dem Ziel auf, weitergehende Reformen für die EU zu erarbeiten. Die letzten, die Beitrittsverhandlung abschließenden Gespräche wurden auf dem Gipfel in Kopenhagen im Dezember geführt. Am 16. April 2003 wurde in Athen auf der Akropolis der Beitrittsvertrag Polens und der übrigen Beitrittsstaaten unterzeichnet. Am 1. Mai 2004 wurden Polen und neun weitere Staaten vollberechtigte Mitglieder der Europäischen Union. „Von Athen bis Athen“, damit ist der zehnjährige Weg Polens beschrieben, der 1994 mit dem Antrag auf Beitritt begann. Die Wahl nicht messbarer Kriterien für die Kandidaten erlaubte es der EU, den Erweiterungsprozess frei zu gestalten. Man kann sagen, dass der Entscheidung, die EU zu erweitern, vor allem politische, den Interessen der einzelnen Staaten der Gemeinschaft untergeordnete Erwägungen zugrunde lagen.
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Die Bedingungen der Mitgliedschaft
Der Beitrittsvertrag ist ein zwischen den bisherigen EU-Staaten und den neuen Mitgliedsstaaten abgeschlossenes internationales Abkommen. Der Aufbau des „Vertrags über den Beitritt zur Europäischen Union“ entspricht der bis dato verfolgten Praxis. Der Vertrag untergliedert sich in drei Teile: 8
Den eigentlichen Beitrittsvertrag. Dabei handelt es sich um die Präambel, in der der Wille zur Umsetzung der im Vertrag verankerten Ziele bekundet wird, und drei Arti-
Der Vertrag trat schließlich am 1. Februar 2003 in Kraft.
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kel. Der erste beschließt die Mitgliedschaft, verweist auf die in der Beitrittsakte genannten Bedingungen der Mitgliedschaft und bestätigt die Zugehörigkeit des Beitrittsvertrags zum Primärrecht. Artikel zwei formuliert mögliche Ausnahmen von den generellen Beitrittsbestimmungen im Falle der Nichtratifikation des Vertrages durch einen der Staaten sowie andere technische Regelungen. Der dritte enthält die typischen Schlussklauseln, welche die Vertragssprachen, den Depositaren und das Datum, an dem der Vertrag in Kraft tritt, bestimmen; Die Beitrittsakte, die die allgemeinen Bedingungen für den Beitritt zur EU (siehe Tabelle 1) und die Anpassungen in den Verträgen festschreibt. Zusammen mit 18 Anhängen und 9 Protokollen ist die Akte ein integraler Bestandteil des Vertrages. Dieser umfangreiche Teil enthält terminologische Erklärungen, hauptsächlich die Institutionen betreffende Änderungen des Primärrechts sowie derogative Änderungen des Sekundärrechts; Die Schlussakte, die 44 Erklärungen politischer Art enthält.
Tabelle 1: Ausgewählte Bedingungen für die Mitgliedschaft Verhandlungspunkt Wettbewerb
Steuern
Freier Kapitalverkehr
Freier Warenverkehr Landwirtschaft
Umweltschutz
Verkehr
Freier Personenverkehr
Landwirtschaft
Bedingungen für die Mitgliedschaft Polens bis 2011: Erhalt von Sonderwirtschaftszonen für kleine und mittlere Unternehmen; bis 2010: Erhalt von Sonderwirtschaftszonen für große Unternehmen bis 2007: abgesenkter Mehrwertsteuersatz im Wohnungsbau in Bezug auf neue Wohnungen, Baudienstleistungen; bis 2007: abgesenkter Mehrwertsteuersatz für Dienstleistungen im Gastronomiebereich; dauerhafte Derogation – d.h. die Möglichkeit, Steuerzahlern, deren jährlicher Umsatz weniger als 10.000 EUR beträgt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu erteilen bis 2016: Beschränkung des Erwerbs von Land- und Forstwirtschaften durch Ausländer; bis 2009: Beschränkung des Erwerbs so genannter Zweitwohnsitze durch Ausländer bis 2008: Aufschub bei der Einführung der in der EU praktizierten Registrierung von Medikamenten Milchquote im Großhandel: 8,5 Mio. Tonnen; Anpassung an veterinäre und phytosanitäre Anforderungen (verschiedene Zeiträume von 3 bis 10 Jahren); Einführung einer Schutzklausel, die im Falle ernster und langwieriger Funktionsschwierigkeiten im landwirtschaftlichen Sektor oder bei Problemen, die die Situation in diesem Sektor verschlechtern, in Kraft tritt Mehrere Übergangsfristen verbunden mit der Begrenzung der Verschmutzung durch die Industrie, mit der Verbesserung der Luft- und Wasserqualität und der Abfallwirtschaft Beschränkter Zugang zum Eisenbahnnetz, ab dem Tag des Beitritts Beschränkung der allgemeinen Transportkapazität im transeuropäischen Eisenbahnnetz für internationale Bahntransporte auf 20% Übergangsfristen für die EU Arbeitsverbot für polnische Staatsbürger in den Staaten, die sich nicht dagegen aussprechen; Verpflichtung zur Überprüfung der Marktlage auf Notwendigkeit der Sperre nach zwei, weiteren drei und nochmals weiteren zwei Jahren (2+3+2) In den Jahren 2004-2006 bis zu 60 % Zuzahlungen, Ergänzung aus dem Staatshaushalt von 30% bis 60%
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen den früheren Erweiterungen der EU und der letzten im Jahr 2004 war der deutlich größere Umfang des zu übernehmenden Gemeinschaftlichen Besitzstands. Dies steht in direktem Verhältnis zu der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, besonders in Bereichen wie dem EU-Binnenmarkt, der Wirtschafts- und Währungsunion und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Damit wird auch der Umfang des Beitrittsvertrags, der etwa 6.000 Seiten umfasst, verständlich. Dies erzeugt jedoch Befürchtungen bezüglich der Einhaltung dieses Rechts, vor allem in der ersten Phase der Mitgliedschaft. Polen ist wie die anderen Länder dazu verpflichtet, den acquis vollständig zu übernehmen, mit Ausnahme der in Form von Übergangsfristen ausgehandelten Sonderregelungen. Zweifel erwecken auch die mit der Übernahme des acquis verbundenen Kosten. Man rechnet damit, dass allein die Änderungen im Bereich Umweltschutz 70-140 Mrd. Záoty (umgerechnet ca. 17,5-35 Mrd. Euro) kosten werden (vgl. Niesyto 2000). Nur die sachkundige Verteilung der Ausgaben auf den dafür vorgesehenen Zeitraum kann die Stabilisierung des Haushalts gewährleisten. Tabelle 1 zeigt, nach Verhandlungspunkten geordnet, die wichtigsten Bedingungen für die Mitgliedschaft.
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Wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen für Polen
Der Beitritt Polens zur Europäischen Union verlangt nach einem Anpassungsprozess, der Polen, wie auch die anderen Mitgliedsstaaten, vor eine Reihe von Herausforderungen stellt. Die größten Herausforderungen, die gleich zu Beginn der Mitgliedschaft anstehen, sind die termingerechten Anpassungen des polnischen Rechts an die in der EU herrschenden Voraussetzungen, die effektive Inanspruchnahme der Strukturmittel sowie die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Wirtschaft. Zu den potentiellen positiven Konsequenzen, die Polens Mitgliedschaft in der EU nach sich ziehen könnten, gehören: die erhöhte Glaubwürdigkeit des Landes in der internationalen Arena, mehr Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität, verbesserte Chancen für eine schnellere Entwicklung und wirtschaftlichen Fortschritt, der Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, die Angleichung der unterschiedlichen Lebensverhältnisse zwischen den Regionen sowie zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Mit dem EU-Beitritt wird zudem die staatliche Einmischung in Sektoren, die einer Restrukturierung unterliegen, wie beispielsweise den Bergbau, geringer. Potentielle negative Konsequenzen der Integration mit der EU, die es zu berücksichtigen gilt, sind die Kosten, die aus der Umsetzung mancher Anpassungen resultieren, sowie die Gefahren, die aus dem wirtschaftlichen Wettbewerbsdruck folgen. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten kann man schwerlich als Folgen der EU-Integration allein bezeichnen, da sie auch aus der Ineffektivität des vorhergehenden Systems resultieren. Dennoch werden sie von der Gesellschaft mit dem Integrationsprozess in Verbindung gebracht. Zusätzliche Kosten wird die Verwaltung der Strukturhilfe auf kommunaler, staatlicher und europäischer Ebene verursachen. Der sich zunehmend weiter öffnende europäische Arbeitsmarkt kann für dynamische, gut ausgebildete Spezialisten einen Anreiz zur Emigration bilden. Bei der Beschäftigung mit den Konsequenzen der Integration gilt es die wichtigsten Einflussebenen zu unterscheiden:
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den Einfluss der Integration auf die inneren Reformen (eng verknüpft mit der Einführung des Gemeinschaftsrechts sowie mit den Veränderungen infolge der Standarisierung der Vorgehensweisen); der Einfluss der Integration auf das Tempo des wirtschaftlichen Wachstums (u.a.: Zunahme ausländischer Investitionen, Umsatz im Außenhandel); der Einfluss der Integration auf die gesellschaftlichen Stimmungen (es lohnt sich hierbei, auf jene von der eigentlichen Integration unabhängigen Elemente hinzuweisen, die mit den inneren Reformen des Staates und dem schnellen Übergang zur freien Marktwirtschaft verbunden sind, sich aber zeitlich mit dem Integrationsprozess überschneiden).
Obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit den 90er Jahren beständig steigt, bleiben die Entwicklungsunterschiede zwischen Polen und den EU-Staaten beträchtlich. So wurde 2003 das durchschnittliche BIP pro Kopf auf etwa 42,7 % des Durchschnitts in den Staaten der EU-15 geschätzt. Zurückzuführen ist die Differenz zwischen Polen und den Ländern der EU in Bezug auf das Leistungsvermögen und den Stand des BIP pro Einwohner vor allem auf das Niveau des BIP pro in der Landwirtschaft Beschäftigtem. Eines der Grundprobleme der Entwicklung in Polen ist die Beschäftigungsstruktur sowie die unterschiedliche Arbeitsproduktivität der einzelnen Wojewodschaften. Eine weitere Ursache für das unterschiedliche Niveau des BIP sind die geringen Investitionen in Forschung und Entwicklung (0,59 % im Jahr 2002) (vgl. Ministerstwo Gospodarki i Pracy 2004). Zusätzliche Schwierigkeiten bereiten die Modernisierung der Industrie, die geringe Mobilität des Humankapitals und die strukturelle Arbeitslosigkeit. Diese Probleme variieren von Region zu Region und hängen direkt mit den wachsenden regionalen Unterschieden zusammen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen nehmen zu. Dazu tragen vor allem der Verlust der bisherigen ökonomischen Basis infolge des Restrukturierungsprozesses und der hohe Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung bei. Es lassen sich drei Ursachen für die wachsenden Unterschiede in Polen benennen: Die erste betrifft die Trennung zwischen den Agglomerationen und dem Rest des Landes. Die zweite Ursachengruppe hängt mit den Schwierigkeiten jener Gebiete zusammen, die stark mit der Industrie der Volksrepublik Polen verbunden waren. Die Öffnung des polnischen Wirtschaftsraumes für die europäische Konkurrenz verstärkt die Probleme in Gebieten mit einer starken Konzentration der Sektoren, die ihre Konkurrenzfähigkeit verloren haben. Die dritte Gruppe von Ursachen für die zunehmenden Differenzen hängt mit der Geschichte Polens und Europas, beispielsweise mit den Unterschieden, die bis in die Zeit der Teilungen Polens zurückreichen, zusammen. Die Überwindung der beschriebenen Unterschiede ist eine schwierige Aufgabe und verbindet sich in vielen Bereichen mit einer Verbesserung des allgemeinen Standards. Die polnischen Regionen stehen aufgrund der Peripherisierung innerhalb des sich integrierenden europäischen Raumes vor einer Herausforderung. Wird nur auf die Strukturförderung der Europäischen Union gezählt, kann dies eine Haltung verbreiten, die zur Abhängigkeit von äußerer Hilfe führen kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass der Staat innenpolitische Maßnahmen ergreift, die positive Entwicklungseffekte stabilisieren und eine drohende Marginalisierung verhindern. Im Hinblick auf die oben angeführten Überlegungen sollte auch auf jene Gefahren hingewiesen werden, die ultraperipheren Regionen infolge der vertieften wirtschaftlichen Integration drohen. Es scheint, dass die zunehmende
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Polarisierung zwischen den Regionen und eine Vertiefung gesellschaftlicher Unterschiede in der erweiterten Europäischen Union nicht vermieden werden können. In der ersten Phase der Mitgliedschaft wird das Zusammenspiel der gemeinschaftlichen Regionalpolitik und der derzeit eingeführten Instrumente staatlicher Strukturpolitik, die die Folgen der beschriebenen Differenzierung nivellieren und die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit Polens im europäischen Raum verbessern sollten, die größte Herausforderung sein. Polens Präsenz in der EU ist in erster Linie eine Chance für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Mit Hilfe der Nationalen Entwicklungspläne für die Jahre 20042006 und 2007-2013 kann Polen sich seine EU-Mitgliedschaft zu Nutzen machen und die von der Europäischen Union zur Verfügung gestellten Gelder zuordnen und verteilen. Der erste Entwicklungsplan war hauptsächlich deshalb verfasst worden, um der Europäischen Kommission ein Dokument präsentieren zu können, in dem die in den Jahren 2004-2006 zu finanzierenden Maßnahmen aufgeführt werden. Der nächste, noch zu formulierende Nationale Entwicklungsplan für die Jahre 20072013 soll sämtliche Entwicklungsmaßnahmen, die in diesem Zeitraum im Land unternommen werden sollen, zu einem komplexen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformprogramm verbinden, das aus staatlichen und EU-Mitteln finanziert wird. Dieser Plan spiegelt die Strategie Polens bei seiner Annäherung an die Integration mit der Europäischen Gemeinschaft wider. Die polnische Integrationsstrategie berücksichtigt die in den Programmen vorgegebene Entwicklungsrichtung der Union, vor allem die Lissaboner Strategie und mit ihr verbunden das Konzept einer ausgeglichenen Entwicklung. Die Umsetzung des Entwicklungsszenarios, das in den Nationalen Entwicklungsplänen angestrebt wird, erfordert die Durchführung struktureller Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Finanzsektor. Zudem verlangt sie danach, Firmen und öffentlichen Einrichtungen die fristgerechte Umsetzung der Verpflichtungen, die aus den Verträgen resultieren, zu ermöglichen und setzt die größtmögliche Ausschöpfung der Strukturfonds voraus. Nach dem Beitritt Polens zur EU sind viele Fragen offen, die die Zukunft der Wirtschaftspolitik des polnischen Staates betreffen. Jedoch sollte man die EU-Mitgliedschaft sowohl aus kurzfristiger als auch aus langfristiger Perspektive beurteilen. In der ersten Zeit nach dem Beitritt machen sich infolge der noch erforderlichen Änderungen Zweifel breit, ob angesichts der vielen Herausforderungen, die mit dem Anpassungsprozess verbunden waren, die gewählten Maßnahmen wirklich effektiv waren. Die Aussichten Polens, am Integrationsprozess der EU nach 2004 aktiv teilzuhaben, wird in starkem Maße von der Wirksamkeit der Reformen abhängen, die innerhalb der Union durchgeführt werden. Nur stabile Strukturen innerhalb der Gemeinschaft können die Handlungsfreiheit garantieren, die die neuen Staaten brauchen, um die mühevollen inneren Reformen durchzuführen. Das Streben nach Erfolg bei der Umsetzung innerer Reformen ist langfristig gesehen die wichtigste Aufgabe eines jeden neuen Mitgliedsstaates und der gelungene Integrationsprozess letztendlich das Ergebnis der inneren Erfolge der einzelnen Staaten. Die Mitgliedschaft in der EU kann den neuen Mitgliedsstaaten dabei helfen, den Weg hingegen müssen sie selbst einschlagen.
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Der Europagedanke vor dem Zweiten Weltkrieg
Der europäische Integrationsgedanke wurzelt in der Geistesgeschichte dieses Kontinents. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Europa – in der griechischen Sagenwelt wird Európe (Schwester des Kadmos) von Zeus in Stiergestalt entführt – beschränkt sich nicht auf eine geographische und politische Bezeichnung. Vielmehr verkörpert Europa auch die Idee gemeinsamer humanistischer Werte, welche seit den Perserkriegen ein durch die Epochen immer wieder erstarkendes Einheitsgefühl hervorbrachte. Von der hellenistischen Welt über das Römische Reich, das fränkisch-römische Reich Karls des Großen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die Renaissance, die Aufklärung, das europäische Konzert verwandter Königshäuser bis in die Gegenwart in allen Epochen lässt sich das geistig und politisch Einende bei aller Vielfalt nachweisen (vertiefend zur Ideengeschichte der europäischen Integration siehe den Beitrag von Stanisáaw Zyborowicz in diesem Band). Die Kette literarischer Meilensteine der Europaidee verdichtet sich seit dem 18. Jahrhundert. Gleichwohl ist gegenüber geistesgeschichtlichen Zäsuren Vorsicht geboten, zumal der Gedanke eines europäischen Friedenssystems bereits im Mittelalter in die Literatur eingegangen ist. Dies zeigt etwa das Werk „De recuperatione Terrae Sanctae“ des französischen Juristen Pierre Dubois, der zwischen 1305 und 1307 ein europäisches Friedenssystem unter Führung des „allerchristlichsten“ Königs von Frankreich entworfen hatte. Die Schrift des Abbé de Saint Pierre „Mémoire pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (1713) wird von Rousseau mit einem „Projet pour la paix perpétuelle“ kritisch kommentiert. Rousseau bestreitet darin die Bereitschaft der europäischen Fürsten zu einem Zusammenschluss, der allein durch eine Revolution möglich wäre. Der Aufklärer Kant setzt sich mit „Zum ewigen Frieden“ (1795) für eine europäische, langfristig sogar republikanisch verfasste Föderation von Staaten ein. Streng genommen handelt es sich bei diesen Entwürfen eines europäischen Friedenssystems allerdings eher um Vorläufer universell ausgerichteter Organisationen wie Völkerbund und Vereinte Nationen, da sich der Zusammenschluss bei diesen Vordenkern auf alle damals anerkannten Souveräne und Staatsgebilde erstrecken sollte. Der besondere europäische Integrationsgedanke trägt demgegenüber die von Saint-Simon und Thierry im Jahre 1814 veröffentlichte Schrift „De la réorganisation de la société europeénne ou de la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l'Europe en un seul corps politique en conservant à chacun son indépendance nationale“. Damit wird im Zeitalter der Industrialisierung eine nachhaltige, bis in die Gegenwart wirkende Diskussion zur demokratischen („rassembler les peuples“), wirtschaftlichen und sozialen Integration Europas eröffnet. Im Vergleich dazu erscheint die Vision des Romanciers Victor Hugo von den „Etats unis de l'Europe“ (1849) politisch eher vage. Obwohl der Erste Weltkrieg alle Integrationsvisionen zu fernen Utopien gemacht hatte, veröffentlichte Graf Richard Coudenhove-Kalergi im Jahre 1923 sein Werk über „Paneuropa“ zur europäischen Integration mit dem Ziel der
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Vereinigten Staaten von Europa, allerdings unter Ausschluss Großbritanniens und der Sowjetunion. Die Paneuropaidee wurde auf vielen Kongressen zwischen beiden Weltkriegen gepflegt und fand ihre einflussreichsten Anhänger in den Außenministern Aristide Briand (Frankreich) und Gustav Stresemann (Deutschland). Die in einem Memorandum von 1930 konkretisierten Pläne Briands, eine konföderative Europäische Konferenz, einen Ständigen Politischen Ausschuss und ein Sekretariat einzurichten, scheiterten am fehlenden Willen der anderen europäischen Staaten. Die Hauptursache für dieses Scheitern lag in den politischen und wirtschaftlichen Krisenerscheinungen der späten zwanziger Jahre. Hinzu kamen Bedenken, neben dem universell ausgerichteten, gleichwohl von den europäischen Mächten bestimmten Völkerbund eine politische „Konkurrenzorganisation“ zu installieren.
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Die Gründung der Europäischen Gemeinschaften
Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Paneuropaidee mit der Zürcher Rede Winston Churchills vom 19. September 1946 schnell an Boden. Churchill beschwor die „Neugründung der Europäischen Familie“ in Gestalt der „Vereinigten Staaten von Europa“. Der europäische Aufschwung wurde entscheidend von den neuen Sicherheitsbedürfnissen Westeuropas im Ost-West-Konflikt, dem Kalten Krieg, geprägt. Auch wurde die westeuropäische Ordnung anfangs als Gegenreaktion auf den wirtschaftlichen und weltpolitischen Niedergang der ehemaligen europäischen Großmächte infolge des Zweiten Weltkrieges entworfen. Erste Meilensteine dieser Entwicklung waren die Gründung
der Westunion (später Westeuropäische Union) am 17. März 1948; der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, später OECD) am 16. April 1948; des Nordatlantikpaktes (NATO) am 4. April 1949; und des Europarates am 5. Mai 1949, dessen Mitgliedstaaten sich dem Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK) (ETS 5; dazu: Thiele in diesem Band) angeschlossen haben.
Während Großbritannien mit seiner Einbindung in den Commonwealth lediglich eine intergouvernementale Zusammenarbeit anstrebte, verfolgten Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und zunehmend auch Deutschland eine stärkere europäische Integrationspolitik. In einer vor allem an Deutschland gerichteten Erklärung vom 9. Mai 1950 erläuterte der französische Außenminister Robert Schuman den von seinem Mitarbeiter Jean Monnet entwickelten Plan einer zunächst funktional begrenzten supranationalen Gemeinschaft: Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Produktion von Kohle und Stahl unter eine gemeinsame oberste Autorität innerhalb einer Organisation zu stellen, die der Mitwirkung anderer Staaten Europas offensteht. Die Zusammenlegung der Produktion von Kohle und Stahl wird sofort die Errichtung gemeinsamer Basen der wirtschaftlichen Entwicklung als erste Etappe der Europäischen Föderation sicherstellen.
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Der doppelsinnig sowohl zur Einbindung als auch zur Kontrolle des wiedererstarkenden Deutschlands konzipierte Schuman-Monnet-Plan stieß auf unverzügliche Zustimmung der Regierungen Italiens, Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Deutschlands (Konrad Adenauer: „aus ganzem Herzen“). Mit der am 18. April 1951 für 50 Jahre gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS; die Geltungsdauer des Vertrags endete am 23. Juli 2002) verwirklichte sich die europäische Integrationsidee einer supranationalen Gemeinschaftsorganisation von sechs Mitgliedstaaten für den Montanbereich, damals eine „Schlüsselindustrie“. Die von der funktionierenden EGKS ausgehenden Schubkräfte empfahlen zunächst, deren auf begrenzte Wirtschaftsbereiche angelegtes Organisationsmodell für verschiedene andere Einzelausschnitte europäischer Politik zu verwenden. Als Alternative bot sich demgegenüber die sofortige Gründung bzw. Umgestaltung der bestehenden Gemeinschaft zu einer umfassenden „Europäischen Politischen Union“ an, welche eine Gesamtgestaltung der inneren und äußeren Beziehungen der Mitgliedstaaten untereinander, zur Organisation sowie zu Drittstaaten beinhaltet hätte. Ein Satzungsentwurf vom 10. März 1953 für eine Europäische Politische Union sah die Integration der EGKS und der noch zu gründenden Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) (BGBl. II 1954, S. 342 ff.) in eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) vor. Dieser Verfassungsentwurf einer zunächst staatenbündischen Organisation mit föderaler, bundesstaatlicher Perspektive sollte einrichten:
ein Europäisches Parlament mit zwei Kammern, nämlich mit einer Völkerkammer und einem von den nationalen Parlamenten zu beschickenden Senat; einen Europäischen Exekutivrat; einen Rat der nationalen Minister; und einen Gerichtshof und einen Wirtschafts- und Sozialrat.
Da dieser Entwurf auf der noch ausstehenden Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fußte, diese aber am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte, fiel der Plan der EPG in sich zusammen. Danach konzentrierten sich Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Deutschland zunächst auf eine Integrationspolitik durch funktional begrenzte Gemeinschaftsorganisationen im Rahmen der am 25. März 1957 in Rom gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischen Atomgemeinschaft (EAG). Nach dem Scheitern von EVG und EPG gewann aber auch die von den französischen Gaullisten vertretene gegenläufige Auffassung an Boden, wonach eine Politische Union nur durch eine konföderale, auf intergouvernementale Zusammenarbeit, nicht aber durch eine supranational ausgerichtete Organisation verwirklicht werden könne. Die Gipfelkonferenz der sechs EG-Mitgliedstaaten beauftragte am 18. Juli 1961 eine Expertenkommission, Pläne auszuarbeiten, um „der Einigung der Völker binnen kürzester Frist einen statutarischen Charakter zu geben“. Eine Arbeitsgruppe der Expertenkommission legte unter Federführung des französischen Botschafters Fouchet am 10. Dezember 1961 einen Plan über die Gründung einer Europäischen Union vor. Darin waren eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Wissenschaft vorgesehen. Der staatenbündische, nicht supranational ausgerichtete Organisationsentwurf wollte folgende Kooperationsorgane einrichten:
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Matthias Pechstein einen Rat der Regierungsvertreter; eine Parlamentarische Versammlung und eine Politische Kommission.
In der Wirtschaftspolitik sollte eine „Annäherung, Koordinierung und Vereinheitlichung“ angestrebt werden, wobei das Verhältnis zu den bestehenden Gemeinschaften EWG, EGKS sowie EAG und ihren Kompetenzen im Fouchet-Plan offen gelassen war. Vor allem fehlte ein Bekenntnis zum bereits erreichten supranationalen Besitzstand der drei Gemeinschaften (acquis communautaire). Als streitträchtig erwiesen sich daneben die Beziehungen zur NATO und, damit verbunden, zu Großbritannien. Anders als der französische Fouchet-Plan konzentrierte sich ein Gegenentwurf der fünf übrigen Mitgliedstaaten auf einen Zuständigkeitsausbau der drei bestehenden Gemeinschaften EWG, EGKS und EAG in einer Politischen Union. Nach diesem Gegenvorschlag sollte der Rat nach Konsultation des Parlaments weitere Aufgaben und Zuständigkeiten der Union beschließen können. Über die vom Fouchet-Plan vorgesehenen Organe hinaus wollte der Gegenentwurf der Fünf zusätzlich
einen unabhängigen Generalsekretär, ein Politisches Sekretariat zur Unterstützung des Rates und einen Gerichtshof
in der Union einrichten. Nachdem man sich weder auf Arbeitsgruppen- noch Außenministerebene auf einen Verhandlungstext einigen konnte, stellte man die Arbeiten im April 1962 zunächst ein. Nach einer nicht zuletzt von den französischen Gaullisten zu verantwortenden Periode des europäischen Stillstands, die insbesondere durch die das Prinzip der Mehrheitsentscheidung aushebelnde sog. „Luxemburger Vereinbarung“ von 1965/66 gekennzeichnet ist, beschlossen die EG-Staats- und Regierungschefs auf der Gipfelkonferenz in Den Haag am 2. Dezember 1969 das Einigungsprogramm der siebziger Jahre: Neben einer EGFinanzverfassung mit eigenen Gemeinschaftseinnahmen einigte man sich auf die Einrichtung einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, auf neue Beitrittsverhandlungen und verständigte sich zudem über eine Prüfung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament. Dieser pragmatische Neuanfang war einerseits durch den Rücktritt de Gaulles und andererseits durch die Ausklammerung „europaideologischer“ Streitpunkte möglich geworden. Das Haager Communiqué sprach zwar vom Ziel einer Europäischen Union, definierte diese aber nicht näher; vielmehr wurden die Außenminister beauftragt, einen Bericht zum weiteren Einigungsprozess zu verfassen.
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Auf dem Weg zur Europäischen Union
Die Außenminister verabschiedeten ihren Bericht am 27. Oktober 1970 (Davignon- oder Luxemburger Bericht). Darin wurde ein Konzept der Zusammenarbeit ohne supranationale Integrationsmomente im Bereich der Außenpolitik vorgeschlagen. Die Zusammenarbeit sollte sich im Rahmen regelmäßiger, institutionalisierter Konsultationen, durch eine Harmonisierung der Standpunkte und möglichst in einem gemeinsamen Vorgehen manifestie-
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ren. Hierzu schlug der Davignon-Bericht regelmäßige Ministertagungen, die Einrichtung eines Politischen Komitees, die beratende Beteiligung der Kommission und der Versammlung (heute Parlament) vor. Zur Umsetzung des Grundsatzbeschlusses der Haager Gipfelkonferenz von 1969, eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, legte der luxemburgische Ministerpräsident Werner im darauf folgenden Jahr einen ausgearbeiteten Zwei-Stufen-Plan für den Zeitraum bis 1980 vor. Der Werner-Plan entwirft die stufenweise Herstellung einer vollständigen und unumkehrbaren Konvertibilität der mitgliedstaatlichen Währungen zu unveränderlichen Paritätsverhältnissen und schließlich das System einer Gemeinschaftswährung. Während die Geldschöpfung sowie die sonstigen Geld- und Währungspolitiken am Ende zentral durch die Gemeinschaft gesteuert werden sollten, wollte Werner die Haushaltspolitik in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten belassen und nur an Gemeinschaftsrichtlinien binden. Abgesehen von Frankreich wurde der Werner-Plan seitens der Mitgliedstaaten begrüßt, scheiterte jedoch an deren mangelndem Willen, in der aufkommenden Rezession ihre eigenständige in eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zu überführen. Mit dem Werner-Plan eskalierte der Streit zwischen dem monetaristischen Ansatz, demzufolge die Währungsunion Grundlage der Wirtschaftsunion sei, und dem ökonomistischen Ansatz, der in einer Währungsunion eine Stufe des Integrationsprozesses auf dem Weg zu einer echten Politischen Union sieht. Trotz seines Scheiterns kann der Werner-Plan als geistiger Anstoß für das im Jahre 1979 in Kraft getretene Europäische Währungssystem (EWS) zur Erreichung stabiler Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten angesehen werden. Auf der Pariser Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs am 9. und 10. Dezember 1974 wurden die EG-Gemeinschaftsorgane aufgefordert, Berichte zur Umwandlung der drei Gemeinschaften in eine Europäische Union auszuarbeiten. Gleichzeitig wurde der belgische Ministerpräsident Tindemans beauftragt, einen zusammenfassenden, die Gemeinschaftsberichte auswertenden Gesamtbericht zu verfassen. Während sich der politische Ausschuss des Parlaments (10. Juli 1975), die Kommission (26. Juni 1975) und der Wirtschafts- und Sozialausschuss (16. Juli 1975) in ihren Berichten vor allem für eine Einbeziehung der Außen-, Sicherheits-, Sozial-, Regional-, Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik aussprachen, konzentrierte sich der Bericht des Gerichtshofs (15. Juli 1975) auf rechtsstaatliche und die Gemeinschaftsjudikative betreffende Fragestellungen. Der Tindemans-Bericht vom 7. Januar 1976 schlug demgegenüber einen schrittweisen Aufbau der Europäischen Union im Rahmen des institutionellen Gefüges der bestehenden Gemeinschaften vor. Ähnlich wie der politische Ausschuss des Parlaments – wenngleich weniger radikal – forderte Tindemans ein Schritthalten des Aufbaus einer demokratischen Kontrolle und Legitimation mit dem langsamen Ausbau der Union in neuen Politikbereichen. Statt einer voreiligen Einführung neuer supranationaler Elemente sollte die gemeinsame Politikfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen schrittweise konsolidiert werden. Über die in den Berichten der Gemeinschaftsorgane vorgeschlagenen Politikerweiterungen hinausgehend, betonte Tindemans den institutionellen Ausbau von Grundrechts- und Umweltschutz, um sich in stärkerem Maße an den alltäglichen Bedürfnissen des künftigen Unionsbürgers zu orientieren. Am 30. November 1976 verabschiedete die inzwischen auf Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing dreimal jährlich als „Europäischer Rat der Staats- und Regierungschefs“ tagende Gipfelkonferenz ihre Haager Schlussakte. Danach soll die Europäische Union auf der Grundlage der drei bestehenden Gemeinschaftsverträge
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entwickelt werden. EG-Kommission und Ministerrat werden beauftragt, fortan dem „Europäischen Rat“ einen jährlichen Bericht zur Europäischen Union zu erstatten. Erst die Genscher-Colombo-Initiative zur Ausarbeitung einer „Europäischen Akte“ brachte am 4. November 1981 den Stein tatsächlich ins Rollen. Der deutsch-italienische Vorstoß befürwortete eine institutionelle Verklammerung von EPZ und den Gemeinschaften, insbesondere eine Zusammenarbeit des Europäischen Rates mit dem Parlament zum Aufbau der Europäischen Union. Dem Europäischen Rat sollte die institutionelle Rolle eines Lenkungsorgans vertraglich zuerkannt werden. Der Tätigkeitsbereich der EPZ sollte auf die Außen-, Sicherheits- und Kulturpolitik erstreckt werden. Darüber hinaus befürwortete die Genscher-Colombo-Initiative, dass die Mehrheitsbeschlussfassung im Ministerrat sowie die Kompetenzbereiche von Kommission und Parlament in der EG erweitert würden. Am 20. Juni 1983 wurde die Genscher-Colombo-Initiative in der Feierlichen Erklärung von Stuttgart durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs als richtungsweisend bekräftigt sowie die „Vertiefung bestehender und die Ausarbeitung neuer politischer Zielsetzungen im Rahmen der Verträge von Paris und Rom“ beschlossen. Die Schlussbestimmung der Stuttgarter Deklaration sieht die Prüfung der Möglichkeiten eines Vertrags über die Europäische Union vor. Ein Entwurf des Parlaments vom 14. Februar 1984 zu einem Vertrag über die Gründung einer Europäischen Union vereinte die drei Gemeinschaften in einer „Unionsverfassung“. Der in sechs Kapitel mit 87 Artikeln gegliederte Entwurf umfasste außerdem die Einführung einer Unionsbürgerschaft als Staatsangehörigkeit im völkerrechtlichen Sinne sowie zahlreiche Politikbereiche von gemeinsamen Aktionen in der Außen- und Sicherheitspolitik bis zur Verbraucherpolitik. Zudem war eine unmittelbare Bindung der Union an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Europäische Sozialcharta (ESC) vorgesehen. Die eigentliche Bedeutung des Entwurfs liegt aber in einem neuen institutionellen Gleichgewicht der Organe, insbesondere im Verhältnis zwischen Ministerrat und Parlament. Unionsgesetze, welche Verordnungen und Richtlinien ablösen sollten, bedurften nach dem im Entwurf verfolgten Zwei-Kammer-Modell der Zustimmung beider Organe; bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerrat und Parlament war ein Vermittlungsverfahren vorgesehen. Der Entwurf wurde den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten vorgelegt; er wirkte als Katalysator für neue Vorstöße und deren Erwiderungen aus den Mitgliedstaaten. Nicht zuletzt bewegte dieser Entwurf auch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs dazu, im Juni 1984 einen Ad-hoc-Ausschuss für institutionelle Fragen einzurichten. Dieser Ad-hoc-Ausschuss legte im März 1985 seinen Schlussbericht vor, in dem er von der Gründung einer Europäischen Union abriet und stattdessen die Einberufung einer Regierungskonferenz im Wege des Vertragsrevisionsverfahrens nach Art. 236 EWGV vorschlug. Die Arbeiten der einberufenen Regierungskonferenz mündeten schließlich am 28. Februar 1986 in die Unterzeichnung einer „Einheitlichen Europäischen Akte“ (EEA) (ABl. EG 1987 L 169), welche am 1. Juli 1987 in Kraft trat. Die EEA institutionalisierte das Streben in Richtung einer Europäischen Union, indem sie die inneren und äußeren, gemeinschaftlichen und außergemeinschaftlichen Beziehungen der Mitgliedstaaten, zu den Gemeinschaften sowie zu Drittstaaten erstmals in einem integralen Vertrag regelte. Die EEA „vereinheitlicht“ das Bündel aus Gemeinschaftspolitiken und bisher außergemeinschaftlichen Politikbereichen in einer „Europäischen Akte“. Zu diesem Zweck
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sollten Gemeinschaften und Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), letztere als zwischenstaatlicher, außenpolitischer – bisher außergemeinschaftlicher – Operationsmechanismus der Mitgliedstaaten, „gemeinsam zu konkreten Fortschritten auf dem Wege zur Europäischen Union beitragen“ (Art. 1 Abs. 1 EEA); wurde die schon zuvor, bisher aber ohne vertragliche Grundlage agierende EPZ völkervertragsrechtlich in Art. 30 EEA institutionalisiert, mit eigenen intergouvernementalen Vertragsorganen ausgestattet und mit den EG-Gemeinschaftsorganen in Beziehung gesetzt; wurden neue Gemeinschaftskompetenzen in der Umwelt-, Forschungs- und Technologiepolitik in den EWG-Vertrag (vgl. Art. 130r ff. EG-Vertrag/Maastricht, nunmehr Art. 174 ff. EG) eingefügt; und wurden das beschleunigte Binnenmarktkonzept verankert (Art. 13 EEA; Art. 14 EG) sowie die zu dessen zügiger Verwirklichung erforderlichen Verfahren eingeführt (z.B. Mehrheitsentscheidungen bei der Rechtsangleichung nach Art. 95 EG).
Die EPZ ist nach Art. 30 Abs. 10 EEA mit folgenden Vertragsorganen intergouvernementaler (nicht supranationaler) Zusammenarbeit ausgestattet worden:
die Präsidentschaft (entsprechend dem Vorsitz im EG-Ministerrat) führte die Geschäfte der EPZ, gab Initiativen und vertrat die EG-Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten und bei internationalen Organisationen; die Politischen Direktoren kamen auf hoher Beamtenebene regelmäßig im Politischen Komitee zusammen, um die Kontinuität intergouvernementaler Zusammenarbeit zu wahren; sie bereiteten die Ministersitzungen vor; die Europäische Korrespondentengruppe wachte über die praktische Durchführung der EPZ und prüfte Organisationsfragen; die Arbeitsgruppen wurden nach Richtlinien des Politischen Komitees tätig; und das Sekretariat mit Sitz in Brüssel unterstützte die Präsidentschaft verwaltungstechnisch nach deren Weisungen.
Mit der EEA wurde auch Art. 102a EWGV eingefügt, dessen Absatz 2 a.F. sich bald als normativer Katalysator konsequenter Verhandlungen zur Gründung einer Europäischen Union erwies: Sofern die weitere Entwicklung im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik institutionelle Veränderungen erforderlich macht, findet Art. 236 Anwendung.
Im Juni 1988 beauftragte der Europäische Rat in Hannover eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des damaligen Kommissionspräsidenten Delors mit der Prüfung einer schrittweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auf der Grundlage des dem Madrider Ratsgipfel am 26. und 27. Juni 1989 vorgelegten Delors-Berichts beschlossen die Staats- und Regierungschefs das Inkrafttreten der ersten Stufe zur Währungsunion am 1. Juli 1990. Danach sollten in der ersten Phase einer Wirtschafts- und Währungsunion eine Konvergenz volkswirtschaftlicher Ergebnisse der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken angestrebt werden, vorhandene Disparitäten durch Konsolidierung der Staatshaushalte ausgeräumt und alle Hindernisse einer Finanz- und Kapitalmarktintegration abgebaut wer-
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den. Mit diesem Beschluss zur ersten Stufe entstand ein Zugzwang in Richtung auf eine vertragliche Konsolidierung der weiteren Stufen der Wirtschafts- und Währungsunion. Eine Kette zahlreicher Regierungskonferenzen folgte wie zwangsläufig. Am 27. und 28. Oktober 1989 wurde bereits der Beginn der zweiten Stufe, also der Phase zur institutionellen Vorbereitung eines Europäischen Systems der Zentralbanken, auf den 1. Januar 1994 festgelegt. In Dublin bekräftigte der Europäische Rat am 25. und 26. Juni 1990 die Notwendigkeit, die für eine Wirtschafts- und Währungsunion unabdingbare politische Integration einzuleiten. Hierzu wurde beschlossen, neben der Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion einen parallelen Ratsgipfel zur Gründung einer Europäischen Union einzuberufen. Beschleunigt wurden die Bemühungen um eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie um eine Politische Union zunächst durch die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990. Die sichere europäische Einbindung der vergrößerten Bundesrepublik Deutschland lag sowohl im deutschen Interesse als auch in dem der anderen EGMitgliedstaaten. Eine wichtige Rolle hat insofern aber auch die Tatsache gespielt, dass mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa die Frage der Osterweiterung absehbar wurde. Um die Vertiefung der Integration nicht der bloßen Erweiterung zu opfern, sollten die Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Politische Union vor den nächsten Beitritten verwirklicht worden sein.
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Die Gründung der Europäischen Union
Nachdem verschiedene Entwürfe sowohl zur Wirtschafts- und Währungsunion als auch zur Gründung einer Europäischen Union vorgelegt worden waren, beschloss der Europäische Rat am 9. und 10. Dezember 1991 in Maastricht, diese Vorschläge in einem integralen Vertragswerk über die Europäische Union zu vereinen. Die in Maastricht erzielte Einigung zum Vertrag über die Europäische Union (ABl. EG 1992 C 191) sowie – darin inkorporiert – zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Art. 8 EUV), welcher die Wirtschafts- und Währungsunion aufnimmt (Art. 98-124 EG), beinhaltete allerdings auch das Ausscheren Großbritanniens aus der Sozialunion. In den Schlussfolgerungen des Maastrichter Konferenzvorsitzes wurde festgelegt, dass die bisher schon geltenden Vertragsbestimmungen zur sozialpolitischen Zusammenarbeit (Art. 136-145 EG) als „gemeinschaftlicher Besitzstand“ (acquis communautaire) aller Mitgliedstaaten weitergelten. In diplomatischem Ton fasste der Konferenzvorsitz das Verhandlungsergebnis zum Ausscheren Großbritanniens aus einer weitergehenden, erstmals mit supranationalen Rechtssetzungskompetenzen ausgestatteten Sozialunion zusammen: Der Europäische Rat nimmt zur Kenntnis, dass elf Mitgliedstaaten auf dem durch die Sozialcharta von 1989 vorgezeichneten Weg weitergehen wollen. Zu diesem Zweck wurde vereinbart, dem Vertrag ein Protokoll über die Sozialpolitik beizufügen, das die Organe der Gemeinschaft verpflichtet, die erforderlichen Beschlüsse zu fassen und durchzuführen, und die Beschlussfassungsverfahren einer Anwendung durch elf Mitgliedstaaten anpasst.
Damit wurde zunächst die Scheidung einer sozialpolitischen Gemeinschaft mit zum damaligen Zeitpunkt zwölf und einer Sozialunion mit elf Mitgliedstaaten (ohne Großbritannien) zunächst vollzogen. Die damals elf Mitgliedstaaten haben in Maastricht mit einem eigenen Sozialabkommen eine neue vertragliche Grundlage supranationaler Sozialpolitik neben
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dem EG-Vertrag vereinbart. Mit diesem Kompromissvorschlag des damaligen Kommissionspräsidenten Delors wurde in letzter Minute das Scheitern des Maastrichter Vertragswerks verhindert. Später hat Großbritannien jedoch im Rahmen des Amsterdamer Vertragswerks der Übernahme des Sozialabkommens zugestimmt. Am 7. Februar 1992 haben alle Mitgliedstaaten der drei Europäischen Gemeinschaften den Vertrag über die Europäische Union unterzeichnet. Infolge der zunächst in Dänemark und Frankreich durchgeführten Referenden und dann durch die – vor allem auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten – deutschen Verfassungsbeschwerdeverfahren traten Ratifikationsverzögerungen ein. Erst nachdem das BVerfG mit Urteil vom 12. Oktober 1993 grünes Licht für die deutsche Ratifikation erteilt hatte, konnte der Unionsvertrag am 1. November 1993 in Kraft treten. Mit Wirkung zum 1. Januar 1995 sind Finnland, Österreich (Pechstein 1989: 54 ff.) und Schweden der Union im Verfahren nach Art. 49 EUV beigetreten. Der Europäische Rat von Kopenhagen vom Juni 1993 hat darüber hinaus sämtlichen Staaten Mittelund Osteuropas prinzipiell den Beitritt zur Europäischen Union bzw. zu den Europäischen Gemeinschaften eröffnet, vorausgesetzt, sie erfüllen bestimmte Bedingungen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht (Bulletin-EU 6-1993, Ziff. 1.26.). Neben der Einführung der gemeinsamen Währung ist diese Osterweiterung aufgrund der großen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Unionsstaaten einerseits und den Beitrittskandidaten andererseits die größte Herausforderung an die europäische Integration seit ihren Anfängen. Der Beitritt von zehn süd-, mittel- und osteuropäischen Staaten – Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Estland, Litauen, Malta, Slowakei, Zypern und Slowenien – ist zum 1. Mai 2004 erfolgt. Weitere Staaten sollen in einer nächsten Erweiterungsrunde noch vor 2010 beitreten. Damit ist ein großer Schritt zur Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents erfolgt, der allerdings noch über lange Zeit hin große Anstrengungen zur Annäherung der Lebensverhältnisse erfordert. Die zugleich von den Mitgliedstaaten erklärte grundsätzliche Bereitschaft auch zur Aufnahme der Türkei stellt dagegen die Grundlagen der europäischen Integration in Frage. Die Türkei ist nämlich trotz ihrer strategischen Bedeutung im Rahmen der NATO und ihrer westlichen Orientierung in geographischer und kultureller Hinsicht kein europäischer Staat (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV), auch würde sie ob ihrer Größe die bisherige, schwierige Austarierung der politischen Gewichte in der Europäischen Union vollends überfordern.
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Die Fortentwicklung der Europäischen Union
Die nach Art. N Abs. 2 EUV/Maastricht im Jahr 1996 einberufene Regierungskonferenz zur Überarbeitung des Maastrichter Vertragswerks hat die vielfach in sie gesetzten Erwartungen hinsichtlich der Korrektur tatsächlicher oder vorgeblicher Schwächen dieses Vertrags sowie der Vorbereitung des Beitritts einer Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten, aber auch etwa Zyperns, nicht sämtlich erfüllt. Der Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (ABl. EG 1997 C 340) (Streinz 1998: 57 ff.) hat die Struktur der Europäischen Union als lediglich materiell-rechtliche Klammer der drei verschiedenen Unionssäulen unverändert gelassen, jedoch wurden der Europäischen Gemeinschaft nicht unbeträchtliche zusätzliche Kompetenzen im Bereich der Innen- und Justizpolitik übertragen. Ebenfalls verschaffte er mit seinem Inkrafttreten der Union nicht die vielfach als unabdingbar be-
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schworene eigene Rechtspersönlichkeit, obwohl derartige Vorschläge ausdrücklich von zwei Ratspräsidentschaften unterbreitet wurden (Pechstein/Koenig 2000: 30 ff.). Die aufgrund der damals noch bevorstehenden Erweiterungen zwingenden institutionellen Reformen wurden vertagt: Nach Art. 2 des Protokolls zum Amsterdamer Vertrag über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union sollte daher „spätestens ein Jahr vor dem Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zwanzig überschreiten wird“, eine Regierungskonferenz zur Überprüfung der Zusammensetzung und Arbeitsweise der Organe zusammentreten. Ebenso wenig konnte die von Deutschland geforderte grundsätzliche Reform des EU-Finanzrahmens erreicht werden. Auch auf den Gipfeltreffen unter der deutschen Präsidentschaft im März 1999 in Berlin und im Juni 1999 in Köln wurde insoweit kein Durchbruch erzielt. Neu kodifiziert und etwas fortentwickelt wurden jedoch die Bestimmungen über die intergouvernemental bleibenden beiden Unionssäulen GASP und PJZS. Außerdem wurde das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit im kleineren Kreis sowohl für die Europäische Gemeinschaft als auch für GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und PJZS (Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) als – bescheidenes – Ergebnis der Diskussion um ein „Kerneuropa“ verankert. Hierdurch wird es einem kleineren Kreis von Unionsstaaten ermöglicht, aufgrund flexibler Entscheidungsmechanismen in der Integration weiter voranzuschreiten. Vorgenommen wurden auch Änderungen im Bereich der EG-Gesetzgebungsverfahren mit einer Stärkung der Stellung des Parlaments durch Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens. Im Jahr 2001 wurde am 26. Februar der Vertrag von Nizza (ABl. EG 2001 C 80), welcher die Grundlage für die Aufnahme neuer Staaten in die Europäischen Union darstellt, unterzeichnet. Das wichtigste Ziel dieses Vertrages war die Anpassung der EU-Institutionen für den bevorstehenden Beitritt. Die dabei gefundenen Lösungen, insbesondere die Regelungen über die Stimmengewichtung im Rat, haben jedoch zu Recht viel Kritik gefunden, da sie weder einem klaren Konzept folgen, noch die Funktionsfähigkeit der Organe wirklich sichern können. Gleichwohl stellt dieser am 1. Februar 2003 in Kraft getretene Vertrag zunächst die Grundlage für die mittlerweile erfolgte Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten dar. Ebenso wurde auf der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. EG 2000 C 364/1) feierlich proklamiert, ohne jedoch bereits zu verbindlichem Recht zu werden.
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Auf dem Weg zur Europäischen Verfassung?
Angesichts der offenbar auch von den Staats- und Regierungschefs als unzureichend empfunden institutionellen Reformen im Vertrag von Nizza wurde dem Vertragswerk eine „Erklärung über die Zukunft der Union“ angefügt, derzufolge für eine Regierungskonferenz im Jahr 2004 folgende Themenbereiche vorbereitet werden sollten: die Frage einer genaueren Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, der Status der Grundrechtecharta, die Vereinfachung der bestehenden Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, und die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Schon auf der Tagung des Europäischen Rates in Laeken 2001 bekundeten die Staats- und Regierungschefs unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Erklärung ihren politischen Willen, die Schaffung einer europäischen Verfassung zu
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prüfen (Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Laeken v. 14./15.12.2001, SN 300/1/01 REV 1, S. 19ff.). In Anlehnung an die Ausarbeitung der Charta der Grundrechte und vor dem Hintergrund der unbefriedigenden Vorbereitungen der Regierungskonferenz von Nizza übertrugen die Staats- und Regierungschefs die Vorarbeiten zur Regierungskonferenz erstmalig einem „Konvent zur Zukunft Europas“ (vgl. zu Aufbau und Struktur des Konvents im einzelnen Riedel 2002: 241 ff.). Der Konvent ist jedoch kein Vertragsorgan der Union. Es handelt sich dabei lediglich um ein neues politisches Instrument zur Vorbereitung der Regierungskonferenz. Die Ergebnisse des Konvents haben daher keine rechtliche Bindungswirkung, da eine Änderung der Verträge – also auch die Schaffung eines Verfassungsvertrages – nur im Verfahren nach Art. 48 EUV möglich ist (Lindner 2002: 514 f.). Der Konvent, der aus 105 Mitgliedern bestand und als dessen Präsident der ehemalige französische Staatspräsident Giscard d’Estaing benannt wurde, nahm seine Arbeit am 28. Feburar 2002 in Brüssel auf (die Arbeit des Konvents ist vollständig dokumentiert unter http://european-convention.eu.int/.) Sein Mandat war durch die Schlusserklärung von Laeken dahingehend gefasst, „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“ (Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Laeken v. 14./15.12.2001, SN 300/1/01 REV 1, S. 24.) und geht damit über die in der Erklärung von Nizza genannten Punkte hinaus. Der so vorgegebene Auftrag des Konvents ist in der Erklärung von Laeken in vier einzelne Problemstellungen gegliedert: 1. bessere Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der EU; 2. Vereinfachung der Instrumente der Union; 3. mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der EU; 4. Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger. Während die Frage einer Verfassung der Union in der Erklärung von Laeken demnach noch als eine lediglich zu prüfende Möglichkeit zur Neuordnung der Verträge angesehen wurde – als Modell wurde die Unterscheidung zwischen einem „Basisvertrag und den übrigen Vertragsbestimmungen“ mit jeweils unterschiedlichen Anforderungen an deren Änderung zur Diskussion gestellt –, legte das Präsidium bereits am Tag der Eröffnung des Konvents einen „Vorentwurf des Verfassungsvertrages“ (Vorentwurf des Verfassungsvertrages CONV 369/02) vor. Die Frage des „ob“ einer Verfassung wurde angesichts der damit geschaffenen Fakten im Konvent daher gar nicht zur Diskussion gestellt. Die Arbeit des Konvents war dementsprechend ganz auf die inhaltliche Ausgestaltung eines Verfassungsvertrages ausgerichtet. Der Entwurf des Konvents, welcher am 20. Juni 2003 dem Europäischen Rat vorgelegt wurde, gliedert sich in drei Teile. Teil I enthält allgemeine Bestimmungen zur Struktur der Verfassung, zur Unionsbürgerschaft und den Grundrechten, zu den Zuständigkeiten und den Tätigkeitsbereichen der Union, zu den Institutionen, zur Umsetzung der Zuständigkeiten, zum demokratischen Leben der Union, zu den Finanzen, zur Außenvertretung der Union und zur Zugehörigkeit zur Union. Anders als bisher soll die Union nach diesem Entwurf eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten (Art. 6). Die Charta der Grundrechte wird von der Union „anerkannt“ und als Teil II in den Verfassungstext inkorporiert (Art. 7 Abs. 1). Daneben soll der Union die Möglichkeit zum Beitritt zur EMRK eröffnet werden. Die Zuständigkeiten der künftigen Union sollen anders als bisher ausdrücklich in Form von Zuständigkeitskatalogen im Verfassungsvertrag festgehalten werden (Teil I, Titel III), wobei
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zwischen ausschließlichen Zuständigkeiten der Union und geteilten Zuständigkeiten unterschieden werden soll (Art. 11). Hinsichtlich der Institutionen ist die Einführung eines für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren vom Europäischen Rat gewählten Präsidenten des Europäischen Rates (Art. 21) und eines europäischen Außenministers (Art. 27) vorgeschlagen worden. Die bisher in Art. 249 EG geregelten Rechtskate sollen durch neuartige ersetzt werden (Art. 32). Das vorgeschlagene „europäische Gesetz“ entspricht der bisherigen Verordnung, das „europäische Rahmengesetz“ der Richtlinie des Art. 249 EG; beide werden als Gesetzgebungsakte bezeichnet. Als Rechtsakte „ohne Gesetzgebungscharakter“ sind vorgeschlagen worden die „europäische Verordnung“, die dem Vollzug von Gesetzgebungsakten dient und insofern der bisherigen Verordnung entspricht, und der „europäische Beschluss“, welcher als adressatenbezogener Rechtsakt der bisherigen Entscheidung entspricht. Die Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzgebungscharakter erklärt sich systematisch mit der Aufwertung des bisherigen Verfahrens der Mitentscheidung nach Art. 251 EG zu einem europäischen Gesetzgebungsverfahren (Art. 33 Abs. 1), das den Regelfall für den Erlass von Rechtakten mit Gesetzgebungscharakter darstellen soll (Art. 33 Abs. 2), und der damit verbundenen Qualifizierung der anderen verbindlichen Rechtsakte als Durchführungsmaßnahmen. Die Bestimmungen über die Zugehörigkeit zur Union sehen schließlich erstmalig auch eine Vorschrift über einen formellen Austritt aus der Union vor (Art. 59). Teil II des Entwurfs enthält die materiellen Bestimmungen der Grundrechtscharta, die weitgehend unverändert in den Verfassungsentwurf übernommen wurde. In Teil III finden sich einerseits die Bestimmungen des EG-Vertrages über den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Wettbewerbs- und die Landwirtschaftspolitik, und andererseits die bislang sowohl im EG-Vertrag als auch in der zweiten und dritten Säule des EU-Vertrages geregelten Bereiche der Außenpolitik, des Außenhandels, der Entwicklungszusammenarbeit, der Verteidigung, der Einwanderung und des Asyls sowie der inneren Sicherheit. Teil III enthält schließlich auch die Schlussbestimmungen zur Aufhebung der bisherigen Verträge und der Fortgeltung des bisherigen Rechts sowie zum Inkrafttreten und zur Änderung des Verfassungsvertrages. Die Vorschriften zur Änderung sehen dabei wie bisher ein völkerrechtliches Vertragsänderungsverfahren mit Ratifikation vor. Das Konzept eines „Basisvertrages“ und sonstiger Vertragsbestimmungen, deren Änderung keiner Ratifikation bedarf, ist insoweit bislang nicht aufgegriffen worden. Dieser Entwurf eines Verfassungsvertrags (ABl. EU 2004 C 310/1) wurde letztlich Ende Juni 2004 von den Staats- und Regierungschefs gebilligt, nachdem ein heftiger Streit um die Mehrheitsentscheidungen im Rat beigelegt wurde. Nunmehr sollen dem Verfassungsvertrag zufolge ab dem Jahr 2009 – sein Inkrafttreten vorausgesetzt – Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zustande kommen, wenn 55% der Mitglieder des Rates zustimmen, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der Union ausmachen (Art. I-25, Abs. 1). Am 29. Oktober 2004 hat die förmliche Unterzeichnung des Verfassungsvertrags stattgefunden. Im Anschluss daran ist die Ratifizierung durch die mitgliedstaatlichen Parlamente erforderlich sowie in einigen Mitgliedstaaten ein Referendum. Ob der Verfassungsvertrag trotz des negativen Ausgangs der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden Ende Mai/Anfang Juni 2005 noch in Kraft treten wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Sollte er in einem Mitgliedstaat endgültig nicht die erforderliche Zustimmung finden und daher insgesamt scheitern, wäre dies zwar bedauerlich, aber keineswegs das Ende der europäi-
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schen Integration. Diese würde vielmehr auf den bisherigen rechtlichen Grundlagen ihren Fortgang nehmen.
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Schlussbemerkung
Die entscheidenden Motive für eine Europäische Union sind und bleiben die Organisation von Sicherheit und Frieden nach innen sowie die politische und wirtschaftliche Selbstbehauptung nach außen. An äußeren Gründen für einen verstärkten Zusammenschluss der europäischen Staaten fehlt es jedenfalls nicht. Zu nennen sind insoweit die Ungewissheit über die künftige Entwicklung Russlands, das Vordringen des islamischen Fundamentalismus, der teilweise Rückzug der Vereinigten Staaten von Amerika aus Europa und die bislang unzureichende Fähigkeit der Vereinten Nationen zu wirksamen regionalen Konfliktlösungen. Das Zusammentreffen dieser Aspekte verlangt von Europa eine Stärkung seiner weltpolitischen Rolle, wenn es nicht – in den Worten des französischen Philosophen Paul Valéry – zu einem „kleinen Kap Asiens“ (Isensee 1994: 104 ff.) verkümmern will. Allerdings wäre es ahistorisch und irreal, die Nationen als Grundeinheiten des europäischen Selbstverständnisses zu ignorieren und sie zugunsten eines farblosen Europas abschaffen zu wollen. In dieser Spannung von europäischem Einigungszwang und nationaler Selbstbehauptung stehen die Einigungsbemühungen Europas. Die zum Teil komplizierten rechtlichen Strukturen der Europäischen Union sind nur Ausdruck dieser Problematik.
Literatur Isensee, Josef, 1994: Europa – die politische Erfindung eines Erdteils. In: Paul Kirchhof / Hermann Schäfer / Hans Tietmeyer (Hrsg.): Europa als politische Idee und als rechtliche Form. 2. Auflage. Berlin: Duncker & Humblot, S. 103-138. Lindner, Josef Franz, 2002: Der Konvent zur Zukunft Europas. In: Bayerische Verwaltungsblätter, Jg. 133, Nr. 17, S. 513-517. Pechstein, Matthias, 1989: Austria ante portas – Österreichs Neutralität als Hindernis für einen EGBeitritt?, In: Europarecht, Jg. 24, Nr. 1, S. 54-74. Pechstein, Matthias / Koenig, Christian, 2000: Die Europäische Union. 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Riedel, Norbert K., 2002: Der Konvent zur Zukunft Europas – Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union. In: Zeitschrift für Rechtspolitik, Jg. 35, Nr. 6, S. 241-247. Streinz, Rudolf, 1998: Der Vertrag von Amsterdam – Die institutionellen Veränderungen für die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft. In: Juristische Ausbildung, Jg. 20, Nr. 2, S. 57-65.
Die Entstehung des modernen Verfassungsstaates
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Alexander v. Brünneck
Die Entstehung des modernen Verfassungsstaates Die Entstehung des modernen Verfassungsstaates in der englischen, amerikanischen und französischen Revolution
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Die Thematik
Dieser Beitrag behandelt zentrale Texte der englischen, amerikanischen und französischen Revolution unter der Fragestellung: Wie kam es zum modernen Verfassungsstaat, so wie er heute in allen Ländern der Europäischen Union besteht und z.B. in Deutschland durch das Grundgesetz konstituiert ist? Meine Antwort darauf lautet: Der moderne Verfassungsstaat ist das Ergebnis der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, der amerikanischen und der französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts. Wer die aktuelle verfassungsrechtliche und -politische Lage Europas – sowohl der Einzelstaaten als auch der supranationalen Ebene der Europäischen Union – in ihrer gegenwärtigen Ausprägung verstehen möchte, muss sich mit diesen historischen Entwicklungen und deren grundlegenden Dokumenten auseinandersetzen. Das heute in den europäischen und in vielen anderen Staaten geltende Verfassungsrecht hat eine sehr lange Tradition. Es ist nur aus seiner Entstehung heraus verständlich. Daher ist die Verfassungsgeschichte dieser drei großen westlichen Nationen für die interdisziplinären Europastudien von zentraler Bedeutung. Vorweg ist eine methodische Vorbemerkung notwendig: Dieser Beitrag ist der eines Juristen. Die Rechtswissenschaft ist mehr als andere Geisteswissenschaften eine exegetische Wissenschaft. Sie beruht ganz wesentlich auf der Interpretation von Rechtstexten, insbesondere von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen. Auch die Rechtsgeschichte – jedenfalls wenn sie von Juristen betrieben wird – knüpft an die Interpretation von Rechtstexten an. Deswegen stelle ich zentrale Verfassungsdokumente in den Mittelpunkt dieses Beitrags, um sie zu erklären, sie in ihren historischen Kontext einzuordnen und ihre damalige und heutige Relevanz herauszuarbeiten.
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Die englische Revolution
Die Grundlagen des modernen Verfassungsstaates wurden entwickelt in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, deren Höhepunkt die Hinrichtung des Königs Charles I. 1649 in London war (zur Verfassungsgeschichte der englischen Revolution: Lyon 2003: 197-271; Schröder 1986). Worum ging es in der englischen Revolution? Wenn man es ganz vereinfacht darstellt, war die englische Revolution eine Auseinandersetzung zwischen zwei großen Parteien: der Königspartei auf der einen Seite – dahinter standen das Königshaus, der Hof, die herkömmliche Aristokratie, die traditionellen Eliten, das Militär – und der Parlamentspartei auf der anderen Seite – dahinter stand das aufstrebende Bürgertum, das sich in England eher herausbildete als in anderen europäischen Ländern, dahinter standen Gewerbe und Handel und der größte Teil der als ‘gentry’ bezeichneten englischen Ober-
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klasse. Es siegte die Parlamentspartei, aber sie siegte nicht ganz. Denn nach einer kurzen Zeit der Republik unter Cromwell wurde die Monarchie restauriert. Sie musste allerdings erhebliche Konzessionen machen. Der König war in England seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr absoluter Monarch. Er war nicht ‘legibus absolutus’, d. h. ‘von den Gesetzen entbunden’ – wie z. B. der König von Frankreich. Der König von England war nur noch ‘King in Parliament’ – eine zentrale Formel des englischen Verfassungsrechts bis heute. Der König kann seitdem nur zusammen mit dem Parlament regieren. Gesetze kann er nicht allein beschließen, er kann sie nur in Übereinstimmung mit dem Parlament erlassen. Das war ganz anders als in den übrigen Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa, z. B. in Brandenburg-Preußen. Seit dem 17. Jahrhundert setzten sich in England zentrale Verfassungsprinzipien durch, die in allen modernen Verfassungsstaaten bis heute gelten. Erstens ist zu nennen die Garantie individueller Rechte: Dazu ergingen in dem Verfahren des King in Parliament mehrere gesetzliche Regelungen: die Petition of Rights von 1627, die Habeas Corpus Act von 1679, die Bill of Rights von 1689. In diesen drei Dokumenten wurden den Individuen bestimmte Freiheits- und Gleichheitsrechte garantiert. Sie sind bis heute geltendes englisches Verfassungsrecht. (Diese Regelungen sind in den Sammlungen der europäischen Verfassungen abgedruckt, z. B. Kimmel 2000: 565-574). Zweitens wurde in der englischen Revolution der Grundsatz der rule of law durchgesetzt – der Herrschaft des Rechtes: Der Staat darf nur im Rahmen des geltenden Rechtes handeln, d. h. im Rahmen der Gesetze, die unter Mitwirkung des Parlaments erlassen worden sind. Das ist das Rechtsstaatsprinzip in unserer Terminologie. Drittens etablierte die englische Revolution den Grundsatz: Gesetze dürfen nur durch die schon erwähnte Vereinbarung zwischen König und Parlament ergehen, womit das Bürgertum maßgebliche Mitentscheidungsrechte gewonnen hatte über den Inhalt der Gesetze. Viertens wurde die Einhaltung der rule of law durch eine unabhängige Rechtsprechung gesichert, was heute z. B. in Deutschland im Grundgesetz in Art. 92 steht. Fünftens war eine weitgehende Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ein Ergebnis der englischen Revolution. Die englische Revolution fand ihren förmlichen Abschluss in der Act of Settlement von 1701 (Kimmel 2000: 574/5), durch die das Haus Hannover auf den englischen Thron berufen wurde, und zwar vom englischen Parlament, nicht von Gottes Gnaden. Das englische Parlament wählte sich 1701 seinen König selbst aus. Was Friedrich Wilhelm IV. von Preußen noch 1849 in grober Verkennung der historischen Situation ablehnte, gelang in der Act of Settlement von 1701 zur allgemein anerkannten Beendigung der englischen Revolution: Die Berufung des Monarchen durch einen Beschluss des Parlaments. Die Kämpfe der englischen Revolution spielten sich auf militärischer und politischer Ebene ab. Sie fanden ihre Widerspiegelung in den großen Staatstheorien der damaligen Zeit, die bis heute relevante Positionen zum Verfassungsrecht und zur politischen Theorie formulierten. Von diesen Theorien möchte ich zwei vorstellen, nämlich die von Thomas Hobbes und von John Locke.
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Thomas Hobbes
Die Theorie von Thomas Hobbes (1588-1679) kann man darlegen anhand eines Auszuges aus seinem berühmten Buch ‘Leviathan’ von 1651: „Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden. Dieser Zustand ist aber notwendig wegen der menschlichen Leidenschaften mit der natürlichen Freiheit so lange verbunden, als keine Gewalt da ist, welche die Leidenschaften durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken kann und auf die Haltung der natürlichen Gesetze und der Verträge dringt“ (Hobbes 1651: 151).
Hobbes geht aus von den politischen Verhältnissen seiner Epoche, den entsetzlichen Bürgerkriegen, nicht nur in England, sondern auch vom Dreißigjährigen Krieg in Deutschland (1618-1648). Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschen ‘sich in dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle’ befinden, in einem ‘bellum omnium contra omnes’. Hobbes hatte ein pessimistisches Menschenbild, er war der Auffassung: ‘homo homini lupus’ – der Mensch ist des Menschen Wolf. Die Menschen streiten sich, sie bringen sich gegenseitig um, sie bekämpfen sich. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, ist die Schaffung einer Gewalt, ‘welche die Leidenschaft durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken kann und auf die Haltung der natürlichen Gesetze und Verträge dringt’. Die These von Hobbes ist: Da die Menschen sich gegenseitig bekämpfen, muss eine oberste Gewalt bestehen, die für Ordnung sorgt – eine ‘väterliche Regierung’ (Kant 1793: 22), wie sie Kant genannt hat. Diese kann nicht mit bloßen Worten regieren, das erregt keine Furcht, sondern sie muss eine tatkräftige Macht sein, die man bereit ist zu fürchten. Visualisiert ist das alles in dem Titelblatt zum ‘Leviathan’ von 1651, einer Ikone der politischen Theorie. Das Titelblatt ist gestaltet in den allegorischen Formen des 17. Jahrhunderts: Oben sieht man einen riesenhaften Herrscher mit einer Krone, rechts hält er ein Schwert, links einen Bischofstab. Er erhebt sich über eine Landschaft mit Dörfern und einer Stadt. Darüber steht ein lateinischer Spruch. Das ist ein Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Buch Hiob, Kapitel 41, Vers 24. Die Kapitel 40 und 41 des Buches Hiob beschreiben ein alttestamentarisches Ungeheuer: den Leviathan. Über den Leviathan sagt die Bibel im Buch Hiob, Kapitel 41, Vers 24, was auf dem Titelblatt auf lateinisch wiedergegeben ist: ‘Non est potestas Super Terram quae comparetur ei’, in wörtlicher Übersetzung: ‘Es gibt keine Gewalt auf der Erde, die ihm gleich wäre’, nämlich dem Leviathan. Martin Luther übersetzt diesen Vers: ‘Auf Erden ist seinesgleichen niemand.’ Der aus dem Alten Testament entlehnte Leviathan hat bei Hobbes eine positive Funktion, nämlich die, dass er Ordnung stiftet. Er herrscht – wie auf dem Bild zu sehen ist – über Stadt und Land. Er regiert – die einzelnen Herrschaftsbereiche sind rechts und links unten angedeutet – über die Burgen, über den Adel, über das Militär, über die Kirche, über die Wissenschaften, auch über die Justiz. Der Leviathan sorgt für eine Ordnung, die den Kampf aller gegen alle beseitigt. Der Leviathan herrscht über die ganze Landschaft in majestätischer Mächtigkeit.
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Alexander v. Brünneck Titelblatt Thomas Hobbes, Leviathan, London 1651
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In dem Bild kommt noch ein weiterer Aspekt des Leviathan zum Ausdruck: Der Leviathan trägt ein eigenartiges Kleid. Das Kleid besteht aus vielen Menschen. Damit soll gezeigt werden – das ist ein Spezifikum bei Hobbes – , dass der Leviathan nicht etwa vom Himmel herab herrscht oder sonst auf mysteriöse Weise zur Regierung gekommen ist, sondern dass er im Grunde genommen gerade das tut, was alle Menschen selbst wollen, nämlich die Ausübung einer höchsten Gewalt, die für Ordnung sorgt. Die ordnungstiftende Funktion des Leviathan liegt im Interesse aller Menschen. Daher müssen alle Menschen dafür sein, dass er diese Ordnung garantiert. Auch wenn der Leviathan im Einzelfall die Menschen verletzt oder ihnen Nachteile zufügt, sie müssen trotzdem dieser Ordnungsmacht zustimmen, weil nur dadurch der Krieg aller gegen alle vermieden wird. Die Gestalt des Leviathan hat damit eine diesseitige Legitimation: Das ist das Moderne an Hobbes. Er ist der Begründer aller neueren autoritären Staatstheorien, er spielt bis heute in der staatstheoretischen Diskussion eine zentrale Rolle. Wenn man an die politischen Verhältnisse in manchen Teilen der Welt denkt, wo es an einer solchen Ordnungsmacht fehlt, kann man verstehen, dass die Theorie von Hobbes eine große Anziehungskraft hat.
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John Locke
Hobbes’ ‘Leviathan’ von 1651 wurde zunächst verstanden als eine Unterstützung der Königspartei. Ihr entgegen stand die Theorie seines großen Gegenspielers, des jüngeren John Locke (1632-1704). In seinem ‘Second Treatise of Government’ von 1689 herrscht ein ganz anderer Ton als im ‘Leviathan’. Locke unterstützte die Parlamentspartei. Er ging von einem anderen Menschenbild als Hobbes aus: „Die Menschen sind [...] von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig und niemand kann ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden“ (Locke 1689: 73).
Die Grundprinzipien der Verfassungsorganisation faßt Locke in folgenden Worten zusammen: „Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, dass man mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander zu leben – in dem sicheren Genuß des Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die ihr nicht angehören. Jede beliebige Anzahl von Menschen kann dies tun, denn es verletzt nicht die Freiheit der übrigen; diese verbleiben wie zuvor in der Freiheit des Naturzustandes. Sobald eine Anzahl von Menschen auf diese Weise übereingekommen ist, eine Gemeinschaft oder Regierung zu bilden, haben sie sich ihr sogleich einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen Glieder mit zu verpflichten“ (Locke 1689: 73).
Der Grundgedanke der Verfassungsorganisation ist hier ein anderer als bei Hobbes, wo ein übermächtiger Leviathan für Ordnung sorgt. Bei Locke werden die Menschen als frei, gleich, unabhängig – und man muss ergänzen: als vernünftig – angesehen. Sie tun sich zusammen mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander zu leben. Das erstrebt auch der Leviathan, aber er setzt es mit Gewalt durch. Bei Locke werden diese Ziele reali-
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siert durch die freie Übereinkunft zwischen den Menschen: Wenn die Menschen übereingekommen sind, eine Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, dann bilden sie einen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, für alle zu handeln und die übrigen Glieder mit zu verpflichten. Bei Locke wird im Gegensatz zu dem autoritären Modell von Hobbes die politische Selbstorganisation der Bürger proklamiert. Diese entscheidet nach dem Mehrheitsprinzip. Es ist eindeutig, dass Locke die Position der Parlamentspartei formulierte. Denn diese wollte, dass die Gesellschaft im Parlament repräsentiert ist und dort ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt.
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Charles de Montesquieu
Die Gedanken von Locke wurden in einem Punkt weiterentwickelt in dem berühmten Buch von Charles de Montesquieu (1689-1755) ‘De l'Esprit des Lois’ (‘Vom Geist der Gesetze’) von 1748. Dieses Buch hat Montesquieu in Frankreich geschrieben, es beruht aber im Wesentlichen auf den Erfahrungen seiner Studienreisen nach England. Montesquieu verfolgt die Entwicklung der Verfassungsverhältnisse in England, wie sie sich auf der Basis der Ergebnisse der englischen Revolution seit der Act of Settlement von 1701 entwickelt hatten. Er beobachtet in England einen besonderen Mechanismus der Verfassung, der schon bei Locke angelegt, aber noch nicht vollständig ausformuliert war, bei Hobbes allerdings völlig fehlte, nämlich die Gewaltenteilung. Sie ist bei Montesquieu kein formales Prinzip. Die Gewaltenteilung hat den Zweck, die Freiheit der Menschen zu sichern: „Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird“ (Montesquieu 1748: 213).
Diese klassische Drei-Gewalten-Teilung hat Montesquieu nicht erfunden, er beschreibt sie anhand der englischen Verfassungsrealität. Er fasst sein Konzept zusammen in der pathetischen Formulierung: „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigen oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen“ (Montesquieu 1748: 213).
Gerade das war aber in den anderen europäischen Ländern der Zeit um 1748 der Fall, z. B. in Frankreich und in Preußen. Der preußische König erließ auf Grund seiner eigenen Machtvollkommenheit Gesetze, führte nach seinem Ermessen Kriege und übte im Einzelfall Gerichtsbarkeit aus, z. B. im bekannten Fall des Müllers Arnold, wo der König ein Urteil aus eigenem Entschluss abänderte und die verantwortlichen Richter sogar mit Haft bestrafte (dazu: Frotscher/Pieroth 2003: 67-70). Das war alles rechtmäßig, es gab keine Gewaltenteilung im damaligen Preußen. Im Gegensatz dazu war die Gewaltenteilung die Praxis im England des 18. Jahrhunderts. Dieser Zustand wurde von Montesquieu in verallgemeinerter Form in die politische Theorie umgesetzt. Das von Montesquieu formulierte Prinzip der Gewaltenteilung ist heute in allen europäischen Verfassungen enthalten, z. B. in Deutschland in Art. 20 Abs. 2 GG.
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Jean-Jacques Rousseau
Das politische Denken radikalisierte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts – dem Jahrhundert der Aufklärung – immer weiter. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) begann sein berühmtes Buch ‘Du contrat social’ (‘Vom Gesellschaftsvertrag’) 1762 mit dem Ausruf: ‘Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.’ (Rousseau 1762: 5). Der Gedanke, dass der Mensch frei ist, verbreitete sich immer weiter bis hin zu den klassischen Formulierungen von Immanuel Kant (1724-1804), wonach der aufgeklärte Mensch derjenige ist, der ‘sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen’ (Kant 1784: 1) weiß – eine immer noch lehrreiche Definition.
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Die amerikanische Revolution
Der Prozess der Radikalisierung des politischen Denkens im 18. Jahrhundert wurde zuerst wirkungsmächtig in den amerikanischen Kolonien Englands in Nordamerika, nämlich in der amerikanischen Revolution zwischen 1763 und 1791 (zur Verfassungsgeschichte der amerikanischen Revolution: Frotscher/Pieroth 2003: 9-26). Worum ging es in der amerikanischen Revolution? Sie war zusammengefasst ein Aufstand der dort entstandenen bürgerlichen Gesellschaft gegen die englische Kolonialmacht. Die Gesellschaft, die sich in Nordamerika gebildet hatte, war eine – im soziologischen Sinne gesehen – bürgerliche, weil sie auf Freiheit und Gleichheit aufbaute. Um diese Ziele zu verwirklichen, waren die Siedler aus Europa geflohen. Es gab in Amerika keine Abhängigkeiten von Fürsten, Grundherren oder Zünften. Stattdessen entwickelte sich eine produzierende Gesellschaft, auf Leistung und Wettbewerb basierend. Sie wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer selbstbewusster. Den Schutz der Engländer in militärischer Hinsicht brauchte sie nicht mehr, insbesondere nachdem der Siebenjährige Krieg (1756-1763) dazu geführt hatte, dass die Franzosen aus Nordamerika vertrieben worden waren. Die entstehende amerikanische Gesellschaft wollte sich von der Bevormundung und Ausbeutung durch die englische Krone befreien. Die Aufhebung der zugunsten Englands erhobenen Steuern und Abgaben war daher ein zentrales Ziel der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Aus dem Prozess der amerikanischen Revolution gingen vier wichtige Verfassungsdokumente hervor, die die amerikanische und europäische Verfassungsentwicklung bis heute prägen.
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Die Unabhängigkeitserklärung von 1776
Grundlegend ist die Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776 (abgedruckt z. B. in: Sautter 2000: 145-151). Dieser Tag ist als ‘Independence Day’ bis heute Feiertag in den USA. Die Unabhängigkeitserklärung beginnt mit einer Rechtfertigung: ‘Naturrecht und göttliches Gesetz’ berechtigen das Volk, sich für unabhängig zu erklären. Es folgen Formulierungen, die zu den Grundlagen des modernen Verfassungsdenkens gehören: „Folgende Wahrheiten bedürfen für uns keines Beweises: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rech-
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Alexander v. Brünneck te Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmäßige Autorität aus der Zustimmung der Regierten herleiten.“ (Sautter 2000: 148f.)
Damit ist die Ausgangsbasis aller demokratischen Verfassungen bezeichnet: Die Menschen sind gleich und frei geschaffen und sie haben die Rechte auf ‘Leben, Freiheit und das Streben nach Glück’. Nur davon abgeleitet gibt es Regierungen, die die rein instrumentelle Aufgabe haben, diese Rechte zu sichern, die deswegen von den Menschen eingesetzt werden, die daher ‘ihre rechtmäßige Autorität aus der Zustimmung der Regierten herleiten’. Das war, verglichen mit den Verhältnissen in Europa im Jahre 1776, revolutionär. Selbst im Vergleich zu England, wo König George III. noch umfassende Rechte hatte, waren dies umstürzlerische Formulierungen. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung war eine Radikalisierung der Positionen, die auf Locke, Montesquieu und Rousseau zurückgehen. Hier wurde programmatisch formuliert, dass die Menschen unveräußerliche eigene Rechte haben, die aus der Natur des Menschen folgen. Die Regierungen sind nicht Selbstzweck. Sie sind dazu da, diese Rechte zu garantieren. Die Regierungen haben die Menschenrechte nicht etwa gegeben, die Menschenrechte sind vor ihnen da. Die Regierungen müssen die Menschenrechte respektieren, sie sind nicht Herr dieser Rechte. An der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 sieht man, wie ungleichzeitig die Entwicklung in Europa und Amerika war. Die Zeit um 1776 war der Höhepunkt der Regierung von Friedrich dem Großen in Preußen – es ist eine ganz andere politische Denkweise, die sich hier in Amerika durchsetzt.
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Die Virginia Bill of Rights von 1776
Die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung waren bereits kurze Zeit vorher in eine juristische Form gegossen worden – in dem ersten modernen Grundrechtekatalog, den wir kennen: der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 (abgedruckt z. B. in: Commichau 1998: 70-72). In der amerikanischen Revolution entwickelten sich zunächst die einzelnen 13 Kolonien zu eigenen Staaten. Sie begannen, sich Verfassungen zu geben, schon bevor die Verfassung von 1787 für die gesamte Union erlassen wurde – so ähnlich wie die deutschen Länder nach 1945, die auch schon Verfassungen verabschiedeten, bevor es 1949 zu denen der beiden Teilstaaten kam. Am Anfang der Virginia Bill of Rights von 1776 steht der Gedanke der natürlichen Menschenrechte: ‘That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights’ (sec. 1). Zu den Menschenrechten gehören ‘the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety’. Wie entsprechend in der Unabhängigkeitserklärung enthalten, heißt es in sec. 2: ‘That all power is vested in and consequently derived from the people’. Das ist das Prinzip der Volkssouveränität: Weil die Menschen alle gleich sind, kann niemand über sie herrschen wie bei Hobbes, sondern ‘all power is [...] derived from the people’. Die Regierung sollte eingerichtet sein für das allgemeine Wohl: ‘ought to be instituted for the common benefit’ (sec. 3). Das ist wieder der Gedanke der instrumentellen Funktion der Regierung. Er prägt bis heute das amerikanische Verfassungsdenken. In sec. 5 heißt es: ‘That the legislative and executive powers of the State should be separate and distinct from the judiciary’. Hier wird der Grundsatz der Gewaltenteilung im
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Sinne von Montesquieu proklamiert, wie er heute in allen europäischen Verfassungen enthalten ist, im Grundgesetz z. B. in Art. 20 Abs. 3. Es folgt der Grundsatz der freien Wahlen – ‘That elections of members to serve as representatives of the people ... ought to be free’ (sec. 6) – wie er heute allgemein anerkannt ist, z. B. in Art. 38 GG. Section 8 enthält zentrale Justizgrundrechte, wie sie z. B. in Art. 101 ff. GG stehen. Ganz pathetisch lautet sec. 12: ‘That the freedom of the press is one of the great bulwarks of liberty and can never be restrained but by despotic governments.’ Die Freiheit der Presse, die es damals in Europa nicht gab, wird hier feierlich verkündet. Hervorzuheben ist sec. 16, die die Religionsfreiheit garantiert: Die Ausübung der Religion ‘kann lediglich durch Vernunft oder Überzeugung geleitet werden, nicht durch Zwang oder Gewalt’. Deswegen haben alle Menschen das Recht auf Gewissensfreiheit. In der Virginia Bill of Rights von 1776 – in den einzelnen Bestimmungen kann man das weiter verfolgen – ist das Urbild aller modernen Grundrechtekataloge enthalten. Hier wurden wesentliche Gesichtspunkte dessen, was heute in allen Grundrechtsverbürgungen steht, zum ersten Mal in paradigmatischer Weise formuliert.
10 Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 Diese Ansätze finden ihren weiteren Ausdruck in einem der bedeutendsten Dokumente der gesamten Verfassungsgeschichte, nämlich in der Constitution of the United States of America vom 17. September 1787 (abgedruckt z. B. in: Brugger 2001: 265-279). Sie ist die erste geschriebene Verfassung im heutigen Sinne, nämlich mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Ordnung des gesamten Verfassungslebens, die überhaupt erlassen wurde. Die amerikanische Verfassung von 1787 gilt bis heute. Wenn man bedenkt, wie schnell und wie häufig die Verfassungen in Europa gewechselt haben, so ist es bemerkenswert, dass die Verfassung der USA von 1787 bis in die Gegenwart in Kraft geblieben ist. Die amerikanische Verfassung ist eine herausragende Errungenschaft der neueren Geschichte. Sie ist auch für den heutigen Leser gut verständlich. Wenn man die Verfassung von 1787 studiert, erhält man einen Einblick in viele Aspekte des amerikanischen Regierungssystems und der amerikanischen Geschichte der letzten 200 Jahre. Die Verfassung beginnt mit der berühmten Formulierung ‘We the People of the United States [...] do ordain and etablish this Constitution.’ Das ist eine bewusste Abgrenzung gegen die Eingangsformeln der Edikte der absoluten Monarchen in Europa. ‘Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von Preußen etc. etc., thun kund und fügen hiermit jedermann zu wissen:’ lautete z. B. 1794 die Eingangsformel zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (dazu: Frotscher/Pieroth 2003: 70-76). ‘We the People of the United States’ ist der Ausdruck der Volkssouveränität. Die Formel ‘We the People’ hat übrigens der Sache nach die Brandenburgische Verfassung von 1992 aufgenommen, deren Eingangssatz mit den Worten beginnt: ‘Wir die Bürgerinnen und Bürger von Brandenburg haben uns [...] diese Verfassung gegeben’. Die Präambel der amerikanischen Verfassung von 1787 strahlt bis in das Brandenburg der Gegenwart aus. Die amerikanische Verfassung von 1787 ist einfach strukturiert. Sie hat nur wenige Artikel, ist kürzer als die meisten heutigen Verfassungen. Sie beginnt mit der Regelung der drei Gewalten. Die erste Gewalt wird im art. I geregelt: ‘All legislative Powers herein granted shall be vested in a Congress of the United States, which shall consist of a Senate
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and House of Representatives.’ Das Zweikammersystem besteht seit 1787 bis heute. Danach wird festgelegt, wie die beiden Häuser zusammengesetzt und wie sie gewählt werden. In sec. 3 heißt es z. B.: ‘The Senate of the United States shall be composed of two Senators from each State’. Das gilt bis in die Gegenwart. Es folgen die Kompetenzen des Kongresses und das Verfahren der Gesetzgebung. In sec. 7 ist geregelt, dass die Gesetze beide Häuser passieren müssen und dass sie anschließend dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Billigung vorgelegt werden. Die Billigung des Präsidenten kann in bestimmten Grenzen durch Beschlüsse des Kongresses ersetzt werden. Durch diese Regelungen wird das amerikanische politische Leben bis heute maßgeblich strukturiert. In jedem Bundesstaat ist es ein zentrales Problem, wie viele Kompetenzen der Bund beziehungsweise die Mitgliedstaaten haben. Dafür gibt es Kompetenzkataloge, z. B. in Art. 70 ff. GG. Im art. I, sec. 8 der amerikanischen Verfassung von 1787 sind die Gesetzgebungskompetenzen des Kongresses im Einzelnen aufgeführt. Der Kongress hat z. B. das Recht, Steuern zu erheben und Schulden aufzunehmen: ‘to lay and collect Taxes, (...) to borrow money on the credit of the United States’. Der Kongress darf Gesetze erlassen: ‘to regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States’. Das ist die sogenannte ‘interstate commerce clause’. Da fast alle Materien Auswirkungen auf den Handel zwischen den einzelnen Staaten haben, ist das eine sehr weitreichende Gesetzgebungskompetenz. Der Kongress hat das Recht, ‘to declare War’, was teilweise zu Streitigkeiten mit dem Präsidenten führt. Der Kongress hat schließlich, auch das ist eine zentrale Formulierung im amerikanischen Verfassungsrecht, das Recht, ‘to make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers’, sogenannte ‘necessary and proper clause’: Der Kongress hat alle Kompetenzen, die notwendig sind, um seine Rechte durchzusetzen. Das hat zu einer Ausdehnung der Gesetzgebungsbefugnisse des amerikanischen Kongresses geführt. Sie gehen aber nicht so weit wie die des Bundes in Deutschland. Die Staaten der USA haben mehr Rechte als die Länder in der Bundesrepublik. Die Staaten haben z. B. – anders als die Bundesländer in Deutschland – eigene Einkommensteuergesetze, eigene Strafgesetze, eigene bürgerliche Gesetze und – da Rechtsordnungen des common law – in allen Rechtsbereichen umfangreiches eigenes Richterrecht. Article II der amerikanischen Verfassung von 1787 regelt die Exekutive: ‘The executive Power shall be vested in a President of the United States of America.’ Der Präsident übt bis heute die gesamte vollziehende Gewalt aus. Seine exekutiven Befugnisse sind nachgebildet denen des Königs George III., der damals in England regierte. Die Kompetenzen des Präsidenten sind insbesondere definiert in sec. 2: Er ist ‘Commander in Chief of the Army and Navy of the United States’. Er hat das Recht, völkerrechtliche Verträge abzuschließen. Er ernennt die ‘Judges of the Supreme Court’, die Richter des Obersten Gerichtshofes. Außerdem ernennt er alle Minister. Damit hat er eine weitreichende exekutive Macht, mehr als etwa der Bundeskanzler in Deutschland. Im art. II hat neuerdings sec. 4 praktische Bedeutung erlangt. Der Präsident ist zwar auf vier Jahre gewählt, aber er ‘shall be removed from Office on Impeachment’. Er kann aus dem Amt entfernt werden aus verschiedenen Gründen, insbesondere wegen ‘misdemeanors’, wegen Fehlverhaltens. Die Drohung mit einem Impeachment-Verfahren führte zum Rücktritt von Präsident Nixon. Section 4 des art. II spielte auch eine Rolle in den Auseinandersetzungen über Präsident Clinton. Dann folgt – streng nach der Lehre von Montesquieu – art. III: ‘The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court’. Die Richter des Supreme Court
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sind überwiegend sehr alte Herren, denn für sie gibt es keine Altersgrenze. Sie üben gemäß art. III, sec. 1 ihr Amt aus ‘during good behaviour’ – also solange, wie sie sich gut verhalten, und das ist in der Regel bis zu ihrem Tode im hohen Alter der Fall. Der Supreme Court hat die Verfassung von 1787 auf vielen Gebieten umfassend weiterentwickelt, hat insbesondere wichtige Lücken geschlossen. Auf diese Weise ist die Verfassung von 1787 bis heute grundlegend für die Ausgestaltung der gesamten amerikanischen Rechtsordnung. Im art. VI wurde zum ersten Mal ein Prinzip formuliert, das für die Struktur aller modernen Verfassungen grundlegend wurde: ‘This Constitution [...] shall be the supreme Law of the Land’. Die Verfassung ist das höchste Gesetz, das allen anderen Rechtsvorschriften vorgeht, nach dem sich die gesamte Rechtsordnung zu richten hat – ein neuartiges Prinzip, das damals in Frankreich oder in Preußen undenkbar war. Der Grundsatz des ‘supreme law of the land’ gibt dem amerikanischen Supreme Court die Möglichkeit, verfassungswidrige Regelungen und Maßnahmen sowohl auf Bundesebene wie auf Ebene der Einzelstaaten aufzuheben und die Postulate der amerikanischen Verfassung in das praktische Verfassungsleben umzusetzen. Zuerst wurde dieser Ansatz anerkannt in der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison von 1803 (5 U.S. (1 Cranch) 137). Damit wurde ein Vorbild geschaffen für die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien (dazu: v. Brünneck 1992). Die amerikanische Verfassung von 1787 musste im Laufe von über 200 Jahren immer wieder an neue historische Situationen angepasst werden. Dafür haben die Amerikaner ein anderes Verfahren als die modernen europäischen Verfassungen, wo der Verfassungstext durch verfassungsändernde Gesetze modifiziert wird. In der aktuellen Fassung des Grundgesetzes z. B. merkt man nicht mehr, was sein ursprünglicher Text war. In Amerika gibt es stattdessen das Verfahren der Amendments. Es wird nicht der ursprüngliche Verfassungstext geändert, sondern es werden gemäß art. V der Verfassung von 1787 Zusätze zur Verfassung verabschiedet. Diese Zusätze begannen im Jahre 1791 und enden erst in der Gegenwart. Die Zahl der Amendments ist vergleichsweise gering. In den USA wurden von 1787 bis 1992 nur 27 Amendments beschlossen. Von 1949 bis 2002 erfolgten dagegen 51 Änderungen des Grundgesetzes.
11 Die Bill of Rights von 1791 Die ersten zehn Amendments von 1791 sind eine substantielle Ergänzung des ursprünglichen Verfassungstextes von 1787. Die Verfassung von 1787 war ein reines Organisationsstatut, es hatte die drei Gewalten und organisatorische Bestimmungen zum Gegenstand. Erst in den zehn Amendments wurde ein Grundrechtekatalog, eine ‘Bill of Rights’, an die Verfassung angefügt. Die Amendments 1 bis 10 prägen bis heute maßgeblich das amerikanische Verfassungs- und Rechtsleben. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der juristischen Ausbildung und der politischen Kultur in den USA. Jeder Amerikaner weiß z. B. etwas anzufangen mit dem First Amendment: “Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.”
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Alexander v. Brünneck
Das First Amendment garantiert wichtige persönliche und politische Grundrechte: die Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Petitionsfreiheit. Dieses Amendment wird in Amerika sehr weit ausgelegt. Über diese Vorschrift gibt es im wörtlichen Sinne ganze Bibliotheken von Büchern. Das Amendment wird konkretisiert vom Supreme Court, der dazu eine ausgedehnte Rechtsprechung entwickelt hat (dazu: Brugger 2001: 157-194). Die Interpretationen des Supreme Court sind im Allgemeinen freiheitlich orientiert. Andere Verfassungsgerichte haben viele Ansätze der Grundrechtsjudikatur des Supreme Court übernommen, das Bundesverfassungsgericht z. B. auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit. Das Second Amendment kostet jedes Jahr viele Amerikaner das Leben. Dort ist garantiert ‘the right of the people to keep and bear Arms’. Dieses Recht, das im Jahr 1791 sicher sinnvoll war, ist heute vielfach zweifelhaft geworden, wird aber eifersüchtig bewacht von mächtigen Interessengruppen wie der National Rifle Association. Es folgen ab Amendment 4 die Justizgrundrechte, die der Sache nach in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts begründet wurden. Das Amendment 4 gewährt Schutz gegen ‘unreasonable searches and seizures’, gegen ungerechtfertigte Durchsuchungen und Verhaftungen. Am Ende des Amendment 5 steht die ‘due process clause’: Niemand darf in zentralen Freiheitsrechten eingeschränkt werden – ‘be deprived of life, liberty, or property, without due process of law’. Das entspricht im Kern der Garantie des Rechtsstaatsprinzips im Grundgesetz, insbesondere den Garantien der Art. 19 IV, 20 III und 103 GG. Die im Amendment 5 erwähnten ‘life, liberty, or property’ schützen weite Bereiche des privaten, ökonomischen und öffentlichen Lebens. Auch zur ‘due process clause’ gibt es eine weitverzweigte Rechtsprechung und Literatur (dazu: Brugger 2001: 107-126). Von den weiteren Justizgrundrechten ist das Amendment 8 hervorzuheben: ‘Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.’ Dazu ist anzumerken, dass die Todesstrafe grundsätzlich nicht als ‘cruel and unusual’ gilt. Sie ist mit dem Amendment 8 traditionellerweise vereinbar. Die amerikanische Verfassung von 1787 mit ihren ersten zehn Amendments von 1791 ist ein grundlegendes Dokument der neueren Verfassungsgeschichte. Sie bestimmt seit über 200 Jahren die Verfassungspraxis der USA. Sie ist entstanden aus der Tradition des europäischen Verfassungsdenkens im 17. und 18. Jahrhundert, hat diese aber selbständig weiterentwickelt. Daher wurde sie ein Vorbild für viele andere Verfassungen in Europa und der ganzen Welt.
12 Die französische Revolution Wie wurden die Ideen und Konzepte der englischen und der amerikanischen Revolution auf dem Kontinent in den europäischen Ländern durchgesetzt? Das begann in dem epochalen Prozess der französischen Revolution von 1789 (zur Verfassungsgeschichte der französischen Revolution: Frotscher/Pieroth 2003: 26-46). Hier ging es im Kern um dieselbe Konstellation wie in der englischen und in der amerikanischen Revolution. In Frankreich hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein immer selbstbewussteres, immer reicheres, immer machtvolleres Bürgertum herausgebildet. Die französische bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts geriet in zunehmendem Gegensatz zu dem weithin korrupten und ineffektiven absolutistischen Staat, dem ancien régime. Der französische Absolutismus hatte sich
Die Entstehung des modernen Verfassungsstaates
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insbesondere unter Louis XIV. herausgebildet, der den Anspruch erhob: ‘L'état c'est moi’. Der französische Absolutismus war in seiner Anfangszeit höchst erfolgreich, auch außenpolitisch. Frankreich wurde die führende Macht des Kontinentes. Aber im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Regime in Frankreich immer weniger effizient: Die Staatseinnahmen sanken, die Verschwendung stieg, der Adel und der Klerus entwickelten sich zu weithin parasitären Schichten. Daraus entstand die Explosion der Revolution von 1789. Das historisch überflüssig gewordene ancien régime zerbrach in wenigen Monaten von innen heraus an seinen eigenen Widersprüchen, so ähnlich wie die DDR 1989, genau 200 Jahre später. Die französische Revolution von 1789 ist für die europäische Verfassungsgeschichte stilprägend geworden. Die französischen Verfassungen von 1791 und 1793 hatten Einfluss auf viele europäische Verfassungen des 19. Jahrhunderts. Von dort wirken sie bis heute auf die Verfassungsrealität in vielen Staaten Europas.
13 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Der wichtigste Verfassungstext der französischen Revolution ist die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (abgedruckt in: Kimmel 2000: 158-160; Commichau 1998: 72-76). Sie wurde am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung beschlossen. Die Menschenrechtserklärung ist ein Grundrechtekatalog, der von der Virginia Bill of Rights beeinflusst war. In Frankreich und in ganz Europa ist die Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 zu einem zentralen Verfassungsdokument geworden. Sie ist zugleich bis heute der französische Grundrechtekatalog, sie ist aktuell geltendes Verfassungsrecht in Frankreich. Der Conseil Constitutionnel, das französische Verfassungsgericht, konkretisiert die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit immer größerer praktischer Bedeutung. Die Menschenrechtserklärung von 1789 folgt einem ähnlichen Ansatz wie die Virginia Bill of Rights von 1776 und wie die ersten zehn Amendments zur amerikanischen Verfassung von 1791. Sie geht davon aus, dass die Menschen bestimmte natürliche, unveräußerliche und geheiligte Menschenrechte haben, ‘les droits naturels, inaliénables et sacrés de l'homme’, wie es in der Präambel heißt. Daraus werden im Folgenden einzelne Grundrechte und Prinzipien der Staatsorganisation abgeleitet. Die Menschenrechtserklärung von 1789 knüpft an die Tradition der Aufklärung, an Locke, Montesquieu und Rousseau an, sowie an die Erfahrungen und die Dokumente der amerikanischen Revolution seit 1776. Im Einzelnen werden die Menschenrechte in 17 Artikeln definiert. Sie sind teilweise sehr plastisch formuliert. Art. I beginnt – in unverkennbarer Anspielung auf die oben zitierte Formulierung von Rousseau: ‘Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits’. Art. II lautet : ‘Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels [...] de l'homme.’ (Die Menschen werden frei und gleich geboren. (...) Das Ziel aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen Rechte des Menschen). Die instrumentelle Funktion der politischen Institutionen war schon maßgeblicher Inhalt der Virginia Bill of Rights von 1776 und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Feierlich wird die Volkssouveränität proklamiert: ‘Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation’ (Art. III). Sehr anschauliche Formulierungen enthält Art. IV: ‘La liberté consiste à pouvoir faire tout ce, qui ne nuit pas à autrui.’ (Die Freiheit
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Alexander v. Brünneck
besteht darin, alles zu tun, was keinem anderen schadet.) Art. V formuliert das Rechtsstaatsprinzip in einer konkreten Form: ‘Tout ce, qui n'est pas défendu par la loi, ne peut être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce, qu'elle n'ordonne pas.’ (Alles, was durch das Gesetz nicht verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann genötigt werden, zu tun, was das Gesetz nicht verordnet. Art. VI nimmt nochmals Rousseau auf: ‘La loi est l'expression de la volonté générale.’ Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens.) Deutlich proklamiert Art. VI den Gleichheitssatz: ‘Elle doit être la même pour tous, soit qu'elle protège, soit qu'elle punisse.’ (Das Gesetz soll für alle das gleiche sein, es mag beschützen oder bestrafen.) Es folgen in Art. VII bis IX die klassischen Justizgrundrechte, die auf die in der englischen Revolution erkämpften Garantien zurückgehen. Der Grundsatz des ‘nulla poena sine lege’ steht in Art. VIII: ‘nul ne peut être puni qu'en vertu d'une loi établie et promulguée antérieurement au délit’. Dieses Prinzip ist heute in allen europäischen Verfassungen enthalten, z. B. Art. 103 Abs. 2 GG. Die Meinungs- und Glaubensfreiheit wird in Art. X garantiert: ‘Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, même religieuses’. Diese Rechte stehen allerdings unter dem Vorbehalt: ‘pourvu que leur manifestation ne trouble pas l'ordre public établi par la loi’, also vorausgesetzt, sie stören nicht die öffentliche Ordnung. Die Meinungsfreiheit wird nochmals bestätigt in Art. XI: ‘La libre communication des pensées et des opinions est un des droits des plus précieux de l'homme; tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement’. Diese Rechte bestehen aber nur in den Grenzen ‘déterminés par la loi’, also in den Schranken der Gesetze, ähnlich wie z. B. gemäß Art. 5 Abs. 2 GG. Am Schluss der Menschenrechtserklärung schlägt sich in Art. XVII der bürgerliche Charakter der französischen Revolution nieder. Das Eigentum wird zu einem unverletzlichen und heiligen Recht erklärt: ‘La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé’. Enteignungen sind nur in öffentlichem Interesse, auf gesetzlicher Grundlage, gegen eine gerechte und vorherige Entschädigung zulässig. Entsprechende Regelungen stehen heute in allen europäischen Verfassungen, in Deutschland z. B. in Art. 14 Abs. 3 GG.
14 Schlussfolgerungen Vom Bild des Leviathan im Jahre 1651 hat sich die Entwicklung in allen modernen Verfassungsstaaten weit entfernt. Der Staat ist nicht mehr eine alles überragende Gewalt, die den einzelnen Menschen seine Ordnung mit Zwang auferlegt. Die Individuen sind nicht mehr Teil des Kleides eines Leviathans. Sie haben stattdessen originäre eigene Rechte. Sie organisieren die politische Willensbildung in Wahlen, durch das Mehrheitsprinzip. Die Menschenrechte sind ein allgemein anerkannter Bestandteil der Verfassungen. Institutionell sichern die Gewaltenteilung und das Rechtsstaatsprinzip die Freiheit und die Rechte des Einzelnen. Die in der englischen, der amerikanischen und der französischen Revolution entwickelten Verfassungsprinzipien haben heute eine universale Geltung erlangt. Sie finden sich – in unterschiedlichen Formulierungen und mit unterschiedlicher praktischer Bedeutung – in fast allen modernen Verfassungen, insbesondere in denen aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Der in der amerikanischen und französischen Revolution formulierte Ansatz der vorstaatlichen Menschenrechte fand seine größte internationale Anerkennung in
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der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (UN Doc. A/RES/217A(III)) sowie in der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) (ETS 5) vom 4. November 1950 (dazu: Thiele in diesem Band), die heute für alle 46 Staaten des Europarats verbindlich ist. Diese beiden grundlegenden Dokumente der neueren Menschenrechtsentwicklung wurden in der Folgezeit durch viele weitere internationale Abkommen und Deklarationen konkretisiert. Die Europäische Union hat den Grundbestand der aus der englischen, amerikanischen und französischen Revolution stammenden Menschenrechte in ihre Grundrechtscharta vom 7. Dezember 2000 (ABl. EG 2000 C 364/01) (erneut dazu: Thiele in diesem Band) und in den Entwurf ihrer Verfassung übernommen (ABl. EG EU 2004 C 310/01). Die großen Verfassungstexte der englischen, amerikanischen und französischen Revolution sind bis heute die Grundlage für die Ausgestaltung des Verfassungsrechts in Europa und den meisten anderen Teilen der Welt.
Literatur Brugger, Winfried, 2001: Einführung in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage. München: Beck. Brünneck, Alexander v., 1992: Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. BadenBaden: Nomos. Commichau, Gerhard (Hrsg.), 1998: Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart. 6. Auflage. Göttingen: Muster-Schmidt. Frotscher, Werner / Pieroth, Bodo, 2003: Verfassungsgeschichte. 4. Auflage. München: Beck. Hobbes, Thomas, 1651: Leviathan. Übersetzung von I. P. Mayer, 1976. Stuttgart: Reclam. Kant, Immanuel, 1784: Was ist Aufklärung? In: ders.: Ausgewählte kleine Schriften, 1969. Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel, 1793: Über den Gemeinspruch. Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Hrsg. von Heiner F. Klemme, 1992. Hamburg: Meiner. Kimmel, Adolf (Hrsg.), 2000: Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten. 5. Auflage. München: dtv. Locke, John, 1689: The Second Treatise of Government. Übersetzt von Dorothee Tidow, 1974. Stuttgart: Reclam. Lyon, Ann, 2003: Constitutional History of the United Kingdom. London: Cavendish. Montesquieu, Charles de, 1748: De l’Esprit des Lois. Übersetzt von Kurt Weigand, 1965. Stuttgart: Reclam. Rousseau, Jean-Jacques, 1762: Du Contrat Social. Übersetzt von Hans Brockard, 1977. Stuttgart: Reclam. Sautter, Udo, 2000: Die Vereinigten Staaten – Daten, Fakten, Dokumente. Tübingen/Basel: Francke. Schröder, Hans-Christoph, 1986: Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Carmen Thiele
Menschenrechtsschutz in Europa
1
Einleitung
Menschenrechte stellen eine der größten philosophischen Errungenschaften der Neuzeit dar. Sie vertreten heute „das einzige Wertesystem, das mit Recht den Anspruch auf universelle Geltung stellen kann“ (Nowak 2002: 13) – trotz regionaler und nationaler Unterschiede (Brems 2001: 3 ff.). Menschenrechte stehen jedem Menschen allein aufgrund seiner Eigenschaft des Menschseins zu, die er unabhängig vom Staat hat. Es bedarf folglich keiner Gewährung dieser Rechte durch den Staat. Dieser muss die Menschenrechte gewährleisten, d.h. die Bedingungen für ihre Gewährleistung schaffen (Weiß 2002: 39). Der Begriff Menschenrechte wird allgemein in einem naturrechtlichen, philosophischen oder juristischen Sinn verstanden. Der juristische Terminus Menschenrechte umfasst jene subjektiven Rechte, die in nationalen Verfassungen und/oder völkerrechtlichen Dokumenten normiert sind. Dabei werden die in nationalen Verfassungen enthaltenen Rechte oftmals als Grundrechte und die in völkerrechtlichen Dokumenten geregelten als Menschenrechte bezeichnet. Wegen der zunehmenden Überschneidung von verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Normen in diesem Bereich wird von dieser begrifflichen Unterscheidung mehr und mehr Abstand genommen (Nowak 2002: 16). Seit der französischen Revolution von 1789 werden von den allen Menschen unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit (einschließlich Ausländer und Staatenlose) zustehenden Rechten die so genannten Staatsbürgerrechte unterschieden. Letztere Rechte stehen ausschließlich nur eigenen Staatsangehörigen zu, so wie vor allem politische Rechte, beispielsweise das Wahlrecht. Von ihren philosophischen Grundlagen ausgehend, haben sich die Menschenrechte in drei größeren Etappen entwickelt, die als Generationen oder Dimensionen bezeichnet werden. Der ersten Menschenrechtsdimension gehören die bürgerlichen und politischen Rechte an, d.h. die liberalen Abwehrrechte. Der zweiten sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zugeordnet, d.h. staatliche Leistungsrechte. Beide Dimensionen beinhalten Menschenrechte als Individualrechte. Die dritte Dimension bilden kollektive bzw. Gruppenrechte wie das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Die Konzeption der Menschenrechtsdimensionen spiegelt sich in den zwei UN-Menschenrechtspakten (1966) wider, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Nowak 2002: 35 ff.). Neben diesen universellen völkerrechtlichen Verträgen sind verschiedene Menschenrechtsdokumente auf regionaler Ebene ausgearbeitet worden. Insbesondere in Europa haben sich mehrere internationale Organisationen bzw. Staatenverbindungen nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die menschenverachtenden Gräueltaten des Nationalsozialismus und am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Reaktion auf die verheerenden Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan dem Schutz der Menschenrechte gewidmet. Dieser gilt als eine Grundvoraussetzung für eine europäische Integration in einem friedlichen Europa. Nachfolgend
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Carmen Thiele
sollen Instrumente, Institutionen und Mechanismen europäischer Organisationen bzw. Staatenverbindungen im Bereich der Menschenrechte vorgestellt werden.
2
Europäische Organisationen bzw. Staatenverbindungen zum Schutz der Menschenrechte
Auf europäischer Ebene befassen sich drei zwischenstaatliche Organisationen bzw. Staatenverbindungen mit dem Menschenrechtsschutz: der Europarat, die Europäische Gemeinschaft/Union und die Konferenz/Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
2.1 Der Europarat Mit der Gründung des Europarates (Council of Europe (CoE))1 als internationale Organisation europäischer Staaten auf völkerrechtlicher Grundlage durch die Unterzeichnung seiner Satzung am 5. Mai 1949 (European Treaty Series (ETS No. 1))2 ist ein erster Schritt zu einem vereinten Europa getan worden. Zu den ursprünglich zehn Gründungsmitgliedern sind weitere Staaten hinzugekommen, so dass die regionale Organisation heute 46 Mitglieder zählt. Die Hauptaufgabe des Europarates besteht in der Verwirklichung eines engeren Zusammenschlusses seiner Mitglieder, um die gemeinsamen Ideale und Grundsätze zu schützen und zu fördern (Art. 1 lit. a der Satzung). Dieses Ziel wird u.a. durch den Schutz und die Weiterentwicklung der Menschenrechte erstrebt (Art. 1 lit. b der Satzung). Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz an, wonach jeder, der seiner Jurisdiktion unterliegt, der Menschenrechte teilhaftig werden soll (Art. 3 der Satzung). Ein Verstoß gegen diese Zielsetzung kann durch einen Ausschluss aus dem Europarat sanktioniert werden (Art. 8 der Satzung). Für eine Mitgliedschaft im Europarat ist die Ratifikation der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unbedingte Voraussetzung.
2.2 Die Europäische Union Weil der Europarat das ambitionierte Ziel einer europäischen Integration nach seiner Gründung nicht zu erreichen vermochte, haben einige europäische Staaten 1951 begonnen, sich zu einer Gemeinschaft in den Bereichen Handel und Wirtschaft zusammenzuschließen.3 Heute bilden die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Europäische Atomgemeinschaft die erste Säule der Europäischen Union (EU),4 die inzwischen 25 Staaten zählt (zur Entstehungsgeschichte der EU siehe Pechstein in diesem Band).
1
Siehe www.coe.int. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/001.doc. 3 Am 18. April 1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS), am 25. März 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) gegründet. 4 Siehe http://europa.eu.int. 2
Menschenrechtsschutz in Europa
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Die Gründungsverträge zu den Europäischen Gemeinschaften enthalten noch keinen den nationalen Verfassungen entsprechenden Grundrechtskatalog, sondern lediglich Grundrechte garantierende Einzelbestimmungen. Die Achtung der Grundrechte wurde in die Präambel zu der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) (ABl.5 EG 1987 L 169/1) aufgenommen und im Maastrichter Vertrag über die Europäische Union (ABl. EG 1992 C 191/1) verankert. Ein klares Bekenntnis zu den Grundwerten der EU findet sich in Art. 6 des Amsterdamer Vertrages über die Europäische Union (ABl. EG 1997 C 340/145) mit Bezug zur Europäischen Menschenrechtskonvention und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten wieder (Neuwahl 1995:13 ff.). Bei Verstoß gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten sieht der Vertrag (Art. 7 EU) als Sanktionsmöglichkeit die Aussetzung bestimmter Rechte vor.
2.3 Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Im Unterschied zum Europarat und zur EU, die denjenigen Staaten vorbehalten sind, deren Rechtsordnung auf den gemeinsamen europäischen Grundwerten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte basiert, steht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)6 allen europäischen Staaten offen. Die OSZE ist aus der gleichnamigen Konferenz hervorgegangen. 1973 nahmen mit Ausnahme Albaniens alle europäischen Staaten sowie der Heilige Stuhl, die USA und Kanada an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki teil. Das Ziel der Konferenz bestand in der Entwicklung von Verhaltensregeln zur Entschärfung des Ost-WestKonfliktes. Die im Ergebnis von allen 35 Teilnehmerstaaten unterzeichnete KSZESchlussakte (Bulletin BReg. Nr. 102 v. 15.8.1975, S. 965)7 besteht aus drei Bereichen bzw. „Körben“. Neben Sicherheit und Zusammenarbeit (Korb I) sowie Kooperation in Wirtschaft, Wissenschaft und Umweltschutz (Korb II) bilden die Menschenrechte (Korb III) einen wesentlichen Aufgabenbereich der KSZE/OSZE. Der Charakter der Konferenz stellte sich als ein Prozess von aufeinander folgenden Konferenzen ohne institutionelle Struktur dar. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes wurde die KSZE aufgerufen, den historischen Wandel in Europa mitzugestalten und sich den neuen Herausforderungen zu stellen. In der Charta von Paris für ein neues Europa (Bulletin BReg. Nr. 137 v. 24.11.1990, S. 1409)8 ist die Konferenz mit ständigen Institutionen und operativen Fähigkeiten ausgestattet und am 1. Januar 1995 in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa umbenannt worden. Ihr gehören heute 55 Teilnehmerstaaten von Vancouver bis Wladiwostok an.
5
Die Abkürzung „ABl.“ steht für „Amtsblatt“. Siehe www.osce.org. 7 Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1975/08/4044_de.pdf. 8 Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1990/11/4045_de.pdf. 6
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Carmen Thiele Europäische Instrumente zum Schutz der Menschenrechte
Die drei europäischen Organisationen bzw. Staatenverbindungen haben verschiedene Dokumente zum Schutz der Menschenrechte erarbeitet. Nachfolgend werden die wichtigsten von ihnen aufgeführt und kurz erläutert.
3.1 Völkerrechtliche Verträge des Europarates zum Schutz der Menschenrechte Im Rahmen des Europarates sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit dem Statut ca. 200 völkerrechtliche Verträge9 erarbeitet worden, wovon eine Vielzahl dem Menschenrechtsschutz gewidmet ist. Den unbestritten bedeutendsten Vertrag stellt die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar.
3.1.1 Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit ihren Zusatzprotokollen Am 4. November 1950 nahm der Europarat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, siehe ETS No. 5)10 an. In Anlehnung an die von der UNO verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthält die EMRK in den Artikeln 2 bis 14 einen Katalog materieller Rechte (Recht auf Leben; Verbot der Folter; Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit; Recht auf Freiheit und Sicherheit; Recht auf ein faires Verfahren; keine Strafe ohne Gesetz; Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; Freiheit der Meinungsäußerung; Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; Recht auf Eheschließung; Recht auf wirksame Beschwerde; Diskriminierungsverbot). Ergänzt wird die EMRK von vierzehn Zusatzprotokollen (ZP), die teils materiellrechtliche Bestimmungen (I, IV, VI, VII, XII, XIII), teils verfahrensrechtliche Regelungen (II, III, V, VIII, IX, X, XI, XIV) enthalten. Das erste Zusatzprotokoll zur EMRK (ETS No. 9)11 gewährleistet den Schutz des Eigentums, das Recht auf Bildung sowie das Recht auf freie Wahlen. Das vierte Zusatzprotokoll (ETS No. 46)12 ergänzt die materiellen Garantien der EMRK durch das Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden, das Recht auf Freizügigkeit, das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger sowie das Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern. Das sechste Zusatzprotokoll (ETS No. 114)13 regelt die vollständige Abschaffung der Todesstrafe für Friedenszeiten. In Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr kann die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen werden, wenn die entsprechende Gesetzesbestimmung anlässlich der Ratifikation des Zusatzprotokolls dem Generalsekretär des Europarates übermittelt worden ist. Das siebente Zusatzprotokoll (ETS No. 117)14 gewährleistet verfahrensrechtliche Schutzvorschriften bei Ausweisung von Ausländern, Rechtsmittel in Strafsachen, Recht auf Entschädigung bei Fehlurteilen, das Verbot 9
Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CM=8&CL=ENG. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/005.doc. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/009.doc. 12 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/046.doc. 13 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/114.doc. 14 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/117.doc. 10 11
Menschenrechtsschutz in Europa
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der Doppelbestrafung und die Gleichberechtigung der Ehegatten. Das zwölfte Zusatzprotokoll (ETS No. 177)15 normiert ein allgemeines Diskriminierungsverbot, das im Gegensatz zum akzessorischen Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK, welches Diskriminierungen nur in Bezug auf den Genuss der durch die Konvention und Zusatzprotokolle anerkannten Rechte und Freiheiten verbietet, einen erweiterten Geltungsbereich besitzt. Das dreizehnte Zusatzprotokoll (ETS No. 187)16 schafft die Todesstrafe sowohl in Friedens- als auch Kriegszeiten sowie bei unmittelbarer Kriegsgefahr ab. Von den Zusatzprotokollen über verfahrensrechtliche Bestimmungen sind nur noch das elfte und vierzehnte Zusatzprotokoll von Bedeutung geblieben.17 Mit der Ratifizierung der EMRK, die das europäische Pendant zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (United Nations Treaty Series (UNTS), vol. 999, p. 171) ist, und ihren Zusatzprotokollen verpflichten sich die Vertragsstaaten, die in diesen völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen Rechte allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu garantieren.
3.1.2 Die Europäische Sozialcharta Mit der am 18. Oktober 1961 angenommenen Europäischen Sozialcharta (ESC, siehe ETS No. 35)18 wollen die Mitgliedstaaten des Europarates die Entwicklung einer wirklichen Sozialpolitik in Europa fördern. Die Europäische Sozialcharta garantiert die in der EMRK nicht gewährleisteten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Die Sozialcharta, die das europäische Pendant zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNTS, vol. 993, p. 3) verkörpert, schützt neunzehn grundlegende soziale und wirtschaftliche Rechte: das Recht auf Arbeit; auf gerechte Arbeitsbedingungen; auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen; auf gerechtes Arbeitsentgelt; auf Vereinigung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber; auf Kollektivverhandlungen; auf Schutz der Kinder und Jugendlichen; auf Schutz der Arbeitnehmer; auf Berufsberatung; auf berufliche Ausbildung; auf Schutz der Gesundheit; auf soziale Sicherheit; auf Fürsorge; auf Inanspruchnahme sozialer Dienste; auf berufliche Ausbildung sowie berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung körperlich, geistig oder seelisch Behinderter; auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz der Familie; auf sozialen und wirtschaftlichen 15
Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/177.doc. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/187.doc. 17 Durch das Inkrafttreten des elften ZP am 1. November 1998 (ETS No. 155) wurden die Mechanismen zur Durchsetzung reformiert. Das vierzehnte Zusatzprotokoll vom 13. Mai 2004 (CETS No. 194) soll zu einem effektiveren Funktionieren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beitragen, indem es das Verfahren bezüglich der Zulässigkeitsprüfung bei eindeutig unzulässigen (clearly inadmissible cases) sowie bei Wiederholungsfällen (repetitive cases) vereinfachen hilft. Hinzugefügt wird ein zusätzliches Zulässigkeitskriterium, wonach der Gerichtshof Individualbeschwerden als unzulässig deklarieren kann, wenn der Beschwerdeführer keinen wesentlichen Nachteil durch die angebliche Verletzung erlitten hat, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es in dem betreffenden Staat entsprechende Rechtsmittel dafür gibt. Außerdem werden dem Ministerrat Kompetenzen übertragen, die es ihm ermöglichen den Gerichtshof anzurufen, wenn ein Vertragsstaat die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus einem Urteil Ablehnt. Auch darf der Ministerrat nach Inkrafttreten des ZP beim Gerichtshof eine Interpretation eines Urteils einholen. 18 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/035.doc. Die überarbeite Europäische Sozialcharta vom 3. Mai 1996 (ETS No. 163) übernimmt die Rechte aus der Sozialcharta von 1961 und dem Zusatzprotokoll von 1988 und fügt weitere Rechte in einem neuen völkerrechtlichen Vertrag zusammen (http://conventions.coe.int/ Treaty/en/Treaties/Word/163.doc). 16
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Schutz der Mütter und Kinder; auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien; auf Schutz und Beistand für Wanderarbeitnehmer und ihre Familien. Jeder Staat, der Vertragspartei werden möchte, muss sich zu mindestens zehn von neunzehn Artikeln verpflichten. Von den so genannten sieben Kernrechten (Recht auf Arbeit, auf Vereinigung, auf Kollektivverhandlungen, auf soziale Sicherheit, auf Fürsorge, auf Schutz der Familie, auf Schutz für Wanderarbeitnehmer) hat jeder Unterzeichnerstaat fünf als für sich bindend auszuwählen. Aus den übrigen zwölf Rechten sind jeweils weitere fünf als bindend anzusehen. Im Gegensatz zur EMRK können die Vertragsstaaten der ESC insofern eine Selektion der Garantien vornehmen. Zwei Zusatzprotokolle zur Sozialcharta enthalten weitere materielle bzw. verfahrensrechtliche Regelungen. Durch das Zusatzprotokoll vom 5. Mai 1988 (ETS No. 128)19 werden die materiellen Garantien der ESC um verschiedene soziale und wirtschaftliche Rechte ergänzt (Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung, Recht der Arbeitnehmer auf Mitbestimmung der Arbeitsbedingungen, Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz). Das Zusatzprotokoll zur Sozialcharta vom 9. November 1995 (ETS No. 158)20 hat das kollektive Beschwerdeverfahren als ein zusätzliches und einzigartiges Durchsetzungsverfahren geschaffen. Das noch nicht in Kraft getretene Änderungsprotokoll vom 21. Oktober 1991 (ETS No. 142)21 soll den Durchsetzungsmechanismus weiter verstärken.
3.1.3 Das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe Das am 26. November 1987 vom Europarat verabschiedete Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (ECPT), siehe ETS No. 126)22 ist ein besonderer völkerrechtlicher Vertrag zum Menschenrechtsschutz. Ausgehend vom Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von Art. 3 EMRK liegt das Schwergewicht in diesem Übereinkommen auf der Prävention, d.h. der Verhinderung und Verhütung von Folter. Das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe wird durch zwei Zusatzprotokolle vom 4. November 1993 ergänzt. Das erste Zusatzprotokoll (ETS No. 151)23 öffnet das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe auch für Nichtmitgliedstaaten des Europarates, indem das Ministerkomitee des Europarates diese zum Beitritt einladen kann. Das zweite Zusatzprotokoll (ETS No. 152)24 enthält einige technische Änderungen. 19
Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/128.doc. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/158.doc. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/142.doc. 22 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/126.doc. 23 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/151.doc. 24 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/152.doc. 20 21
Menschenrechtsschutz in Europa
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3.1.4 Europäische Abkommen zum Minderheitenschutz Im Rahmen des Europarates sind zwei völkerrechtliche Verträge zum Minderheitenschutz angenommen worden. Mit dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Framework Convention for the Protection of National Minorities (FCNM) vom 1. Februar 1995 (ETS No. 157))25 verfügt der Europarat im Gegensatz zur UNO über einen rechtlich verbindlichen multilateralen Vertrag zum Schutz nationaler Minderheiten. Das Ziel des Übereinkommens besteht im Schutz der Existenz nationaler Minderheiten in den Hoheitsgebieten der Vertragsstaaten. Das Übereinkommen soll die volle und effektive Gleichbehandlung nationaler Minderheiten durch die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Erhaltung und Entwicklung der Kultur und Identität einer nationalen Minderheit fördern. Neben dem Diskriminierungsverbot und bestimmten Freiheitsrechten (u.a. die Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) regelt das Rahmenübereinkommen auch spezifische, für Minderheiten bedeutsame Garantien, die keine entsprechende Parallele in Menschenrechtsverträgen haben, z.B. spezifische Sprachenrechte bzw. das Recht auf ungehinderten und friedlichen Kontakt über Grenzen zu Personen mit derselben ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Identität oder mit demselben kulturellen Erbe. Dabei legt das Rahmenübereinkommen lediglich die Grundsätze fest und überlässt den Vertragsstaaten die Art und Weise der innerstaatlichen Umsetzung. Insbesondere steht es den Vertragsstaaten frei, die in ihrem Gebiet zu schützenden Minderheiten selbst zu bestimmen. Zusätzlich zum Rahmenübereinkommen hat der Europarat einen völkerrechtlichen Vertrag ausschließlich dem Schutz von historischen Regional- oder Minderheitensprachen gewidmet. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. November 1992 (ETS No. 148)26 hat den Schutz der Sprachenvielfalt in Europa zum Ziel, ohne allerdings justiziable Rechte für Individuen oder Gruppen zu begründen. Die Charta verpflichtet die Vertragsstaaten, den Gebrauch von Minderheitssprachen im privaten und öffentlichen Leben zu respektieren und aktiv durch Programme im Bereich der Erziehung, des Gerichts- und Verwaltungswesens, der Medien sowie kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten zu unterstützen.
3.2 Instrumente zum Menschenrechtsschutz im Rahmen der Europäischen Union Wie bereits oben erwähnt, gehörte ein umfassender Menschenrechtsschutz zunächst nicht zur zentralen Aufgabe der Europäischen Gemeinschaften. Dennoch hat es von Anfang an Regelungen gegeben, die einen Beitrag zum Menschenrechtsschutz geleistet haben. Inzwischen ist auch zu erkennen, dass es für die weitere Entwicklung der EU von zentraler Bedeutung ist, den Menschenrechtsschutz in einem eigenen Regelwerk zu verankern.
25 26
Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/157.doc. Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Word/148.doc.
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3.2.1 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. EG 2000 C 364/1)27 wurde mit dem Ziel ausgearbeitet, die auf Ebene der Union geltenden Grundrechte in einem einzigen Text zusammenzufassen. Die Charta wurde vollständig in Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa (ABl. EU 2004 C 310/1)28 übernommen, so dass sie bei Inkrafttreten des Vertrages zum Primärrecht gehören wird. Die Charta stützt sich auf die Verträge der Gemeinschaft, die internationalen Übereinkommen – insbesondere auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta –, die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die verschiedenen Erklärungen des Europäischen Parlaments. In ihren ersten sechs Kapiteln (Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) fasst die Charta die allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsrechte, die Bürgerrechte, die justiziellen Grundrechte sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in einem Dokument zusammen. Kapitel I beginnt mit der Unantastbarkeit des Menschen. Dieser Bestimmung folgen das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe, das Recht auf Unversehrtheit, das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit sowie des Menschenhandels. Das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit wird durch neue Bestimmungen ergänzt, die durch die Entwicklung von Medizin und Biologie notwendig geworden sind; hierzu zählt vor allem das Verbot eugenischer Praktiken und des reproduktiven Klonens von Menschen. Zu den klassischen Freiheitsrechten in Kapitel II wie Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und Achtung des Privatlebens kommen der Schutz personenbezogener Daten, der Pluralismus der Medien und das Recht zu arbeiten hinzu. Die sozialen Rechte stellen dabei eine wichtige Neuerung dar. Kaptitel III beginnt mit der Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz. Hier wird auch der allgemeine Grundsatz der Nichtdiskriminierung eingeführt. Dieses Kapitel regelt vor allem die Gleichheit von Männern und Frauen, die Rechte des Kindes und älterer Menschen sowie die Integration von Menschen mit Behinderungen. Die Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen durch die Union wird in einer besonderen Vorschrift unterstrichen. Im Kapitel IV wird zum ersten Mal der Begriff Solidarität rechtlich verankert. Weiterhin werden das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen (einschließlich Streik), das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, der Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, der Gesundheitsschutz, der Umweltschutz und der Verbraucherschutz anerkannt. Eine Vielzahl der in Kapitel V enthaltenen Bestimmungen waren bereits im EUVertrag von Maastricht formuliert worden, wie das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunal- und Europawahlen oder das Recht auf diplomatischen und konsularischen
27 28
Siehe http://www.europarl.eu.int/charter/pdf/text_de.pdf. Siehe http://europa.eu.int/eur-lex/lex/de/treaties/index.htm.
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Schutz. Hinzugekommen sind insbesondere das Recht auf eine gute Verwaltung und das Recht auf Zugang zu Dokumenten. Zu den in Kapitel VI normierten justiziellen Rechten gehören vor allem das Recht auf ein unparteiisches Gericht und die Unschuldsvermutung. Das siebte Kapitel „allgemeine Bestimmungen“ regelt die sog. „horizontalen Fragen“, d.h. die Regeln, die für alle Grundrechte gelten (Adressaten der Grundrechte, Grundrechtsschranken, Verhältnis zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, insbesondere zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Missbrauchsverbot).
3.2.2 Sonstige menschenrechtlich relevante Normen der Europäischen Union Zwar waren die Menschenrechte ursprünglich nicht ausdrücklich in den Gründungsverträgen enthalten, dennoch gab es Ansätze grundrechtlicher Verbürgungen in den so genannten Nichtdiskriminierungsklauseln, durch die das Gleichbehandlungsgebot gewährleistet werden soll. Aufgrund der angestrebten Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes ist das Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) von zentraler Bedeutung,29 wie auch der Grundsatz der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 141 EG). Seit dem Amsterdamer Vertrag findet sich in Art. 2 und 3 Abs. 2 EG die Gleichstellung von Männern und Frauen normiert. Die Diskriminierung ist in Art. 13 Abs. 1 EG nunmehr auch aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten. Diese vertragsrechtlichen Bestimmungen innerhalb der ersten Säule der EU sind durch zwei Richtlinien des Rates konkretisiert worden: die Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft vom 29. Juni 2000 (RL 2000/43/EG, ABl. EG 2000 L 180/22) sowie die Richtlinie zur Feststellung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27. November 2000 (RL 2000/78/EG, ABl. EG 2000 L 303/16). Damit wurden die Vertragsstaaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassendiskriminierung in allen Bereichen (bei der Beschäftigung, der allgemeinen und beruflichen Bildung, sozialen Sicherheit und Gesundheitsversorgung sowie beim Zugang zu Waren, Dienstleistungen und Wohnungen) sowie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von bisher diskriminierten Gruppen (Behinderten oder Homosexuellen) in Beschäftigung und Beruf zu treffen. Weiterhin wird an einer Vereinheitlichung bestehender nationaler Regelungen zum sensiblen Bereich des Asyl- und Migrationsrechts gearbeitet (Nowak 2002: 258 f.).
3.3 Die KSZE/OSZE-Dokumente über die menschliche Dimension Das Konzept der menschlichen Dimension der KSZE/OSZE wurde erstmalig in das Schlussdokument der Folgesitzung in Wien (Bulletin der BReg. Nr. 10 v. 31.1.1989, S. 77)30 eingeführt (Bloed 1993: 59 ff.). Darin wird die menschliche Dimension bezeichnet als „die in der Schlussakte und in anderen KSZE-Dokumenten eingegangenen Verpflichtungen 29 30
Dieses Prinzip kommt auch in den vier Grundfreiheiten (Art. 23 ff., 39 ff., 43, 49 ff., 56 ff. EG) zum Ausdruck. Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1989/01/16059_en.pdf.
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betreffend die Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten, die menschlichen Kontakte und andere Fragen von gleichfalls humanitärer Art“. Die menschliche Dimension umfasst die Menschenrechte und Grundfreiheiten, den Rechtsschutz von Personen, die nationalen Minderheiten angehören, Fragen wie Kultur- und Studentenaustausch sowie alle Probleme von humanitärem Belang. Das Kopenhagener Dokument über die Menschliche Dimension vom 29. Juni 1990 (Bulletin der BReg. Nr. 88 v. 4.07.1990, S. 757)31 enthält einen ausführlichen Katalog von Menschenrechten im Allgemeinen und von Rechten für Angehörige nationaler Minderheiten im Besonderen. Das Kopenhagener Dokument gilt als herausragendstes und weitreichendstes Dokument zum internationalen Schutz der Rechte nationaler Minderheiten. Im Moskauer Dokument über die Menschliche Dimension (Bulletin der BReg. Nr. 115 v. 18.10.1991, S. 909)32 einigten sich die Teilnehmerstaaten darüber, dass das Prinzip der Nichteinmischung auf Fragen der menschlichen Dimension nicht anwendbar ist, und betonten dabei, dass „die Fragen der Menschenrechte, Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein internationales Anliegen sind“. Sie erklärten unwiderruflich, dass die im Bereich der menschlichen Dimension eingegangenen Verpflichtungen „ein unmittelbares und berechtigtes Anliegen aller Teilnehmerstaaten und eine nicht ausschließlich innere Angelegenheit des betroffenen Staates darstellen“. Obwohl die meisten Dokumente der KSZE/OSZE im Gegensatz zu den völkerrechtlichen Verträgen des Europarates und der EU keinen juristisch verbindlichen Charakter aufweisen, sind sie doch für die Fortentwicklung „gemeineuropäischen“ Völkerrechts von nicht zu unterschätzender Bedeutung (Schweisfurth 1976: 681 ff.).
4
Europäische Institutionen zum Schutz der Menschenrechte
4.1 Institutionen zur Überwachung der Menschenrechte innerhalb des Europarates Zur Überwachung der Einhaltung der in den völkerrechtlichen Verträgen des Europarates zum Menschenrechtsschutz geregelten materiellen Rechte sind entsprechende Überwachungs- bzw. Kontrollorgane gebildet worden. Mit Ausnahme des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte handelt es sich bei den nachfolgend aufgeführten um keine gerichtlichen Organe.
4.1.1 Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz33 (European Commission against Racism and Intolerance, ECRI) wurde im Oktober 1993 gegründet, um den Kampf gegen alle Formen des Rassismus und ähnlicher Formen der Intoleranz zu stärken. Die Aufgabe der Kommission besteht in der Prüfung und Bewertung der Wirksamkeit bereits getroffener gesetzgeberischer, politischer und anderer Maßnahmen der Mitgliedstaaten des Europarates zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und 31
Siehe http://www.osce.org/documents/odihr/1990/06/13992_de.pdf. Siehe http://www.osce.org/documents/odihr/1991/10/13995_de.pdf. 33 Siehe http://www.coe.int/t/E/human_rights/ecri/. 32
Menschenrechtsschutz in Europa
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Intoleranz. In Länderberichten, die die ECRI in regelmäßigen Berichtsrunden vorlegt, werden Empfehlungen zur Bekämpfung dieser Phänomene gegeben.
4.1.2 Der Europäische Kommissar für Menschenrechte Die Idee zur Einrichtung des Amtes eines Menschenrechtskommissars innerhalb des Europarates34 ist auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Oktober 1997 in Straßburg befürwortet worden. Die Hauptaufgaben des unabhängigen Amtes bestehen in der Förderung der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten, dem Auffinden von eventuell bestehenden Mängeln bei den Gesetzen und Praktiken der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte sowie der Förderung der tatsächlichen Einhaltung und vollen Nutznießung der Menschenrechte, wie dies in den zahlreichen Rechtsinstrumenten des Europarates festgelegt ist. Der Menschenrechtskommissar legt dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung einen Jahresbericht über seine Tätigkeit vor. Während die nachfolgenden Institutionen zum Schutz der Menschenrechte innerhalb des Europarates zur Überwachung der in konkreten Rechtsinstrumenten geregelten materiellen Rechte und auf der Grundlage dieser völkerrechtlichen Verträge eingerichtet wurden, überwacht der Kommissar die Einhaltung der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten des Europarates vertragsübergreifend.
4.1.3 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg35 ist das gerichtliche Überwachungsorgan der Europäischen Menschenrechtskonvention (Stender 2004: 69 ff.), der die Einhaltung der Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten sicherstellen soll (Art. 19 EMRK). Der Gerichtshof setzt sich aus einer Anzahl von vollamtlichen Richtern zusammen, die der Anzahl der Mitgliedstaaten entspricht (Art. 20 EMRK). Die Richter werden durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates für sechs Jahre gewählt (Art. 22 Abs. 1, Art. 23 Abs. 1 EMRK). Sie gehören dem Gerichtshof in ihrer persönlichen Eigenschaft an und sind keine Vertreter der Staaten (Art. 21 Abs. 2 EMRK), um ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten. Seiner Verfahrensordnung entsprechend ist der Gerichtshof in vier Sektionen eingeteilt, deren für drei Jahre bestehende Besetzung geographisch und hinsichtlich der Repräsentation der Geschlechter ausgewogen ist und den verschiedenen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten entspricht. Die aus drei Richtern bestehenden Ausschüsse innerhalb jeder Sektion sind ein wichtiges Element, indem sie über die Zulässigkeit von Individualbeschwerden entscheiden. Die sog. Kleinen Kammern, bestehend aus sieben Richtern, entscheiden gegebenenfalls über die Zulässigkeit. Ihre Hauptaufgabe liegt aber vorwiegend in der inhaltlichen Begründetheitsprüfung von Beschwerden. In seltenen Fällen, bei besonders wichtigen Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung oder einer möglichen Änderung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, entscheidet die aus siebzehn Richtern bestehende Große Kammer.
34 35
Siehe http://www.coe.int/T/E/Commissioner_H.R/Communication_Unit/. Siehe http://www.echr.coe.int.
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4.1.4 Nichtgerichtliche Konventionsorgane Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte (früher Sachverständigenausschuss)36 überwacht die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta durch die Vertragsstaaten (Art. 25 ESC). Der aus neun unabhängigen, auf sechs Jahre gewählten Experten bestehende Ausschuss prüft die Vereinbarkeit der nationalen Sozialpolitiken mit der Charta. Im Rahmen des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ist gemäß Art. 1 das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter (European Commitee for the Prevention of Torture, ECPT)37 eingerichtet worden. Die Anzahl der auf vier Jahre durch das Ministerkomitee gewählten Mitglieder des Komitees entspricht der Anzahl der Vertragsstaaten, wobei nicht zwei Mitglieder Staatsangehörige desselben Staates sein dürfen. Die in persönlicher Eigenschaft tätigen Komiteemitglieder müssen unabhängig und unparteiisch sein (Art. 4 ECPT). Für die Überwachung der Umsetzung des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ist das Ministerkomitee zuständig (Art. 24 Abs. 1 FCNM). In dieser Funktion wird das Ministerkomitee von einem beratenden MinderheitenAusschuss38 assistiert. Dem Ausschuss gehören mindestens zwölf und höchstens achtzehn ordentliche Mitglieder an. Jede Vertragspartei kann nur durch ein Mitglied im Ausschuss vertreten sein. Das Ministerkomitee wählt die Sachverständigen für die Liste der für eine Tätigkeit im Beratenden Ausschuss in Frage kommenden Sachverständigen und ernennt die Mitglieder. Als Überwachungsorgan der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist der Sachverständigenausschuss gebildet worden, der aus einem durch das Ministerkomitee für sechs Jahre ernannten Mitglied je Vertragspartei besteht (Art. 17 der Charta).
4.2 Institutionen zur Überwachung der Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg (Art. 220 EG) (Stender 2004: 71 f.) hat zwar in einer Reihe von Entscheidungen direkten Bezug zu Menschenrechten genommen und ein System von Grundrechtsgarantien entwickelt,39 dennoch verfügt die EU nicht über permanente Einrichtungen zur Überwachung der Menschenrechte. Bisher ist innerhalb der EU eine Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia, EUMC)40 durch Verordnung des Rates Nr. 1035/97 vom 2. Juni 1997 (ABl. EG 1997 L 151/1) in Wien eingerichtet worden. Die Hauptaufgabe der EUMC besteht im Sammeln und Bereitstellen von Informationen und Daten über rassistische, fremdenfeindliche oder antisemitistische Phänomene für die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten, damit Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ergriffen werden können. Empfehlungen zur Einrichtung von Institutionen zur Überwachung von 36
Siehe http://www.coe.int/T/E/Human_Rights/Esc. Siehe http://www.cpt.coe.int/en/default.htm. 38 Siehe http://www.coe.int/T/E/human_rigths/minorities/. 39 Siehe http://curia.eu.int/de/index.htm. 40 Siehe http://europa.eu.int/agencies/eumc/index_de.htm. 37
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Menschenrechten enthält insbesondere die von einem Weisenrat vorgelegte „Menschenrechtsagenda für die Europäische Union für das Jahr 2000“ (Ernennung eines Kommissars für Menschenrechte durch die EU-Kommission, Einrichtung eines Menschenrechtsbüros durch den EU-Rat, Errichtung einer EU-Überwachungsstelle für Menschenrechte) (Tretter 2000: 269 ff.), die positiv aufgenommen wurden. Nachdem der Europäische Rat im Dezember 2004 beschlossen hatte (Bulletin EU 12-2004, Menschenrechte (1/10)), das Amt eines persönlichen Beauftragten des Generalsekretärs/Hohen Vertreters für Menschenrechte im Bereich der GASP zu schaffen, ist dieser im Januar 2005 ernannt worden. Der Europäische Rat hat außerdem zur weiteren Umsetzung der im Dezember 2003 erzielten Vereinbarung über die Errichtung einer EU-Agentur für die Menschenrechte aufgerufen, die im Hinblick auf die Verbesserung der Kohärenz und Schlüssigkeit der EU-Politik auf dem Gebiet der Menschenrechte eine wichtige Rolle übernehmen soll (Bulletin EU 12-2004, Schlussfolgerungen des Vorsitzes (21/22)). Mit dem Ziel der Koordinierung der Menschenrechtspolitik innerhalb der EU unterhält das Generalsekretariat des Rates regelmäßige Kontakte mit dem Europäischen Parlament, das von dem unlängst eingesetzten Unterausschuss für Menschenrechte41 unterstützt wird, sowie mit der Europäischen Kommission.42
4.3 Institutionen zur Überwachung der Menschenrechte innerhalb der OSZE Innerhalb der menschlichen Dimension der KSZE/OSZE gilt das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR)43 in Warschau als wichtigstes Organ. Es wurde ursprünglich als „Büro für freie Wahlen“ durch die Charta von Paris von 1990 gegründet und auf dem Prager Ministerratstreffen im Januar 199244 in seinem Mandat erweitert und umbenannt. Neben der Förderung demokratischer Wahlen durch Wahlbeobachtung und Entwicklung nationaler Wahl- und Menschenrechtseinrichtungen besteht eine seiner Hauptaufgaben in der Überwachung der Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen der menschlichen Dimension durch die Teilnehmerstaaten (Oberschmidt 2001: 421 ff.). Als weitere Institution wurde auf der Grundlage des Helsinki-Dokuments vom 9./10. Juli 199245 das Amt des Hohen Kommissars für Nationale Minderheiten (High Commissioner on National Minorities, HCNM)46 mit Sitz in Den Haag als ein Instrument zur Konfliktverhütung mit dem Ziel geschaffen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt „Frühwarnung“ und gegebenenfalls „Frühmaßnahmen“ hinsichtlich von Minderheitenkonflikten zu geben bzw. einzuleiten. Auf dem sechsten Treffen des Ministerrats am 18./19. Dezember 1997 in Kopenhagen47 ist die Einrichtung eines OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit48 mit Sitz in Wien beschlossen worden. In seinen Aufgabenbereich fällt die Beobachtung der Entwicklungen im Medienbereich und das Eintreten für die vollständige Einhaltung der OSZE41
Siehe http://www.europarl.eu.int/committees/droi_home.htm. Siehe http://europa.eu.int/comm/external_relations/human_rights/intro/index.htm. 43 Siehe http://www.osce.org/odihr/. 44 Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1992/01/4142_de.pdf. 45 Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1992/07/4046_de.pdf. 46 Siehe http://www.osce.org/hcnm/. 47 Siehe http://www.osce.org/documents/mcs/1997/12/4167_de.pdf. 48 Siehe http://www.osce.org/fom/. 42
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Verpflichtungen in Bezug auf freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit (Reljiþ 2001: 411 ff.). Die Überwachung der OSZE-Verpflichtungen durch die Teilnehmerstaaten erfolgt weiterhin durch so genannte OSZE-Feldmissionen.49 Ihren Ursprung haben diese Langzeitmissionen in den Experten- und Notfallmissionen der frühen neunziger Jahre, die sich wie im ehemaligen Jugoslawien allerdings kaum bewährt haben. Im Rahmen von Feldmissionen werden oftmals auch Menschenrechtsbeobachter in Teilnehmerstaaten entsandt, in denen eine Gefahr für die Einhaltung der OSZE-Prinzipien und Verpflichtungen besteht.
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Europäische Überwachungsmechanismen und -verfahren zum Schutz der Menschenrechte
5.1 Überwachungsmechanismen und -verfahren zum Schutz der Menschenrechte innerhalb des Europarates Die Instrumente zum Menschenrechtsschutz des Europarates sehen verschiedene Überwachungsmechanismen vor, die einen rechtlich verbindlichen (gerichtlichen) oder empfehlenden Charakter haben.
5.1.1 Staatenbericht Ein Berichtssystem sehen die Europäische Sozialcharta und die beiden Übereinkommen zum Minderheitenschutz vor. Dabei sind die Vertragsstaaten verpflichtet, in periodischen Zeitabständen den Konventionsorganen über die nationale Umsetzung der in den jeweiligen Übereinkommen enthaltenen materiellen Rechte Bericht zu erstatten. Die Vertragsstaaten der Europäischen Sozialcharta müssen alle zwei Jahre einen Staatenbericht über die Umsetzung der von ihnen übernommenen Verpflichtungen dem Europarat einreichen (Art. 21 ESC). Auf Anfrage des Ministerkomitees haben sie außerdem in geeigneten Zeitabständen einen Bericht bezüglich derjenigen Bestimmungen der Charta abzugeben, die sie nicht übernommen haben (Art. 22 ESC). Die rechtliche Prüfung der Staatenberichte obliegt dem Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte. Die Schlussfolgerungen des Ausschusses werden an einen Regierungsausschuss weitergeleitet, der über Maßnahmen zur Beseitigung eventueller Defizite berät. Auf dieser Grundlage verabschiedet das Ministerkomitee des Europarates seine Empfehlungen in einer Resolution an die betroffenen Staaten, ihr nationales Recht und ihre Praxis in Übereinstimmung mit der Sozialcharta zu bringen. Die Vertragsstaaten des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten haben sich ebenfalls verpflichtet, dem Europarat periodisch alle fünf Jahre über die Gesetzgebungsmaßnahmen und andere Maßnahmen zu berichten, die sie zur Verwirklichung des Rahmenübereinkommens getroffen haben (Art. 25 Abs. 1 und 2 FCNM). Die ersten Berichte mussten innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Rahmenübereinkommens übermittelt worden sein. Die Staatenberichte werden von den Vertragsstaaten an den Generalsekretär und von diesem an das Ministerkomitee übergeben (Ziff. 20 Verfah49
Siehe http://www.osce.org/about/13510.html.
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rensregeln). Das Ministerkomitee leitet die Staatenberichte an den Beratenden Ausschuss weiter (Art. 26 FCNM), der nach ihrer Erörterung seine Stellungnahmen dem Ministerkomitee einreicht (Ziff. 23 Verfahrensregeln). Dieser berät und beschließt seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Angemessenheit der von der betreffenden Vertragspartei ergriffenen Maßnahmen, woraufhin das Ministerkomitee Empfehlungen beschließen kann (Ziff. 24 Verfahrensregeln). Die Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Komitees werden zusammen mit den Bemerkungen der Vertragspartei zur Stellungnahme des Beratenden Ausschusses und der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses veröffentlicht (Ziff. 25, 27 Verfahrensregeln). Die Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wird ebenfalls durch ein Berichtssystem überwacht. Die dem Generalsekretär des Europarates eingereichten Berichte (Art. 15 der Charta) werden durch einen eingesetzten Sachverständigenausschuss (Art. 17 der Charta) geprüft. Auf der Grundlage der Staatenberichte und Angaben von Organisationen oder Vereinigungen arbeitet der Sachverständigenausschuss einen Bericht für das Ministerkomitee aus, dem auch Vorschläge des Sachverständigenausschusses an das Ministerkomitee für die Ausarbeitung etwa erforderlicher Empfehlungen des Ministerkomitees an den betroffenen Staat beigefügt werden. Das Ministerkomitee kann den Bericht des Sachverständigenausschusses veröffentlichen. Der Generalsekretär des Europarates erstattet der Parlamentarischen Versammlung alle zwei Jahre einen detaillierten Bericht über die Anwendung der Charta (Art. 16 der Charta).
5.1.2 Staatenbeschwerde Die Überwachung der Einhaltung der Verpflichtungen aus der EMRK und ihrer materiellrechtlichen ZP durch die Vertragsstaaten kann mit Hilfe eines Staatenbeschwerdeverfahrens erfolgen (Schilling 2004: 218 ff.). Nach dem in der EMRK vorgesehenen Verfahren (Art. 33 EMRK) kann jeder Vertragsstaat eine Staatenbeschwerde gegen einen anderen Vertragsstaat wegen besonders schwerer und systematischer Konventionsverletzungen an den EGMR richten, wobei der beschwerdeführende Staat nicht unbedingt ein eigenes bilaterales Interesse am Schutz der Menschenrechte geltend machen muss. Jedem Vertragsstaat steht es frei, im Namen eines gemeinsamen europäischen ordre publique für den Schutz der Menschenrechte in einem anderen Vertragsstaat einzutreten (Nowak 2002: 182). In der Praxis findet dieser Überwachungsmechanismus nur wenig Anwendung,50 u.a. auch weil er in diplomatischer Hinsicht als unfreundlicher Akt angesehen wird.
5.1.3 Individualbeschwerde Weltweit erstmalig im Menschenrechtsschutz hat die EMRK die Möglichkeit geschaffen, dass der Herrschaftsgewalt von Vertragsstaaten unterstehende Personen, die sich durch staatliche Behörden des Vertragsstaates in ihren Konventionsrechten verletzt fühlen, bei einem internationalen Gericht – dem EGMR – Beschwerde gegen den Vertragsstaat erheben können (Art. 34 EMRK). Die Individualbeschwerde kann von jeder natürlichen Person, nicht staatlichen Organen oder Personenvereinigungen eingeleitet werden (Schilling 2004: 50
Übersicht der bisherigen Staatenbeschwerdeverfahren bei Nowak (2002: 184).
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220 ff.). Dazu müssen die Beschwerdeführer zunächst die Zulässigkeitsvoraussetzungen (Art. 35 EMRK) wie insbesondere die Fristenregelung (innerhalb von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung) sowie die Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe erfüllen. Wenn der EGMR eine Verletzung von Konventionsrechten feststellt, kann er den Vertragsstaat zur Zahlung von Schadensersatz und den Ersatz von Verfahrenskosten verpflichten. Die Überwachung der innerstaatlichen Umsetzung des rechtsverbindlichen Urteils liegt in der Kompetenz des Ministerkomitees als höchstem politischen Organ des Europarats. Im Gegensatz zum Staatenbeschwerdeverfahren findet das Individualbeschwerdeverfahren eine sehr breite Anwendung.51 Im Jahr 2004 hat der EGMR 718 Urteile erlassen. Bei 588 Urteilen wurde mindestens eine Verletzung der Konvention gerügt (Pressemitteilung des Kanzlers des EGMR v. 25.01.2005). Verletzungen von Konventionsrechten sind u.a. auch gegen Deutschland festgestellt worden wie in der Rechtssache von Hannover gegen Deutschland (Urteil v. 24.06.2004, 59320/00), wo es um die Verletzung des Rechts von Caroline von Monaco auf Achtung des in Artikel 8 der Konvention garantierten Privat- und Familienlebens durch Veröffentlichungen von Fotos aus ihrem Privatleben in der Boulevardpresse ging. Hingegen hat der EGMR in seinem am 30. März 2005 verkündeten Urteil die Individualbeschwerden (71916/01, 71917/01 und 10260/02) von 71 Opfern der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR, die die Bundesrepublik auf Rückgabe ihrer Ländereien oder – wenn das Vermögen bereits veräußert wurde – auf eine höhere Entschädigung verklagt hatten, zurückgewiesen. Die Bundesrepublik Deutschland sei nach der Wiedervereinigung nicht verpflichtet gewesen, für die Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 und in der DDR nach 1949 einen Ausgleich in Höhe des heutigen Verkehrswertes der Ländereien zu leisten, so der Gerichtshof.
5.1.4 Kollektivbeschwerde Zur Überwachung der Europäischen Sozialcharta konnten sich die Vertragsstaaten nicht auf ein Individualbeschwerdeverfahren nach dem Vorbild der EMRK einigen, sondern nur auf ein Kollektivbeschwerdeverfahren nach dem ZP zur Europäischen Sozialcharta vom 9. November 1995. Danach können bestimmte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nach Aufnahme in eine Liste sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen eine Kollektivbeschwerde gegen einen Vertragsstaat wegen unbefriedigender Erfüllung der Charta beim Generalsekretär einreichen, der sie dem Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte übergibt. Dieser erarbeitet nach rechtlicher Prüfung einen Bericht mit der Schlussfolgerung, ob der betroffene Vertragsstaat eine zufrieden stellende Umsetzung der in der Beschwerde angegebenen Chartabestimmungen vorgenommen hat oder nicht. Der Bericht wird dem Ministerkomitee zugeleitet, der bei unbefriedigender Umsetzung der Chartabestimmungen eine entsprechende Empfehlung an den betroffenen Vertragsstaat richtet.
51
Statistische Übersicht der Individualbeschwerdeverfahren bei Nowak (2002: 186).
Menschenrechtsschutz in Europa
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5.1.5 Besuchssystem Die Einhaltung der Verpflichtungen der Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter durch die Vertragsstaaten wird vom Europäischen Komitee zur Verhütung der Folter mit Hilfe eines präventiven Besuchssystems überwacht. Das Komitee ist ermächtigt, regelmäßige und Ad-hoc-Besuche von Orten durchzuführen, in denen Menschen durch eine öffentliche Behörde festgehalten werden wie z.B. Gefängnisse, Polizei- und Militärwachen, psychiatrische Anstalten etc. (Art. 7 ECPT). Nach dem Besuch übergibt das Komitee dem betroffenen Staat einen vertraulichen Bericht, der Empfehlungen zur Verbesserung der Situation in den besuchten Einrichtungen enthält. In der Regel erlauben die Vertragsstaaten die Veröffentlichung der Berichte gemeinsam mit einer Stellungnahme der Regierung.52 Eine Veröffentlichung des Berichts gegen den Willen des betroffenen Vertragsstaates darf nur bei Verweigerung der Zusammenarbeit oder Missachtung der Empfehlungen des CPT durch den Staat erfolgen. In Fällen mangelnder Kooperation durch den besuchten Staat kann der Ausschuss eine sog. Öffentliche Erklärung abgeben. Dieses Mittel ist bisher nicht oft angewandt worden (Beispiel einer Anwendung: gegenüber Russland im Jahr 2001).
Überwachungsorgan
Individualbeschwerde
Kollektivbeschwerde
Besuche
Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Art. 19)
-
Art. 33
Art. 34
-
-
Europäische Sozialcharta (ESC)
Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte (Art. 25)
Art. 21, 22
-
-
ZP 1995
-
Europäische Konvention zur Verhütung von Folter (ECPT)
Europäisches Komitee zur Verhütung der Folter (CPT) (Art. 1)
-
-
-
-
Art. 7
Europäisches Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (FCNM)
Beratender Minderheiten-Ausschuss (Art. 26)
Art. 25
-
-
-
-
Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
Sachverständigenausschuss (Art. 17)
Art. 15
-
-
-
-
52
Staatenbericht
Konvention
Staatenbeschwerde
Tabelle 2: Menschenrechtliche Überwachungsmechanismen des Europarates
Berichte und Stellungnahmen über Deutschland: http://www.bmj.bund.de.
286
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5.2 Überwachungsmechanismen und -verfahren zum Schutz der Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union Innerhalb der EU kann wegen noch fehlender spezifischer Überwachungsmechanismen zum Schutz der Menschenrechte nur auf allgemein bestehende Mechanismen wie Klageverfahren vor den zuständigen Gerichten zurückgegriffen werden. Bei Verstößen gegen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates aus dem EG-Vertrag kann ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission gemäß Art. 226 EG vor dem EuGH eingeleitet werden. Der Kommission als Hüterin der Verträge (Art. 211 EG) kommt die Aufgabe zu, die Mitgliedstaaten bei der Einhaltung ihrer vertraglichen Verpflichtungen zu überwachen und etwaige Verstöße durch den EuGH feststellen zu lassen. Zwar liegt die Überwachung der Einhaltung der Verträge nicht im Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten, nach Art. 227 EG können aber auch Vertragsverletzungen eines Mitgliedstaates durch einen anderen gerügt werden. Ein typischer Fall einer mitgliedstaatlichen Vertragsverletzung durch Unterlassen besteht in der Nichtumsetzung von Richtlinien innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen. So hat der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission gegen Deutschland (Rs. C-329/04, Commission / Germany, Urteil v. 28.04.2005) einen Verstoß gegen EU-Recht durch die Bundesrepublik festgestellt, indem sie die Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (Richtlinie 2000/43/EG) nicht in vollem Umfang in der gesetzten Frist zur Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht (19. Juli 2003) umgesetzt habe. Einen unmittelbaren individuellen Rechtsschutz gegen vertragswidriges Verhalten der Mitgliedstaaten gewährleistet Art. 234 EG. Danach können sich natürliche und juristische Personen vor innerstaatlichen Gerichten, die sich in Wegen der Vorabentscheidung an den EuGH wenden (Vorlageverfahren), auf die ihnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte berufen. Auf der Grundlage dieses Verfahrens hat der EuGH beispielsweise im Fall Bidar (Rs. C-209/03, Urteil v. 15. März 2005) über die Auslegung der Artikel 12 Absatz 1 EG und 18 EG in Verbindung mit der Gewährung von Studentendarlehen von Unionsbürgern in einem anderen Mitgliedstaat zu entscheiden gehabt. Auf der Ebene der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen und der Ausübung des Initiativrechts der Kommission hat diese ein Kontrollverfahren bezüglich des Menschenrechtsschutzes eingeführt (Mitteilung der Kommission KOM(2005) 172 v. 27.04.05 endgültig). Dementsprechend wird ein systematisches und strenges Prüfverfahren als Teil des allgemeinen in der Kommission durchgeführten Verfahrens der Folgenabschätzung und Begründung von Maßnahmen angestrebt, um dafür zu sorgen, dass Rechtsetzungsmaßnahmen der EG grundrechtschartakonform sind.
5.3 Überwachungsmechanismen und -verfahren zum Schutz der Menschenrechte innerhalb der OSZE Der Mechanismus der menschlichen Dimension besteht aus zwei Überwachungsmechanismen, dem Wiener und dem Moskauer Mechanismus. Letzterer stellt teilweise eine Weiterentwicklung des ersten dar. Im Wiener Abschlussdokument von 1989 wurde ein formeller Mechanismus der menschlichen Dimension zur Behandlung konkreter Menschenrechtsver-
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letzungen durch die Teilnehmerstaaten und aufgrund ihrer Initiative begründet. Dieser Mechanismus stellt eine Art außergerichtliche Staatenbeschwerde dar (Nowak 2002: 240). Das Verfahren sieht auch die Entsendung von Missionen unabhängiger Experten vor. Der Moskauer Mechanismus von 1991 ermöglicht den Einsatz von Notfallmissionen bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen auf Initiative von einer bestimmten Anzahl von KSZE/OSZE-Staaten auch ohne Zustimmung des betroffenen Teilnehmerstaates. Dieser Mechanismus wurde bisher für Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Estland, Moldawien, Serbien-Montenegro sowie Turkmenistan aktiviert.
6
Schlussfolgerungen
Der Menschenrechtsschutz in Europa hat sich historisch in drei verschiedenen internationalen Organisationen bzw. Staatenverbindungen – OSZE, Europarat und EU – mit jeweils unterschiedlicher Mitgliedschaft (55, 46, 25 Staaten) entwickelt, so dass einige europäische Staaten allen, andere hingegen nur einem oder zwei Systemen angehören. Ungeachtet der Unterschiede in den normativen Instrumenten, Institutionen und Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte der drei Systeme erkennen die Staaten Europas die wachsende Bedeutung der Menschenrechte im Prozess der europäischen Integration an. Eine weitere Koordinierung der europäischen Menschenrechtsschutzsysteme ist deshalb unumgänglich. Der europäische Integrationsprozess führt letztendlich von der OSZE über den Europarat bis zur Europäischen Union. Die Mitgliedschaft im Europarat wird als eine unerlässliche Bedingung für einen EU-Beitritt qualifiziert (Nowak 2002: 253). Wie uns die Geschichte Europas lehrt, würde die europäische Integration ohne den zu den gemeinsamen europäischen Grundwerten zählenden Menschenrechtsschutz jedenfalls missglücken.
Literatur Bloed, Arie, 1993: Monitoring the CSCE Human Dimension – In Search of its Effectiveness. In: Arie Bloed / Liselotte Leicht / Manfred Nowak / Allan Rosas (Hrsg.): Monitoring Human Rights in Europe – Comparing International Procedures and Mechanisms. Dordrecht: Nijhoff, S. 45-91. Brems, Eva, 2001: Human Rights: Universality and Diversity. The Hague: Nijhoff. Maier, Ralf, 2000: Internationaler und Europäischer Schutz der Menschenrechte. In: NJW, vol. 53, no. 16, S. 1166-1169. Neuwahl, Nanette A., 1995: The Treaty on European Union: A Step Forward in the Protection of Human Rights? In: Nanette A. Neuwahl / Allan Rosas (Hrsg.): The European Union and Human Rights. The Hague: Nijhoff, S. 1-22. Nowak, Manfred, 2002: Einführung in das internationale Menschenrechtssystem. Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag. Nowak, Manfred, 2003: Introduction to the International Human Rights Regime. Leiden: Nijhoff. Oberschmidt, Randolf, 2001: Zehn Jahre Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE – Eine Zwischenbilanz. In: IFSH (Hrsg.): OSZE-Jahrbuch. Baden-Baden: Nomos, S. 421-435. Reljiþ, Dušan, 2001: Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit. In: IFSH (Hrsg.): OSZE-Jahrbuch. Baden-Baden: Nomos, S. 411-419. Schilling, Theodor, 2004: Internationaler Menschenrechtsschutz. Tübingen: Mohr Siebeck.
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Stender, Heike, 2004: Überschneidungen im internationalen Menschenrechtsschutz. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag. Schweisfurth, Theodor, 1976: Zur Frage der Rechtsnatur, Verbindlichkeit und völkerrechtlichen Relevanz der KSZE-Schlussakte. In: ZaöRV, vol. 36, no. 4, S. 681-726. Tretter, Hannes, 2000: Mit gutem Beispiel vorangehen: Eine Menschenrechtsagenda für die Europäische Union für das Jahr 2000. In: Gabriele v. Arnim / Volkmar Deile / Franz-Josef Hutter / Sabine Kurtenbach / Carsten Tessmer (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte, S. 269-276. (http://www. jahrbuch-menschenrechte.de/Online/archiv-jmr2000/inh-JMR2000.html). Weiß, Norman, 2002: Die Entwicklung der Menschenrechtsidee, heutige Ausformung der Menschenrechte und Fragen ihrer universellen Geltung. In: Jana Hasse / Erwin Müller / Patricia Schneider (Hrsg.): Menschenrechte. Baden-Baden: Nomos, S. 39-69.
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Reflections on the Common Law – Relating It to the European Context Reflections on the Common Law
1
Introduction
The expression ‘common law’ has a number of different meanings.1 Most immediately relevant here is the reference to a legal tradition or culture which is part of the broader family of western law (together with the Romanic and Scandinavian traditions) and which has its origin in England. We thus often refer to the ‘English common law’ but this label should be used with caution: although originating in England, the ‘English’ common law is now one of the world’s most widespread legal traditions, whether considered in terms of the number of countries or size of populations subject to a legal order in some way derived from this original tradition.2 Thus the common law can no longer be thought of as ‘English’ law (see, e.g., Cooke 2004: 273-274), neither in the sense that it is restricted to that location, nor in the sense that it is law made there to be applied in other places (as was the case in the days of British colonialism). The ‘common law’ can be found in some form or other, subject to some qualifications, throughout, for example, the United States of America, Canada, Australia, New Zealand and India, as well as in the United Kingdom.3 This geographical spread, the times and circumstances under which it has taken place and the nature of geopolitical and other developments since the first introduction or ‘reception’ of the common law in those countries means that considerable caution is required when speaking about the common law. In other words, there are many legal systems of the common law, and each has its own special characteristics which mark it off even from the other jurisdictions within this overall tradition. (For particular jurisdictions, see, e.g., Abadinsky 1998; Abernathy 1995; v. Bernstorff 2000; Burnham 1995; Dörrbecker/Rothe 2002 and 2003; Hay 1995; Morrison 1994; v. Mehren 1988.) Nevertheless, it is possible to identify unifying elements and features which permit a consideration of the common law tradition as a whole. (On the common law generally see, e.g., Arnheim 1994; Byrd 2001.) This paper seeks to set out some aspects of the common law tradition which seem particularly distinctive and which may be instructive for or have relevance to Europe and European issues – especially European integration – as a whole. The paper suggests some reasons why the study of the common law may be useful in the context of ‘European stud1
There are three broad levels of meaning: a) as a comprehensive legal tradition; b) as judge-made law distinguished from statutory or parliamentary law, within the first meaning; and c) as one of two types of judge-made law, distinguished from so called ‘equity’. Some further reference to each of these usages will be made later in this paper. 2 Examples of other widespread traditions are the ‘civilian’ or Romanic, which can be found in continental Europe and most of the former colonies of continental European powers (most notably the Iberian in Latin America, or the French in Africa), or the Islamic in many Arab, African and Asian states. 3 Some qualifications apply to Louisiana (where French and Spanish traditions play a considerable role) and Scotland, where in effect a mixture of the common law and civilian legal traditions can be found.
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ies’, whether a student’s background is in law or in other disciplines. Some basic features of the common law and some elements of its historical development will be referred to, without pretending to offer either a comprehensive understanding of what is meant by the ‘common law’ or a detailed treatment of particular legal rules as found in any given common law system or country. Such detailed knowledge and information would depend on much more intensive and specific study of the subject than can be provided in this paper. A further preliminary observation is needed. In contrast to all the other papers in this book, this paper is written in English, not German. This was a deliberate choice for a number of reasons. Most obviously, the common law is a legal tradition which operates almost exclusively in the English language, so that the primary legal texts and the vast bulk of the secondary literature are in English. Secondly, every legal system is very closely linked to its linguistic basis. Indeed, subject to certain exceptions, law can be seen as the reduction of norms to some linguistic expression, whether oral or written. The more complex the legal system, the more dependent it becomes on its linguistic vehicle, that is, on the language. One could add that the more complex a legal system becomes, the less it involves merely the reduction of norms to a linguistic expression and the more it involves (often complex) argumentation about those norms and their meaning, content and application. If the measure of the quality of lawyering is in essence the quality of legal argument – this is my view –, then severing the discussion of a legal system from its language creates inevitable difficulties. Put another way, much is lost in translation. Thirdly, in many ways the history and nature of the common law reflects even features of the English language itself, some of which I will mention below. For all of these reasons, it therefore seemed compelling, or at least convincing, to write this paper in English. One final preliminary note: This paper attempts to identify features of the common law which make it amenable to study in the context of European studies. As said above, the characteristics identified are not intended to describe the common law tradition comprehensively. Further, the characteristics identified, even if typical, are not necessarily claimed to be exclusive to the common law. In other words, not every feature discussed here should be seen as unique to the common law. Indeed the idea of an absolutely clear distinction between one legal tradition and another would be absurd. Many overlaps and indeed mixtures exist. As well, one can increasingly identify convergences between legal traditions in the wake partly of greater reciprocal awareness, partly of globalising tendencies in politics, economics and culture, and partly because of deliberate steps towards legal harmonisation or even unification. (See, e.g., Eser/Rabenstein 2001; Allison 1996; Markesinis 1994; Markesinis 2000.) Differences are ones of degree rather than absolute. (For selected comparisons of legal systems, see e.g., Reed 1999; Glendon 1994; Youngs 1998.)
2
Some Key Characteristics of the Common Law
2.1 Origins, Methods and System The common law takes its name from the way in which this legal order became established and systematised. Britain was invaded by the Normans4 in 1066 and the southern part was 4
Norsemen or Scandinavians who had settled a couple of generations previously in north-western France, now known as Normandy.
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ruled thereafter by King William I (‘William the Conqueror’) and his successors. One of the measures adopted in order to unify the country was to establish a uniform system of law. This was achieved not primarily by the issue of laws, decrees or edicts of the central royal government. Instead commissioners were sent throughout the country to record the law as it was understood and applied by the courts – in effect village heads – in the conquered Anglo-Saxon villages. The law thus collected and recorded became the basis for judicial decisions in the royal courts which sat and decided matters both centrally and locally. The law which thus developed took on two characteristics which became and have remained distinguishing features of the common law tradition: it was in essence eclectic and it was based on case decisions. The eclectic nature of common law origins and development is comparable with the English language itself (see, e.g., Bragg 2003: ‘English is open to every influence, however insignificant the source might be’ (218)). The common law has always had the inclination to draw on a very wide range of sources in order to forge a rule or a principle. This is reflected in at least three characteristics: First, the common law judge has little difficulty generating a solution to a specific legal problem or dispute via analogy with or transfer from another context. Secondly, lawyers in specific common law systems often look to other legal systems for ideas on solving given problems. Thirdly, the common law has been extremely open to the application of interdisciplinary methodologies and ideas for the purpose of understanding the function and operation of legal rules or for generating new ones. In all of these senses the common law tradition could be said to be a legal tradition relying on collective wisdom, rather than on a purely internal, ‘lawyerly’ legal science. Common law is based in so called ‘case law’, i.e. its detailed legal rules are in effect an agglomeration of rules and principles enunciated in numerous individual decisions of judges made over centuries. This is an essential feature of common law methodology (see, e.g., Lundmark 1998). Nevertheless, it must be noted that this method has increasingly been amplified by statutory (parliamentary) law-making, so that it would be now fundamentally erroneous to describe the common law still as exclusively or even predominantly a system of judge-made law (see, e.g., Beatson 1996). Nevertheless, the idea of its being a system of judge-made law still plays a major role, even in relation to the methodologies of legislation and its judicial interpretation. A further characteristic of the common law which distinguishes it as much as any other from the Romanic or ‘civilian’ tradition is its approach to the issue of systematic categorisation of fields of law. In a word, the common law is decidedly unsystematic. The classic categorisations of public, private and criminal law are known to the common lawyer, but scarcely given any of the same weight that, for example, a German lawyer gives to them. This is even truer when it comes to the more detailed, systematic breakdown of legal fields, such as the division between general and special administrative law. This at least has been the traditional approach in the common law, although some change has gradually taken place, especially in the course of the second half of the 20th century (see, e.g., Allison 1996). One expression of this lack of a strict or logical system is the relative lack of specialisation in common law court systems compared with civilian jurisdictions (with their virtually complete separate hierarchies of courts, such as administrative, civil, criminal, labour, fiscal and social security courts along with a specialised constitutional court). (For comparisons between common law and civilian courts generally, see Sauveplanne 1982.) The
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status of superior courts such as the House of Lords (soon to become the Supreme Court of the United Kingdom), the US Supreme Court, the Supreme Court of India, the Supreme Court of Canada or the High Court of Australia where all questions of law in all fields (including constitutional matters) are resolved in principle by the same bench illustrates the point compellingly. This remains so, even if in some jurisdictions there are, at the lowest level, tribunals or courts which do exercise some specialisation (e.g. the administrative judges in various administrative agencies in the United States, and courts such as the Land and Environment Court (NSW) or the industrial (labour) tribunals in Britain). Subject matter jurisdiction converges rapidly the more one progresses from such lower level bodies up the curial hierarchy. The same point emerges in considering academic institutions and legal training: law teachers in common law institutions of learning are rarely restricted to subject areas within the hermetically sealed areas of public, private and criminal law. Their areas of teaching typically cross all of these fields and the courses offered transcend such boundaries in focussing not only on abstract categorisations of material but also very often on the problemor topic-oriented grouping of material (housing law, environmental law, bio-technology issues, legal issues of the internet, etc.), where the full range of legal questions, whether in constitutional, administrative, regulatory, private or criminal law, is addressed. This ‘transboundary’ character can also be noted in legal research and writing to a much greater extent than in civilian academic legal circles. One consequence of this, apart from a generally more holistic and problem-centred approach to subject matter, is a greater flexibility in the subjects which an individual law teacher may choose to teach over time and in the level of institutional acceptance of such change. One important classificatory aspect of the common law which has no parallel in the civilian tradition – and therefore the subject of considerable mystery – is the field of ‘equity’. Space does not permit a full exposition of this institution here. Nevertheless it would be a gross oversight not to provide a sketch. Within judge-made law (‘common law’, in the second sense of non-parliamentary law) there are in fact two separate bodies of judge-made principles and rules which operate in parallel with one another and which can mutually inter-penetrate, influence and interfere with one another. These two streams are called ‘equity’ and ‘common law’ (thus another, third meaning of that term). Extraordinarily these two streams arose and developed out of two, once separate and competing systems of courts. These courts were, it must be noted, not separated as regards subject matter (e.g. between public and private law), but rather in respect of methodology, remedies and effect. This curious, indeed astonishing, institutional development can be credited with making a fundamental contribution to the capability of British law to support and advance fundamental social, political and economic changes well before these took hold on the European continent. This occurred above all in the transformation of feudal economic relations, e.g., in the field of property law, establishing the basis for many modern economic transactions and institutions. One such institution was the ‘trust’ which, with its beginnings in the 14th century, continues to play a key role in modern commercial and financial arrangements. Such a genesis of legal rules and principles appears as the very antithesis of a rational and systematic legal system and even as bizarre. Nevertheless, while the history of ‘equity’ and its relation to ‘common law’ (in the third sense) has not always been felicitous and free of problems, it has over centuries been – and continues to be – one of the most fertile and creative facets of the English common law tradition. Again this is part of the paradox of the
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common law tradition: An apparent lack of system seemingly provides no hindrance to a highly effective, flexible, creative and dynamic legal culture. Indeed, it may even explain these characteristics. The history and features mentioned can all be said to be indicative of the nature of the common law, without necessarily providing a precise definition (virtually impossible in any case). Such aspects are, however, not all exclusive to the common law. After all, there was a jus communis on the European continent for centuries, in the form of a shared legal tradition, even if established and maintained in ways significantly different from those found in the history of the (English) common law. One needs to add here that the creation of the legal tradition we call the common law was not achieved in the British Isles in a literally insular way: the development of the common law owes much to the influence of continental European law and legal thinking (see, e.g., Markesinis 2000), probably more than the other way around, at least until the resurgence of interest in comparative law (see, e.g., v. Bar 2000: 68-69) and attempts at legal harmonisation in the latter half of the 20th century. In various phases British judges and scholars have been very receptive to ideas emanating from foreign legal systems (Markesinis 2000: 42-46). Thus any attempt to assert a sharp and absolute division between the common law and civilian law would be erroneous, despite clearly observable, broad and indicative differences between these traditions.
2.2 Dissemination and Coherence As noted above, the common law has spread from its origins in Britain to a large number of countries.5 The result is a legal community which displays at the one and the same time a significant convergence and significant variety.6 There is a steady and increasing mutual cross-reference and influence, in effect a community of comparative law in daily practice. This is clearly facilitated by shared language, understandings of methodology, institutional structure, principles, starting points in substantive law, court procedure, legal culture and perhaps legal instinct. Despite some differences, which may in fact be gradually increasing, all common lawyers can read the statutory texts, court decisions and scholarly literature of all the common law jurisdictions. All common lawyers appreciate the special role of judicial law-making (and the underlying principles of the associated doctrine of precedent), already referred to, in the overall context of their own jurisdictions. Even though all judges in all legal systems (not just those of the common law) are unquestionably law-makers, it is no doubt true that common law judges play this role to a greater – certainly to a more explicit – degree than judges in other traditions. (Note, however, that there are significant bodies of purely judgemade law even in fully civilian systems, such as Germany; see, e.g., v. Bar 2000: 70). Many basic legal rules, especially those of private law, are found in decisions of English courts going back many centuries, still referred to by contemporary courts in all common law countries. Despite this shared reliance on judicial law-making, all common lawyers 5
Here it is not unique; one needs to think only of the large transfer of the civilian tradition in its Iberian expression to the whole of Latin America. Fears have been expressed that Britain’s links with the common law world have become looser and increasingly fragile, partly because of its entry into the European Community and the influence of both European statutory law and of European civil law concepts: see Beatson, 1996 2-3. These fears seem at best exaggerated, at worse groundless. 6
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also share a respect for the fundamental principle of parliamentary sovereignty, so that judge-made law will always be subject to statute law (acts of parliament and other legislation), apart from certain (essentially constitutional) qualifications. Other basic principles, such as the rule of law and the separation of powers, are also both explicitly and implicitly accepted elements in all common law jurisdictions. Generalisations about legal culture and instinct are always difficult to make. One certainly strong element in common law culture is not to be overly concerned with establishing rules where no significant social or regulatory problem has, as yet, emerged. In that sense the instinct of the common lawyer is to say, ‘If there is no problem, do not fix it’. The common law has therefore usually avoided attempts at comprehensive legislative or regulatory schemes where largely hypothetical issues are to be subjected to a rule. The strong inclination within common law systems is that, in effect, every form of activity and behaviour is permitted unless there is an express restriction or prohibition which arises out of a specific regulatory need. In that sense the common law can be said to place significantly less emphasis on legal rules or instruments which have merely or primarily a ‘constitutive’ function. The underlying assumption is that a person or an institution can embark on an undertaking without the need to establish a (detailed or specific) legal framework in advance and, should problems or disputes arise later, that they will be solved by applying general principles or existing rules by way of analogy.7 Perhaps the most striking, but by no means unique, illustration of this tendency is indeed the very absence of a formal written constitution not only in the United Kingdom itself but also in some other common law jurisdictions. As regards procedural similarities across the common law world, courts in that tradition almost invariably employ the so called ‘adversarial’ procedure, i.e., a procedure which emphasises the conflictual nature of the dispute to be resolved, and in which the judge plays broadly the role of a referee between the disputing parties and legal representatives. The court itself plays a relatively small role in working towards a resolution of the dispute and does not, for example, conduct its own investigations into disputed facts, in contrast to the so called ‘inquisitorial’ procedure more characteristic of the civilian tradition. (For comparisons of court systems, see Sauveplanne 1982; Glendon 1994.) Broadly, it might be said that the common law court makes little effort to establish the absolute truth in relation to the facts of a case, but rather adjudicates merely on the basis of the facts as presented by the parties. This is then an essentially pragmatic methodology designed to solve the immediate dispute. The only significant exception to this are situations where the courts admit the participation of a so called amicus curiae8 presenting both evidence and legal argument to the court which may cut across the interests of the disputing parties (although they may, in a given case, in fact coincide with the interests of a party). In general amici curiae attempt to inform the court of the broader social and political implications of the decision being taken. Their role underscores the fact that common law courts are indeed law-makers, i.e., that each individual decision can have a significance for the legal system and the society which goes beyond the individual dispute, and thus that the court should be made aware of these implications. Thus, the courts themselves and sometimes individual statutes make 7
There are certainly exceptions to this general proposition. The establishment of a corporation (a ‘company’), for example, will always require the creation of constitutive documents (typically the so called ‘articles of incorporation’ and the ‘memorandum of association’). 8 Literally, a ‘friend of the court’.
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provision for this broader interest to be so represented. However, this is usually restricted to the higher courts and is by no means universal. Use of this institution is relatively frequent in proceedings before the US Supreme Court. There, in cases involving major issues of legal policy (e.g. race relations, abortion, bio-technology, intellectual property), the Court may receive hundreds of very substantial, often exhaustively researched submissions from institutions representing the full range of political and social opinion. In a sense nothing could demonstrate more abundantly the law-making quality of the Court’s activity and the methodology which goes hand-in-hand with meeting the demands of this role (see, e.g., Rowe 1985).
2.3 Some Parallels in Language and Law The point was made above about the general tendency in the common law to create a rule only where it seems necessary. Bragg has made a similar point concerning the English language in the early 18th century: “Many of the English were very proud of ‘our Language’. They saw their character stamped on the words and they were right. They believed it embodied, preserved and encouraged the English spirit of individual liberty, of a resistance to central regulation, of not liking being told what to do”. (Bragg 2004: 209)
While this observation specifically relates to (failed!) attempts centrally to regulate the development of the English language (contrast here the (even very recently) repeated state interventionism in the development of the German language), it reflects particular cultural traits also reflected in law, history and politics. As we will see below, this ‘English spirit of individual liberty’ as reflected in both language and law almost certainly lay beneath the relatively early restriction and rejection of absolutist government in comparison with the experience of the great majority of other European countries (ignoring altogether many non-European ones which, even now, still seem reluctant to embrace democracy and the rule of law). A further interesting aspect of the relationship of law and language is the increasing emphasis in many common law jurisdictions on the use of so called ‘plain legal English’. The plain legal English movement has influenced legal activity in a number of ways: The formulation of contracts, especially standard form contracts or ‘contracts of adhesion’ (typically the virtually unchangeable contracts made between a large commercial organisation such as an insurance company or a bank with numerous individual customers) is now usually expressed as far as possible in plain English. Many jurisdictions also deliberately attempt to formulate new statutes in ways which are thought to be more accessible to the ordinary citizen-reader. Even if the formulation of the formally binding legal provisions often remains legally technical for convincing reasons of regulatory precision, statutory texts will often be accompanied by non-binding explanatory or purposive material intended to aid the average, non-technical recipient of the law. One area, though, where plain legal English does not seem to have made much headway is that of judgments of the courts. It is a rare judge who is capable of direct and simple expression of the legal issues and principles involved in a case. This no doubt reflects the habits of a professional life in the law
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and, in contrast to other characteristics, offers little basis for distinguishing common law judges from those in other traditions. This ‘plain language’ movement in the law reflects a number of different and sometimes related elements. First, despite – or perhaps because of – its extraordinarily large vocabulary (at about half a million words, by far the world’s largest), exhortations to use ‘plain’ English have been around since the late 18th century. Indeed, one of great foundational texts on human rights, which has ultimately found its way into various legal human rights norms such as the European Convention on Human Rights, Thomas Paine’s The Rights of Man (1790), was deliberately written in a ‘plain style’. (Generally as to the historical development of the idea of plain English in the non-legal context, see Bragg 2003: 228-229). The ‘plain legal English’ movement, although essentially a trend in various common law countries from about the 1960s onwards, is in many ways just a continuation and emanation of this more general exhortation (even though the latter cannot be said to have achieved any striking success). Second, the ‘plain legal English’ movement certainly reflects an idea, if not a reality, in common law culture that the law is or should be close to the people, both in terms of its origins and in its understanding and application. The original, grass-roots eclectic character of the common law is one aspect of this idea. The role of the jury in the legal determination of disputes is another. Yet another is reflected in the comparatively large number of publications on the law specifically designed for lay people (i.e. non-lawyers) found in numerous common law countries. Further, the traditional preparation for practice in the legal profession, not through academic study but through mundane legal practice, although now increasingly seldom, also betrays the same tendency of avoiding abstract and esoteric academic discourse and attempting to relate legal activity directly to the key function of dispute settlement and resolution of real, and not merely imagined, problems of daily life.
2.4 Legal Pragmatism One of the key characteristics of the common law – reflecting the society from which it emerged – is pragmatism. Take the approach of superior British courts to their role and status after British accession to the (then) European Economic Community. In a nutshell, the Court of Appeal (CA) and the House of Lords (HL) declared that British courts were under a virtually unlimited obligation to give effect to the Treaty, i.e., Community law always prevailed over national law (Macarthys v Smith [1979] 3 All ER 325 (329) (CA, per Denning MR); R v Secretary of State for Transport, ex parte Factortame 1990 2 AC 85 (HL)) (subject to express legislative departure from Community law, or perhaps after Factortame, to a complete withdrawal of the UK from the EC). In contrast to the rather restrictive approach of the German Federal Constitutional Court (BVerfG) in its Maastricht Decision (Decision of the Federal Constitutional Court, NJW 1993, 3047), the British high courts had relatively little difficulty ceding law-making authority, within the scope of competences transferred to the Community under the Treaties, to the Community. What might explain this difference, especially in the light of the oft asserted – but oft exaggerated9 – 9
Here one could refer to the contradictory evidence of Britain’s rather exemplary record in the implementation of Community law (e.g., directives), in comparison with other Member States whose record of (punctual) implementation often contrasts starkly with their posturing as model members of the Community.
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resistance of the British to see themselves as thoroughly enmeshed within the rest of Europe? On one level one might simply note that the BVerfG in the Maastricht Decision was obliged to apply the German Basic Law (Grundgesetz), while the British high courts were, as noted above, not subject to any formal constitutional constraint but – merely – to the broad principle of parliamentary sovereignty. This (essentially formalist) explanation, however, does little justice to explaining courts whose tradition includes telling a king, purely on the basis of principle (and, no doubt, of politico-historical legal realism) that it was not he, but the Parliament, which possessed supreme legal authority, doing so at a time when this principle had not yet been established and indeed centuries before it became accepted in most other parts of Europe. A court, then, which of its own accord could create and, in effect for the first time, assert the principles of both the rule of law and the sovereignty of Parliament, and do so in direct opposition to an absolutist monarch, ought not to have found it too difficult to reject or at least restrict its acceptance of the unlimited superior status of Community law, had it wanted to do so. It might be countered, of course, that times were different (at least in 1979), that the extent of competences of the EEC were more restricted than those of the EC and EU, so that the Court perhaps needed to be less cautious than the BVerfG at the time of the Maastricht Decision. While true in some senses, against this could be noted that there is now a quite powerful European Parliament but not earlier. As well, other aspects of European institutions mean now a significantly greater openness and exposure to public political scrutiny and control than earlier, so that arguments based on expanded competences are arguably neutralised. A further explanation for the difference between the approaches taken by the two Courts, apart from the constitution/no-constitution argument and the argument that the times and situation have changed, might be that the British high court was merely following the very principle just mentioned, which its own forebears created, namely that Parliament was sovereign and, since Parliament had legislatively agreed to the United Kingdom’s accession, the Court was not in a position to resist this. Here one could counter with the proposition that the principle of the sovereignty of Parliament had been created by the court itself, so that it might well have created a qualification to it, had it thought that accepting the binding superiority of the ECJ was fundamentally questionable. After all, this is more or less what the US Supreme Court did in giving itself the power of judicial review, admittedly within the framework of a written constitution (see Marbury v Madison (1803) 5 US (1 Cranch) 137; the same power has been assumed to exist under the Australian Constitution). None of the posited explanations seems to me thoroughly convincing, the first and the third especially because they are essentially legal-formalist arguments, the second because the nature of whatever changes occurred in the EC in the period concerned certainly do not unambiguously provide a justification for the restrictive stance of the BVerfG. I suggest the most compelling explanation of the difference between the approaches of the courts is to be found in the legal culture underlying the decisions. The same legal, political and historical realism which, as referred to below, underlay the determination of Lord Justice Coke to refute the absolutist claims of James I in the early 17th century could be said to be present, in another guise, in the House of Lords’ acceptance of the superior status of the European law and thus of the European Court of Justice. In other words, the high court took note of the fact that political circumstances and structures had changed radically, that
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its own place in the legal and political framework and hierarchy, having been established over a very long period, had also changed, and that a new construction of legal and political power was being – or had already been – created.10 The approach of the BVerfG is here more formalistic and less dynamic, clinging to the letter of the GG (and its own earlier interpretations), with an implicit assumption that the existing constitutional order was of and in itself better. Could it be said that the one approach or tradition is more amenable than the other to creating and supporting good government? One of these constitutional frameworks has been in continuous operation for at least half a millennium, the other for just half a century. The one has genuinely stood the test of time, with the other it is perhaps still too early to tell. Perhaps this explains the confidence of the British courts to, in effect, accept legal and political change even though doing so would cost them some of their own status and authority. The pragmatism which is arguably reflected in the stance taken by the House of Lords here can be seen in another context, directly linked to the methodology of common law judicial law-making. The House of Lords itself had at one stage in its history decided that it was bound by its own decisions, i.e. that the doctrine of precedent applied not only vertically (i.e. that a given court was bound by decisions of a court superior to it in the same hierarchy), but also in effect horizontally (London Tramways Company v London County Council [1898] AC 375). This decision introduced a self-referential element: the House of Lords was thereby strictly no longer able to depart from this decision itself, and thus appeared to be locked in to the rule (unless of course the Parliament at some time came to its rescue). The House of Lords decided later, however, that the rule was unacceptable. It overcame the logical difficulty, that a subsequent case could not depart from the Tramways decision, by issuing what is known as a Practice Statement which declared it would see itself free to depart from its previous decisions where needed (Practice Statement [1966] 1 WLR 1234).11 The High Court of Australia had never adopted the position taken by the House of Lords in London Tramways (see, e.g., Australian Agricultural Co v Federated Engine-Drivers and Firemen’s Association (Engine-Drivers’ Case) (1913) 17 CLR 261 (275-276)). On the other hand, ever since the High Court was established under the Constitution of the Commonwealth of Australia in 1901 it followed decisions of the House of Lords in the United Kingdom although, strictly speaking, it was under no obligation to do so.12 It continued to do so until 1963 when it decided, in a criminal law matter, that it would no longer see itself as bound to follow those decisions (Parker v R. (1963) 111 CLR 610 (632, per Dixon CJ)). In other words, by its own determination, it modified the status of House of Lords’ decisions from being ‘binding’ to merely ‘persuasive precedents’. Here again we see a superior common law court confronting changed politico-legal circumstances directly – the changed relationship between Britain and Australia and the corresponding independence of Australian law and legal approaches – and deciding, quite with10 The discussion of the issue, parliamentary sovereignty, is necessarily highly compressed here. See the insightful consideration in Craig 1991. 11 This methodology might itself be seen to reflect the frequent – and plausible – proposition that the doctrine of precedent is in fact merely a rule of practice and not a rule of law. 12 It was, in contrast, subject to decisions of the Judicial Committee of the Privy Council in Britain, the highest court of appeal for British colonies. This was, as regards its membership, identical with the membership of the (judical) House of Lords, except for, in each case, an additional judge from the highest court of the jurisdiction from which the appeal came. Formally the two courts were distinct, and the House of Lords did not bind colonial courts.
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out any external constitutional or legislative framework for doing so, to change law and legal principle fundamentally.
2.5 Interdisciplinary Approaches to Law One of the signal developments in the common law since the beginning of the 20th century has been the astonishing growth of interdisciplinary approaches to, analyses of and methodologies in law. This has occurred in both legal practice and in research and teaching. Such movements have included ‘law and economics’, ‘law and sociology’, ‘law and politics’, ‘law and philosophy’, ‘law and statistics’, ‘law and literature’, and others. Indeed the list of ‘law and…’ movements seems potentially endless. The most prominent and influential of these movements has been that of law and economics or the economic analysis of law. It is true that the interdisciplinary focus of law and economics has now become established at least in teaching and research in some countries of the civilian tradition (above all Germany, Sweden, the Netherlands and Belgium) (see, e.g., Behrens 1986; Schäfer/Ott 1986; Eidenmüller 1995; van Aaken 2003; see also generally the European Journal of Law and Economics). Nevertheless, this has occurred only very recently in comparison with the United States and other common law jurisdictions, particularly Australia, Britain and Canada (for just a small sample of literature illustrating this, see: Posner 1977; Oliver 1979; Burrows/Veljanovski 1981; Bowles 1982; Cooter 1982; Rowe 1984; Goetz 1984; Cooter/Ulen 1988; Hirsch 19988; Farber/Frickey 1991; Butler 1997; Katz 1998; see also generally the Journal of Law and Economics and Journal of Legal Studies). One could consider the onset of the economic analysis of law in the United States as almost a natural and necessary complement of the regulation of monopolies and business competition at the turn of 20th century. Since then, especially since the middle of that century, economic perspectives have left no area of law untouched, whether in the field of torts (see the signal work here, Calabresi 1971), contracts (see, e.g. Polinsky 1989), property, family law, environmental law or constitutional law, to name but a few. This strong interdisciplinary development is both a reflection of the generally pragmatic and eclectic style of the common law and, perhaps more significantly, of the ‘legal realism’ movement which began in the United States, especially at Harvard Law School, in the later 19th century. That movement itself echoes the strong thread which flows through the common law and its judicial methodology of law-making: a strong reliance on individual cases and specific life-situations rather than on abstract theorising. A more recent emanation of the same tendency, partly resulting from yet another interdisciplinary focus (law and sociology) – in some respects as a critical reaction to law and economics itself – has been the so called ‘critical legal studies’ of the later 20th century, also in the United States. These and the other interdisciplinary impulses are among the most prominent features which set the common law apart from the civilian tradition. In this respect at least the common law shows itself to be much less self-referential – and arguably less selfreverential! – than the civilian legal tradition.
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2.6 Methodological Innovations in Responding to Contemporary Problems In the 20th century common law jurisdictions, above all the United States but followed in most cases very quickly by Australia, Canada and Britain, have displayed considerable innovation in responding to problems of modern society and economy. These innovations have no doubt reflected a clear political will to address the perceived problems, without which such innovative approaches in the law would generally not have been achievable. Nevertheless, the legal-methodological innovations giving effect to that political will have in many cases been a direct result of the interdisciplinary approaches just mentioned, especially of the economic analysis of law, and can be seen generally as an outgrowth of legal realism. Such innovations include: the use of environmental impact assessment (EIA); transferable rights, especially emissions trading, in the environmental and landuse planning field; treble damages for injuries caused in the field of competition law; class actions (allowing suits by multiple, usually unknown plaintiffs) in many fields of torts and regulatory law; and programmatic anti-discrimination law. It is not possible here to consider such innovative methodologies in any detail. It should be observed, though, that some (such as EIA) came primarily through legislation, others (such as many aspects of antidiscrimination law) more through judicial statutory interpretation. Although the social and economic problems to be addressed have in essence not been significantly different in continental Europe, the resistance to methodological innovation in the civilian legal tradition has meant first that the adoption of such methods has occurred significantly later (anywhere between 20 and 40 years after common law countries), and often only as a result of legal policies and measures of the European Community.
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Observations on the Common Law within Europe
3.1 The Growth of Democracy Britain is the home of modern democratic government. The contribution of the common law was decisive. The first half of the 17th century was a critical period in the development of democracy in Britain. In essence a crucial opposition emerged between the absolutist assertions of James I and political principles articulated in the Parliament, leading to the English revolution. The clergy – and notably the universities13 – supported the king and his asserted ‘divine right’. What is especially interesting from the perspective of considering the nature of the common law tradition is that the common law courts (specifically Lord Justice Coke) took a decisive stance against the absolutist claims of the King, holding in favour of both the Parliament and the rule of law. Such a judicial standpoint in a conflict between an absolutist ruler and democratic or popular forces is virtually unknown in civilian traditions (one can recall here the position taken by the courts in, e.g., the French revolution or the Third Reich). The position taken be the common law courts at that time was not, I suggest, the result of mere chance or good fortune but rather an expression of a natural and deep-seated inclination. One could argue that there is an almost inherent characteristic in the common law tradition which is naturally opposed to absolutist rule whenever it 13 Note that law was not studied as a professional discipline at university; the study of law at that time was purely academic, focussing on Roman and canon law.
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arises. The sources of this can be found, I suggest, in (a) the origin of the common law in the geographically dispersed and legally diverse Anglo-Saxon villages following the Norman conquest (paradoxically, legal wisdom gathered at the behest of a centralised, conquering monarch); (b) the decentralised nature of judicial law-making, occurring in many places, on many levels and in many contexts simultaneously and continuously; and (c) the – perhaps inevitable – tendency of common law judges, once endowed with this decentralised authority, of not wishing to part with it, and thus acting both in their own self-interest as well as in the interest of a fragmented distribution of legal and political power.14 These inclinations in common law judicial behaviour and the suggested explanations extend over a very long period and suggest that the common law is a legal culture which provides a reliable, long-term basis for resisting dictatorial, autocratic and anti-democratic tendencies in the political and legal order. There are few if any legal traditions for which such claim could be made with the same confidence as it can be for the common law. The enduring character of democratic ideals within the common law makes, I suggest, an important contribution to the rest of Europe where the emergence and establishment of such ideals is significantly more recent.
3.2 Fundamental Constitutional and Legal Principles The historical developments referred to in the preceding section are the basis for a number of constitutional principles which are now accepted as fundamental to any acceptable constitutional order. These principles – the rule of law, sovereignty of parliament, the separation of powers and judicial independence – all have their origin in common law jurisdictions, initially (if inchoately) in 13th century and more strongly 17th century Britain, and then (more completely or in varied form) in the United States of the late 18th century. Certain other important principles, even if somewhat less fundamental, can also be identified to be of common law origin, even from quite early times. One of these, the principle of ‘no taxation without representation’ underlies certain aspects of modern democracies (especially in federal systems). A further principle, ‘trial by one’s peers’15 is the basis of the common law’s continuing reliance on the jury trial, especially in criminal matters. The basic politico-legal message here was that a fair trial was more likely to be guaranteed by ensuring that disputed facts were decided by persons on the same social level as the accused than by persons of a higher, perhaps dominant social class. Both of these principles, along with the incipient rule of law, were established in England a little less than 800 years ago in the Magna Carta of 1215. This remains binding law. The requirement of trial by jury is arguably now not an essential requirement of fair curial procedure these days, given the – at least asserted – embrace of the classless society. Its use in the common law world has in fact significantly declined and is being restricted in various ways (e.g. through reduction of jury size or the adoption of majority verdicts). More general requirements, though, concerning fair curial procedure – ‘due process’ –, 14
It ought to be noted that the positions taken by other actors in the revolution, including the Parliamentary opponents of the King, were also often influenced by self-interest, for example, resistance to taxation. 15 The word ‘peers’ can be confusing. Its origins are in the Latin word par (‘equal’). This is certainly the meaning intended in the expression ‘trial by one’s peers’. A completely opposite meaning developed however, viz. the aristocracy, (e.g., the ‘peers’ in the House of Lords). These meanings need to be distinguished.
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involving a range of elements such as the right to be informed of charges made or of decisions taken, the right to be heard or at least to present evidence and argument, eventual rights of legal representation and the right to examine witnesses, were also established early in common law history, received in effect codified form in the US Constitution of 178916 and are now embodied in instruments such as the European Convention on Human Rights (art. 6) (see generally Thiele this volume). These examples all point in the same direction: that the common law very early led Europe in many respects in regard to fundamental ideals of good government and civil rights. In addition, it can be noted that common law countries have generally – if not universally – not shown any significant break in the observance of or departure from these principles even over extended periods (the more than 200 years of US constitutional history shows this very clearly).
3.3 Good Law Without Writing 3.3.1 The Pre-eminence of Civic Culture over Written Law If common law methodology demonstrates only one thing, it is that the quality of a legal system cannot be measured alone by the degree to which legal norms are committed to a centralised, comprehensive written expression, in other words a code. It is by no means demonstrable, for example, that better law and better protection of individual rights results from the attempt precisely to codify legal rules. Interesting contrast here can be seen in the attempts to ban the communist parties in the 1950s in Australia, the United States and Germany. In the two countries with constitutionally guaranteed fundamental rights – Germany and the United States –, the highest courts held that the ban was not un-constitutional (Decision of the Federal Constitutional Court, BVerfGE (1956) 5, 85; Communist Party of the United States v. Subversive Activities Control Board No. 12 (1961) 367 U.S. 1). In Australia, the only country of these three which had (and still has) no constitutionally entrenched catalogue of rights, the High Court held that the federal Parliament lacked the necessary constitutional authority to restrict political activity in this way (Australian Communist Party v Commonwealth (1951) 83 CLR 1). Of course, it is possible to explain these outcomes on the basis of plausible systemic differences and the formal constitutional framework. However, such explanations do not suffice; instead reference needs to be made to the underlying – but non-static – politico-legal and civic culture. If that culture is not capable of producing appropriate and desirable legal, institutional and political outcomes and legal interpretations, the written word of the codified law can do little to correct this. The cultural background can have an effect in different directions. The history of the application of the Constitution of the United States provides useful illustrations of how the same words of the Constitution have received virtually diametrically opposed readings by the US Supreme Court over time. This resulted, for example, in the Constitution’s equality clause’s virtually making a positive contribution neither to the improvement of the welfare of Afro-Americans nor to removing inequalities faced by women throughout the 19th and first half of the 20th century. Only in the 1950s did decisions of the US Supreme Court slowly begin to reverse culturally and legally entrenched patterns of racism which had, in 16
See v. Brünneck this volume.
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effect, survived the defeat of the southern states in the Civil War (see, e.g. Brown v. Board of Education of Topeka (1954) 347 US 483, disapproving of the earlier decision in Plessey v Ferguson (1896) 163 US 537). And, in the case of both sex and race discrimination, it was only the passage of programmatic – sub-constitutional – anti-discrimination legislation in the 1960s which began to make radical changes in both of these, and certain other areas.17
3.3.2 Living Without a Constitution The European Union is at present in the midst of a process intended to furnish it with a constitution – or at least something which looks remarkably like one. Negative outcomes of some referenda on the draft constitution have raised fears that the constitution will not in fact come into being, perhaps ever. This has generated some pessimism about the future of the project of European integration, at least in the specific form of the European Union. This seems unwarranted: even though the potential failure of the draft constitution appears to pose existential questions about the Union, the existing treaties continue to be enforced and the existing organs continue to perform their allotted tasks. The history of the United Kingdom and certain other common law jurisdictions ought to confirm this as the correct outcome. England, and later the United Kingdom, have successfully functioned as a sovereign, unified and stable body politic and legal system without a formal constitution now for 940 years. The constitutional basis has been an ever evolving collection of individual statutes and court decisions, none of which is subject to any rules of entrenchment or restrictions on amendment (see generally, e.g., Lyon 2003). That historical constitutional framework has in recent decades evolved further by the super-imposition of two supranational legal regimes, the European Convention of Human Rights and the European Community, and these have arguably brought with them some elements of meta-level entrenchment. Nevertheless, as regards the ‘internal’ constitutional basis of the United Kingdom, there is still no single formal document which even remotely could be referred to as a constitution and indeed it seems unlikely that there ever will be. 18 While I would make no argument in principle against the creation of a European constitution, British constitutional history does provide the salutary lesson that one can well survive without a formal constitution. In that sense, reports of the death of the European Union ought to be regarded as grossly exaggerated.
17 Specifically the Civil Rights Act, 1964. It is interesting to observe that it is only now that most of Europe, including Germany under the influence of EC law — 40 years after the United States and most other common law countries (including Britain) — has begun to adopt such programmatic anti-discrimination law. One can note that virtually all the political, legal and intellectual debates on this in the European context repeat those which took place decades before in the Anglo-Saxon world (but mostly without any reference to them). 18 This pattern is reflected in many (but not all) common law jurisdictions, e.g. all the Australian states. The signal exception is the United States of America, although there are indeed formal constitutions for both Canada and Australia. However, the latter are, to varying degrees, largely instruments for the establishment and regulation the respective federal compacts and the related establishment of the central state. The sudden introduction of such new arrangements for governance is scarcely possible through the informal, incremental constitutional process witnessed in British history.
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3.4 Constitutional Change Quite apart from the above observations relating aspects of the common law to the issue of a formal constitutional framework for Europe, the study and observation of recent constitutional developments in Britain may provide a basis for reflection on certain other issues which may emerge in or for the rest of Europe. One development concerns the so called ‘devolution’ of power in Britain, the other the reform of the United Kingdom parliament. These changes in the British constitution are very significant and represent important breaks with the historically long-established situation (on British constitutional reform, see generally Oliver 2003.) These processes have modified or will modify – even abolish – some key aspects of British constitutional arrangements, some of which have had an important influence on shaping the common law. In many ways they can been seen as radical changes and so provide potential comparisons – if not models in any direct sense – for potential constitutional change in other European countries or on the supranational European level.
3.4.1 Devolution In recent years certain aspects of state power have been transferred from the United Kingdom as the central and sole authority to regional authorities in Scotland, Wales and Northern Ireland. This process is referred to as devolution. Its key features are the establishment of legislative assemblies and executive governments in each of the regions referred to. This has brought to an end the essentially unitary nature of state power which has existed in Britain now for centuries and which, in some senses, can be said to have begun with the Norman Conquest. The details of devolution cannot be addressed here. It can be noted, though, that the nature of political pressure leading to devolution has been quite varied across the three regions involved; in other words, the political forces at work have been different and hardly even coordinated. Further, the extent of the devolution, i.e., the extent and nature of the powers which have been granted to each of the regions and the institutional structures established are far from uniform. Rather each region has received a different package of competences and each is subject to rather different levels of residual competences in, and continuing control by, the government and parliament at Westminster, i.e. the central United Kingdom authority. In that sense as well as others it can be noted that devolution, although perhaps comparable with a modest form of federalism, has certainly not created a genuine federation, especially because each of the units of government involved enjoy a somewhat different status. What might the relevance of this to the broader European context? One aspect is that potentially, if the devolutionary process is continued and intensified, the regions of the United Kingdom may play an increasingly important role in decision-making in Britain in matters relating to the EU (perhaps achieving an internal role in decision-making rather like the Länder in Germany). This, though, is not yet the case. Further, the tentatively federal character of recent British arrangements might seem in some ways to bear comparison with the European Union itself, although the latter could be said in fact to be significantly more federal and its competences more extensive. Most importantly, the devolution in Britain ought to provide useful comparison with devolutions which are either already in train or
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which can be expected in other parts of Europe (e.g., Corsica, Brittany, the Basque Country, Catalonia, etc.). In general it could be argued that the stronger the European Union itself becomes, the more likely it is that culturally distinct regions which were previously integrated into centralising nation-states will attempt to reclaim some form of autonomy. These claims, like those of the regions in Britain, will no doubt be diverse, not contemporaneous and largely unrelated to one another. Each of them will require a tailor-made response. In all of these respects, including in the selection of legal and institutional measures, the British devolution process may be instructive.
3.4.2 Reform of the Legislature A further significant change in British constitutional law involves the House of Lords. This body has been historically both the upper legislative chamber and the highest court of the United Kingdom. It was noted above that the principle of the separation of powers belonged to the acknowledged principles of the common law. The role of the House of Lords may, however, seem to contradict that assertion. While some contradiction can be acknowledged, this is arguably more formal than real since the composition of the House of Lords for legislative purposes is largely different from its composition – and size – when sitting as a court. Admittedly though, the Lord Chancellor has been the highest judge of the United Kingdom (as president of the House of Lords as a court), the president of the House of Lords as the legislative upper house, and a member of the executive government responsible for justice issues. As part of the comprehensive reform of the House of Lords these (somewhat formal) infringements of the separation principle will be removed. A new high court, the Supreme Court, will be established. The House of Lords as a legislature has already been partly reformed by removing the automatic right of peers (certain members of the aristocracy) to sit as members of the House and substituting this with a right to elect certain representatives from among their number. Coupled with this there are proposals for the appointment of other members of the House. The method of appointment has still not been conclusively settled but the proposals have been strongly criticised for not involving any form of popular election. It could be argued that the Westminster parliament in fact has no need of an upper chamber, being in essence a unitary state. Against this, however, could be asserted that there are many examples of unitary states with upper houses, and that in any case the devolutionary process may gradually generate such federal elements that an upper house, comparable with the Bundesrat or the US or Australian Senates, would fill an important institutional gap. The latter aspect is, however, not yet far enough advanced to require a second chamber for specifically this purpose. The question is still, therefore, how the reformed House of Lords should be constituted and what its functions should be. Although this question has no direct parallel with the EU, some commonalities arise when thinking about the issue of democratic legitimacy in relation to legislative organs of the EU. Here both the eventual successes – and failures – of the reform of the United Kingdom parliament may be instructive for the further development of European institutions and democracy.
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3.5 Globalisation or Europeanisation of Law There are increasing pressures both on global and regional levels towards the harmonisation or even unification of law (concerning the need for harmonisation see, e.g., Lord Bingham 2000: 29; as to some aspects of current European developments, see the chapters by Thiele, Martiny and Joerden respectively in this volume). To the extent that such steps are necessary or desirable (these questions cannot be addressed here), the issue arises how one should proceed to achieve them. Some observers formulate the process as a revival of the jus commune (‘common law’) in Europe (see, e.g., Delmas-Marty 2002, x ff. and references included there) or the creation of a new common law for Europe (see Lord Bingham 2000, and references included there; see also von Bar 2000, 67-68). The genesis and development of the (English) common law, although not the same as the continental tradition of the jus commune, might provide instructive lessons for this process. The context and framework of legal and political power in the EU is, of course, entirely different. There is no central authority in Europe, corresponding to William I, capable of ordaining the gathering of legal rules as was done in England in the 11th and 12th centuries. Perhaps, though, the academic and other commissions undertaking tasks of legal harmonisation have a function comparable with that of King William’s commissioners. There is also no central, comprehensively competent, unifying court in Europe capable of establishing and maintaining a large measure of consistency within the diverse legal jurisdictions. Such unifying courts have existed and sometimes still exist within common law jurisdictions; the king’s judges in Britain under William I and his successors; later, the Privy Council as the highest court of appeal of the former British colonies, providing a measure of uniformity across the British Commonwealth (in effect the same judicial body as the House of Lords); or the US Supreme Court, the Supreme Court of Canada or the High Court of Australia for each of their diverse federal jurisdictions. The closest approach to any such judicial centralisation in Europe is to be seen in the European Court of Justice and in the European Court of Human Rights but, despite their great importance, they do not have the comprehensive jurisdiction of the common law courts just referred to. Within their competence, however, their harmonising role is clearly significant. Despite these significant institutional differences, the establishment and development of the common law may prove instructive. Reference has already been made to the relatively open methodology among common lawyers of referring to legal principles, rules and approaches as found not only in other common law jurisdictions but also in civilian jurisdictions. This occurs on the level of both judicial and parliamentary law-making and is certainly part of the experience of students in the law schools. Arguably this is made easier because of shared legal, cultural and linguistic roots. Nevertheless, among jurisdictions of the civilian tradition there exist significant commonalities which ought to allow a similar sharing of legal experience and the potential convergence of legal substance. This assumes, of course, receptiveness towards possibilities emanating from other systems. Some study of approaches taken in common law countries may be instructive here, e.g., the concept of persuasive precedent which is reciprocally acknowledged by all the highest common law courts, even though the decisions of superior courts in other jurisdictions are not always followed (see, e.g., Amalgamated Society of Engineers v Adelaide Steamship Co Ltd (1920) 28 CLR 129 (148), High Court (Australia)). Further, the contribution of the common law lies and will continue to lie ‘not in dogmatic analysis of the law but in [its] procedure, ad-
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vocacy, pragmatism, and preference for a properly understood notion of incrementalism’ (Markesinis 2000: 65). This must surely also be the route for the harmonisation of law in Europe. In other respects, the common law can be seen as being able to contribute to the overall development of European law in terms of the systematic location within it of legal responses to particular social problems and needs (v. Bar 2000: 77).
4
Conclusions
For students of European affairs, especially those coming from non-Anglo-Saxon backgrounds, exposure to the common law tradition might be expected to broaden horizons in a number of ways:
19
the approach to problem-solving and dispute resolution in the common law is often quite pragmatic, relying rather less on pre-determined, supposedly complete or comprehensive sets of rules and procedures than those typically found in civilian legal systems; the common law has been historically – and perhaps immanently through the central role played by judges – a decentralised form of law-making, arguably providing a structural barrier to excessive centralisation of power and resistance to authoritarian or totalitarian regimes; common law jurisdictions have displayed a substantial capacity to establish or adopt politico-legal standards and institutions essential to liberal, democratic government subject to the rule of law significantly earlier than most other legal systems and to maintain these without significant interruption often over very long periods; 19 in the practice of democratic traditions common law countries have often shown considerable interest in testing various institutional and political methodologies; for example, there is scarcely a system of democratic voting which has not been tried somewhere in the common law world; in some cases even within the one common law country this has been done successively, almost as a type of methodological laboratory (without, it ought to be noted, being compelled to do so by political disorder or other crisis); common law jurisdictions do not generally assume the existence of a ‘closed system’ of social control, for example that the members of a society at a given time can be comprehensively accounted for, for example through residents’ registers or similar methodologies,20 or through restrictive regulation of names;21
It is perhaps a curious phenomenon of common law democratic traditions that it is probably more common – in common law countries – but not universal to impose an obligation to vote on every member of the adult population. To that extent it might be argued that such jurisdictions are in fact illiberal, and yet there is scarcely any debate about or protest against the obligation. The experience in such places has shown that on (temporally) abolishing the legal obligation to vote, voter turnout drops to that typical of countries which habitually do not impose the obligation, but that at times where the obligation is imposed, voter turnout then exceeds 99%, even though the legal sanction for not voting is in fact trivial (a minimal fine). 20 The registration of residents in common law jurisdictions is in fact largely unknown. Specialised registration for very specific purposes does occur, e.g., for electoral purposes, or receipt of social security benefits. Here again, though, one observes the rather typical common law approach of purpose driven systems and structures, as distinct from regimes which seek (or at least pretend) comprehensiveness, achievable only at the cost of wasted administrative resources and restrictions on individual freedom.
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Gerard C. Rowe the legal-institutional ethos is generally relatively open-ended, allowing for considerable flexibility in the face of changing conditions; common law jurisdictions have generally generated and/or supported ‘modern’ systems of political economy, in many cases considerably earlier than has occurred in other legal regimes, and have continued to maintain and adapt these as needed; jurisprudential methodology in common law jurisdictions makes considerable use of interdisciplinary approaches to law-making and problem-solving; common law jurisdictions typically display a considerable capacity to generate and adopt innovative regulatory methodologies; the common law has displayed a highly eclectic approach to its own development through the centuries and continues to do so, arguably displaying a capacity which equips it particularly well to respond to the challenges of a highly – and unavoidably – pluralistic world in which borders have become increasingly transparent, populations increasingly mixed and challenges to the legal system and legal culture ever more diverse and unpredictable;22 and specific solutions within common law jurisdictions, for example in relation to constitutional change and regulatory methodology, may provide lessons in the face of particular problems emerging within Europe.
This paper has emphasised aspects which, in my view, allow the common law to make a positive contribution to ways of thinking about law and to legal responses to existing and future issues within Europe. Needless to say, the common law tradition does not provide perfect solutions to all problems and even where its solutions or approaches can be regarded as successful, they may not be the only successful options and in any case may not always be transportable to other contexts. Nevertheless, the common law tradition has to be regarded as one of the major features on the European legal and political landscape. No one concerned with mapping Europe and charting its future course should ignore it.
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21
E.g., the common law imposes virtually no restriction on the choice of a person’s name, nor does it impose particularly stringent standards or procedural requirements for changing a name. Strictly speaking, in most common law jurisdictions a person could change his or her name virtually on a daily basis without legal formality. 22 One could note here: The common law has not, it seems, ever tried particularly hard to predict how ambient circumstances might change or – more compellingly – to assume that no change would occur.
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Europäisches Privatrecht, insbesondere europäisches Vertragsrecht
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Europäisches Privatrecht, insbesondere europäisches Vertragsrecht
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Einführung
Die europäische Verfassung verspricht einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ sowie einen Binnenmarkt mit unverfälschtem Wettbewerb. Wieweit muss aber der europäische Verbraucher noch damit rechnen, im europäischen Ausland mit ihm fremden Gesetzen konfrontiert zu werden? Oder – umgekehrt – wieweit ist der Bürger im privaten Rechtsverkehr vor Nivellierung und Brüsseler Regelungseifer geschützt? Um dies zu beantworten, muss man zunächst den Gegenstand eingrenzen. Das Zivilrecht betrifft im Großen und Ganzen die Rechtsbeziehungen unter Privatpersonen, wie sie etwa im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt sind. Darunter fallen zum Beispiel Kauf- oder Kreditverträge. Privatrecht ist ein weiter gefasster Begriff. Er umschließt auch das Sonderprivatrecht wie das Handels-, Gesellschafts- oder Urheberrecht, also etwa die Haftung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder den Schutz geistigen Eigentums. Mit „Europa“ ist im Folgenden vor allem das der Europäischen Union (EU) gemeint (Geschichtliches dazu: Pechstein in diesem Band). Das Hauptaugenmerk gilt dem engeren Bereich des Zivilrechts, insbesondere dem europäischen Vertragsrecht. Dabei sollen vor allem folgende Fragen angesprochen werden: Wie ist die heutige Situation (2)? Welche europäischen Kompetenzen bestehen für das Privatrecht (3)? Was wurde bislang erreicht (4)? Welche Ansätze gibt es für eine Europäisierung des Privatrechts (5)? Was lässt die nähere Zukunft erwarten (6)?
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Die heutige Situation
2.1 Verschiedenheit und Ähnlichkeit der nationalen Rechte Ein umfassendes europäisches Privatrecht gibt es nicht. Nach wie vor dominiert das nationale Recht; dies gilt auch für das Vertragsrecht. Man findet es in Deutschland vor allem im BGB, in Frankreich im Code civil, in Großbritannien und Irland in Einzelgesetzen sowie den richterrechtlichen Regeln des common law (siehe dazu die Webseite „Europäisches Justizielles Netz für Zivil- und Handelssachen“ der Europäischen Kommission; zum common law im Allgemeinen: Rowe in diesem Band). Dementsprechend können durchaus unterschiedliche Ergebnisse eintreten. So liegt in der einen Rechtsordnung der Erfüllungsort beim Gläubiger (Italien, Niederlande), in der anderen beim Schuldner (Deutschland). Solange es diese nationalen Rechtsunterschiede gibt, benötigt man Regeln des Internationalen Privatrechts zur Bestimmung des anwendbaren (Sach-)Rechts (sog. Kollisionsregeln). Insofern besteht bereits ein gewisses Maß an Vereinheitlichung (Texte bei Jay-
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me/Hausmann 2004). Im Internationalen Vertragsrecht gilt das Römische Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht von 1980 („Rom I“; BGBl. 1986 II 809), in Deutschland umgesetzt in Art. 27 ff. des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB). Danach können die Schuldvertragsparteien beispielsweise deutsches oder französisches Recht wählen. Ein Verbraucher kann sich vielfach auch auf die Schutzvorschriften seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts berufen. Das Römische Übereinkommen soll in absehbarer Zeit in eine Verordnung (VO) umgewandelt werden (vgl. Heiderhoff 2005: 216 f.). Zuvor soll noch eine VO über außervertragliche Schuldverhältnisse („Rom II“) erlassen werden. Da Rechtsunterschiede ebenfalls im Verfahrensrecht bestehen, bedarf es auch hier der Koordinierung. Das Internationale Zivilverfahrensrecht regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte, die Anerkennung ausländischer Entscheidungen und die Durchführung des Verfahrens. Die Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung 44/2001 („Brüssel I“; ABl. EG 2001 L 12/1) ist ein im Ganzen höchst erfolgreiches Instrument für die Lösung von Zuständigkeitskonflikten und die Urteilsanerkennung in Zivil- und Handelssachen. Eine weitere VO hat das System auf Ehescheidung und elterliche Verantwortung ausgedehnt (VO 2201/2003 „Brüssel IIa“; ABl. EU 2003 L 338/1). Damit ist im europäischen Justizraum für viele Fragen klargestellt, wann die Gerichte der einzelnen Länder entscheiden und wann ausländische Entscheidungen anerkannt werden. Eine Reihe weiterer Verordnungen erleichtert die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung, so die Zustellung (ABl. EG 2000 L 160/37) und Beweisaufnahme (ABl. EG 2001 L 174/1), das Insolvenzverfahren (ABl. EG 2000 L 160/1), europäische Vollstreckungstitel (ABl. EU 2004 L 143/15) und künftig auch für Mahnverfahren (KOM (2005) 87 endgültig). Die einzelnen Rechtsordnungen weisen allerdings nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsame historische Wurzeln, vor allem wegen der Rezeption des römischen Rechts, haben in der Vergangenheit zu einem gewissen Bestand eines sog. ius commune geführt. Zwar haben die nationalen Kodifikationen wie das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811), der italienische Codice civile (1942) oder das deutsche BGB (1896) viel von dieser Gemeinsamkeit zerstört, gleichwohl werden auf dem Kontinent häufig die gleichen Begriffe und Gesetzgebungstechniken verwendet. Dies ist anders in den durch das richterrechtliche Präjudizienrecht des common law geprägten Jurisdiktionen wie Großbritannien und Irland. Auch dort, wo – wie in Belgien und Luxemburg – der französische Code civil von 1804 eingeführt worden ist, blieb später der nationale Gesetzgeber nicht untätig. Kurz: Ein nationales Privatrecht mit mehr oder weniger großen Rechtsunterschieden scheint eine unausweichliche Konsequenz des Nationalstaats zu sein. Dass es sich hier nicht um eine marginale Erscheinung handelt, macht die enge Verknüpfung des Privatrechts mit der jeweiligen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, unterschiedlichen Rechtstraditionen und Herangehensweisen immer wieder deutlich.
2.2 Begriff des Europäischen Privatrechts Im Zusammenhang mit der europäischen Integration entwickelt sich immer mehr ein europäisches Privatrecht. Einen verbindlichen Begriff des Europäischen Privatrechts gibt es freilich nicht. Man versteht darunter vielfach, was bereits aufgrund von Rechtssetzungsakten in der Europäischen Union auf gemeinschaftsrechtlicher Basis entstanden ist. Dies wird
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als Gemeinschaftsprivatrecht bezeichnet (Heiderhoff 2005: XI f.). Man spricht auch vom „acquis communautaire“, dem gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand (der sowohl Privatals auch öffentliches Recht mit einschließt). Häufig ist auch von einem „gemeineuropäischen Privatrecht“, von „common core“ (gemeinsamem Kern) oder „droit commun“ die Rede. Teilweise verwendet man auch den überkommenen Begriff des „ius commune“. Gemeinsame Prinzipien sind etwa auf dem Gebiet des Vertrags-, aber auch des Deliktsrechts aus den nationalen Rechten herausdestilliert worden (Riesenhuber 2003: Rn. 55 ff.). Es geht also nicht um das geltende Gemeinschaftsrecht in der Europäischen Union, sondern um Gemeinsamkeiten in den tatsächlich praktizierten nationalen Rechtsordnungen. In diesem Sinne besteht etwa ein gemeineuropäisches Deliktsrecht (Bar 1996, 1999). Insofern existiert ein durch wissenschaftliche Rechtsvergleichung erschließbarer, beträchtlicher „Vorrat an Lösungen“ (Zitelmann). Die Zusammenfassung der in den europäischen Privatrechtsordnungen geltenden Rechtssätze ist vor allem Ausdruck nichtlegislativer Rechtsvereinheitlichung (s. unten 5). Weitere Gemeinsamkeiten, welche nachfolgend ausgespart bleiben müssen, hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geschaffen, der die Europäische Menschenrechtskonvention auslegt (allgemein dazu: Thiele in diesem Band). Die Menschenrechte helfen, etwa die Diskriminierung nichtehelicher Kinder und nichtehelicher Väter zu überwinden. So hat z.B. Belgien im Anschluss an die Entscheidung Marckx v. Belgien (EGMR 13.6.1979, EuGRZ 1979, 454) sein Nichtehelichenrecht reformiert.
2.3 Europäisches Primär- und Sekundärrecht Die Europäische Gemeinschaft schafft vereinheitlichtes Recht durch ihr Primärrecht, den EG-Vertrag (EG), den EU-Vertrag und das Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien). Nur für wenige Materien findet sich im EG-Vertrag selbst einheitliches Privatrecht, so für grenzüberschreitende Wettbewerbsbeschränkungen (Art. 81 ff. EG), etwa verbotene Preisabsprachen oder Gebietsaufteilungen. Hier ordnet das Gemeinschaftsrecht Nichtigkeit an. Im Übrigen enthält der EG-Vertrag zwar einzelne Gesetzgebungsermächtigungen, aber keine umfassende Kompetenz für das Privatrecht. Gleichwohl gewinnt das Gemeinschaftsrecht auch für das Privatrecht immer mehr an Bedeutung (Heiderhoff 2005: 1 ff.). Schwierigkeiten macht dabei die Mehrstufigkeit des Gemeinschaftsrechts selbst sowie sein Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen. Auch der nationale Gesetzgeber ist an das sog. primäre Gemeinschaftsrecht des EGVertrages gebunden. Er muss die Grundfreiheiten des EG-Vertrages (Warenverkehrsfreiheit, Art. 28 ff. EG; Dienstleistungsfreiheit, Art. 49 ff. EG; Niederlassungsfreiheit, Art. 43 ff. EG; Freizügigkeit, Art. 39 ff. EG; Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, Art. 56 ff. EG) beachten. Beschränkungen sind nur noch in sehr begrenztem und gerichtlich nachprüfbarem Umfang zulässig. Nationale Normen können daher aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundfreiheiten unanwendbar sein (Heiderhoff 2005: 12 ff.). Insofern findet bereits durch die Beseitigung von Beschränkungen eine „negative“ Rechtsangleichung durch die Grundfreiheiten statt. Hinzu kommt die gegenseitige Anerkennung etwa von Produkt- und Qualitätsstandards bis hin zum sog. Herkunftslandprinzip. Abweichende Regelungen des Herkunftslandes sind hinzunehmen. Waren, die in einem
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EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden sind, dürfen auch in allen andern EUStaaten verkauft werden. Beispielsweise wurde die Einfuhr des französischen Likörs Cassis de Dijon (20 % Alkoholgehalt) verboten, weil nach deutschem Recht ein Mindestgehalt von 32 % vorgeschrieben war. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sah im Einfuhrverbot der Bundesmonopolverwaltung einen Verstoß gegen Art. 28 (ex-Art. 30) EG. Hemmnisse für den Warenverkehr müssen nur dann hingenommen werden, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen, etwa der Gesundheit, gerecht zu werden. Es genügte, dass der Likör in Frankreich rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden war (EuGH 20.2.1979, Rs 120/78 (REWE/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, S. 649 ff.). Auch Diskriminierungsverbote, insbesondere im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit, sind zu beachten (Art. 12 EG). Dieser Ansatzpunkt ist freilich für das Privatrecht nur von begrenzter Bedeutung. Das Gemeinschaftsrecht steht der Unterschiedlichkeit nationaler Privatrechte grundsätzlich nicht entgegen, wie der EuGH etwa im Fall Alsthom Atlantique entschieden hat. Hier hatte die französische Gesellschaft Alsthom von Sulzer Dieselmotoren gekauft und eingebaut, die mangelhaft waren. Die niederländische Käuferin verlangte daraufhin Ersatz für ihre Reparaturkosten. Alsthom hielt sich an Sulzer. Nach französischem Kaufrecht kann sich nämlich der Verkäufer von seiner Haftung für verdeckte Sachmängel nicht freizeichnen, wenn er sie kennt. Beim gewerblichen Verkäufer wird letzteres wegen seiner Sachkunde vermutet. Liegt in dieser strengen Verkäuferhaftung nicht eine den freien Warenverkehr behindernde Ausfuhrbeschränkung (Art. 29 (ex-Art. 34) EG)? Eine Einschränkung der Exportfreiheit sah der EuGH in dieser Regel nicht. Zum einen trifft die Haftung alle französischem Recht unterliegende Verkäufer. Zum anderen ist aufgrund der Parteiautonomie die Haftung wegen der möglichen Wahl einer anderen Rechtsordnung dispositiv, also nicht zwingend (EuGH 24.1.1991, Rs C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, I-107/124; dazu Riesenhuber 2003: Rn. 92 ff.).
2.4 Verordnungen Die europäische VO hat Direktwirkung, bedarf also keiner Umsetzung (Art. 249 Abs. 2 EG) und eignet sich besonders für Gebiete, auf denen eine neue, nicht so sehr mit dem nationalen Recht verzahnte Ordnung geschaffen wird. Verordnungen der Gemeinschaft – etwa zur Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer – spielen im Privatrecht bislang nur eine marginale Rolle und greifen lediglich vereinzelt ein. Vereinheitlicht wurde etwa das europäische Markenrecht (VO über die Gemeinschaftsmarke, 1994). Andere Beispiele betreffen die Europäische Aktiengesellschaft (2001) oder die (nicht sehr verbreitete) Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (1985). Im Übrigen geht es meist nur um Einzelfragen wie Entschädigungsansprüche im Zusammenhang mit Flugreisen.
2.5 Richtlinien Hauptinstrument der Privatrechtsangleichung ist die Richtlinie, welche der Umsetzung (Transformation) durch den nationalen Gesetzgeber bedarf (Art. 249 Abs. 3 EG). Nur das Ziel ist vorgegeben; die Wahl der Form und der Mittel ist hingegen dem innerstaatlichen
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Gesetzgeber überlassen (Heiderhoff 2005: 33 ff.). Beispielsweise ist der Verbrauchsgüterkauf in Deutschland in das BGB integriert worden (§§ 474 ff.), während in Polen ein eigenes Gesetz erlassen wurde. Bedeutsam sind vor allem die verbraucherrechtlichen Richtlinien, d.h. Sondervorschriften für Waren oder Dienstleistungen, welche für private Zwecke des Kunden bestimmt sind (Heiderhoff 2005: 81 ff.). Hier steht man einer ganzen Phalanx von Regelungen gegenüber. Sie betreffen etwa die Produkthaftung (1985), Haustürgeschäfte (1985), den Verbraucherkredit (1986), Pauschalreisen (1990), missbräuchliche Klauseln (1993), Teilzeitwohnrechte (Time sharing; 1994), Fernabsatzverträge (1997), Verbrauchsgüterkauf und -garantien (1998), den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen (1999), den Verzug im Geschäftsverkehr (2000), den elektronischen Geschäftsverkehr (e-commerce; 2000) und grenzüberschreitende Banküberweisungen (1997) (Liste der Richtlinien bei Riesenhuber 2003: XIX ff. Texte bei Magnus 2002; Schulze/Zimmermann 2005). In Deutschland wurde ein Großteil des Inhalts in das BGB eingefügt. In einigen Fällen besteht nach wie vor ein Sondergesetz wie bei der Produkthaftung. Das Richtlinienrecht stellt bereits heute einen erheblichen Teil des europäischen Privatrechts dar; freilich handelt es sich um keine systematische Kodifikation auf den Kerngebieten des Zivilrechts. Die Richtlinie bewirkt zudem nur eine Rechtsangleichung, nicht eine vollständige Vereinheitlichung der nationalen Rechte. Außerdem erfolgt die nationale Umsetzung häufig verspätet. Manchmal ist auch der nationale Gesetzgeber unwillig, den Brüsseler Vorgaben zu folgen. So bedurfte es mehrerer Verfahren vor dem EuGH, bis der deutsche Gesetzgeber die Schadenersatzsanktion bei der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts der Richtlinie von 1976 (ABl. EG 1976 L 30/4) anpasste (vgl. EuGH 10.4.1984, Rs 14/83 (von Colson/Kamann), Slg. 1984, 1891 = NJW 1984, 2021). Zuvor wurde nur das sog. negative Interesse ersetzt, also letztlich die Portokosten für eine erfolglos abgeschickte Bewerbung (s. nunmehr § 611a BGB). Nur in seltenen Ausnahmefällen kann eine Richtlinie nach Verstreichen der Umsetzungsfrist eine direkte Anwendung beanspruchen. Im Allgemeinen kommt unter Privaten aber keine „horizontale“ Direktwirkung in Betracht. Der Verbraucher kann sich daher gegenüber dem Unternehmer nicht auf eine nicht umgesetzte Richtlinie berufen. So entfaltete die in Italien noch nicht umgesetzte Richtlinie über Haustürgeschäfte (ABl. EG 1985 L 372/31) für einen Fernunterrichtsvertrag keine horizontale Direktwirkung (EuGH 14.7.1994, Rs C-91/92 (Dori/Recreb), Slg. 1994, I-3325 = EuZW 1994, 498). Die verzögerte Umsetzung kann aber zu Schadenersatzansprüchen gegen den säumigen Mitgliedstaat führen. Dies wurde erstmals anlässlich der Nichtumsetzung der Richtlinie über den Schutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. EG 1980 L 283/23) in Italien entschieden (EuGH 19.11.1991, Rs C-6/90 u. 9190 (Francovich/Italienische Republik), Slg. 1991, I-5357 = NJW 1992, 165). Im Ergebnis verliert daher zwar der von der Richtlinie Begünstigte unter Umständen einen Prozess. Die Staatshaftung soll ihn dann aber wirtschaftlich so stellen, als ob die Umsetzung ordnungsgemäß und rechtzeitig erfolgt wäre.
2.6 Richtlinienkonforme Auslegung Wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts muss die Auslegung des nationalen Rechts gemeinschaftsrechtskonform erfolgen (Franzen 1999: 291 ff.). Das aufgrund einer Richtli-
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nie erlassene Recht ist zwar nationales Recht, es muss jedoch richtlinienkonform ausgelegt werden. Der deutsche Rechtsanwender darf sich daher nicht nur auf den Wortlaut der Bestimmung stützen, wie er sie etwa im BGB findet, sondern muss auch Zweck und Wortlaut der Richtlinie berücksichtigen. Das Gebot hierzu folgt nicht nur aus Art. 249 Abs. 3 EG, sondern auch aus der Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten, Art. 10 EG (Heiderhoff 2005: 51). Obgleich Zweifel über die Reichweite des angeglichenen Rechts häufig sind, kann von einer gemeinschaftsrechtlich und rechtsvergleichend orientierten einheitlichen Auslegung oft nur in der Theorie die Rede sein. Einmal in die Welt gesetzt, führen die umgesetzten Richtlinien vielfach nur noch eine nationale Existenz. Das Fallrecht des EuGH schafft zwar ein beträchtliches Maß an Einheitlichkeit, hat jedoch nur begrenzte Wirkung. Der Gerichtshof entscheidet im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EG) und Vorlageverfahren (Art. 234 EG) nur ad hoc über einzelne Details. Die Konsistenz seiner Rechtsprechung und ihre Implementierung in das nationale Recht schaffen neue Probleme (näher Heiderhoff 2005: 57 ff.).
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Europäische Kompetenzen
Zu den Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft gehört die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes, d.h. eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 2 Abs. 1 lit. c EG). Zur Erreichung dieses Ziels sind alle marktrelevanten Schranken zwischen den Mitgliedstaaten zu eliminieren; ferner ist die notwendige Angleichung der Wettbewerbsbedingungen anzustreben (Marktintegration). Hierzu gehören auch und gerade rechtliche Maßnahmen. Die Gemeinschaft kann allerdings nur dort tätig werden, wo sie eine entsprechende Zuständigkeit besitzt. Die mehrfach geänderte Zuständigkeitsregelung des EG-Vertrags ist nicht nur nach Materien verschieden, sondern auch wegen ihrer unterschiedlichen Verfahren und Voraussetzungen kompliziert. Sie ist aber von entscheidender Bedeutung für das bestehende und das künftige Sekundärrecht. Für das Verbraucherrecht besteht eine besondere Zuständigkeit im Mitentscheidungsverfahren (Art. 153 EG). Eine eigene Zuständigkeit ist auch für Maßnahmen gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorhanden (Art. 148 EG). Die Diskriminierung aus anderen Gründen (z.B. Rasse), auf welche die neuen Gleichbehandlungsrichtlinien (Rahmenrichtlinie, ABl. EG 2000 L 303/16; Antirassismusrichtlinie, ABl. EG 2000 L 180/22) gestützt wurden, ist gesondert geregelt (Art. 13 EG). Eine besondere Ermächtigung für das Privatrecht insgesamt fehlt jedoch. Als Kompetenz kommt einmal die „große Generalklausel“ des Art. 94 (ex-Art. 100) EG in Betracht. Hier, wo es um unmittelbare Auswirkungen auf die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes geht, erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig Richtlinien für die Angleichung. Diese Kompetenz wurde früher des Öfteren für privatrechtliche Vorhaben genutzt. Die „kleine“ Generalklausel des Art. 95 (ex-Art. 100a) EG, welche zur Rechtsangleichung ermächtigt, soweit es um die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes geht, ist vielfach die Rechtsgrundlage für privatrechtliche Richtlinien. Freilich muss die Rechtsangleichung auf die Verbesserung des Binnenmarktes, den Abbau von Handelshemmnissen und die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen abzielen. Die Vorschrift
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ist auch für eine weitergehende Angleichung des Vertragsrechts in der Diskussion (näher Riesenhuber 2003: Rn. 145 ff.) und wird teilweise als geeignete Rechtsgrundlage angesehen (Heiderhoff 2005: 9 ff.). Einwände werden unter anderem auf das Subsidiaritätsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gestützt. Eine eigene Ermächtigung findet sich für die justizielle Zusammenarbeit in Art. 65 EG. Eine ganze Reihe von Verordnungen regelt inzwischen das Internationale Verfahrensrecht; andere werden für die Bestimmung des anwendbaren Rechts folgen. Die Kompetenzfrage ist vor allem für weitergehende legislative Maßnahmen von Bedeutung. Für die Herausbildung nicht bindender Prinzipien und die Systematisierung des bisherigen gemeinschaftlichen Bestandes ist sie dagegen von eher marginaler Bedeutung. Zumindest in der Vergangenheit sind zudem immer mehr und neue europäische Zuständigkeiten geschaffen worden.
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Bisher Erreichtes
4.1 Inhalt und Zweck der Verbraucherrechtsrichtlinien Erreicht wurde bislang ein beeindruckender Normenbestand, der das nationale Recht beeinflusst (dazu Gebauer/Wiedmann 2005). Als Beispiel seien einige Ergebnisse aus dem Verbraucherrecht, aber auch aus dem Gesellschafts- und Arbeitsrecht genannt. Hier handelt es sich um einen Bestandteil des schon oben erwähnten gemeinsamen europäischen Besitzstandes (acquis communautaire), den bei der letzten EU-Erweiterung auch die neuen Mitgliedstaaten übernommen haben. Die verbraucherrechtlichen Richtlinien kann man nach ihrem Inhalt und Zweck gliedern (Heiderhoff 2005: 127 ff.). Eine Reihe von ihnen betrifft den Vertragsschluss. Prototyp hierfür ist nach wie vor der Verbraucherschutz „im Fall von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen“ nach der Richtlinie von 1985 (siehe § 312 BGB). In bestimmten Situationen wie dem nicht bestellten Vertreterbesuch, dem Ansprechen auf der Straße sowie bei der „Kaffeefahrt“ erhält der Verbraucher ein Widerrufsrecht, um sich einseitig und ohne Angabe von Gründen vom Vertrag lösen zu können. Bei diesen Haustürgeschäften wird der Grundsatz der vertraglichen Bindung durchbrochen. Andere Richtlinien konzentrieren sich auf Vertragsinhalt und -abwicklung. So enthält die Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln (ABl. EG 1993 L 95/29) eine Liste von den Verbrauchern benachteiligenden Klauseln (vgl. § 310 BGB). Sie verhindert beispielsweise einen zu weit gehenden Haftungsausschluss des Unternehmers und schränkt die einseitige Abänderung von Vertragsbedingungen ein. Hier wird im Hinblick auf die schwächere Position des Verbrauchers die Freiheit zur Bestimmung des Vertragsinhalts beschränkt. Eine weitere Gruppe von Richtlinien beschäftigt sich mit bestimmten Vertragstypen (Heiderhoff 2005: 164 ff.). Solche „sektoralen“ Regelungen definieren vor allem die Rechte und Pflichten der Parteien wie bei Teilzeitwohnrechten in Immobilien (Timesharing, siehe §§ 481 ff. BGB), teils stärken und präzisieren sie auch nur die Rechte des Verbrauchers auf herkömmlichen Gebieten wie beim Konsumentenkredit (vgl. §§ 490 ff., 506 BGB) und beim Verbraucherkauf (siehe §§ 434 ff., 474 ff. BGB). Geregelt werden die notwendigen Informationen bei Vertragsschluss, aber auch die Leistungsstörungen und die Abwicklung.
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4.2 Prinzipien des Gemeinschaftsprivatrechts Des Öfteren wird das Gemeinschaftsprivatrecht auf einige allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgeführt. Genannt werden insbesondere die Vertragsfreiheit, die Bindungswirkung des Vertrages, das Informationsprinzip und das Transparenzgebot (Formvorschriften, Klarheit und Verständlichkeit), die Gleichbehandlung (Nichtdiskriminierung), der Schutz berechtigter Erwartungen (insbes. Verbrauchervertrauen und -erwartungen), umfassender Schadenersatz, das Verbot des Rechtsmissbrauchs sowie Treu und Glauben (Heiderhoff 2005: 94 ff.). Bei einer solchen Systematisierung ist zu bedenken, dass das europäische Vertragsrecht die nationalen Rechtsordnungen ergänzt, also eine Gesamtschau notwendig ist. So wird insbesondere der Grundsatz der Vertragsfreiheit der nationalen Rechtsordnungen vorausgesetzt. Inhaltlich statuieren die Richtlinien vielfach Informationspflichten des Unternehmers. Er hat den Verbraucher über wesentliche Umstände in einer bestimmten Form zu unterrichten. Dem Verbraucher wird zudem für viele Verträge und Situationen ein Widerrufsrecht eingeräumt, mit dem er sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in Deutschland zwei Wochen, § 355 BGB) einseitig vom Vertrag lösen kann. Preis des Verbraucherschutzes ist vielfach die Einschränkung der Vertragsfreiheit, die nicht nur als Gestaltungsmöglichkeit zweier „formal“ als gleichwertig angesehener Parteien gewährt wird. Vielmehr findet eine „Materialisierung“ statt, indem nach der tatsächlichen Verhandlungsmacht und Informiertheit der Parteien gefragt wird (dazu Riesenhuber 2003: Rn. 889 ff.). Nahezu unbeschränkte Vertragsfreiheit, wie sie noch dem ursprünglichen liberalen Sozialmodell des BGB zugrunde lag, wird im Massengeschäft tendenziell zu Lasten des Verbrauchers ausgeübt (Reich/Micklitz 2003). Das Verbraucherrecht ist aber auch nicht Selbstzweck; effektiver und angeglichener Verbraucherschutz sowie mehr Transparenz sollen es dem Verbraucher ermöglichen, auch Leistungen aus anderen Mitgliedstaaten in Anspruch zu nehmen und damit zugleich den Binnenmarkt zu verwirklichen. Gleichwohl wird des Öfteren kritisiert, das Europäische Vertragsrecht sei unausgewogen; es trage wirtschaftlichen Bedürfnissen und der Privatautonomie nicht genügend Rechnung (vgl. Riesenhuber 2003: Rn. 910 ff.).
4.3 Europäisches Arbeitsrecht Das Europäische Arbeitsrecht geht von der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus und sichert diese im Primär- und Sekundärrecht ab. Zunehmend betrifft es auch privatrechtliche Inhalte und das Arbeitnehmerschutzrecht (Texte bei Krimphove 2001, Neumann 2003, Schiek 2005). Die Arbeitssicherheit ist Gegenstand der Richtlinie über die Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (ABl. EG 1998 L 131/11). Andere Richtlinien betreffen Einzelfragen des Arbeitsentgelts. Erlassen wurde auch eine Regelung für europäische Betriebsräte im Rahmen gemeinschaftsweit operierender Unternehmen und Unternehmensgruppen (1994). Genannt seien ferner die Arbeitnehmerrechte beim Betriebsübergang (1977; vgl. § 613a BGB). Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Antidiskriminierungsrecht, das die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verwirklichen soll, etwa durch die Richtlinie zur Lohngleichheit (ABl. EG 1975 L 45/19; vgl. § 612 Abs. 3 BGB). Die Entsendung von Arbeitnehmern bei der Erbringung von Dienstleistungen betrifft eine Richtlinie von 1996
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(ABl. EG 1997 L 18/1), welche die Mindestrechte am Arbeitsort sichern soll (vgl. das Arbeitnehmer-Entsendegesetz von 1996).
4.4 Europäisches Gesellschaftsrecht Ferner sind weite Teile des Gesellschaftsrechts, das in Art. 44 Abs. 2 lit. g EG ausdrücklich genannt wird, angeglichen worden (Grundmann 2004; Schöne 2005). Dementsprechend ist eine Fülle von Richtlinien erlassen worden, welche einerseits Wettbewerbsverzerrungen beseitigen, aber auch dem Schutz von Gesellschaftern, Aktionären und Dritten dienen. Erfasst wurden insbesondere Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Hinzu kommt die Schaffung europäischer Gesellschaftsformen durch eine VO über die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV; 1985) und die Europäische Gesellschaft (Societas Europaea; 2001). Für Diskussionsstoff hat auch die Entwicklung des Europäischen Internationalen Gesellschaftsrechts gesorgt. Ein Beispiel hierfür ist die sog. Überseering-Entscheidung, die eine Sitzverlegung betrifft (EuGH 5.11.2002, C208/00, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614). Eine Klage der nach niederländischem Recht gegründeten „Überseering Besloten Vennootschap“ (GmbH) wurde in Deutschland abgewiesen, da ihr die Rechts- und Parteifähigkeit fehlte. Letztere beurteile sich ausschließlich nach deutschem Recht. Zwei in Düsseldorf wohnende Deutsche hatten nämlich die Gesellschaftsanteile erworben, so dass der tatsächliche Verwaltungssitz nunmehr in Deutschland lag, wo aber keine GmbH gegründet worden war. Der EuGH entschied, wegen der Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG) sei die in einem Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft auch in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen. Der Bundesgerichtshof gab daraufhin die traditionelle deutsche Anknüpfung an den faktischen Gesellschaftssitz auf; Rechts- und Parteifähigkeit der niederländischen Gesellschaft wurden anerkannt (BGH 13.3.2003, NJW 2003, 1461). Wieweit darüber hinausgehend künftig das Gesellschaftsstatut an das Gründungsrecht anzuknüpfen ist, wird noch diskutiert.
4.5 Technische und wirtschaftliche Entwicklung Erhebliche Teile des Versicherungsrechts einschließlich des Kollisionsrechts der Versicherungsverträge wurden bereits angeglichen. Eine Angleichung gab es etwa auch für Ausgleichsansprüche der Handelsvertreter (1986; vgl. § 89b HGB) und – in bescheidenem Umfang – ebenfalls im Wettbewerbsrecht für die irreführende und die vergleichende Werbung (1984, 1997; vgl. §§ 5, 6 UWG). Für die Möglichkeit, neuen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sogleich gemeinschaftsweit Rechnung zu tragen, sind zahlreiche Richtlinien im Urheberrecht, etwa zum Schutz von Datenbanken (1996; vgl. §§ 87a ff. UrhG), von Computerprogrammen (1991; §§ 69a ff. UrhG) und Software (Entwurf 2005) gute Beispiele. Auch die Richtlinien über die elektronische Signatur (ABl. EG 2000 L 13/12) und den elektronischen Handel (e-commerce; ABl. EG 2000 L 178/1) gehören in diesen Zusammenhang. Hier geht es zum einen um klassische Fragen des Vertragsrechts, zum anderen aber auch um Aufsichtsrecht.
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Dieter Martiny Ansätze der Europäisierung
Das Gemeinschaftsprivatrecht versucht im Allgemeinen fortschrittliche Lösungen zu entwickeln, welche aber noch Akzeptanz in den Mitgliedstaaten finden müssen. Die Beschränkung auf eine Mindestharmonisierung, welche von den Mitgliedstaaten ergänzt werden kann, ermöglicht Kompromisse. Die Europäisierung erschöpft sich aber nicht in der Frage nach Kompetenzen, Gesetzgebungstechnik, Auslegung und einzelnen Inhalten. Gesetze dürfen nicht nur toter Buchstabe bleiben, sie müssen mit Leben erfüllt und angewendet werden. Jedenfalls auf längere Sicht ist ohne klare systematische Strukturen und Begriffe wenig zu erreichen. Neben den Inhalten spielen daher Methodenfragen eine erhebliche Rolle (Langenbucher 2005; Tietze 2005). Dabei geht es zum einen um rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Ansätze, sodann aber vor allem um das Vorgehen bei der Rechtsangleichung. Der rechtsgeschichtliche Ansatz ist deswegen von Bedeutung, weil als Folge der Rezeption des römischen Rechts seine Lösungen, insbesondere in der Form eines europäischen ius commune als gemeinsame Wurzel und auch als Verständigungsbasis dienen können (Zimmermann 1992: 8 ff.). Ohne der Vielfalt von Stimmen im europäischen Meinungskonzert Gewalt anzutun, kann man jedenfalls im Ansatz drei Denkschulen oder besser Richtungen unterscheiden. Zu nennen ist eine abwartende oder ablehnende Haltung, ferner ein evolutionär-wissenschaftlicher und schließlich ein legislatorischer bzw. kodifikatorischer Ansatz (dazu Martiny 1999: 6 ff.).
5.1 Ablehnend-abwartender Ansatz Die zuerst genannte, ablehnend-abwartende Richtung hält die Entwicklung eines einheitlichen Zivilrechts und erst recht eines europäischen Zivilgesetzbuches für zu komplex, für übereilt, teils auch für wirtschaftlich nicht notwendig, wenn nicht gar für schädlich. Sie stützt sich auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte der zu verschiedenen Rechtsfamilien gehörenden Rechtsordnungen (hierzu Zweigert/Kötz 1996: 73 ff.). Man unterscheidet vor allem das fallrechtsorientierte common law (Vereinigtes Königreich, Irland) und das kodifikationsgeneigte und mehr oder weniger römisch-rechtlich geprägte civil law auf dem Kontinent. „Civil and commercial matters“ werden nicht gleich aufgefasst. Es fehlt an einer einheitlichen Rechtsterminologie, es bestehen unterschiedliche nationale Traditionen. Eine Vereinheitlichung ist für die Europa-Skeptiker häufig auch unvereinbar mit der kulturellen Vielfalt Europas (so insbes. Legrand 1997: 44 ff.). Allerdings ist inzwischen nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch das Rechtsleben längst von den europäischen und weltweiten Veränderungen ergriffen worden. Den wirtschaftlichen Wettbewerb durch die Ausnutzung nationaler Rechtsunterschiede stimulieren zu wollen, scheint lediglich auf Randgebieten hinnehmbar zu sein. Und ein Wettbewerb der Rechtsordnungen (dazu umfassend Kieninger 2002) untereinander scheint nicht nur wegen des drohenden „race to the bottom“ ein fragwürdiges Stimulans; bereits die Informations- und Beratungskosten sind erheblich. Namentlich das Privatrecht hat auch marktkonstituierende Wirkungen. Rechtsunterschiede im Binnenmarkt sind daher in erster Linie bereits die Transaktionskosten erhöhende Faktoren, tendenzielle Wettbewerbsverzerrungen und Barrieren. Wie weit überkommene Überzeugungen und Verhaltensweisen zivilrechtli-
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chen Erneuerungen entgegenstehen, muss jeweils für die konkrete Einzelfrage untersucht werden. Auch das geradezu babylonische Sprachengewirr Europas, welches einerseits kulturellen Reichtum sichert, auf der anderen Seite aber erhebliche Mühen und Kosten verursacht, scheint kein überzeugendes Gegenargument zu sein (vgl. Martiny 1998a: 227 ff.). Mit zunehmender Vereinheitlichung wird es trotz mancher Unschärfen einfacher, sich auch über die Grenzen der nationalen Sprachen und Terminologien hinaus zu verständigen und die notwendigen Begriffe zu entwickeln.
5.2 Evolutionär-wissenschaftlicher Ansatz Die Anhänger des evolutionär-wissenschaftlichen Ansatzes erkennen durchaus an, dass etwas geschehen muss, geben aber einer Europäisierung des Rechtslebens und der Rechtswissenschaft Vorrang vor gesetzgeberischen Maßnahmen. Nicht eine von oben dekretierte Vereinheitlichung, sondern eine Entwicklung von unten ist notwendig (so etwa Markesinis 1997: 519 ff.). Zuerst soll die Basis geschaffen werden, ehe an eine förmliche Vereinheitlichung zu denken ist. Zumindest in der Forschung kann man von einer europäischen Entwicklung sprechen. Eine kaum mehr zu überblickende Anzahl wissenschaftlicher Vereinigungen und Forschergruppen beschäftigt sich inzwischen mit dem europäischen Privatrecht, vor allem dem allgemeinen Schuldvertragsrecht (Überblicke bei Wurmnest 2003: 714 ff.; Heiderhoff 2005: 220 ff.). Aber auch einzelne Vertragstypen wie der Versicherungsvertrag, die außervertragliche Haftung sowie Trust und Treuhand werden untersucht. Hier geht es zunächst einmal um die Ermittlung der Lösungen in den einzelnen Rechtsordnungen mit den Methoden der sog. funktionalen Rechtsvergleichung (dazu Zweigert/Kötz 1996: 33 ff.). Hierzu liegt eine Fülle von Ergebnissen vor. Realistisch betrachtet kann aber heute wohl kaum jemand noch die Rechtsentwicklung in allen Staaten der Europäischen Union überblicken. Zunächst einmal den gemeinsamen Kern der Rechtsordnungen herauszuschälen, aber angesichts der Unterschiede und des Detailreichtums auch zu werten und nach der besten Lösung zu suchen (better law approach), stellt methodisch etwas Neues für Europa dar. Als Vorbild dienen die US-amerikanischen Restatements of the law des American Law Institute. In ihnen werden die einzelnen Rechtsgebiete „restated“. Sie fassen die in den Einzelstaaten geltenden Regeln zusammen und machen die Gemeinsamkeiten und Abweichungen des jeweiligen Fallrechts deutlich. Derartige Prinzipien sind zwar keine Rechtsquelle, können aber als Hilfsmittel für die europäische und die nationale Privatrechtsgesetzgebung und deren Auslegung dienen. Solche Sammlungen sind vor allem im Schuldrecht entstanden (European Group on Tort Law 2005 sowie unten 6.1). Neuerdings sind ferner erste Prinzipien für die Ehescheidung und den nachehelichen Unterhalt vorgestellt worden. Auch diese versuchen die erkennbare Tendenz der Rechtsentwicklung zu erfassen und wollen dem nationalen Gesetzgeber Anregungen geben (siehe Boele-Woelki u.a. 2004). Ein wirklich europäisches Privatrecht kann kaum ohne eine europäisch orientierte Ausbildung, ausreichende Fremdsprachenkenntnisse und rechtsvergleichendes Wissen gedeihen. Allerdings ist die Angleichung der Juristenausbildung ein langwieriger Prozess. Von einer wirklichen Angleichung der Inhalte und Ausbildungskonzepte ist man noch weit entfernt. Gleichwohl sind auch hier die Weichen in Richtung auf eine Europäisierung gestellt. Mehr und mehr Lehrbücher stellen den Stoff rechtsvergleichend dar (siehe nur
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Kötz/Flessner 1996; Ranieri 2003). Auch europäische case books mit Fällen zum Gemeinschaftsrecht und aus mehreren nationalen Rechtsordnungen entwickeln sich (siehe etwa Pintens/Vanwinckelen 2001; Schlachter 2005) sowie die „ius commune case books“ zu „contract law“ (2002), „tort law“ (1998, 2000) und „unjust enrichment“ (2003)). Außerdem ist – neben der zunehmenden Freiheit für juristische Dienstleistungen innerhalb der Gemeinschaft – die Zunahme des europäischen Rechtsstoffs ein Anreiz für eine Annäherung der nationalen Ausbildungen. Unter den Hindernissen einer Vereinheitlichung spielen rechtskulturelle Unterschiede, Einstellungen und Verhaltensweisen sicherlich eine erhebliche Rolle. Es ist aber schwierig, sie im Einzelnen festzumachen; Rechtskultur ist ein schillernder Begriff (vgl. Martiny 1998b: 421 ff.). Ferner sind auch solche Vorstellungen nicht unveränderlich. Letztlich ist nicht begründbar, warum ein Kontinent, welcher bereits vor Jahrhunderten in der Lage war, römisches Recht weitgehend zu rezipieren, nicht auch neu entwickelte europäische Lösungen einführen könnte.
5.3 Kodifikatorisch-legislatorischer Ansatz Der kodifikatorisch-legislatorische Ansatz verlangt weitere Maßnahmen in Richtung auf ein europäisches Privatrecht und befürwortet insbesondere bindende, einheitliche Zivilrechtsregeln. Zwar wurde in jüngerer Zeit in Europa eine neue Kodifikation, das niederländische Neue Bürgerliche Gesetzbuch, erarbeitet. Gleichwohl ist die hohe Zeit der nationalen Kodifikationen, die in naturrechtlicher und aufklärerischer Tradition eine möglichst lückenlose Aufzeichnung in höchster Vollendung anstrebten, sicherlich vorbei. Viel von dem ungebrochenen Glauben an die vorausschauende, gestaltende Kraft solcher Unternehmungen ist in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen. Das große Prinzip lässt sich häufig nur schwer mit einer genaueren Fallanalyse in Einklang bringen. Und schnelle technische und gesellschaftliche Entwicklungen lassen manches Kodifikationsergebnis von Anfang an als fragwürdig erscheinen. Trotzdem scheint eine systematische Zusammenfassung im europäischen Kontext geboten und auch machbar zu sein. Die Europäische Gemeinschaft wurde von Anfang an auch als Rechtsgemeinschaft konzipiert. Es ist kaum vorstellbar, dass der bisherige Integrationsstand ohne diese Prämisse erreicht worden wäre. Einzelne Vorarbeiten – wie im Vertragsrecht – lassen hoffen, dass sich auch auf anderen zivilrechtlichen Gebieten einheitliche Lösungen formulieren und umsetzen lassen. Gerade inhaltliche Kompromisse bedürfen einer klaren und verbindlichen Festlegung. Die sprachliche und rechtliche Vielfalt Europas verlangt daher nach einer klaren Vorgabe, die jedenfalls im Endstadium über ein bloßes „soft law“ hinausgehen muss. Dabei sollte selbstverständlich sein, dass sich Europa nicht von weitergehenden Entwicklungen im Weltmaßstab, wie etwa bezüglich des Einheitlichen UN-Kaufrechts, loskoppelt, sondern diesen auch in Zukunft folgt. Man könnte noch fragen, warum eine Vereinheitlichung auf kollisionsrechtlicher bzw. international-verfahrensrechtlicher Ebene nicht genügt (vgl. oben 2.1). Die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen ist inzwischen fest verankert worden (oben 3). Wenn es auch keinen Stillstand, sondern im Gegenteil neue Initiativen für das internationale Schuld-, Familien- und Erbrecht gibt, so sind doch die Grenzen einer solchen Vereinheitlichung sichtbar. Zum einen wird das Sachrecht selbst nicht erfasst. Die einheitliche Kollisionsnorm
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sichert nur, dass grundsätzlich in allen Staaten der Gemeinschaft auf einen bestimmten Sachverhalt das gleiche Recht angewendet wird. Die unterschiedlichen Systeme werden dabei lediglich überbrückt und koordiniert; die nicht unbeträchtlichen Spannungen und Unterschiede bleiben aber als solche unberührt. Zwar haben die heutigen Verordnungen die verhältnismäßig schwerfällige Vereinheitlichung durch Staatsverträge weitgehend abgelöst; gleichwohl kann man sich in dem feinmaschigen Netz der Regelungen oft nur schwer zurechtfinden. Ferner werden im Verbraucherrecht ohnehin unterschiedlich hohe nationale Schutzniveaus garantiert. Damit nimmt aber trotz aller Vereinheitlichungsbemühungen im Ergebnis die Komplexität zu. Zusammen mit der möglichen Anwendung fremden Rechts bedeutet dies vor allem für Verbraucher sowie kleine und mittlere Gewerbetreibende ein erhebliches Maß an Unsicherheit und eine potenzielle Benachteiligung. Der kollisionsrechtliche Weg allein bietet daher keine ausreichende Gewähr für dem Binnenmarkt angemessene Lösungen.
5.4 Entwicklung von Lösungen Bei der Suche nach einheitlichen Lösungen scheint es auf den ersten Blick zweckmäßig zu sein, sich an bestehenden nationalen Vorbildern zu orientieren. Bei der Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts geht ein Ansatz vor allem von einer Vergleichung der nationalen Rechte und der Weiterentwicklung ihrer Lösungen aus. Die damit verbundene ordnende Zusammenfassung der in den Ländern der Gemeinschaft anerkannten Grundsätze wirft allerdings Wertungsfragen auf. Es besteht weitgehend Konsens, dass es einer inhaltlich orientierten Bewertung bedarf, welche Lösung sich unter den heutigen europäischen Bedingungen am besten bewährt hat. Erst eine vorurteilsfreie Erörterung der einzelnen Modelle kann Aufschluss darüber geben, wo im Einzelfall an Bestehendes angeknüpft werden kann und wo ganz neue Wege beschritten werden müssen. Eine solche Sammlung und Analyse benötigt Zeit. Sie darf allerdings nicht so zeitraubend sein, dass sie ständig von neueren Entwicklungen überholt wird. Oft genügt auch der gemeinsame Grundbestand nicht. Insofern ist eine unmittelbare Reaktion durch europäische Lösungen notwendig. Auch eine Überbrückung der Gegensätze von common law und civil law, die sich ja – anders als in den Vereinigten Staaten – als zusätzliches europäisches Problem stellt, scheint dann, wenn man sich auf konkrete Lösungen konzentriert, möglich zu sein. Die Rechtsvergleichung hat mit ihrer funktionalen Methode schon lange auf das Bestehen ähnlicher Lösungen für gleiche Rechtsprobleme hingewiesen. Das Anwachsen des Fallrechts im civil law und die Kodifikationstendenzen im common law-Bereich sprechen für eine gewisse Konvergenz. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Einheitsrecht, dem Europarecht und auch dem Europäischen Kollisionsrecht belegen dies in eindrucksvoller Weise (anders Legrand 1996: 52 ff.). Mit der zunehmenden Dichte des bereits Bestehenden gewinnt immer mehr der sog. Acquis-Ansatz an Gewicht. Er geht von den schon vorhandenen Rechtssetzungsakten des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts aus. Das Gemeinschaftsrecht überlagert aber nur das nationale Recht und lässt sich daher mit seinen Konzepten oft nur mühevoll verbinden. Kontinuität, Kohärenz und systematische Weiterentwicklung des Rechts haben daher einen hohen Stellenwert. Stärke des Acquis-Ansatzes ist, dass ein bereits vorhandener
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Normbestand den Ausgangspunkt bildet und die entsprechenden Regeln schon Konsens bei der Rechtssetzung in der EG gefunden haben (näher Pfeiffer 2004: 102 f.). Es versteht sich aber von selbst, dass sich die unterschiedlichen Ansätze nicht ausschließen und zwischen ihnen Wechselwirkungen bestehen. Eine von den nationalen Rechtsordnungen ausgehende Vereinheitlichung muss auch die in der Gemeinschaft akzeptierten Wertungen und Ziele berücksichtigen. Auf der anderen Seite wäre eine Befassung nur mit dem gemeinschaftsrechtlichen Bestand angesichts von dessen Lückenhaftigkeit und fehlender Systematisierung von nur zweifelhaftem Wert.
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Zukunft des Europäischen Vertragsrechts
Die Diskussion um ein einheitliches europäisches Privatrecht ist im Vertragsrecht am fortgeschrittensten (Grundmann 1999; Lurger 2002). Eine Voraussage für die Zukunft ist gleichwohl schwierig, weil dies auch von der künftigen Entwicklung der Europäischen Union abhängt. Immerhin ist dann, wenn der Integrationsprozess weiter voranschreitet und bereits begonnene Projekte fortgeführt werden, ein größeres Maß an Einheitlichkeit zu erwarten. Sicher ist auch, dass weitere Richtlinien erlassen werden, welche neue Gebiete, insbesondere des Dienstleistungsrechts, erfassen werden. Mit fortschreitender Regelung wird ferner die inhaltliche Abstimmung der Vorschriften immer dringlicher. Dabei stellt sich auch die Frage, ob man mehr erwarten kann. Die Diskussion wird durch mehrere Entwicklungen geprägt (dazu Heiderhoff 2005: 219 ff.).
6.1 Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts Seit Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden gemeinsame Prinzipien des Vertragsrechts ermittelt und zusammengestellt. Die auf wissenschaftlicher Ebene entwickelten einheitlichen Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (Principles of European Contract Law) enthalten eine ausführliche Regelung des allgemeinen Vertragsrechts (siehe Lando/Beale 2000; Lando u.a. 2003; deutsch von Bar/Zimmermann 2002, 2005). Sie haben jedoch keinen verbindlichen Charakter und wurden von einer Forschergruppe entwickelt, die nach ihrem Vorsitzenden, dem dänischen Rechtsprofessor Ole Lando, häufig Lando-Kommission genannt wird. Die Prinzipien fassen die in den europäischen Privatrechtsordnungen geltenden Rechtsprinzipien und Rechtssätze zusammen, dokumentieren und erläutern sie. Behandelt werden vor allem Abschluss, Wirksamkeit, Erfüllung und Nichterfüllung des Vertrages sowie andere Fragen des allgemeinen Schuldrechts (Abtretung, Verjährung). Ähnliche Prinzipien von internationalem Charakter wurden auch im Rahmen von UNIDROIT, dem Römischen Institut für Privatrechtsvereinheitlichung, entwickelt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können die Europäischen Prinzipien anstelle einer nationalen Rechtsordnung vereinbart werden. Staatliche Gerichte und Schiedsgerichte können sie ebenso heranziehen wie der nationale Reformgesetzgeber.
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6.2 Ein Gemeinsamer Referenzrahmen Die EG-Kommission hat ihre Pläne für „ein kohärentes europäisches Vertragsrecht“ im Oktober 2004 konkretisiert (KOM(2004) 651; ABl. EU 2005 C 14/6; dazu Staudenmayer 2005: 103 ff.). Ein „Common Frame of Reference“ (CFR; Gemeinsamer Referenzrahmen) soll Rechtsbegriffe wie „Vertrag“ oder „Nichterfüllung“ definieren. Ferner soll er grundlegende Prinzipien des Vertragsrechts enthalten. Erwünscht sind ferner kohärente Musterregeln des Vertragsrechts für wichtige Vertragstypen wie Kauf- und Versicherungsverträge. Der CFR soll sich auf den gemeinschaftlichen Besitzstand der EU und die besten Lösungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten stützen. Die Verabschiedung des CFR wird für 2009 ins Auge gefasst. Er soll insbesondere der Kommission als Werkzeug bei der Entwicklung neuer Vorschläge zur Verbesserung des gemeinschaftlichen Besitzstandes dienen. Als weitere Maßnahme wird die Ausarbeitung EU-weiter Allgemeiner Geschäftsbedingungen genannt. Überschaubare einheitliche Bedingungen würden den Handel innerhalb der Gemeinschaft erleichtern. Überlegungen zu einem „optionalen Instrument“ mit einheitlichen Regeln, welche entsprechend dem Parteiwillen zur Anwendung kommen, richten sich vor allem auf ein „optin“ Modell, d.h. eine Geltung nur bei entsprechender Vereinbarung für grenzüberschreitende Beziehungen. Der geplante CFR beschreitet daher einen Mittelweg zwischen den legislativen und nichtlegislativen Ansätzen. Das Zusammenführen der unterschiedlichen Konzepte des bisherigen Bestandes an Normen und daneben entwickelter Prinzipien dürfte nicht einfach sein. Auch dürfte dieses inhaltlich begrenzte und nicht verbindliche Modell nur begrenzt etwas an der jetzigen Rechtszersplitterung ändern. Erst die Zukunft wird daher zeigen, ob die damit beabsichtigten Ziele erreicht werden.
6.3 Ein Europäisches Zivilgesetzbuch? Ein besonders ehrgeiziges, längerfristiges Ziel stellt die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches dar, für das sich mehrfach das Europäische Parlament eingesetzt hat. Wie auf anderen Gebieten stehen sich auch hier Europa-Optimisten und Euroskeptiker gegenüber. Ob, wann, in welcher Form und unter welchen Bedingungen ein Europäisches Zivilgesetzbuch geschaffen werden soll, wird lebhaft diskutiert (siehe nur Martiny/Witzleb 1999; Hartkamp u.a. 2004). In erster Linie ist an das Vermögensrecht gedacht, also das Schuldvertragsrecht, aber auch an gesetzliche Schuldverhältnisse und Teile des Sachenrechts wie die Kreditsicherheiten. Der Gedanke an ein einheitliches Gesetzeswerk mit verbindlichem Inhalt ist für viele verlockend. Die Vorteile für Wirtschafts- und Rechtsverkehr werden hoch bewertet, die wissenschaftlichen Grundlagen werden für bewältigenswert, die technischen Schwierigkeiten für überwindbar, die Implementierung für machbar gehalten. Skeptiker bezweifeln das Bedürfnis und die Machbarkeit einer solchen Kodifikation. Teilweise bestreiten sie rundweg den „Beruf unserer Zeit“ (nach der Streitschrift F. von Savignys, der sich seinerzeit (1814) gegen ein deutsches Bürgerliches Gesetzbuch ausgesprochen hatte) zur europäischen Zivilrechtsgesetzgebung oder halten wirkliche Einheitlichkeit für nicht erreichbar. Über bloße Texte hinaus sei keine wirkliche Vereinheitlichung zu erreichen. Unterschiedliche Herangehensweisen und Traditionen würden schnell zu Uneinheitlichkeit führen. Hinzu kommt die fehlende Absicherung durch ein einheitliches
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Zivilverfahrensrecht. Auch unterschiedliche Rechtskulturen werden angeführt. Den zur Gemeinschaft gehörenden Jurisdiktionen des common law sei eine solche Kodifikation fremd – von der fehlenden Kompetenz ganz zu schweigen.
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Schluss
Das europäische Privatrecht ist zugleich Programm und Wirklichkeit. Gemeinschaftsprivatrecht existiert im engeren zivilrechtlichen Bereich, aber auch auf weiteren Gebieten des Privatrechts. Vor allem im Verbraucherrecht besteht schon heute ein umfangreicher gemeinsamer europäischer Besitzstand an Lösungen. Pläne über den bisherigen unsystematischen Stand hinaus eine kohärente Regelung zu entwickeln, sind vor allem im Vertragsrecht entwickelt worden. Das europäische Privatrecht steht vor zahlreichen praktischen Problemen, sich in der komplexen europäischen Wirklichkeit zu entfalten. Zu nennen ist zunächst seine Mehrstufigkeit, das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Privatrecht. Dies setzt sich fort in Kompetenzfragen, es betrifft die Gesetzgebungstechnik ebenso wie die Auslegung. Für die wissenschaftliche Erschließung sind unterschiedliche Ansätze (einschließlich rechtshistorischer Untersuchungen) notwendig und nützlich. Eine Inspirationsquelle für die Anpassung an neuere wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklungen, das richtige Maß zwischen Privatautonomie und zwingendem Recht, ist die Vielfalt der nationalen Rechte. Eine solide Rechtsvergleichung ist daher unabdingbarer denn je. Das europäische Privatrecht ist angesichts der unterschiedlichen Traditionen in den common law- und civil law-Ländern auch eine methodische Herausforderung; es müssen Kompromisse und neue Lösungen gefunden werden. Die zu entwickelnden gemeinsamen Prinzipien müssen auch tragfähig sein. Die bisherigen punktuellen Regeln ergeben immer mehr ein Muster, in dem aber auch die Defizite immer deutlicher werden. Eine wissenschaftliche Durchdringung des Bestehenden wird daher immer wichtiger. Mit der letzten EU-Erweiterung sind die Komplexität und die Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner zu finden, noch gewachsen. Auf der anderen Seite erhöht die Herausforderung, fünfundzwanzig unterschiedlichen Rechtsordnungen gegenüber zu stehen, auch den Druck in Richtung auf mehr Vereinheitlichung. Von viel Skepsis begleitet, ist das Gemeinschaftsprivatrecht bislang stets gewachsen und inhaltlich immer anspruchsvoller geworden. Ob Vorhaben wie das europäische Vertragsrecht erfolgreich sein werden, wird aber erst die Zukunft zeigen.
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Europäisches Privatrecht, insbesondere europäisches Vertragsrecht
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Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge
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Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge
1
Vorbemerkung zur europäischen Perspektive des Strafrechts
In vielfacher Hinsicht steckt die heute allgemein diskutierte „Europäisierung des Strafrechts“ (Satzger 2001) gleichsam noch in den Kinderschuhen, weil das Strafrecht nach wie vor als originäre Angelegenheit des Nationalstaates verstanden wird. Das hat bis zu einem gewissen Maße auch durchaus gute Gründe, da gerade das Strafrecht in vielen Bereichen in der Rechtskultur verwurzelt sein sollte, um Akzeptanz in den jeweiligen Gesellschaften zu erzielen. So hat etwa die strafrechtliche Regelung der Abtreibungsproblematik in einem katholisch geprägten Land wie der Republik Irland naturgemäß einen anderen Inhalt und Stellenwert als in einem eher protestantisch geprägten Land wie den Niederlanden. Aber es gibt eben doch auch viele Gemeinsamkeiten, insbesondere bei der grundsätzlichen Definition von Verbrechen und Vergehen, über alle Grenzen der Nationalstaaten hinweg. Gleichsam in negativer Hinsicht wird uns dies durch die wie selbstverständlich die Grenzen überschreitende sog. Organisierte Kriminalität immer wieder vor Augen geführt. Vor allem darf der hier notwendige Schutz der Unionsbürger vor der Kriminalitätsbedrohung nicht an den Ländergrenzen Halt machen, um effektiv sein zu können, eben weil auch die Kriminalität an den Ländergrenzen nicht Halt macht (vgl. dazu z.B. Wolf 1998-2002). Dies hat auch die Europäische Union (EU) vor jetzt deutlich über 10 Jahren klar erkannt und auf der Ebene der Verfolgungsorgane das Europäische Polizeiamt (EUROPOL) ins Leben gerufen. Die Aufgabe von EUROPOL besteht im Wesentlichen in der Unterstützung der Strafverfolgungsaktivitäten der EU-Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die folgenden Kriminalitätsphänomene, die typischerweise (auch) grenzüberschreitenden Charakter haben können: Illegaler Drogenhandel, Schleusungskriminalität, Terrorismus, Geldfälschung, Menschenhandel (inkl. Kinderpornographie), Kraftfahrzeugverschiebung und Geldwäsche-Aktivitäten.1 Insbesondere mit dem Schutz der europäischen Finanzinteressen befasst sich zudem die Anti-Betrugs-Abteilung der Europäischen Kommission (OLAF). Dieser Einrichtung geht es um die Aufspürung und Verfolgung von Straftaten, die etwa im Zusammenhang mit der Vergabe von europäischen Subventionen und anderen Unterstützungsmaßnahmen begangen werden. Da sich immer wieder abzeichnet, dass es mit der verbesserten polizeilichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern, insbesondere im Rahmen von EUROPOL, allein nicht getan ist, hat die EU im Jahre 2002 weiterhin die Einrichtung EUROJUST ins Leben gerufen. Noch weit davon entfernt, so etwas wie eine europäische Staatsanwaltschaft zu sein, ist diese Institution doch ein Schritt in die Richtung auf eine Vereinheitlichung und Koordination der Verfolgungsaktivitäten sowie in Hinblick auf die rechtliche Durchsetzung der in diesem Zusammenhang erforderlichen Maßnahmen, insbesondere insoweit diese grenzüberschreitenden Charakter haben. Ein Instrument, das in diesem Zusammenhang 1
Vgl. Selbstdarstellung von EUROPOL im Internet unter www.europol.eu.
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auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, stellt der sog. Europäische Haftbefehl dar, der es erleichtern soll, die Verfolgung von Straftaten, die in einem Land der EU begangen worden sind, auch dann zu ermöglichen, wenn sich der Täter nach Begehung der Tat in ein anderes Land der EU abgesetzt hat. Deshalb gilt der Europäische Haftbefehl, wie sein Name schon sagt, europaweit und beruht dabei auf dem (durchaus nicht unproblematischen) Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in den jeweiligen EU-Staaten. Dabei darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass hierin auch nicht zu unterschätzende Gefahren für ein rechtsstaatlich zu ordnendes Strafverfahren liegen können (weiterführend dazu etwa Schünemann 2002; ders. 2003; Vogel 2002; Weigend u.a. 2004; aus polnischer Sicht: Weigend/Górski 2005). Abgesehen von diesen Formen und Institutionen der Zusammenarbeit nimmt die EU auch auf die Strafgesetzgebung der Mitgliedsstaaten Einfluss. Das geschieht allerdings eher punktuell und vor allem durch das Mittel der gemeinschaftlichen Richtlinie (vgl. im Einzelnen dazu Schröder 2002). So gibt es etwa bestimmte europäische Vorgaben dazu, wie die strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Geldwäschebekämpfung auszusehen haben (vgl. Geldwäscherichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.12.2001, Abl. EG 2001 L 344/76). Über solche direkte Einwirkungen auf die nationalen Gesetzgeber hinaus können gemeinschaftliche Richtlinien auch erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung der Mitgliedsstaaten haben (vgl. auch dazu Schröder 2002). Eine weitere für das Strafrecht bedeutsame Rechtsquelle auf der Ebene der EU wäre (im Falle ihrer Ratifizierung) die „Verfassung für Europa“ (Vertragsentwurf über eine Verfassung für Europa, ABl. EU 2004 C 310/1; vgl. zu Text und Entstehungsgeschichte: Deutscher Bundestag 2004). Dort finden sich in Kapitel IV, das die EU als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ausweist, unter Artikel III-171 ff. Vorschriften über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und unter Artikel III-176 ff. Vorschriften über die polizeiliche Zusammenarbeit. Im Hinblick auf eine mögliche Vereinheitlichung des Strafrechts in Europa, zumindest bei dem Schutz der finanziellen Interessen der EU, ist schließlich noch der Entwurf eines sog. „Corpus Juris 2000“ zu nennen, der neben Vorschriften, die dem Besonderen Teil des Strafrechts zugehören, auch solche des Allgemeinen Teils und des Verfahrensrechts aufweist (vgl. dazu etwa Huber 2000). Darüber hinaus gibt es inzwischen einen „Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung“, der es unternimmt, in Abgrenzung zum „Corpus Juris“ die Beschuldigtenrechte stärker abzusichern (vgl. Beulke 2005, Rdn. 10; Schünemann 2004). Außerhalb des Rahmens der EG/EU gibt es auch die in Bundesrecht übernommenen europäischen Konventionen, die natürlich erst recht erheblichen Einfluß auf nationale strafrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung haben können, wie insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (allgemein dazu Thiele in diesem Band), die wichtige strafprozessuale Garantien enthält. Obwohl mithin der Prozess der „Europäisierung des Strafrechts“ bisher nur auf einzelnen Teilgebieten des Strafrechts begonnen hat, wird er sich im Zuge einer politischen Vereinigung Europas sicher weiter beschleunigen, aber auch ohne eine damit Schritt haltende weitere Demokratisierung Europas nicht wirklich erfolgreich sein können. Denn insbesondere ohne substanzielle Beteiligung der Parlamente der Einzelstaaten und eines gestärkten Europäischen Parlaments ist eine Vereinheitlichung des Strafrechts in Europa, die dann auch von den Völkern der EU getragen wird, nicht vorstellbar – wobei hier durchaus offen bleiben mag, ob eine solche Vereinheitlichung überhaupt in jeder Hinsicht wünschenswert
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ist (weiterführend zu den Fragen der Europäisierung des Strafrechts vgl. etwa Hecker 2001; Satzger 2002; Braum 2003; Weigend u.a. 2004; Tiedemann 2004b; Hecker 2005; siehe auch Beulke 2005, Rdn. 10).
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Die Problematik des Kronzeugen
Wenn es eine strafprozessuale Lehre gibt, die man aus jenem berühmten Film „Zeugin der Anklage“ mit Marlene Dietrich und Charles Laughton ziehen kann, dann die, dass den Aussagen von Zeugen grundsätzlich zu misstrauen ist. Zumal dann, wenn diese Zeugen auch noch Zeugen der Anklage sind, und die Anklägerin ist in England bekanntlich die Krone. Nun wird der Ausdruck „Kronzeuge“ allerdings traditionell nur auf diejenigen Zeugen der Anklage angewendet, die selbst Beteiligte an dem zur Verhandlung anstehenden Delikt waren und nunmehr gegen ihre ehemaligen Komplizen aussagen. Traditionell ist indes nicht nur diese eingeschränkte Bedeutung der Bezeichnung „Kronzeuge“, Tradition hat – zumindest in Deutschland – auch der wissenschaftliche Streit um die materiell- und die prozessrechtliche Legitimität der Figur des Kronzeugen (vgl. etwa Jung 1974; Jahrreiss 1976; Weigend 1985; Hassemer 1986; Bernsmann 1988; Behrendt 1991; Hoyer 1994; Roxin 1995; Gropp 1996; Fezer 1998; Paeffgen 1999; Jeßberger 1999; Peglau 2001). Dabei wird dieser Streit durchaus mit harten Bandagen geführt. Einerseits wird die These aufgestellt, dass der Kampf gegen die Kriminalität ohne eine adäquate Kronzeugenregelung nicht zu gewinnen sei. Andererseits wird nicht nur die Nutzlosigkeit einer solchen Regelung betont, sondern darüber hinaus die in ihr liegende erhebliche Gefährdung eines rechtsstaatlichen Verfahrens behauptet. Aber immer dann, wenn einerseits gleichsam das Abendland, das dem Verbrechertum die Stirn bieten muss, und andererseits der Rechtsstaat, der doch die Voraussetzung für jedwede Rechtsverwirklichung darstellt, auf dem Spiel zu stehen scheinen, ist eine möglichst vorurteilsfreie Analyse gefragt, die eventuell zu dem Ergebnis führt, dass die juristische Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen den beiden skizzierten Extremen liegt. Es kommt hinzu, dass die Diskussion über den Kronzeugen vor dem Hintergrund eines sich mehr und mehr europäisierenden Strafrechts geführt werden muss. Zwar sind – wie gesagt – gerade die Strafrechtsordnungen immer noch primär nationales Recht, aber der Druck auf eine Internationalisierung bzw. zumindest Europäisierung wichtiger strafrechtlicher Grundlagen erhöht sich ständig. Das spüren nicht nur die sich im Anpassungsprozess an das europäische Recht befindenden „neuen“ EU-Länder und erst recht die Beitrittskandidatenländer, sondern durchaus auch die „alten“ Länder der EU. Denn der früher kaum übliche Blick über die Grenze mit der Frage: „Wie beurteilen denn die anderen EU-Partner die jeweilige strafrechtliche Problematik?“ wird heute wesentlich öfter gewagt; und er ist auch dringend notwendig, da gerade im Rahmen der strafrechtlichen Verbrechensbekämpfung über die nationalen Grenzen hinweg ein möglichst einheitliches Rechtssystem sehr hilfreich wäre. Denn die Verbrecher haben die internationale Herausforderung längst angenommen und operieren über die Grenzen des Nationalstaates hinaus, und zwar nicht nur, was die klassischen Grenzdelikte wie Schmuggel aller Art betrifft. Allerdings ist dem Ruf nach Europäisierung des Strafrechts hinzuzufügen, dass diese nicht auf Kosten rechtsstaatlicher Grundsätze, sozusagen auf kleinstem gemeinsamen Nenner, geschehen darf. Es erscheint daher sinnvoll, einzelne Fragen des materiellen Strafrechts, aber gerade auch des
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Strafprozessrechts mit Blick auf die Regelungen der EU-Nachbarn zu diskutieren, allerdings ohne den Maßstab rechtsstaatlicher Verfasstheit des Strafrechts aus dem Auge zu verlieren. Dies soll hier im Hinblick auf das Beispiel der Kronzeugenregelung geschehen, für die es in Europa durchaus unterschiedliche Konzepte gibt; so etwa in England, Frankreich, Griechenland, Polen mit relativ umfassenden und in Österreich, der Schweiz, Spanien mit eher ansatzweisen Regelungen (vgl. näher dazu etwa die Länderberichte in: Gropp/Huber 2001 m.w.N.; vgl. auch Denny 1991; WaltoĞ 1996; Mehrens 2001), so dass sich auch Deutschland einer entsprechenden Diskussion nicht wird entziehen können, zumal es auch in Deutschland durchaus Schritte in Richtung auf eine Kronzeugenregelung gegeben hat und gibt. Dabei müssen zunächst die Ziele einer eventuellen Kronzeugenregelung und die mit ihnen eventuell im Konflikt stehenden sonstigen Grundsätze erörtert werden. Ich werde dies im Folgenden allerdings nicht ganz allgemein, sondern mit einem besonderen Bezug auf Wirtschaftsstrafsachen tun, weil mir scheint – und ich werde das im Folgenden noch näher begründen müssen –, dass gerade hier die Verwendung der Figur des Kronzeugen am ehesten vertretbar erscheint.
3
Kronzeugenregelung und Gefangenendilemma
Aber was genau ist ein Kronzeuge? In Deutschland hat es bis zum Jahre 1999 ein in seiner Geltungsdauer mehrmals verlängertes Gesetz gegeben, das im Jahre 1989 eine Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten eingeführt hatte. Dieser „Probelauf“ einer Kronzeugenregelung eröffnete im Hinblick auf den Beteiligten eines Delikts nach § 129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) oder einer mit dieser Tat zusammenhängenden Straftat dem Generalbundesanwalt (GBA) die Möglichkeit, von der Verfolgung dieser Straftat abzusehen, wenn jener Beteiligte sein Wissen über Tatsachen offenbart hatte, deren Kenntnis geeignet war, die Begehung einer solchen Straftat zu verhindern oder die Aufklärung einer solchen Straftat, falls er daran beteiligt war, über seinen Tatbeitrag hinaus zu fördern oder zur Ergreifung eines Täters oder Teilnehmers einer solchen Straftat zu führen. Es gibt weitere Details dieser Regelung, auf die es hier aber schon deshalb nicht ankommen soll, weil diese Vorschrift – wie bereits erwähnt – nicht mehr gilt, nachdem ihre Geltungsdauer ab 1999 nicht mehr verlängert wurde. Gleichwohl oder vielleicht auch gerade deshalb wird immer wieder die erneute Einführung einer solchen Kronzeugenregelung gefordert; und dies nicht nur im Hinblick auf § 129a StGB, sondern auch für weitere Delikte. Die wohl am weitesten gehende Position drängt gar auf eine gesetzliche Verankerung dieser Prozessrechtsfigur im Hinblick auf alle Straftaten. Bisher zumindest haben sich diese oder eine sonstige Initiative zur zumindest begrenzten Einführung der Kronzeugenregelung allerdings nicht durchgesetzt. Und doch gibt es im deutschen Strafrecht gleichsam eine Nischenexistenz der Kronzeugenregelung, die im Unterschied zu dem genannten Gesetz oder einer noch weiter gehenden Regelung auch als „kleine Kronzeugenregelung“ bezeichnet wird. So kann etwa gem. § 31 I Nr. 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG) ein Gericht nach seinem Ermessen die Strafe für eine Tat nach dem BtMG mildern oder von bestimmten Strafen für Taten nach dem BtMG sogar ganz absehen, wenn der Täter durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hin-
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aus aufgedeckt werden konnte (näher und zum Teil kritisch zu dieser Regelung etwa Jaeger 1986; Buttel 1988; Endriß 2004). Eine ganz parallele Formulierung findet sich auch in Abs. 10 des § 261 StGB, der Vorschrift über die Geldwäsche, wonach der Täter dann mit einer Strafmilderung oder gar dem Absehen von Strafe „belohnt“ werden kann, wenn er im Hinblick auf die eigene Tat über seinen Tatbeitrag hinaus oder im Hinblick auf die Geldwäschevortat eines anderen sein Wissen offenbart hat, das zur Aufdeckung der genannten Taten wesentlich beigetragen hat (vgl. § 261 X StGB). Nach § 129 VI StGB und § 129a VII StGB gibt es eine vergleichbare „kleine Kronzeugenregelung“ auch im Hinblick auf die Delikte der Bildung einer kriminellen oder einer terroristischen Vereinigung, also etwa auch bei dem Delikt des § 129a StGB, im Hinblick auf welches die Regelung über eine große Kronzeugenregelung keine gesetzliche Verlängerung gefunden hat (vgl. auch noch § 153e I 2 StPO im Hinblick auf Staatsschutzdelikte). Es ist immerhin bemerkenswert, dass über die sog. kleinen Kronzeugenregelungen nicht annähernd so gestritten wird wie über das Gesetz zur großen Kronzeugenregelung. Woran dies liegt, wird noch zu erörtern sein. Bevor ich mich jedoch mit dem Für und Wider einer Kronzeugenregelung auseinandersetze, muss zunächst etwas über die Funktionsweise einer jeden Kronzeugenregelung gesagt werden. Dass nämlich eine Kronzeugenregelung überhaupt in der Praxis funktioniert, wie ja in anderen Staaten, z.B. den USA, durchaus gezeigt worden ist, hat – völlig abgesehen von eventuellen rechtsstaatlichen Bedenken gegen ein solches Vorgehen – etwas damit zu tun, dass die Kronzeugenregelung auf der Konstellation eines sog. Gefangenendilemmas aufbaut. Die Konstellation eines Gefangenendilemmas wird insbesondere durch folgende Fallgestaltung wiedergegeben (näher dazu etwa Cornides 1988, 90 ff.). Zwei Personen haben gemeinsam einen Diebstahl begangen, sind aber alsbald gefasst worden. Allerdings ist die Beweislage gegen sie nicht gut. Es sei um der Argumentation willen dabei von der Diebstahlsbeute und deren eventueller Rückerstattung abgesehen; wesentlich sind vielmehr die folgenden Möglichkeiten, wie das kurz nach ihrer Verhaftung von der Staatsanwaltschaft durchgeführte Verhör der beiden Diebe ausgehen kann und welche Konsequenzen das Gericht daraus ableiten wird (wobei hier natürlich nur ein Beispiel erörtert werden kann): 1.
2.
3.
Sollten beide Gefangene ihre Tat gestehen, so haben sie wegen des Geständnisses eine relativ milde Strafe von je 2 Jahren Gefängnis zu erwarten. (Hier greift die Kronzeugenregelung nicht ein, weil das Geständnis jeweils nicht zur Überführung des anderen Diebes erforderlich war.) Sollte der eine der beiden Gefangenen die Tat gestehen und damit zugleich die Täterschaft des anderen bezeugen, der jeweils andere Gefangene dagegen die Tat leugnen, gilt in diesem Verfahren eine Kronzeugenregelung, wonach der geständige Angeklagte eine recht milde Gefängnisstrafe von 6 Monaten zu erwarten hat, der verstockte Gefangene dagegen, der weiterhin leugnet, 4 Jahre Gefängnis erhält. Dabei wird der Nachweis seiner Tatbeteiligung natürlich gerade mit der Aussage des Kronzeugen geführt. Sollten schließlich beide Gefangene die Tat abstreiten bzw. über ihre Tatbeteiligung und die ihres Mittäters schweigen, werden sie zwar noch ca. 1 Jahr in Untersuchungshaft zubringen müssen, dann aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.
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Es sei vorausgesetzt, dass diese Regelungen beiden Gefangenen bekannt sind, bevor sie zu ihrer Tatbeteiligung und der ihres Mittäters vernommen werden. Allerdings sind sie im Gefängnis so untergebracht, dass sie nicht in der Lage sind, miteinander Kontakt aufzunehmen, und dementsprechend ihr Aussageverhalten nicht absprechen können. Jeder der beiden Gefangenen steht deshalb vor den abgekürzt bezeichneten Verhaltensalternativen des „Schweigens“ oder „Gestehens“, deren Konsequenzen für die beiden Gefangenen G1 und G2 sich in folgender Übersicht zusammenstellen lassen: Tabelle 1: Auszahlungsmatrix für ein Gefangenendilemma G2Ļ Schweigen Gestehen
G1ĺ
Schweigen G1: 1 Jahr G2: 1 Jahr G1: 4 Jahre G2: 6 Monate
Gestehen G1: 6 Monate G2: 4 Jahre G1: 2 Jahre G2: 2 Jahre
Jeder der beiden Gefangenen wird sich angesichts dieser Konstellation als rational denkender Egoist überlegen, wie er sich am besten verhalten soll, und zwar je nachdem wie sein Mitgefangener sich verhält. Beispielsweise wird sich der Gefangene G1 überlegen: 1.
2.
Sollte G2 gestehen, ist es für mich besser, ebenfalls zu gestehen, weil ich dann nur 2 Jahre Gefängnis bekomme, während ich dann, wenn ich schweige, für 4 Jahre ins Gefängnis muss. Sollte G2 demgegenüber schweigen, ist es für mich besser zu gestehen, weil ich dann nur für 6 Monate meine Freiheit verliere, während dann, wenn ich auch schweige, die Strafe für mich 1 Jahr betragen würde.
Aus diesen beiden Überlegungen wird der Gefangene G1 daher folgern, dass es für ihn in jedem Fall besser ist, zu gestehen, gleichgültig wie G2 sich verhält. Aber auch G2 wird als rationaler Egoist, als den wir ihn hier voraussetzen, genauso überlegen und daher zu demselben Ergebnis kommen: Gestehen ist für mich jeweils das Beste. Daher werden beide Gefangene ein Geständnis ablegen und daraufhin beide zu je 2 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Pointe an der Geschichte ist nun, dass beide Gefangene sich zwar aus ihrer individuellen Perspektive betrachtet durchaus rational verhalten, wenn sie gestehen, sie aber gerade dadurch die Option ausschlagen, zu einer wesentlich geringeren Freiheitseinbuße zu kommen, die sich ergeben hätte, wenn beide geschwiegen hätten, und zwar nur jeweils 1 Jahr Untersuchungshaft. Die beiden Gefangenen befinden sich also in einem Dilemma, eben dem deshalb so genannten Gefangenendilemma. Ihr Dilemma besteht darin, dass sie einerseits durchaus alle Konsequenzen des eigenen und des Verhaltens des anderen Mittäters und sogar die Konsequenzen des Verhaltens der Staatsorgane kennen und trotzdem nicht in die für beide Gefangene relativ günstigste Ergebniskonstellation vordringen, bei der sie beide wegen ihres beiderseitigen Schweigens nur einen Freiheitsentzug von jeweils 1 Jahr zu erwarten hätten. Sie werden daran gleichsam durch ihren eigenen Egoismus und natürlich durch die Struktur des Gefangenendilemmas und dessen Auszahlungsmatrix gehindert; und dies mit
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Notwendigkeit, weil sie sich aus ihrer je eigenen egoistisch rationalen Perspektive gar nicht anders entscheiden können, als zu gestehen, wie soeben im Einzelnen gezeigt wurde. Bewirkt wird dies hier durch die Kronzeugenregelung, die das Geständnis, bei dem auch der Mittäter belastet wird, belohnt, und zwar im Beispiel mit einer milden Strafe von 6 Monaten; eine Belohnung, die zudem noch in Relation gesehen werden muss zu der Strafe von 4 Jahren bei einseitig fehlendem Geständnis eines der beiden Gefangenen. Dabei ist wichtig, dass diese Gefangenendilemmasituation nicht nur und erst im Rahmen der Aufklärung der Straftat wirksam ist, also repressiv, sondern auch präventiv, d.h. sogar schon vor Begehung der Tat Wirkungen entfalten kann. Denn die Quintessenz des Gefangenendilemmas ist es, dass die beiden Gefangenen, resp. die beiden Täter (oder auch nur planenden Täter), einander nicht mehr ohne Weiteres vertrauen können, weil sie immer damit rechnen müssen, dass der jeweils andere aus dem Verrat seines Komplizen für sich einen Vorteil (hier: Strafmilderung) ziehen kann. Dies ist zwar ohnehin so bei Straftaten von zwei oder mehr Beteiligten, weil bei ihnen immer das Risiko des Verrats besteht; die Kronzeugenregelung verschärft dieses Risiko aber so weit, dass eine möglicherweise bestehende Verabredung, bei einer eventuellen Festnahme nicht gegeneinander auszusagen, stets nur ein labiles Gleichgewicht herstellen kann, weil jederzeit das Risiko besteht, dass der andere Mittäter aus Eigennutz sich der Verabredung entzieht und damit dem weiterhin auf das Versprechen Vertrauenden einen großen Schaden zufügt (hier: 4 Jahre Gefängnis). Für beide Mittäter bleibt es daher stets verführerisch, ihre eventuelle Verabredung zu brechen; tun sie es beide, ist für beide die Konsequenz zwar nicht ganz so hart wie im Fall des einseitigen Bruchs der Verabredung, aber insgesamt immer noch suboptimal (hier: 2 Jahre Gefängnis). Über ein Gefangenendilemma mit dieser Prägung durch eine Kronzeugenregelung hinaus ist die zugrunde liegende Struktur schon zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kontexte verwendet worden, insbesondere wenn man die Möglichkeit einer mehrfachen Wiederholung der „Spielzüge“ des Gefangenendilemmas hinzunimmt (sog. iteriertes Gefangenendilemma; vgl. dazu etwa Axelrod 1987; s.a. Joerden 2005: 366 ff. mit weiteren Hinweisen zu den Anwendungsmöglichkeiten des Gefangenendilemmas). So lässt sich z.B. die Situation der damaligen Supermächte USA und UdSSR im Kalten Krieg als ein immer wieder neu entstehendes Gefangenendilemma auffassen: Da keine Seite der anderen vertraute und vertrauen konnte, haben beide Mächte aus individuell egoistischer Perspektive heraus durchaus vernünftigerweise keine relevanten Abrüstungsschritte unternommen, haben also nicht kooperiert, sondern defektiert. Mit dem Kunstwort „defektieren“ bezeichnet man dabei die Verhaltensweise im Gefangenendilemma, bei der einer das Vertrauen des anderen ausnutzt, indem er nicht kooperiert. In diesem Sinne ist bei dem Kronzeugenbeispiel das Schweigen der Gefangenen die relativ gewinnträchtigste Verhaltensweise, also die Kooperation, während das Gestehen eine Defektion darstellt, bei der die beiden Gefangenen eben gerade nicht kooperieren. Doch noch einmal zurück zu der Situation im Kalten Krieg: Erst als die USA und die UdSSR sich nach den Veränderungen in der UdSSR zu vertrauen begannen, konnten sie durch beiderseitige Abrüstungsschritte in eine für beide Seiten gewinnträchtigere (d.h. genauer: weniger verlustreiche) Lage kommen. Aber wieder war das wechselseitige Vertrauen stets von der Gefahr des Missbrauchs durch eine Seite bedroht, da sich stets jede der beiden Seiten einen zumindest kurzfristigen Vorteil ausrechnen konnte, wenn sie die Verabredungen über die Abrüstung erfolgreich unterlief.
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Es gibt Vorschläge, den Begriff des Rechts ganz allgemein und insbesondere auch den durch das Recht geschützten Abschluss von Verträgen damit zu erklären, dass man seitens des Staates versucht, auf die Situation eines – auf andere Kontexte erweiterten – Gefangenendilemmas Einfluss zu nehmen, indem man eine erwünschte Kooperation der beiden Partner – z.B. Geschäftspartner – durch die Zurverfügungstellung von Sanktionsmechanismen stärkt; im obigen Beispiel der Abrüstung etwa durch das Völkerrecht, wie brüchig auch immer es sich dann eventuell erweisen mag. Oder im Verhältnis zwischen kooperierenden Geschäftsleuten, auf das die Struktur des Gefangenendilemmas auch übertragbar ist, durch die Mechanismen des Zivil- und Handelsrechts. Bei dem strafrechtlichen Beispiel der Kronzeugenproblematik ist es nun gerade so, dass die Kooperation zwischen den beiden Gefangenen nicht erwünscht ist, weshalb die staatlichen Vorschriften durch eine möglichst weitgehende Kronzeugenregelung die Defektion beider Gefangener zu unterstützen suchen. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass die sog. Verbrechermoral ihrerseits die Kooperation zu fördern trachtet, indem sie den Verrat eines Komplizen als das schlimmste Verbrechen gegen eben diese Verbrechermoral wertet und einen Verstoß gegen diese Norm bekanntlich mit erheblichen Sanktionen belegt (das bekannte „Gesetz des Schweigens“ wird hier wirksam). Würde man einmal gedanklich diese möglichen Sanktionen in die Auszahlungsmatrix des Gefangenendilemmas einstellen, so zeigte sich schnell, dass sich die Gewichte deutlich zur Kooperation hin, also zum beidseitigen Schweigen seitens der Gefangenen, verschoben haben. Gegenmittel hierzu ist bei einer sinnvollen Kronzeugenregelung daher der Zeugenschutz für den Aussteigewilligen, ggf. bis hin zur Organisation seiner neuen Identität. Im polnischen Strafrecht etwa ist dies bis ins Detail geregelt, indem im Rahmen einer recht umfassenden Kronzeugenregelung sogar die Erstattung von Aufwendungen für einen Kronzeugen vorgesehen sind, die für dessen kosmetische, seine Identität verbergende Operationen aufgewendet werden müssen (vgl. dazu näher PaĞkiewicz 2002: 922 ff., 936).
4
Rechtliche Grenzen einer Kronzeugenregelung
Dass und wie eine Kronzeugenregelung grundsätzlich funktionieren kann, ist damit gezeigt. Dies beantwortet indes noch nicht die Frage, ob sie auch rechtlich akzeptabel ist. Für eine zufrieden stellende Antwort auf diese Frage wäre im Einzelnen auf alle juristischen Einwände gegen die Kronzeugenregelung einzugehen und dabei auszuloten, ob es zumindest einen legitimen Anwendungsbereich der Figur des Kronzeugen geben kann. Eine solche, in die Einzelheiten gehende Analyse ist hier schon aus Raumgründen nicht möglich; es können daher nur die wichtigsten Punkte herausgegriffen und insoweit das Für und Wider einer Kronzeugenregelung erörtert werden. Um dabei ein Teilergebnis schon an dieser Stelle vorwegzunehmen: Mir scheint ein möglicher und legitimer Anwendungsbereich allenfalls im Bereich der Wirtschaftsstraftaten im weitesten Sinne zu liegen. Ich werde dies bei der Durchmusterung der Einwände gegen die Kronzeugenregelung näher zu belegen versuchen. Ein Beispiel mag dabei vorab eine gewisse Indizwirkung entfalten. In einer kürzlich erschienenen Dissertation wird die Frage untersucht, inwieweit die Kronzeugenregelung im Kartellrecht Verwendung findet und inwieweit sie auch legitimerweise Verwendung findet, wenn es darum geht, die Verfolgung bestimmter Kartelle durch die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt zu erleichtern (vgl. Wiesner 2004, übrigens auch unter Be-
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zugnahme auf die Situation des Gefangenendilemmas auf S. 14 ff.; vgl. zur Problematik der Kronzeugenregelung im europäischen Kartellrecht auch Dannecker 2004: 361 ff., 367 f. m.w.N.; s.a. Hellmann/Beckemper 2004, Rdn. 958 ff.). Im Unterschied zu der umstrittenen Kronzeugenproblematik im Strafverfahren geht es bei der Bekämpfung der genannten Kartelle (im wesentlichen) allerdings nur um Ordnungswidrigkeiten, so dass – worauf noch zurückzukommen sein wird – primär die Verletzung der Ordnungsfunktion des Rechts in Rede steht und damit zumindest graduell eine Differenz zum Strafverfahren gegeben ist. Immerhin wird hier – wie es scheint durchaus erfolgreich – die Möglichkeit zur Herabsetzung von Geldbußen im Gegenzug zur Aufdeckung von Kartellen seitens hieran Beteiligter genutzt, also im Wege einer gerade der Kronzeugenregelung entsprechenden Vorgehensweise. Es liegt auf der Hand, dass bei Kartellen das Angebot eines Ausstiegs durch Offenbarung des Kartells mit dem Ziel der Herabsetzung der an sich verwirkten Geldbuße ein durchaus Erfolg versprechendes Mittel ist, um das Kartell empfindlich zu stören. Und das – wie bereits angedeutet – nicht nur repressiv, sondern auch präventiv, weil es zur Verunsicherung der Mitglieder des Kartells beiträgt, wenn diese davon ausgehen müssen, einer von ihnen könnte gleichsam vorzeitig aussteigen und das Kartell auffliegen lassen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass die Legitimation eines solchen staatlichen Vorgehens sich nicht auf den Nachweis seiner Funktionalität beschränken kann. Vielmehr sind dem nun die in Betracht kommenden rechtsstaatlichen Bedenken gegenüberzustellen. Als ein gewichtiger Vorwurf wird die These vertreten, eine jede Kronzeugenregelung sei schon deshalb suspekt, weil der Wahrheitsgehalt der Aussage eines Kronzeugen als gering einzuschätzen sei. Dies deshalb, weil der Kronzeuge ein eigenes Interesse daran habe, in bestimmter Weise auszusagen, da er ja der Strafe, die ihm droht, zumindest partiell, entgehen will. Er wird deshalb eher bereit sein, einen (möglicherweise überhaupt nur angeblichen) Mittäter schwer zu belasten, um dadurch seinen eigenen Tatbeitrag möglichst gering erscheinen zu lassen. Es besteht sogar die nahe liegende Gefahr, dass durch den Kronzeugen Unschuldige fälschlich belastet werden. Diese Einwände sind zwar alle zutreffend, aber gerade bei Zeugenaussagen wird der Richter stets zu berücksichtigen haben, ob der Zeuge überhaupt glaubwürdig aussagt. Und bei der Aussage von Kronzeugen wird er mit den beschriebenen Gefahren besonders zu rechnen haben. Aber andererseits ist der Richter natürlich auch gewarnt, weil er die Kronzeugenposition mit in seine Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen einbeziehen kann, während er bei einem „normalen“ Zeugen möglicherweise nicht einmal ein Indiz hat für ein bei diesem ebenfalls, allerdings versteckt, vorhandenes Motiv für mögliche Falschaussagen im Eigeninteresse. Deshalb mag die oft zu hörende These stimmen, der Kronzeuge sei das schlechteste aller Beweismittel, aber es folgt hieraus allein noch nicht, dass er überhaupt nicht als Beweismittel genutzt werden dürfte. Denn auch sonst würde man ja nicht darauf verzichten, die Aussage eines Mitbeschuldigten zu hören, nur weil man weiß, dass er eigene Interessen bei der Aussage verfolgen könnte. Das Argument der möglichen Korrumpierung der Aussage des Kronzeugen durch sein Eigeninteresse trägt also nur so weit, als es eine Warnung vor dem möglichen Missbrauch der Aussagemöglichkeit bedeutet; es kann aber eine Kronzeugenregelung als solche nicht zentral in Frage stellen. Allenfalls ist die Forderung zu erheben, dass Verurteilungen nicht allein auf die Aussage eines Kronzeugen gestützt werden dürfen, sondern zusätzlicher Beweismittel bedürfen.
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Ein weiterer Einwand geht dahin, es sei per se zu missbilligen, dass der Staat die Aussage des Kronzeugen gleichsam „einkaufe“, indem er diesem Strafmilderung oder gar Straffreiheit für eine Aussage in Aussicht stelle. Es geht bei diesem Einwand also nicht mehr primär um die Korrumpierung der Aussage hinsichtlich ihres Inhaltes, sondern um die Korrumpierung der Aussagebereitschaft als solcher. Aber ist dieser Einwand wirklich stichhaltig? Wir kennen ja auch in anderen Kontexten durchaus das Angebot von Straffreiheit oder Strafmilderung im Tausch gegen ein staatlich erwünschtes Verhalten. In materiellrechtlicher Hinsicht seien hier etwa die Straffreistellung bei Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) oder die Strafmilderung bzw. Straffreistellung bei tätiger Reue erwähnt (zur Parallele zwischen Kronzeugenregelung und Rücktrittsregelungen vgl. etwa auch Hoyer 1994: 238 ff.). Auch der sog. Täter-Opfer-Ausgleich (vgl. § 46a StGB) hat eine prinzipiell ähnliche Struktur. Weiterhin werden zu Recht Belohnungen für Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung eines Täters führen. Und schließlich ist es keineswegs verpönt, den „Kronzeugen gegen sich selbst“, also den Angeklagten, zu einem Geständnis zu motivieren, indem man ihm Strafmilderung in Aussicht stellt. Obwohl ja auch hier die Käuflichkeit des Geständnisses sowohl hinsichtlich des Geständnisses selbst als auch hinsichtlich des Inhalts desselben durchaus problematisiert werden könnte. Allerdings kommt natürlich im Unterschied zu dem ein Geständnis ablegenden „Kronzeugen gegen sich selbst“ bei dem Kronzeugen gegen einen anderen etwas hinzu: Der Verrat an seinem Komplizen, der die Legitimität einer Kronzeugenregelung belasten könnte. Der Verrat ist uns suspekt und scheint deshalb als Mittel der Rechtsdurchsetzung problematisch. Aber wir sollten uns klarmachen, dass wir uns mit einer Wertung, die diesen Verrat negativ sanktioniert, unversehens auf die Seite der oben beim Gefangenendilemma schon erwähnten Verbrechermoral stellen. Dies kann deshalb letztlich kaum ein durchschlagender Einwand gegen eine Kronzeugenregelung sein. Es erscheint deshalb auch nicht mehr akzeptabel, wenn im Kontext der Diskussion über eine eventuelle Kronzeugenregelung die Figur des Kronzeugen mit dem Ausdruck „Denunziant“ belegt wird und dies offenbar den Teil eines Arguments ausmachen soll, das man vorbringen möchte (vgl. zur Verwendung des Ausdrucks „Denunziant“ in diesem Zusammenhang etwa DAV 2001: 317 ff.). Denn der Ausdruck „Denunziant“ stellt eine Verbindung zu demjenigen her, der der Staatsgewalt eines Unrechtsstaates die von diesem gesuchten Personen ausliefert. In diesem Sinne war in der Zeit des Nationalsozialismus derjenige ein Denunziant, der insbesondere Widerständler oder Juden der Staatsmacht anzeigte oder der in anderen Fällen unschuldige Personen angeblicher Verbrechen bezichtigte, entweder in dem Sinne, dass diese Personen die Verbrechen gar nicht begangen hatten, oder in dem Sinne, dass es sich um „Verbrechen“ handelte, die überhaupt nur in einem Unrechtsstaat als solche bezeichnet werden. Ein Denunziant in diesem Sinne ist der Kronzeuge – zumindest dann, wenn er wahrheitsgemäß aussagt – gerade nicht. Vielmehr stellt sich dieser – wenn auch aus dem eigennützigen Motiv der Vermeidung von Bestrafung – wieder auf die Seite des Rechts und verhilft diesem zur Durchsetzung. Ernster zu nehmen ist da schon der Einwand, eine Kronzeugenregelung verstoße gegen das formelle Legalitätsprinzip, wenn die Strafbarkeit des Kronzeugen nicht von Amts wegen untersucht und verfolgt, sondern durch Einstellung gleichsam unter den Teppich gekehrt wird. Dieser Einwand ist schon deshalb ernst zu nehmen, weil das Legalitätsprinzip ohnehin schon vielfältige Durchbrechungen erfährt, etwa durch die zum Teil problematischen Regelungen über die Verfahrenseinstellung in den Fällen der §§ 153 ff. StPO, die auf
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Dauer und bei weiterer Ausweitung durch Kronzeugenregelungen dem Legalitätsprinzip so schweren Schaden zufügen könnten, dass der Strafprozess, so wie wir ihn bisher kennen, zu einem bloßen Spielball der staatlichen Interessen abgewertet würde. An die Stelle des Legalitätsprinzips träte mithin ein reines Opportunitätsprinzip (wie weitgehend heute schon in den USA). Dem genannten Einwand kann indes dadurch die Spitze genommen werden, dass man ganz bewusst darauf verzichtet, die Realisierung der durch die Kronzeugenregelung in Aussicht gestellten Vergünstigungen der Staatsanwaltschaft (StA) zu überlassen. Nicht die Einstellung des Verfahrens durch die StA, sondern Strafmilderung oder auch Straferlass durch das Gericht sollten das Angebot einer eventuellen Kronzeugenregelung sein. D.h. im Sinne einer primär materiellrechtlichen Regelung und nicht etwa – wie in den USA (dazu näher Weigend 1985; Jeßberger 1999) – einer stark prozessrechtlichen Lösung. So wie ja auch die bereits im Gesetz festgeschriebenen sog. kleinen Kronzeugenregelungen (vgl. oben) auf eine materiellrechtliche Vorgehensweise bezogen sind. Dementsprechend war der Weg des seinerzeitigen Gesetzes zur Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten nicht zuletzt insoweit zu kritisieren, als durch dieses Gesetz der Generalbundesanwalt ermächtigt wurde (selbst wenn er dazu der Zustimmung eines Strafsenats des Bundesgerichtshofes bedurfte), ggf. von der Verfolgung der betreffenden Taten abzusehen. Doch nun zu dem wohl am ernstesten zu nehmenden Einwand gegen eine mögliche Kronzeugenregelung, der darauf abzielt, dass eine Kronzeugenregelung das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichbehandlungsgrundsatz berühre, indem sie u.U. schwerster Straftaten Verdächtige von der Strafverfolgung und überführte Täter von der Bestrafung ausnimmt. Hassemer stellt darüber hinaus sogar die These auf, die Kronzeugenregelung sei geeignet, das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu gefährden (vgl. Hassemer 1986: 552). Und in der Tat, es ist dieser Mangel an Gerechtigkeit, der dem Gedanken an eine Kronzeugenregelung am stärksten entgegentritt, indem nämlich bisher die Perspektive des Opfers der betreffenden Straftat ganz unberücksichtigt geblieben ist (übrigens auch in der Strukturanalyse mittels des Gefangenendilemmas). Denn es geht ja nicht nur um den staatlichen Strafanspruch, den man möglicherweise gleichsam im Verhandlungswege zur Disposition stellen kann, sofern man sich auf diese Weise größere Aufklärungserfolge einhandelt. Es geht im Strafverfahren eben auch darum, dem Opfer dadurch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass man den Straftäter einer gerechten Strafe zuführt. Aber hier eröffnet sich nun auch ein Raum zur Differenzierung. Denn nicht bei allen Delikten ist das Bedürfnis nach gerechter Strafe so elementar wie bei den Delikten gegen Leib und Leben. Viele Delikte etwa, die im weitesten Sinne unter den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts fallen, sind Delikte, bei denen kommensurable Rechtsgüter, also in Geldwerten ausdrückbare Interessen, in Rede stehen, soweit nicht Gewalt zur Realisierung des Deliktserfolgs eingesetzt wurde. Darüber hinaus sind viele Delikte dieses Bereichs ohne konkret betroffene Rechtsgutsträger gleichsam „opferlos“. Es dürfte hiermit zusammenhängen, dass gegen die Regelungen des § 261 X StGB und des § 31 BtMG so relativ wenig Kritik aufgekommen ist, gerade weil es bei der Geldwäsche, aber auch bei den Betäubungsmitteldelikten, in aller Regel an einem konkret bestimmbaren Opfer fehlt. Ähnliches gilt nun aber auch bei vielen anderen Delikten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität. Das liegt zum einen daran, dass diese Delikte oft dem dogmatischen Feld der Gefährdungsdelikte angehören, bei denen es naturgemäß schwierig ist, ein konkretes Opfer zu bestimmen. So etwa beim Kapitalanlagebetrug gem. § 264a StGB, aber auch beim Kreditbetrug gem. § 265b StGB. Oftmals ist Geschädigter in erster Linie der Staat
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oder die Allgemeinheit, so dass ebenfalls eher die Ordnungsfunktion der Norm im Vordergrund steht und nicht so sehr ein einzelner Rechtsgutsträger betroffen ist. So etwa dann, wenn es um einen Subventionsbetrug gem. § 264 StGB oder das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt gem. § 266a StGB oder um den sog. Submissionsbetrug gem. § 298 StGB oder um die schon erwähnte Geldwäsche gem. § 261 StGB geht. Noch deutlicher wird die Loslösung vom individuellen Rechtsgüterschutz im Wirtschafts-strafrecht, wenn man die zahlreichen nebenstrafrechtlichen Normen dieses Rechtsgebietes hinzunimmt, die schon von der Konstituierung des Feldes „Wirtschaftsstrafrecht“ aus betrachtet gerade durch den Schutz überindividueller Rechtsgüter, oder wie es auch heißt: sozialer oder Kollektivrechtsgüter, Interessen der Allgemeinheit (vgl. Tiedemann 2004a, Rdn. 45), charakterisiert sind. Genannt seien beispielsweise die Delikte des Schmuggels und der Steuerhehlerei gem. §§ 373, 374 AO oder die Delikte, die unter Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz oder das Außenwirtschaftsgesetz begangen werden, sowie die Delikte, die vom Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb oder vom Kreditwesengesetz erfasst sind. Ähnliches gilt auch für die meisten Umweltdelikte gem. §§ 324 ff. StGB, die man im weitesten Sinne auch zum Wirtschaftsstrafrecht hinzuzählen könnte. Bei allen diesen Delikten eines relativ abstrakten Rechtsgüterschutzes erscheint eine eventuelle Kronzeugenregelung unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit eher akzeptabel als bei Delikten mit konkreter Rechtsgutsbeeinträchtigung wie bei den Delikten gegen Leib und Leben oder z.B. bei den Delikten zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Und es kommt bei den Wirtschaftsdelikten natürlich noch hinzu, dass, wenn überhaupt, nur kommensurable Rechtsgüter, also etwa das Vermögen und/oder Sachwerte in Rede stehen, die grundsätzlich wieder zu beschaffen sind. Hier ist zumindest prinzipiell ein Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution im eigentlichen Sinn des Wortes denkbar, so dass angesichts dieses durchaus möglichen (echten) Schadensersatzes das Bedürfnis nach Strafe in den Hintergrund treten kann und deshalb der Verzicht auf Strafe oder zumindest eine Reduzierung der Strafe im Wege einer Kronzeugenregelung eher vertretbar erscheint. Schließlich ist bei den Wirtschaftsdelikten auch ein pragmatischer Gesichtspunkt nicht unwichtig. Schon der typische Täter eines Wirtschaftsdeliktes, also der sprichwörtliche „white collar delinquent“, ist rationalen Erwägungen, wie sie der durch das Gefangenendilemma beschriebenen Grundstruktur einer Kronzeugenregelung entsprechen, eher zugänglich als der Beziehungstäter bei Tötungsdelikten oder gar der Überzeugungstäter, der Ansprechpartner des inzwischen außer Kraft getretenen Kronzeugengesetzes bei terroristischen Gewalttaten sein sollte (vgl. ähnliche Erwägungen auch bei Hoyer 1994: 235; zum Umweltstrafrecht als Feld möglicher Kronzeugenregelungen vgl. Behrendt 1991: 337 ff.). Es dürfte kein Zufall sein, sondern der speziellen Situation von terroristischen Vereinigungen geschuldet, dass es kaum einen praktisch erfolgreichen Anwendungsfall des genannten Gesetzes gegeben hat (vgl. Roxin 1998, § 14, Rdn. 22 m.w.N.). Wer dagegen zu rechnen versteht und bei etwas wirtschaftlichem Sachverstand sich die nicht zuletzt ökonomischen Vor- und Nachteile seines Aussageverhaltens vor Augen führen kann, der dürfte weit eher durch eine Kronzeugenregelung dazu zu motivieren sein, die Karten auf den Tisch zu legen. Hinzu kommt die bereits oben erwähnte präventive Wirkung einer Kronzeugenregelung, die sich bei regelmäßig „rational“ planenden Wirtschaftsstraftätern eher einstellen dürfte als bei spontan handelnden Tätern z.B. von Beziehungsdelikten. Bei all dem sollte indes die bei jeder Kronzeugenregelung bestehende Gerechtigkeitslücke (vgl. oben) nicht außer Acht gelassen werden. Auch wenn man demnach im Bereich
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der Wirtschaftsdelikte an eine Strafreduzierung oder sogar einen Strafverzicht in Aussicht stellende Vorschriften denkt, sollte man weiterhin erwägen, die zentralen Figuren des kriminellen Geschehens von der Kronzeugenregelung auszunehmen. Um es zunächst ganz einfach zu formulieren: Wer mit zehn Helfern und Helfershelfern eine umfangreiche Wirtschaftsstraftat gesteuert und gleichsam als Kopf geleitet hat, käme wohl zu gut dabei weg, wenn er, nachdem die Sache ruchbar geworden ist, nunmehr den Staatsorganen anbietet, sich bei der Aufklärung seiner Tat und der Mitwirkung seiner Gehilfen als Kronzeuge zu verdingen und dabei gar noch Straffreiheit zu erlangen. Man kann und sollte dieser Überlegung dadurch Rechnung tragen, dass man Zentralfiguren eines deliktischen Geschehens nicht durch eine eventuelle Kronzeugenregelung begünstigt. Dieser Gedanke findet sich etwa in der bereits erwähnten Kronzeugenregelung bei bestimmten verbotenen Kartellbildungen, wo entsprechend der in Deutschland in diesem Kontext maßgeblichen und auf Grundsätzen der Europäischen Kommission basierenden Richtlinien der Verzicht auf die Festsetzung einer Geldbuße insbesondere voraussetzt, dass der Täter, der sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hat, keine entscheidende Rolle in dem Kartell gespielt hat (vgl. Hellmann/Beckemper 2004, Rdn. 959; Wiesner 2004: 202 jeweils m.w.N.). Und wirft man noch einmal den Blick auf die ebenfalls bereits erwähnte, sehr weit gehende und nach den hiesigen Überlegungen wohl auch entschieden zu weit gehende Kronzeugenregelung in Polen, die sich gegen die sog. Organisierte Kriminalität richtet, so findet man auch dort einen hinsichtlich des Tatbeitrages begrenzten Rahmen des staatlichen Angebots an mögliche Kronzeugen: Wer eines Tötungsdeliktes überführt wurde, scheidet aus dem Personenkreis aus, dem die Kronzeugenregelung und das damit verbundene Zeugenschutzprogramm zugute kommen kann (vgl. Art. 4 des polnischen Kronzeugengesetzes und dazu PaĞkiewicz 2002: 205).
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Exkurs zur „kleinen Kronzeugenregelung“
Indirekt kehrt der Gedanke, dass die Zentralfigur des kriminellen Geschehens nicht begünstigt werden soll, auch in der sog. kleinen Kronzeugenregelung des § 261 X StGB wieder. Denn begünstigt wird hier eben nur der Geldwäscher und nicht der Täter der in aller Regel schwereren Tat, zu der die Geldwäsche geleistet worden ist, also nicht der Täter der sog. Katalogtat. Gleichwohl geht es bei dem Angebot des § 261 X StGB keineswegs nur um die Aufdeckung der Geldwäschehandlungen, zu der der Geldwäscher als Kronzeuge beitragen soll, sondern ausweislich des Wortlautes von § 261 X StGB gerade auch um die „in Absatz 1 [von § 261] genannte(n) rechtswidrige(n) Tat(en) eines anderen“, also um die Aufdeckung von Katalogtaten. Feinsinnig hat hier übrigens der Gesetzgeber die Worte „eines anderen“ beibehalten, als er dieselben Worte in Absatz 1 des § 261 StGB a.F. bei der Beschreibung der Vortat der Geldwäsche gestrichen hat. Deshalb kann man nach der unlängst erfolgten Gesetzesänderung – anders als bei der Hehlerei – durchaus auch tatbestandlich Geldwäscher im Hinblick auf eine selbst als Täter durchgeführte Vor- bzw. Katalogtat sein und wird lediglich im Rahmen der Regelung nach § 261 IX 2 StGB von Strafe freigestellt, was hier nicht weiter zu erörternde Vorteile bei der Strafverfolgung von Geldwäschern hat, die möglicherweise an der Vortat beteiligt waren (näher dazu Joerden 2003). Jedenfalls geht die kleine Kronzeugenregelung hier nicht so weit, dass der Geldwäscher, der selbst an der Vortat täterschaftlich beteiligt war, nun durch Offenbarung dieser seiner eigenen Vortat
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die Vorteile der Kronzeugenregelung erreichen könnte. Allerdings gilt dies nicht für den Geldwäscher, der an der Vortat als Teilnehmer beteiligt war. Jedenfalls wird man die Wendung „rechtswidrige Tat eines anderen“ in § 261 StGB parallel zu der Formulierung in § 259 StGB und § 261 I StGB a.F. so auszulegen haben, dass hier nur der täterschaftlich Beteiligte von der Regelung des § 261 X StGB ausgenommen werden soll; wer also nur als Anstifter oder Gehilfe eher eine Nebenfigur der Vortat war, könnte ggf. in den Genuss der kleinen Kronzeugenregelung kommen. Und sieht man einmal von dem Spezialfall einer Beteiligung, sei sie nun täterschaftlich oder als Teilnehmer, des Geldwäschers an der Vortat ab, so bleibt für den vorliegenden Kontext immer noch von Bedeutung, dass eben auch der Geldwäscher im Hinblick auf die Vor- bzw. Katalogtat regelmäßig eher eine Nebenfigur ist, indem er etwa über die Verwendung der Beute Verfügungen trifft, dann aber die Vortat natürlich schon längst begangen wurde. Der Geldwäscher ist dabei im Verhältnis zum Vortäter in einer vergleichbaren Rolle wie der Gehilfe im Verhältnis zum Haupttäter, weshalb die Anschlussdelikte der §§ 257 ff. StGB im anglo-amerikanischen Rechtskreis regelmäßig unter dem Stichwort „accessory after the fact“, also als Hilfeleistung nach der Tat, diskutiert werden. Auch bei der kleinen Kronzeugenregelung des § 261 StGB wird also dem „Helfer nach der Tat“, dem Geldwäscher, ein Angebot zur Mitarbeit bei der Aufklärung der Vortat unterbreitet, während die Zentralfigur des deliktischen Geschehens, der Vortäter, dieses Angebot zu Recht nicht erhält. Nicht plausibel ist es aber, wenn de lege lata der Teilnehmer an der Vortat der Geldwäsche, der nicht zusätzlich anschließend Geldwäscher wird, das Angebot der Kronzeugenregelung nicht erhält. Auch er könnte zweifellos zur Aufklärung der Vortat, die für ihn Haupttat ist, beitragen, und es erscheint auch hier vertretbar, ihm de lege ferenda das Angebot von Strafmilderung resp. Straffreistellung zu machen, zumindest dann, wenn – insofern gelten auch hier die oben gemachten Voraussetzungen – bei der betreffenden Haupttat primär der Schutz überindividueller Rechtsgüter in Rede steht.
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Zusammenfassung
Die vorangehenden Überlegungen zur Legitimität eventueller Kronzeugenregelungen lassen sich noch einmal in den folgenden fünf Thesen zusammenfassen: 1.
2.
3.
Der oftmals ideologisch geprägte Kampf um die Kronzeugenregelung führt nicht weiter und verhindert eine pragmatische und gleichwohl rechtsstaatlich vertretbare Regelung. Verstehen lässt sich die Funktionsweise einer Kronzeugenregelung am besten mit Hilfe der Struktur eines Gefangenendilemmas, die zeigt, dass sich der Delinquent durch das Angebot der Kronzeugenregelung in eine Lage gebracht sieht, in der er das besagte Angebot nur ablehnen kann, wenn er seinen rational-egoistischen Interessen zuwider handelt. Die meisten Einwände gegen eine Kronzeugenregelung lassen sich, wenn nicht vollständig entkräften, so doch zumindest durch geeignete Regelungen, die den Bedenken entgegenkommen, abschwächen.
Europäisierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge 4.
5.
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Für den wohl wichtigsten Einwand, den man kurz als „Gerechtigkeitslücke“ apostrophieren kann, gilt das, wenn man sich auf bestimmte Deliktsarten konzentriert, die sich – wie insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht – primär auf den Schutz von nicht konkretisierten, überindividuellen Rechtsgütern beziehen. In diesem Sinne kann die kleine Kronzeugenregelung des § 261 X StGB als Beispiel dienen, dessen Ausdehnung auf andere geeignete Deliktsgruppen als vertretbar erscheint.
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Weigend, Ewa / Górski, Adam, 2005: Die Implementierung des Europäischen Haftbefehls in das polnische Strafrecht. In: ZStW, Jg. 117, S. 193 ff. Wiesner, Till, 2004: Der Kronzeuge im Kartellrecht – Zur Rechtmäßigkeit der Honorierung von Aufklärungshilfe durch Sanktionserlass bei der Verfolgung von Hardcore-Kartellen durch die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt. Berlin: Logos. Wolf, Gerhard (Hrsg.), 1998-2002: Kriminalität im Grenzgebiet, Bände 1-6. Berlin u.a.: Springer.
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Wirtschaft
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Hans-Jürgen Wagener
Europäische Wirtschaftspolitik
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Einleitung
Gehen wir aus von einer gängigen Lehrbuchdefinition der Wirtschaftspolitik: „Es handelt sich um die Gestaltung der Wirtschaftsordnung sowie die Einflussnahme auf die Struktur, den Ablauf und die Ergebnisse gesellschaftlichen Wirtschaftens durch staatliche Instanzen nach politisch bestimmten Zielen. Nach Aufgabenbereichen lassen sich die Ordnungs-, die Allokations-, die Stabilisierungs- sowie die Verteilungspolitik unterscheiden“. (Streit 2000: 24)
Diese Definition gibt uns vier Grundelemente der Wirtschaftpolitik an:
den Träger der Wirtschaftspolitik: staatliche Instanzen, die Zielbestimmung der Wirtschaftspolitik: der politische Prozess, den Gegenstand der Wirtschaftspolitik: einerseits die Wirtschaftsordnung, andererseits der Wirtschaftsprozess, die Aufgaben der Wirtschaftspolitik: Ordnung, Allokation, Stabilisierung, Verteilung.
Ein fünftes Grundelement ist hier nicht genannt, das aber doch wichtig für die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik ist – nämlich die Instrumente. Im Zusammenhang mit dem Begriff einer europäischen Wirtschaftspolitik taucht somit unmittelbar die Frage auf: kann es so etwas überhaupt geben, eine europäische Wirtschaftspolitik, wenn es keinen europäischen Staat gibt? Die Frage ist rhetorisch, denn wir wissen, dass es eine gemeinsame Agrarpolitik gibt, eine gemeinsame Handelspolitik, Wettbewerbspolitik, Umweltpolitik usw. Aber trotzdem liegt da ein Problem: wie kommt die Europäische Union dazu, Träger von Wirtschaftspolitik zu sein, wie sieht der politische Prozess aus, der ihre wirtschaftspolitischen Ziele bestimmt, über welche Kompetenzen, über welche Instrumente und über welchen administrativen Apparat verfügt die Union, um Wirtschaftspolitik in die Tat umzusetzen? Im Folgenden wenden wir uns kurz dem politischen Charakter der Europäischen Union zu. Den Kern der Ausführungen macht die Frage aus, wie wirtschaftspolitische Kompetenzen in einem Mehrebenensystem verteilt werden, wie es Bundesstaaten sind, wie es aber auch die Europäische Gemeinschaft ist. Das ehrwürdige, aus dem 17. Jahrhundert stammende Subsidiaritätsprinzip ist hierfür zur Norm geworden. Die ökonomische Theorie kann das Subsidiaritätsprinzip untermauern und damit operational machen. Die Wirtschaftspolitik der EU ist im Laufe der Jahre evolutorisch entstanden. Zu fragen ist deshalb, inwieweit ihre heutige Ausprägung den theoretischen Erwartungen entspricht. Schließlich gehen wir in einer kurzen Schlussbemerkung auf die zu erwartenden Folgen der Osterweiterung für die europäische Wirtschaftspolitik ein.
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Hans-Jürgen Wagener Die EU als Träger der Wirtschaftspolitik
Die EU ist kein staatliches Gebilde im herkömmlichen Sinn, keine föderativen Vereinigten Staaten von Europa, schon gar kein Zentralstaat. Sie ist aber auch keine rein intergouvernementale Veranstaltung, dazu weist sie schon zu viele Institutionen auf, die den Rahmen internationaler Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO) oder ihrer ehemaligen Konkurrenz, der Europäischen Freihandelszone (EFTA), überschreiten. „The EFTA was explicitly non-supranational and apolitical, and its tiny headquarters in Geneva had only one real task: to organize the annual membership meetings where technical trade issues were, quite amicably, thrashed out.” (Gillingham 2004: 36).
Von dieser bescheidenen Organisation unterscheidet sich die EU wahrlich fundamental – bedauerlicherweise, wie manche Kritiker finden. Sie verfügt über Legislative, Exekutive und Judikative. Sie hat einen Korpus europäischen Rechts geschaffen, der Vorrang vor dem Landesrecht hat. Sie hat einen Rechnungshof und eine Zentralbank, die eine eigene Währung unterhält. Was fehlt ihr dann zur eigenen Staatlichkeit? Das lässt sich vielleicht mit der Taxonomie Max Webers aus den Begriffsbestimmungen der Herrschaft auf den ersten Seiten von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1956: 42-43) klären. Herrschaft übt die EU aus, d.h. es besteht die Chance, für ihre Anordnungen bei einem angebbaren Personenkreis Gehör zu finden. Die EU ist auch ein Herrschaftsverband, denn sie verfügt über einen Verwaltungsstab. Dieser Herrschaftsverband hat die Eigenschaften einer Anstalt, denn seine Ordnung ist für alle auf seinem Territorium tätigen natürlichen und juristischen Personen verbindlich. Was der EU fehlt und nach Max Weber den politischen Verband, insbesondere den Staat ausmacht, ist die Durchsetzung der Anordnungen mittels Androhung physischer Gewalt seitens des Verwaltungsstabes, wobei der Staat hierfür ein Monopol besitzt. Dieses Monopol behalten sich – man muss sagen: noch immer – die einzelnen Mitgliedländer vor. Wir haben hier folglich einen Herrschaftsverband vor uns, der für die Durchsetzung seiner Anordnungen auf das Potential legitimen physischen Zwangs seiner dezentralen Einheiten zurückgreifen muss und dies bislang auch relativ erfolgreich getan hat. Es genügt für die folgenden Ausführungen festzustellen, dass wir es bei der EU mit einer politischen Ordnung – sui generis, wenn man so will – zu tun haben, die eine ausreichende institutionelle Kapazität und auch eine ausreichende Legitimität für eine eigenständige Wirtschaftspolitik zumindest in bestimmten Teilbereichen besitzt. Beides gründet auf ihrer Verfassung, d.h. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV). Dieser Vertrag wurde von den Mitgliedländern ausgehandelt, von den nationalen Parlamenten ratifiziert und zum Teil von der nationalen Bevölkerung in einem Referendum bestätigt. Der noch anhängige neue Verfassungsvertrag erweitert und vertieft nur die konstitutionelle Basis. Die (wirtschafts-)politische Autorität der Gemeinschaft ist also im Rahmen der vertraglichen Beschränkungen an sie delegiert. Die Besonderheit der politischen Ordnung der EU gegenüber einem herkömmlichen Bundesstaat – zu dem sie sich durchaus noch entwickeln kann, aber nicht muss – liegt in dem komplexen Verhältnis zwischen Mitgliedländern und den zentralen Gemeinschaftsinstitutionen, die eben nicht mit der Zentralregierung eines Bundesstaates gleichgesetzt werden können. Das politische System, das sich im Laufe der Zeit herausgebildet und keineswegs bereits zu einer etablierten Ordnung verfestigt hat, wird adäquat als Mehrebenensys-
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tem (Scharpf 1999, 2002) beschrieben. Je nach Verfassung der Mitgliedländer ist die Zahl der Ebenen unterschiedlich. In Deutschland haben wir es mit vier bis sechs Ebenen zu tun: Gemeinde, (Kreis, Regierungsbezirk,) Land, Bund, Europäische Gemeinschaft. Hier wollen wir vereinfachend nur von zwei Ebenen ausgehen: Mitgliedland und Gemeinschaft. Dabei fällt der unteren Ebene, den Mitgliedländern, bei legislativen und haushaltspolitischen Entscheidungen eine zentrale Rolle auf der oberen Ebene, der Gemeinschaftsebene, zu. Wo in einem Bundesstaat die Zentralregierung die ihr zugewiesenen Aufgaben mehr oder minder autonom ausführt und in erster Instanz dem direkt gewählten Parlament verantwortlich ist (sicher, der Bundesrat hat auch ein Wörtchen mitzureden), sind in der EU die dezentralen Einheiten, die Mitgliedländer, in den Entscheidungsprozess der oberen Ebene eng eingebunden (und es ist eher das Parlament, das dann ein Wörtchen mitzureden hat). Das Verfahren, das dabei zur Anwendung kommt, wird Gemeinschaftsmethode genannt. Sie soll die unterschiedlichen Interessen der Gemeinschaft als ganzer und ihrer Teile, der Mitgliedländer, die von sehr unterschiedlicher Größe und sehr unterschiedlichem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau sind, zum Ausgleich bringen. Die Kommission repräsentiert dabei das Gemeinschaftsinteresse. Sie ist weitgehend unabhängig und hat vor allem über die Einhaltung der Verträge zu wachen. Man kann in ihr geradezu eine Verkörperung des Weberschen Idealtypus der Bürokratie sehen. Der Kommission kommt bei haushaltspolitischen und legislativen Beschlüssen das Vorschlagsrecht zu. Sie werden dann vom Rat, der die Mitgliedländer vertritt, und, bislang mit nur geringem Einfluss, vom Parlament, das die Bürger vertritt, gefasst. Je nach den Bestimmungen des Vertrages, die hier nach Politikbereichen differenziert sind, erfolgen die Ratsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wacht über die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit (Kommission der EU 2001). Ein zweiter Governance-Modus, der seit seiner Einführung im Jahre 2000 allerdings mehr in der Literatur als in der praktischen Regierungsarbeit Furore macht, ist die so genannte Offenen Methode der Koordinierung (open method of coordination). In den Politikfeldern, in denen die Gemeinschaft nur geringe Kompetenzen hat, in denen aber auf Grund von spill-overs und externen Effekten koordiniertes wirtschaftspolitisches Vorgehen angebracht wäre, wird durch einen strukturierten Prozess versucht, die nationalen Politiken auf einander abzustimmen und best practices zum Durchbruch zu verhelfen. Solche Politikfelder sind vor allem die Industriepolitik, die Beschäftigungspolitik und die Sozialpolitik. Die eigentlichen wirtschaftspolitischen Akteure bleiben die nationalen Regierungen, die nur durch Zielvereinbarungen, Informationsaustausch, transnationales Lernen und benchmarking ihre nationalen Aktionspläne einem Gemeinschaftseinfluss aussetzen. Dieses Verfahren gesteht der Gemeinschaft sehr viel weniger Autorität zu als die Gemeinschaftsmethode und findet deshalb vor allem bei denen Anklang, die die Union lieber als intergouvernementale Veranstaltung sehen und nicht als supranationale Organisation. Man könnte nun behaupten, die politischen Aktivitäten der Gemeinschaft seien apolitisch. Das äußert sich darin, dass es für die europäische Politik kaum zutreffend wäre, von politischen Unternehmern zu sprechen, die ein konkretes Programm formulieren, sich dafür auf dem Stimmenmarkt ein Mandat holen, es mehr oder minder geschickt umsetzen und sich dann der politischen Kontrolle der Wiederwahl stellen müssen. Dieses Fehlen „Emotionen bewegender“ Politik auf der europäischen Ebene, dem ein völlig verschwommenes europapolitisches Profil der im Parlament vertretenen Parteien (mit Ausnahme der AntiEuropäer) entspricht, wird häufig bedauert. Denn damit wird auch keine politische Identifi-
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kation der Bürger stimuliert. Die politischen Aktivitäten der Union haben eher einen technokratischen oder eben bürokratischen Charakter. Das Programm ist vertraglich vereinbart: ein gemeinsamer Markt, eine gemeinsame Währung mit Preisstabilität, die Förderung unterentwickelter Regionen. Und die Gemeinschaftsinstitutionen sind nur noch dafür da, dieses Programm in die Realität zu überführen. Es hat den Anschein, dass auch hier gilt: „technical … issues [are], quite amicably, thrashed out“. Europäische Wirtschaftspolitik wäre demnach nur die administrative Umsetzung der vertraglich vereinbarten Ziele. Eine solche rein administrative „Verwaltung von Sachen“ ist eine Fiktion. Jede politische Entscheidung impliziert Gewinner und Verlierer und die langwierigen Verhandlungen, die häufig Ratsentscheidungen vorausgehen, verdeutlichen den politischen Einsatz. Aber es ist richtig, dass die europäische Politik ein sehr eingeschränktes Mandat hat und sich mehr durch externe, objektive Kriterien leiten läßt als durch interessenvermittelte Kriterien. Die Kontrolle der Politik erfolgt nicht durch den üblichen politischen Prozess der Wiederwahl, sondern einerseits durch die parlamentarische und mediale Öffentlichkeit, andererseits und sehr viel effektiver durch die Administration der Mitgliedländer, die sich wiederum im Rat Gehör verschaffen kann. Der Rat ist eben nicht nur ein souveränes Organ der Legislative, sondern gleichzeitig auch der Ort für den Interessenausgleich der dezentralen Einheiten. Der europäische Bürger kommt dabei allerdings nur selten direkt zu Wort. Fragt man ihn allerdings, so kann es passieren, dass er „Nein!“ sagt, nicht so sehr weil ihm die zur Abstimmung gestellte Maßnahme, z.B. der Verfassungsvertrag, missfällt, sondern weil er sich nur so als Souverän, der er ist, Gehör verschaffen kann.
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Zuständigkeiten der Gemeinschaft – die normative Theorie
Das eigentliche und schwierigste Problem der europäischen Wirtschaftspolitik ist die Frage, wo die Gemeinschaft tätig werden solle. Ziel der Europäischen Gemeinschaft ist die politische und wirtschaftliche Integration Europas. Seit Tinbergen (1954) unterscheiden wir negative und positive Integration (s. auch Scharpf 1999), wobei negative Integration passive wirtschaftspolitische Maßnahmen bezeichnet, die zum Beispiel Handelshemmnisse und Verkehrsbehinderungen abschaffen, während positive Integration die aktive Ausübung der wirtschaftspolitischen Kompetenzen meint. Vor allem die positive Integration ist in einem Mehrebenensystem ein Problem. Art. 5 EGV legt hierfür allgemeine Regeln fest: Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus.
Mit dieser 1992 in Maastricht dem Vertrag zugefügten Regelung sollte der in vielen Mitgliedländern gewachsenen Befürchtung entgegengetreten werden, die EU könne sich zu
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einem alles regelnden Superstaat entwickeln. Nach Art. 5 EGV darf sie nur tätig werden, wenn ihr im Vertrag ein ausdrückliches Mandat verliehen ist, und das nur soweit, als es für die vertraglich fixierten Ziele erforderlich ist. Ansonsten kann die Gemeinschaft nur subsidiär tätig werden, wenn die Mitglieder auf gegebene Situationen nicht adäquat reagieren können. Schauen wir uns den Vertrag daraufhin an, auf welchen wirtschaftspolitischen Feldern er für die Gemeinschaft Betätigungsmöglichkeiten vorsieht, so haben wir zum einen in Art. 3 EGV die Liste dieser Felder von a) bis u) und zum anderen den dritten Teil des Vertrages (Art. 23-181 EGV), der die Politiken der Gemeinschaft beschreibt. Er hat nicht weniger als 21 Titel. Es dürfte schwer fallen, irgendein wirtschaftspolitisches Feld zu finden, auf dem die Gemeinschaft prinzipiell nicht tätig werden könnte. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man in Art. 2 EGV die allgemeinen Ziele liest, die sich die Gemeinschaft gesetzt hat. Die Liste der Gemeinschaftsaufgaben war in der ursprünglichen Fassung des Vertrages von Rom noch sehr viel kürzer, ebenso die dort zugewiesenen Politikfelder. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1985 und der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes wurden aber immer mehr Risiken und Nebenwirkungen der Integration deutlich, auf die die Gemeinschaft reagieren sollte. So ist sie inzwischen praktisch für alles zuständig und könnte sich deshalb zu einem zentralistischen Superstaat entwickeln. Dem schiebt das Subsidiaritätsprinzip als bindende Regel einen Riegel vor. Nimmt man das Prinzip ernst – und die Frage seiner Justitiabilität ist ein schwieriges Problem, das wir hier nicht anschneiden können –, dann ist jede der EU auch vertraglich zugewiesene Zuständigkeit daraufhin zu prüfen, ob die untere Ebene sie nicht adäquat wahrnehmen könnte. Wann tritt jedoch die Notwendigkeit eines subsidiären Eingreifens der oberen Ebene auf? Dieses Problem stellt sich generell in föderalen Systemen oder Mehrebenensystemen, die sich das Subsidiaritätsprinzip als ein Grundprinzip der Demokratie zu eigen gemacht haben, so wie es in der Präambel des EU-Vertrages formuliert ist, nämlich dass „die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden“ (Präambel EUV). Doch auch diese Formulierung ist nicht operational, denn was ist „möglichst bürgernah“? Die neoklassische Theorie des Fiskalföderalismus (für eine Übersicht s. Oates 1999) bietet hierfür eine Lösung. Sie untersucht generell Kosten und Nutzen der Zuweisung von öffentlichen Aufgaben an die unterschiedlichen Regierungsebenen und trifft dann ihre Entscheidungen nach dem ökonomischen Prinzip der Nutzenmaximierung. Auf den ersten Blick scheinen Nutzenmaximierung und Bürgernähe nichts miteinander zu tun zu haben. Doch wenn wir Kosten und Nutzen unterschiedlicher Entscheidungsebenen näher betrachten, dann stellen wir eine brauchbare Entsprechung fest. Die alte Hypothese der Planwirtschaftler, dass Zentralisierung Koordinations- und Verwaltungskosten spare, wird kaum noch vertreten. Zu zahlreich sind die Gegenbeispiele vor allem aus den Zentralplanwirtschaften, wo Informationskosten und Motivationsprobleme optimale Entscheidungen verhindert haben. Eindeutig negativ schlagen die Kontrollkosten zu Buche, die bei wachsender Entfernung vom Bürger zunehmen, weil die Kontrolle der Entscheidungsträger delegiert werden muss. Die Kosten der zunehmenden Zentralisierung werden schließlich noch durch die regionale Inhomogenität der Präferenzen erhöht. Dieses Argument geht von der durchaus plausiblen Annahme aus, je kleiner und geschlossener eine gesellschaftliche Gruppe ist, desto homogener sind ihre Präferenzen. Politische Entscheidungen in einer Demokratie unterliegen dem Diskriminierungsverbot oder dem Gleichheitsgrundsatz. So auch in der Europäischen Gemeinschaft und das heißt, dass Rege-
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lungen für den gesamten Jurisdiktionsraum der jeweiligen Regierungsebene undifferenziert gültig sein müssen. Treffen diese einheitlichen Entscheidungen jedoch auf heterogene Präferenzen, dann sind Ineffizienzen fast unvermeidlich. Ein Schutz davor ist das Einstimmigkeitsprinzip, das in der EU deshalb in vielen Bereichen hoch gehalten wird. Hieraus ließe sich eine generelle Präferenz für dezentrale Entscheidungen ableiten, die – konsequent zu Ende gedacht – zum endgültigen Verzicht auf interventionistische Wirtschaftspolitik führte. Das ist das Hayeksche Plädoyer. Die Theorie des Fiskalföderalismus zeigt dagegen, dass es auf die Frage nach dem adäquaten Entscheidungsniveau keine allgemeinverbindliche Antwort gibt, sondern dass man hier je nach betroffener Wirtschaftsaktivität differenzieren muss. Dabei baut sie auf der allgemeinen ökonomischen Theorie des Staates auf. Das Hayeksche Plädoyer und das allgemeine demokratische Prinzip der Subsidiarität werfen erst einmal die Frage auf, warum es überhaupt staatliche Eingriffe in die private Wirtschaftstätigkeit geben sollte. Die Antwort finden wir in der Theorie des Marktversagens: öffentliche Güter, Skalenerträge und externe und spillover-Effekte bringen die Möglichkeit mit sich, dass rein über den Markt koordinierte private Entscheidungen zu suboptimalen Ergebnissen führen. Staatlicher Eingriff folgt daraus noch nicht zwingend, wie das Coase-Theorem zeigt, nach dem die betroffenen Parteien unter bestimmten Voraussetzungen die optimale Lösung auch über individuelle Verhandlungen finden können. Diese Voraussetzungen, uneingeschränkte Eigentumsrechte, Vertragsfreiheit und keine Transaktionskosten, sind in der Realität aber nicht perfekt gegeben. So können die Transaktionskosten individueller Koordination häufig für kollektive Lösungen sprechen, zum Beispiel Emissionsverbote oder Energiesteuern. Diese erste Stufe des Subsidiaritätsgedankens, die den Übergang von der Gesellschaft zum Staat rationalisiert, ergänzt der Fiskalföderalismus dadurch, dass er die gleichen Überlegungen für die zweite Stufe anwendet, die die Verteilung der staatlichen Aktivität auf die unterschiedlichen Regierungsebenen regelt. Der Nutzen öffentlicher Güter ist meistens geographisch begrenzt – Güter also, von deren Konsum man niemanden ausschließen kann und die durch den Konsum auch nicht in ihrer angebotenen Menge reduziert werden, so dass niemand spontan bereit wäre, dafür zu zahlen. Je nach Gut kann der betroffene geographische Raum allerdings unterschiedlich groß sein. Die Straßenbeleuchtung ist erst einmal Angelegenheit der Straßenanwohner. Skalenerträge, d.h. Kostenersparnisse, machen es jedoch effizient, die Straßenbeleuchtung auf kommunaler Ebene zu regeln. Die äußere Sicherheit eines Landes ist quasi definitionsgemäß auf zentralem Niveau zu versorgen. Bei der inneren Sicherheit ist das bereits nicht mehr so eindeutig. Die allgemeine Regel lautet, dass öffentliche Güter auf der Regierungsebene bereitgestellt werden sollten, die den minimalen geographischen Raum abdeckt, der die Kosten und Nutzen ihrer Bereitstellung internalisiert, bei der Straßenbeleuchtung also auf der Ebene der Gemeinde. Da öffentliche Güter nur ein Spezialfall von externen Effekten sind, kann diese Regel verallgemeinert werden. Nun folgen die Internalisierungsräume von ökonomischen externen Effekten natürlich nicht immer den administrativen Grenzen von politischen Regierungsebenen. Doch wenn die Überschreitung signifikant ist, ist das ein Argument für die Regelung auf der nächst höheren Ebene. Neben den Argumenten des Fiskalföderalismus gibt es auch noch politischökonomische Überlegungen zur Kompetenzverteilung in der Wirtschaftspolitik. Auch hier ist das Argument grundsätzlich das gleiche für beide Schritte, den Übergang von der Gesellschaft zum Staat und dann zu den einzelnen Regierungsebenen. Und auch hier können
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wir wieder vom Hayekschen Plädoyer für vollständige Dezentralisierung ausgehen. Je dezentralisierter ein System organisiert ist, desto höher ist der Grad des Wettbewerbs, der in ihm herrscht. Und Wettbewerb ist die dynamische Kraft der Gesellschaft, wie schon Heraklit wusste, der ihn den Vater aller Dinge nannte. Etwas bescheidener betonte Hayek (1969) seine Eigenschaften als Entdeckungsverfahren. Generell beruhen effiziente Gleichgewichte in Marktwirtschaften, vor allem aber ihre innovative Dynamik auf Wettbewerb. Das ist auch die ordnungspolitische Grundüberzeugung der Europäischen Gemeinschaft. Wettbewerb gibt es nicht nur auf der Ebene der Individuen oder der Unternehmen. Es gibt ihn auch auf der kollektiven Systemebene, z.B. in der Form von Standortwettbewerb und Steuerwettbewerb. Dass auch der Systemwettbewerb bis zum Bankrott oder Untergang des unterlegenen Konkurrenten führen kann, hat der Ost-West-Konflikt der Nachkriegsperiode unter Beweis gestellt. Vom Standpunkt der dynamischen Wettbewerbstheorie gesehen ist dies ein Fall von creative destruction (Schumpeter) – eine ineffiziente Wirtschaftsordnung und das sie tragende politische System mussten abgewickelt werden, um den Übergang zu einer effizienteren Ordnung zu ermöglichen. Regulierungen, die auf unteren Regierungsebenen vorgenommen werden, stellen die Elemente dieser unteren Ebene in Wettbewerb zueinander: Gemeinden konkurrieren um die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen miteinander – Standortwettbewerb. Der Wettbewerb äußert sich in Abwanderung (exit) und Widerspruch (voice): gefallen einem die Bedingungen in der eigenen Gemeinde nicht, wandert man ab in eine andere oder man versucht, die präferierten Bedingungen in der eigenen Gemeinde durchzusetzen. Beides ist natürlich mit Kosten verbunden. Je höher die Regierungsebene, desto höher die Kosten für Abwanderung und Widerspruch, desto geringer also die treibende Kraft des Wettbewerbs. Die Grundidee des gemeinsamen Marktes ist die Herstellung einer maximalen Mobilität für Güter, Dienste, Kapital und Arbeit, d.h. also einer Minimierung der Wanderungshemmnisse, und damit einer maximalen Wettbewerbsintensität. Jeder Konkurrent sollte gleiche Wettbewerbsbedingungen vorfinden. Auf der anderen Seite sind die optimalen Wettbewerbsbedingungen nicht bekannt und sollten durch Systemwettbewerb herausgefunden werden. Das logische Problem, das sich dabei ergibt, folgt aus der Tatsache, dass Regulierungswettbewerb einerseits zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann, wenn nämlich Kapital und Arbeit zum Beispiel durch steuerliche Anreize oder Subventionen angelockt werden, und andererseits zu einem Gefangenendilemma, wenn nämlich die Wettbewerber sich an das attraktivste Niveau anzupassen versuchen, was meistens als race to the bottom beschrieben wird. Die Frage, die also zu klären ist, richtet sich auf die legitimen Wettbewerbsparameter. Wenn wir nun annehmen, der Staat übernehme bestimmte Aufgaben genau auf der Ebene, auf der Kosten und Nutzen optimal integriert werden, z.B. Straßenbeleuchtung auf der Ebene der Gemeinde, dann werden die einzelnen Gemeinden entsprechend den Präferenzen der Mehrheit ihrer Bürger unterschiedlich mit Straßenbeleuchtung versorgt sein. Die Minderheit, deren Präferenz nicht zum Zuge gekommen ist, wandert möglicherweise ab, da ihr Widerspruch ja keinen Effekt hatte. Müsste, um diese Abwanderung zu verhindern, die Straßenbeleuchtung nun auf der nächst höheren Ebene harmonisiert werden? Das wäre wohl kaum effizient. Andererseits, wenn die einzelnen EU Mitgliedländer unterschiedliche Zinsbesteuerungen haben, dann wandert in der Tendenz das gesamte Sparkapital zum günstigsten Standort, sagen wir nach Luxemburg. Das können die anderen Länder nicht zulassen. Bei freier Kapitalmobilität – für sich genommen höchst wünschenswert – erhalten wir
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also entweder ein race to the bottom, oder die Zinsbesteuerung wird auf der nächst höheren, der EU-Ebene harmonisiert. Das letzte Beispiel macht deutlich, dass die nächst höhere Ebene manchmal nicht die optimale ist. Eine europäische Zinssteuerharmonisierung ohne die Schweiz ist offensichtlich sinnlos. Auch das politisch-ökonomische Wettbewerbsargument erlaubt folglich keine generelle Zuweisung von Kompetenzen an bestimmte Regierungsebenen, sondern kann dies nur von Fall zu Fall entscheiden. Es gibt allerdings einen Einwand gegen den Systemwettbewerb, Sinns (2003: 6) sogenanntes Selektionsprinzip: „Because the state is a stopgap which fills the empty market niches and corrects the failures of existing markets, it cannot be expected that the reintroduction of the market by the back door of systems competition will lead to a reasonable allocation result.”
Wenn die staatliche Regulierung und Intervention prinzipiell nur solche Aktivitäten auswählen, wo kein Markt vorhanden ist oder wo der Markt versagt, wieso sollte man dann erwarten, dass Wettbewerb unter den Staaten in diesen Fällen zu effizienteren Ergebnissen führe? Solche Fälle gibt es durchaus, und Systemwettbewerb ist nicht grundsätzlich abzulehnen. Es sind dies die Fälle, in denen die Entscheidungen auf der richtigen, die externen Effekte internalisierenden Ebene gefällt werden, über die hinaus keine weiteren externen Effekte auftreten. Bleiben wir bei dem etwas überanstrengten Beispiel der Straßenbeleuchtung: es ist effizient, sie auf dem Gemeindeniveau zu regeln, und ebenso, dass Kommunen auf dem Markt für beleuchtete Straßen miteinander konkurrieren. Die Gefahr eines race to the bottom, allgemeiner Dunkelheit also, ist kaum gegeben. Worauf Sinn allerdings zu recht hinweist, ist die durchaus reale Möglichkeit eines „Marktversagens“ im Systemwettbewerb. So wie es Marktversagen gibt, das staatliches Eingreifen legitimieren kann, gibt es auch ein Versagen des Systemwettbewerbs, das Regelung auf einer höheren Systemebene legitimiert. Beide Konsequenzen sind nicht in jedem Fall zwingend. Im ersten Fall ist das Marktversagen gegenüber potentiellem Staatsversagen abzuwägen. Im zweiten Fall sollte man ordnungspolitische Änderungen der Wettbewerbsbedingungen in Erwägung ziehen, bevor man zu Harmonisierungen übergeht. Fassen wir kurz die normative Theorie zusammen. Der Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips „so dicht wie möglich beim Bürger“ wird sowohl von der neo-klassischen Theorie wie von der neo-österreichischen Wettbewerbstheorie, so wie wir sie oben im Anschluss an Hayek kurz skizziert haben, unterstützt. Der Staat generell und speziell höhere Regierungsebenen kommen auf Grund von statischen und dynamischen Effizienzgesichtspunkten nur dann ins Spiel, wenn externe Effekte oder Skalenerträge optimale Entscheidungen auf den unteren Ebenen nicht zulassen. Je weiter der Gültigkeitsraum von Entscheidungen wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von inhomogenen Präferenzen und damit die Notwendigkeit, zumindest bei wichtigen Entscheidungen auf die Einstimmigkeitsregel zurückzugreifen, um eine Diskriminierung von Minderheiten zu vermeiden. So werden jedoch die höheren Regierungsebenen relativ unflexibel.
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Zuständigkeiten der Gemeinschaft – die empirische Realität
Es ist evident, dass der größte Effizienzvorteil von der negativen Integration erwartet werden kann, d.h. von der Abschaffung aller Handelshemmnisse und Verkehrsbeschränkungen,
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bzw. der Einführung eines gemeinsamen Marktes. Durch die Erweiterung des Marktes sinken automatisch die Marktanteile der einzelnen Akteure auf dem Markt, und der Wettbewerb nimmt zu. Gleichzeitig können auf Grund größerer Absatzchancen Spezialisierungsvorteile und Skalenerträge stärker genutzt werden. Das ist sozusagen die Gründungsidee der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Nun reicht dafür negative Integration nicht aus. Je weiter die Realisierung des gemeinsamen Marktes Gestalt annahm, desto mehr Maßnahmen positiver Integration wurden notwendig. Als erstes braucht eine Zollunion, mit der alles begann, einen gemeinsamen Außentarif oder eine gemeinsame Handelspolitik. Schon der Begriff macht deutlich, dass dies nur auf der EU-Ebene beschlossen werden kann: „Der Rat legt die Sätze des Gemeinsamen Zolltarifs mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission fest.“ (Art. 26 EGV)
Nur wenige Artikel des Vertrages sind so klar und knapp. Ebenso klar war von Beginn an, dass die Gemeinschaft eine Wettbewerbspolitik braucht. Auch wenn die Mitgliedländer, jedes für sich innerhalb seiner Grenzen, den unverzerrten Wettbewerb kontrollierten – was 1957 nicht der Fall gewesen ist –, haben sie nach Einführung des gemeinsamen Marktes starke Anreize, der eigenen Wirtschaft durch Konzentration und Subvention Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und so zusätzliche Wohlfahrt zu gewinnen. Ein Wettbewerb der Wettbewerbsregeln macht deshalb wenig Sinn. Chancengleichheit auf dem gemeinsamen Markt verlangt nach einheitlichen Regeln (Sinn 2003: 188-206). Aber schon hier zeigen sich die Differenzierungsmöglichkeiten. War man anfangs in der Gemeinschaft der Überzeugung, dass alle marktrelevanten Regulierungen vereinheitlicht, also harmonisiert werden müssten, so sah man nach der bahnbrechenden Cassis de Dijon-Entscheidung des EuGH, dass in vielen Fällen das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung ausreicht. Denn kein Mitgliedland hat einen Anreiz, zum Beispiel seine Gesundheitsvorschriften unter ein bestimmtes, den eigenen Präferenzen entsprechendes Niveau zu senken, um den heimischen Produzenten Wettbewerbsvorteile auf ausländischen Märkten zu verschaffen. Und die Präferenzen, so die zusätzliche Annahme, liegen, was Gesundheit betrifft, in Europa nicht weit auseinander. Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung entlastet die europäische Wirtschaftspolitik von einer gewaltigen Harmonisierungslast. Nachdem das Projekt des gemeinsamen Marktes 1992 zu einem gewissen Abschluss gebracht worden war, nahm man im gleichen Jahr das Projekt einer monetären Union in Angriff. Auch hier ist die monetäre Union für sich zu trennen von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die damit möglicherweise auf zentraler Regierungsebene verbunden sind. Die Effizienzvorteile einer gemeinsamen Währung in einem gemeinsamen Markt hängen nach der Theorie des optimalen Währungsraums von der Homogenität der Wirtschaftsentwicklung innerhalb dieses Raums ab und davon, ob im Falle asymmetrischer Schocks andere Ausgleichsmechanismen als die Geld- und Währungspolitik zur Verfügung stehen. Denn eine gemeinsame Währung impliziert eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik. Das eigentliche Problem ist aber die Fiskalpolitik. Es gibt Ökonomen, die eine gemeinsame Währung nur im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Fiskal- oder Stabilitätspolitik für möglich halten. So sah das auch der gescheiterte erste Anlauf zur Währungsunion, der Werner-Plan von 1970. Das heißt, erst politische Union, dann monetäre Union. Denn die Zentralisierung der Fiskalpolitik, selbst im Rahmen eines fiskalischen Föderalismus, ist gleichbedeutend mit einer politischen Union.
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Die Gemeinschaft ist einen anderen Weg gegangen, nämlich die Fiskalpolitik bei den Mitgliedländern zu belassen und sie nur durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt in ihrem diskretionären Handlungsspielraum zu beschränken. Dafür gibt es einige theoretische und empirische Argumente (Tabellini 2003). Ähnlich wie bei der Geldpolitik gibt es auch bei der Fiskalpolitik erhebliche theoretische Zweifel, ob sie als Stabilisierungsinstrument einer demokratischen Regierung, die auf Wiederwahl angewiesen ist, wirklich geeignet ist. Eine Fiskalpolitik, die festen Regeln unterworfen ist, wirkt bereits als automatischer Stabilisator. Notorisch kurzsichtige Regierungen tendieren eher zu pro-zyklischem Verhalten. Mit ähnlicher Begründung wurde bereits die Geldpolitik den Regierungen aus den Händen genommen und der unabhängigen Zentralbank übertragen. Hinzukommt die empirische Feststellung, dass das fiskalpolitische Verhalten auf der unteren Regierungsebene nur geringe spillover-Effekte auf andere Mitgliedländer hat, womit ein wichtiges Zentralisierungsargument fortfällt. Das weite Feld der öffentlichen Güter können wir hier nur kurz anschneiden. Öffentliche Güter, die wegen ihres Wirkungsbereichs auf der Unionsebene angeboten werden müssten, sind allerdings nicht so zahlreich. Vielleicht das wichtigste ist die Wirtschaftsordnung. Eine Wirtschaftsgemeinschaft mit unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen ist schwer vorstellbar. Die Grundfragen der Ordnungspolitik sind zentral zu regeln. Das geschieht im EG-Vertrag, der sich auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art 4.1 EGV) festlegt. Vor allem im Zusammenhang mit der Osterweiterung wurde dieser ordnungspolitische Grundsatz relevant. Denn von den ehemaligen Planwirtschaften verlangte man, dass sie ihren Transformationsprozess zu stabilen und konkurrenzfähigen Marktwirtschaften weitgehend abgeschlossen haben, bevor sie Mitglieder der Gemeinschaft werden. Wie wir im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Markt aber bereits gesehen haben, bedeutet die Zentralisierung der ordnungspolitischen Grundentscheidung nicht, dass alle für die gewählte Ordnung relevanten Politiken ebenfalls zentralisiert werden müssen. Ja, die Sache wird noch etwas komplizierter. Zwar haben wir in der Gemeinschaft eine einheitliche Marktordnung und eine (fast) einheitliche Geldordnung, aber die Sozialordnung und damit auch die Arbeitsmarktordnung unterscheiden sich von Land zu Land nicht unerheblich. Es ist ausgesprochen umstritten, ob die Europäische Union hier einer Harmonisierung bedarf. Ist das nicht der Fall, dann kann die obere Ebene in diesem Bereich auch nur beschränkt zentral regulierend in Aktion treten. Dem trägt die bereits erwähnte Offene Methode der Koordinierung Rechnung. Weitere öffentliche Güter, von denen üblicherweise angenommen wird, dass sie am effizientesten von der zentralen Regierungsebene bereitgestellt werden, sind die äußere Sicherheit und die Außenpolitik. Das sind keine Aspekte der Wirtschaftspolitik und soll uns deshalb nicht näher beschäftigen. Was die Außenpolitik anbelangt, so gibt es im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag Bemühungen, diese zumindest partiell zu zentralisieren. Die äußere Sicherheit verlangt nach einem Gewaltpotential, und da haben wir bereits gesehen, dass die Mitgliedländer bislang nicht bereit waren, ihr Monopol der physischen Gewaltausübung abzutreten oder zu teilen. Die europäische Sicherheitspolitik wird bislang nicht im Rahmen der Europäischen Union, sondern im Rahmen der NATO koordiniert. Was die innere Sicherheit anbelangt, so sehen wir am Beispiel der Bundesstaaten (Polizei ist Ländersache in Deutschland), dass hier eine weitgehende Dezentralisierung möglich ist.
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Politikfelder, deren Regelung auf zentraler Ebene sehr umstritten ist, sind die Agrarpolitik und die Sozialpolitik. Letztere klammern wir hier aus, da sie in einem eigenen Kapitel behandelt wird. Die Logik der gemeinsamen Agrarpolitik ist grundsätzlich recht einfach. Der Agrarmarkt ist Teil des gemeinsamen Marktes. Auf ihn müssen die gleichen Regeln zutreffen wie auf die übrigen Teilmärkte des gemeinsamen Marktes: keine Diskriminierung, keine Wettbewerbsverzerrungen, gleiche Chancen für alle Anbieter. Oder er wird aus dem gemeinsamen Markt ausgeklammert, wie das bei der EFTA auf dem niedrigeren Niveau einer Freihandelszone der Fall gewesen ist. Wettbewerbsverzerrungen treten auf dem Agrarmarkt weniger durch das Verhalten der Anbieter auf als durch die staatliche Politik. In fast allen Industrieländern gibt es eine Agrarpolitik, die zum Schutze der bäuerlichen Betriebe und zur Stabilisierung der Preise und der Einkommen ein komplexes Instrumentarium von Zöllen, Subventionen und anderen Regulierungen zum Einsatz bringt. In einem gemeinsamen Agrarmarkt muss diese Politik vereinheitlicht werden. Das ist dann nicht der Fall – und hier haben wir ein schönes Beispiel für Dezentralisierungsmöglichkeiten der Wirtschaftspolitik –, wenn die Förderung der bäuerlichen Betriebe von der Produktion und damit vom Markt entkoppelt wird und in der Form von direkten Zahlungen erfolgt. Den Weg beschreiten die Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik seit 1992, und es wird bereits darüber gesprochen, den Mitgliedländern längerfristig dieses in seinem Instrumentarium nun eingeschränkte Politikfeld zumindest teilweise zurück zu übertragen.
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Wie aktiv ist die EU-Wirtschaftspolitik?
Die Wirtschaftspolitik verfügt über zwei Instrumente: Geld und Regeln. Die europäische Wirtschaftspolitik folgt dem Grundsatz rather rules, not money. Notgedrungen, denn sie unterliegt harten Budgetbeschränkungen. Der gesamte Haushalt der EU darf zurzeit nicht höher als 1,27 % des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft betragen. Tatsächlich liegt er unter diesem Grenzwert. Zweitens muss er vertragsgemäß (Art. 268 EGV) ausgeglichen sein: die EU macht keine Schulden. Vergleichen wir die 1,27 % des EU-Haushalts mit dem Anteil der Staatsausgaben der Mitgliedländer an ihrem BIP, der im Jahre 2003 zwischen 35 % in Irland und 58 % in Schweden lag, dann sehen wir, dass die EU mit ihrem Haushalt keine großen Sprünge machen kann. Die gesamte Ausgabensumme von rund 100 Mrd. € im Jahre 2004 erscheint noch immer beachtlich, ist aber angesichts der Größe der Gemeinschaft eben sehr bescheiden. Knapp die Hälfte davon wird für die Agrarpolitik aufgewendet, ein weiteres Drittel für die Regional- und Strukturpolitik. In beiden Fällen handelt es sich um Umverteilungsmaßnahmen zugunsten eines schwachen Sektors, zugunsten der bäuerlichen Betriebe bzw. zugunsten zurückgebliebener Regionen. Alle anderen Posten kann man fast vernachlässigen. Kurzum, die Haushaltspolitik ist in der EU weitestgehend dezentralisiert. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise teilen sich die Staatsausgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden im Verhältnis 60 : 24 : 16 auf. Also Regeln. Die primäre Rechtsquelle der EU sind die Verträge. Sekundäres Recht entsteht aus:
Verordnungen: sie sind allgemeinverbindlich und ohne Umsetzung in nationales Recht gültig.
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Hans-Jürgen Wagener Richtlinien: sie sind verbindlich für die angesprochenen Mitgliedländer und müssen in nationales Recht umgesetzt werden, wobei dem nationalen Rechtssetzer gewisse Handlungsspielräume offen bleiben. Entscheidungen: sie sind Verwaltungsakten vergleichbar und binden die angesprochenen Akteure.
Eine einflussreiche weitere Rechtsquelle sind die Urteile des EuGH, auch wenn sie formal nicht als Recht gelten. Der EuGH legt die primären und sekundären Rechtsquellen aus und bestimmt so ihre Anwendung und ihren Geltungsbereich. Alesina, Angeloni und Schuknecht (2001) haben sich die Mühe gemacht, die einzelnen legislativen Akte der Gemeinschaft über die Zeit von 1971 bis 2000 zu zählen. Gleichzeitig haben sie diese in elf breite Politikfelder eingeordnet. Tabelle 1 gibt das Resultat für das erste und letzte Jahrfünft wieder. Tabelle 1: Legislative und fiskalische Aktivitäten der EU 1971-2000 Politikfeld
1971-1975
1996-2000
Regeln absolut
Regeln
in %
absolut
Anteil am
in %
EU-HH
Handelspolitik
864
33,1
2 041
17,9
0,1
Gemeinsamer Markt
133
5,1
529
4,6
0,2
49
1,9
249
2,2
0,1
Landwirtschaft
980
37,5
4 907
43,0
46,7
Industrie, Energie
109
4,2
370
3,2
1,0
66
2,5
160
1,4
0,0
Unternehmensbeziehungen
116
4,4
1 406
12,3
0,4
Internat. Beziehungen
155
5,9
501
4,4
9,2
Umwelt
29
1,1
255
2,2
0,2
FuE, Erziehung, Kultur
15
0,6
136
1,2
5,5
Soziales, Bürger
96
3,7
860
7,5
35,9
2 612
100
11 414
100
100
Geld und Finanzen
Transport
Insgesamt Quelle: Alesina/Angeloni/Schuknecht 2001
Tabelle 1 bedarf kurz der Erläuterung. Die Politikfelder sind nicht so eindeutig, wie ihre Bezeichnungen suggerieren. Es scheint selbstverständlich, alle die Landwirtschaft betreffenden Aktivitäten der entsprechenden sektoralen Wirtschaftspolitik zuzurechnen. Viele der Aktivitäten dienen aber gleichzeitig, wie wir gesehen haben, der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Marktes, indem sie Wettbewerbsgleichheit in diesem Sektor schaffen. Das
Europäische Wirtschaftspolitik
361
lässt sich in der Aufstellung der Tabelle nicht wiedergeben. Unter dem Titel Unternehmensbeziehungen sind nicht sektoral ausgerichtete Maßnahmen zusammengefasst wie Vereinheitlichung von Gesetzen, Wettbewerbspolitik und allgemeine Subventionen. Die internationalen Beziehungen enthalten vor allem auch die Entwicklungshilfe. Unter dem Titel „Soziales und Bürger“ werden auch die Maßnahmen der Struktur- und Regionalpolitik subsumiert, was besonders unglücklich ist, aber verständlich, da die Mittel der Strukturund Kohäsionsfonds für sehr unterschiedliche Aktivitäten verwendet werden. Der Einwand, dass die Zahl der legislativen Akte nicht ihre Bedeutung wiedergibt, liegt auf der Hand. Doch die quantitativen Verhältnisse der Tabelle widerspiegeln sicher in groben Zügen die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Gemeinschaft. Mit diesen Daten können wir nun den drei Autoren bei der Bewertung der europäischen Wirtschaftspolitik folgen. Dazu wird die augenblickliche politische Intensität in den einzelnen Politikfeldern mit der nach den normativen Gesichtspunkten optimal erscheinenden Intensität verglichen. Tabelle 2: Konzentration der Wirtschaftspolitik nach Regierungsebenen
Handelspolitik
Externe Effekte Stark
Präferenzasymmetrie Niedrig
Bevorzugte Regierungsebene EU / Global
Rolle der EU Groß
Gemeinsamer Markt
Stark
Niedrig
EU
Groß
Geld und Finanzen
Stark /
?
National / EU
Mittel
Politikfeld
Mittel Landwirtschaft
Gering
Hoch
National
Groß
Industrie, Energie
Gering
Hoch
National
Gering
Transport
Gering
Hoch
National
Gering
Unternehmensbeziehungen
Stark
?
EU / Global
Groß
Intern. Beziehungen
Mittel /
Niedrig
National / EU
Gering
Hoch
National / EU /
Gering
Stark Umwelt
Mittel / Stark
Global
FuE, Erziehung, Kultur
Gering
Hoch
Lokal / National
Gering
Soziales, Bürger
Gering
Hoch
Lokal / National
Groß
Quelle: Alesina, Angeloni, Schuknecht 2001
Tabelle 2 wendet die weiter oben ausgeführten theoretischen Überlegungen zur optimalen Kompetenzzuweisung auf die konkreten Politikfelder der Gemeinschaft an. In Aktivitäten, wo starke externe Effekte auftreten, wird eine höhere Regierungsebene für Regulierungs-
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Hans-Jürgen Wagener
entscheidungen angebracht sein, als dort, wo nur geringe externe Effekte auftreten. Auf der anderen Seite sind in Feldern, in denen die nationalen Regierungen die gleichen Ziele verfolgen, wo die Präferenzasymmetrie folglich niedrig ist, zentrale Entscheidungen leichter möglich. Weisen die Präferenzen dagegen erhebliche Unterschiede auf, ist ein dezentrales Entscheidungsniveau eher angebracht. In einem Feld wie Geld und Finanzen lässt sich das nicht ohne weiteres ex ante bestimmen; denn hier hängen die politischen Präferenzen von der theoretischen Fundierung ab: keynesianisch orientierte Politiker haben andere geldpolitische Präferenzen als monetaristisch-liberal orientierte. Während in den meisten Politikfeldern die normative Erwartung mit der tatsächlichen Rolle der Europäischen Gemeinschaft übereinstimmt, ist das in vier Bereichen nicht der Fall. In den internationalen Beziehungen und bei der Umweltpolitik wäre eine stärkere Koordination auf der Gemeinschaftsebene wünschenswert. Das Defizit haben wir bei den internationalen Beziehungen, die die Politikfelder Außen- und Verteidigungspolitik und Entwicklungshilfe umfassen, bereits weiter oben angesprochen. In diesen Bereichen fällt den Mitgliedländern die Aufgabe von Souveränität besonders schwer. Man wird auch bezweifeln können, ob die Präferenzasymmetrie hier wirklich niedrig ist. Die Umweltpolitik ist ein Fall, wo die externen Effekte und die Präferenzasymmetrie zu unterschiedlichen normativen Erwartungen führen. Die Landwirtschaft zeigt sich auch hier als der Problembereich der europäischen Wirtschaftspolitik. Der Reformbedarf ist allgemein anerkannt, auch wenn sich Änderungen von Umverteilungsmaßnahmen nur gegen Widerstände durchsetzen lassen. Bei der Beurteilung des Politikfeldes „Soziales und Bürger“ können wir den drei Autoren schließlich nicht folgen. Die indizierte große Rolle der EU ist ausschließlich Folge der Zurechnung der Regional- und Strukturpolitik zu diesem Sektor. Umverteilungsmaßnahmen können der Natur der Sache nach nur auf der oberen Regierungsebene vorgenommen werden. Und verglichen mit der interregionalen Umverteilung in anderen großen Bundesstaaten, z.B. den USA, ist der Umfang in der Europäischen Gemeinschaft gering. Die Rolle der europäischen Sozialpolitik, die wegen der hohen Präferenzasymmetrie der Einstimmigkeitsregel unterliegt, ist dagegen äußerst bescheiden.
6
Schlussbemerkung
Seit Mai 2004 hat die Zahl der Mitgliedländer der EU von 15 auf 25 zugenommen, und vier weitere Länder sitzen zurzeit im Wartezimmer. Welche Folgen hat das für die europäische Wirtschaftspolitik? Der Wirtschaftsraum der Gemeinschaft ist durch die Erweiterung erheblich größer und erheblich inhomogener geworden. Nach der oben ausgeführten Theorie ist es wahrscheinlich, dass die Zahl der externen Effekte, die den gesamten Wirtschaftsraum erfassen, und die Zahl der öffentlichen Güter, die über den gesamten Raum wirksam sein sollten, abnehmen wird. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass die Inhomogenität der Präferenzen zunehmen wird, zumal die Neuankömmlinge ein Entwicklungsniveau haben, dass zum Teil weit unter dem der bisher am geringsten entwickelten Mitgliedländer, Griechenland und Portugal, liegt. Hieraus folgt erst einmal, dass die wirtschaftspolitische Domäne der zentralen Regierungsebene verkleinert werden müsste. Nehmen wir aber an, dass die Aktivität der Gemeinschaftsebene für die EU-15 optimal war – wir haben gesehen, dass das nicht in jedem Einzelfall so gewesen ist –, dann würde die Rückverweisung von bestimmten wirtschaftspoliti-
Europäische Wirtschaftspolitik
363
schen Kompetenzen an die untere, nationale Regierungsebene für die Altmitglieder ineffizient sein oder, anders ausgedrückt, die Erweiterung wäre ineffizient gewesen. Die Ineffizienz kann allerdings behoben werden durch das, was man das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nennt: einzelne Mitgliedländer kooperieren auf bestimmten Politikfeldern miteinander und bilden so eine neue Regierungsebene zwischen der Gemeinschaftsebene und der nationalen Ebene. Ein gutes Beispiel ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Schon bislang sind nur 12 der 15 Altmitglieder der EU auch Mitglied der WWU gewesen. Auf Grund abweichender währungspolitischer Präferenzen haben sich Großbritannien, Dänemark und Schweden abseits gehalten. Die Option stand den beiden ersten bei der Gründung der WWU 1992 offen, Schweden konnte sie sich bei seinem Beitritt 1995 ausbedingen, weil die WWU noch nicht effektiv acquis communautaire war. Die Neumitglieder der Osterweiterung haben diese Wahlmöglichkeit nicht. Aber auf Grund ihrer besonderen Entwicklungssituation und der noch nicht voll synchronisierten Wirtschaftsentwicklung ist die Aufgabe der nationalen Geld- und Währungspolitik zurzeit noch nicht zu empfehlen. Und so wird es einige Jahre dauern, bis sie diesen Schritt im Einvernehmen mit der Union vollziehen werden. Die Bedingung, den acquis communautaire voll zu übernehmen, lässt zwar den Schluss zu, dass die Beitrittsländer in eine Pareto-superiore Situation gekommen sind, dass also die bestehende Wirtschaftspolitik nicht auf eine Fundamentalopposition stößt. Sonst hätten sie dagegen gestimmt. Aber einigen Kröten werden sie schon haben schlucken müssen. Daraus können wir die Vermutung ableiten, dass in den kommenden Jahren ein Druck entstehen wird, die europäische Wirtschaftspolitik ihren Präferenzen entsprechend abzuändern oder zu ergänzen. Auch hierfür gibt es einen Präzedenzfall – die Schaffung des Kohäsionsfonds, der eine Umverteilung zugunsten der schwach entwickelten Länder Griechenland, Spanien, Portugal und Irland zum Ziel hatte und ihnen die Zustimmung zur Währungsunion erleichtern sollte. Die noch sehr viel höheren Kohäsionsanforderungen der neuen Mitgliedländer lassen auf jeden Fall den Schluss zu, dass die europäische Wirtschaftspolitik nicht billiger werden wird.
Literatur Alesina, Alberto / Wacziarg, Romain, 1999: Is Europe going too far? In: Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy, vol. 51, S. 1-42. Alesina, Alberto / Angeloni, Ignazio / Schuknecht, Ludger, 2001: What Does the European Union Do? Cambridge, MA: NBER, Working Paper No. 8647. Hayek, Friedrich A. von, 1969: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In: ders., Freiburger Studien. Tübingen: Mohr, S. 249-265. Kommission der EG, 2001: Europäisches Regieren. Ein Weißbuch. KOM (2001) 428, Brüssel. Oates, Wallace E., 1999: An Essay on Fiscal Federalism. In: Journal of Economic Literature, vol. 37, S. 1120-149. Scharpf, Fritz W., 1999: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt a.M.: Campus. Scharpf, Fritz W., 2002: Regieren im europäischen Mehrebenensystem – Ansätze zu einer Theorie. In: Leviathan, vol. 30, no. 1, S. 65-92. Sinn, Hans-Werner, 2003: The New Systems Competition. Oxford: Blackwell. Streit, Manfred E., 2000: Theorie der Wirtschaftspolitik. 5. Auflage. Düsseldorf: Werner. Tabellini, Guido, 2003: Principles of Policymaking in the European Union. In: CESifo Economic Studies, vol. 49, no. 1, S. 75-102.
364
Hans-Jürgen Wagener
Tinbergen, Jan, 1954: International Economic Integration. Amsterdam: Elsevier. Weber, Max, 1956: Wirtschaft und Gesellschaft. 4. Auflage. Tübingen: Mohr.
Europäische Sozialpolitik
365
Hermann Ribhegge
Europäische Sozialpolitik
1
Zur Definition der Sozialpolitik
Das, was wir unter Sozialpolitik verstehen, ist recht umstritten. Es gibt sehr enge Definitionen der Sozialpolitik, bei denen Sozialpolitik auf den Kernbereich der Sozialpolitik, die Sozialversicherung in Form der Alters- und Kranken- sowie der Arbeitslosenversicherung, beschränkt wird. In diesem Bereich der Sozialpolitik dominiert das Ziel der sozialen Sicherung. Ein zweites Ziel der Sozialpolitik, das der sozialen Gerechtigkeit, findet auch in der sozialen Sicherung seinen Niederschlag, es hat aber einen zentralen Stellenwert in den vielen und nicht zu vernachlässigenden speziellen Politikbereichen der Sozialpolitik: Sozialhilfe, Wohnungs-, Familienpolitik, Jugendhilfe und Vermögenspolitik, um nur einige Bereiche zu nennen. Es ist schon immens schwierig, in einem Überblicksbeitrag diese speziellen Politikbereiche auf nationaler Ebene kurz und präzise darzustellen.1 Völlig unrealisierbar wird diese Aufgabe, wenn wir uns den nationalen Ausgestaltungen dieser Politikbereiche in mehreren oder gar allen EU-Staaten zuwenden. Aufgrund der historischen Entwicklung in den Sozialsystemen als auch aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen divergieren diese Sozialsysteme immens. Von daher werden wir uns im folgenden im Wesentlichen auf die soziale Sicherung beschränken. Wie wir später ausführlich skizzieren werden, finden wir schon im Bereich der sozialen Sicherung auf drei Ebenen immense Unterschiede in den Sozialsystemen der EU. Dies gilt für die Ziele der jeweiligen Sozialpolitik, insbesondere wenn es z. B. um den Stellenwert des Ziels der sozialen Gerechtigkeit geht, für die Träger, wenn zwischen staatlicher und privater Versicherung zu entscheiden ist, und bei den Instrumenten, wenn es um die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik auf nationaler Ebene geht.
2
Die rechtlichen Grundlagen der Sozialpolitik in der EU2
Bei den rechtlichen Grundlagen der europäischen Sozialpolitik unterscheiden wir zwischen dem primären und dem sekundären Recht der EU. Bei dem primären Recht geht es um die Verträge der EU, die konstitutiv für die Sozialpolitik der Kommission sind und die die Kompetenzen der europäischen Sozialpolitik gegenüber den nationalstaatlichen Sozialpolitiken festlegen. Darüber hinaus existieren als sekundäres Recht die Richtlinien und die Verordnungen der Kommission, die durch das primäre Recht der EU legitimiert sein müssen. Mit den Richtlinien gibt die Kommission einen Rahmen für die nationale Gesetzgebung vor, der 1
Siehe für den Bereich der sozialen Sicherung Ribhegge 2004a und für die speziellen Bereiche der Sozialpolitik Lampert/Althammer 2004. 2 Siehe dazu im Einzelnen Eichenhofer 2003.
366
Hermann Ribhegge
von den Mitgliedsstaaten in einem gewissen Zeitraum durch nationales Recht gefüllt werden muss. Verordnungen der Kommission müssen nicht erst in nationales Recht umgesetzt werden, sondern sie gelten unmittelbar wie nationale Rechtsvorschriften. Schon der Begriff der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft macht deutlich, dass bei der Gründung der EWG wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen. Sozialpolitik hatte in den ersten Jahren der heutigen EU mehr instrumentalen Charakter, sie sollte in erster Linie dazu dienen, die ökonomische Effizienz zu erhöhen. Echte sozialpolitische Zielsetzungen waren spärlich im EWG-Vertrag vorhanden und beschränkten sich auf den Titel VIII des Vertrages: „Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend“. So findet man im EWG-Vertrag das Recht auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen sowie das Recht auf bezahlte Arbeit. Bedeutsamer waren die Regelungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Um die Mobilität der so genannten Wanderarbeitnehmer zu erhöhen, sah der Vertrag spezifische Leistungen der sozialen Sicherung für diesen besonderen Typus von Arbeitnehmern vor. Diese Rechte wurden im Laufe der Jahre systematisch ausgeweitet, indem sowohl der anspruchsberechtigte Personenkreis als auch der Inhalt der Ansprüche systematisch ausgeweitet worden sind, worauf wir später zurückkommen werden. Auch der Sozialfonds der EU, der im EWG-Vertrag vorgesehen war, diente durchaus primär wirtschaftlichen Interessen. In den siebziger Jahren, Däubler (2004: 274) spricht von den „goldenen Siebziger(n)“, gewann die Sozialpolitik in der Gemeinschaft an Gewicht. In dieser Phase wurden einige grundlegende Richtlinien (Lohngleichheits-, Gleichbehandlungsrichtlinie, Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, Richtlinie über Massenentlassungen, Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Übergang von Unternehmen, Betrieben und Betriebsteilen sowie die Insolvenzrichtlinie) verabschiedet, die darauf ausgerichtet waren, die soziale Situation von Arbeitnehmern zu verbessern. Nach einer Phase der Stagnation trat eine Renaissance sozialpolitischer Aktivitäten in der Gemeinschaft mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 ein. Die Mitgliedsstaaten räumten der Gemeinschaft das Recht ein, mit qualifizierter Mehrheit durch Richtlinien Mindestvorschriften zu erlassen, um die Arbeitswelt zu verbessern sowie Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Des Weiteren sieht die Einheitliche Europäische Akte eine Institutionalisierung des sozialen Dialogs zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene vor. Von wesentlicher Bedeutung für die Schaffung eines gerechten Europas, in dem alle Bürger gleiche Chancen haben, ist der neue Titel XIV der Einheitlichen Europäischen Akte, der die „Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ in der Gemeinschaft beinhaltet. Mit diesem Titel wurden die Grundlagen für eine umfassende Struktur-, Regional- und indirekt auch Beschäftigungspolitik der Gemeinschaft geschaffen, wobei bei diesen Politikbereichen eine soziale Ausrichtung im Sinne einer Verbesserung der Lebensverhältnisse vorgesehen ist. Wie schwierig es ist, eine einheitliche Sozialpolitik in der Gemeinschaft zu verwirklichen, verdeutlichen die Verhandlungen in Maastricht über den Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), der 1993 in Kraft getreten ist. Nachdem schon 1989 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer die Mitgliedsstaaten ohne Großbritannien zugestimmt hatten, gelang auch mit dem Maastricht-Vertrag keine EUweite Umsetzung der Charta. Es wurde mit der Verabschiedung des Protokolls über die
Europäische Sozialpolitik
367
Sozialpolitik, das dann im Abkommen über die Sozialpolitik umgesetzt wurde, eine Ausweitung der sozialpolitischen Kompetenzen für die EU vereinbart, die aber nicht für Großbritannien und Irland gültig war. Diese sozialpolitische Sackgasse der zwei Geschwindigkeiten in der Sozialpolitik der Gemeinschaft wurde aber mit dem Vertrag von Amsterdam beendet, mit dem Großbritannien das Sozialabkommen übernahm. Aus sozialpolitischer Sicht sind insbesondere zwei Aspekte des Maastricht-Vertrags bedeutsam. Zum einen wurde im Vertrag das Subsidiaritätsprinzip verankert. Nach diesem Prinzip ist Sozialpolitik in erster Linie Angelegenheit der Mitgliedsstaaten. Nur wenn diese nicht in der Lage sind, ihre sozialpolitische Aufgabe zu erfüllen, soll die Gemeinschaft aktiv werden. Zum anderen schlug sich dieses Prinzip in den Entscheidungsregeln der Gemeinschaft zur Sozialpolitik nieder. Ausgangspunkt bildet dabei die Auffassung, dass abgesehen von den gemeinschaftlichen Aufgaben im Bereich der Sozialpolitik der Vielfalt der einzelstaatlichen Ausgestaltung der Sozialpolitik Rechnung zu tragen sei, so dass der nationale Spielraum in den Staaten der Gemeinschaft auch nach dem Vertrag von Maastricht sehr groß ist. Geht es um Regelungen für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, so kann in diesem Bereich mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden, und der nationalstaatliche Spielraum ist in diesem Bereich gering. Geht es hingegen um Fragen der sozialen Sicherheit, Kündigungsschutz und der Arbeitnehmervertretung, so verlangen Regelungen in diesem Bereich Einstimmigkeit und die nationalstaatliche Autonomie ist hier groß. Hingegen hat die Gemeinschaft überhaupt keine Kompetenzen, wenn es um Fragen des Arbeitsentgelts, des Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrechts geht. In diesem sozialpolitischen Bereich haben die Nationalstaaten ihre volle Eigenständigkeit gewahrt. Mit dem Vertrag von Amsterdam, der 1999 in Kraft getreten ist, hat Großbritannien nicht nur seine Sonderrolle in der Sozialpolitik aufgegeben, sondern es wurde ein neues Kapitel über die Beschäftigungspolitik in den Vertrag aufgenommen. Konstitutiv für die gemeinsame Beschäftigungspolitik der EU ist die Offene Methode der Koordinierung, nach der die Kommission wohl Empfehlungen aussprechen und Beurteilungen bezüglich der nationalstaatlichen Beschäftigungspolitik vornehmen darf, nach der sie aber weder Weisungsbefugnisse noch ein Sanktionspotential besitzt. Hingegen brachte der 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza keine wesentlichen Fortschritte im Bereich der europäischen Sozialpolitik. Neben der Absicherung der Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft ist eine geringfügige Ausweitung des Mehrheitsprinzips im Bereich der europäischen Sozialpolitik zu erwähnen. Entscheidend hat die Rechtssprechung des EuGH nicht nur die europäische, sondern auch die nationalstaatliche Sozialpolitik beeinflusst. Insbesondere hat sich der EuGH in einigen grundlegenden Urteilen zum Verhältnis der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes (Arbeitnehmerfreizügigkeit, freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr) zu den nationalstaatlichen sozialpolitischen Regelungen geäußert. Während die EU-Sozialpolitik sehr stark auf die Förderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ausgerichtet war, hat der EuGH aufgezeigt, dass nationalstaatliche Regelungen im Bereich der Sozialpolitik die vier Grundfreiheiten gefährden können, und er hat entsprechend diese Regelungen in Frage gestellt. Insbesondere hat der EuGH nachgewiesen, dass das – besonders für das Gesundheitswesen kennzeichnende – Territorialprinzip nationalstaatlicher sozialer Sicherungssysteme mit der Grundfreiheit der Dienstleistungsfreiheit kollidieren kann, da dies zur Diskriminierung ausländischer Anbieter führen kann.
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Darüber hinaus hat der EuGH geprüft, ob nicht auch staatliche oder halbstaatliche soziale Sicherungssysteme Kartelle und Monopole darstellen, die mit dem Wettbewerbsrecht der EU nicht zu vereinbaren sind. Der EuGH sieht aber hier einen wettbewerbspolitischen Ausnahmebereich, sofern u. a. die Institutionen nicht gewinnorientiert sind und dem sozialen Ausgleich dienen, was die Pflichtmitgliedschaft eines großen Personenkreises voraussetzt. Problematisch werden nach Auffassung des EuGH sozialpolitische Aktivitäten, wenn sie zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Dies ist z. B. bei Lohnkostensubventionen, Übernahme von Defiziten von Krankenhäusern usw. durchaus möglich.
3
Koordinierung versus Harmonisierung
In der Einleitung haben wir darauf hingewiesen, dass die Sozialsysteme in der EU extrem disparat sind3. Die nationalstaatlichen Sozialsysteme unterscheiden sich nicht nur in ihrer institutionellen Ausgestaltung, ihrem Leistungsniveau, in ihrer Effizienz und ihren Zielsetzungen, sondern sie differenzieren sich weiter aus und insbesondere ist keine Konvergenz der Sozialsysteme in der EU festzustellen. Mit der Aufnahme der 10 neuen Mitglieder durch die Osterweiterung kommt hinzu, dass der wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstand zwischen den EU-15 und den neuen Mitgliedern stark divergiert und sich eine neue Herausforderung für die EU bei dem Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion stellt. Von daher stellt sich mit der EU-Osterweiterung umso dringender die Frage, wie die Sozialpolitik dieser Herausforderung begegnen soll. Bei der Frage, wie die europäische Sozialpolitik gestaltet werden soll, können wir zwei ordnungspolitische Extrempositionen gegenüberstellen. Nach der einen Position soll die europäische Sozialpolitik völlig dezentral von den Nationalstaaten verwirklicht werden, so dass diese autonom ihre nationalstaatliche Sozialpolitik betreiben. Die Gegenposition würde eine europaweite zentralistische Sozialpolitik darstellen, bei der die Gemeinschaft – wie bei der einheitlichen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank – für die Mitgliedsstaaten die Sozialpolitik nach einheitlichen Zielen und Instrumenten durchführt. Beide Extrempositionen sind politisch nicht durchsetzbar. Eine zentralisierte Sozialpolitik würde auf ein energisches Veto der Nationalstaaten in der EU stoßen, die darin nicht nur einen Kompetenzverlust sehen, sondern die eine solche Ausrichtung auch für ineffizient halten. Aber auch die Gegenposition völliger dezentraler Strukturen ist nicht sinnvoll, bedürfen doch die Sozialsysteme zumindest einer gewissen Abstimmung, wenn es um mobile Bürger in der EU geht, bei denen das Territorialprinzip der nationalen Sozialsysteme auf seine Grenzen stößt, nach dem sozialpolitische Leistungsansprüche sich auf das Territorium des jeweiligen Sozialsystems beschränken. Betrachten wir die Ausgestaltung der EU, so stellen wir fest, dass keine der Extrempositionen im Recht der Gemeinschaft verwirklicht worden ist. Vielmehr hat die Gemeinschaft im Vertrag von Maastricht mit dem Subsidiaritätsprinzip eine Zwischenposition bezogen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip liegt die originäre sozialpolitische Verantwortung bei den Mitgliedsstaaten. Nur wenn diese ihre sozialpolitische Aufgabe nicht erfüllen können, soll die Gemeinschaft – sofern sie dazu in der Lage ist – die Aufgabe übernehmen. 3
Siehe dazu ausführlich: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.) 2003.
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Mit dem Subsidiaritätsprinzip, das durchaus eine sinnvolle Richtschnur darstellt, ist aber noch nicht inhaltlich exakt geklärt, welche Aufgaben und Kompetenzen bei den Mitgliedsstaaten bleiben und welche der Gemeinschaft zuzuordnen sind. Bei der theoretischen Reflexion dieser Zuordnungsfrage existieren zwei konträre Philosophien: die neoliberale Position, die auf den Wettbewerb der Sozialsysteme setzt, und die zentralistische, die auf Harmonisierung der Sozialsysteme setzt. Das Credo der neoliberalen Position ist der Glaube, dass wirtschaftliches Wachstum der beste Garant für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse ist. Von daher wird ein Primat der Wirtschafts- vor der Sozialpolitik gefordert. Populär wird dies mit der These verbunden, dass man erst dann den Kuchen verteilen kann, wenn er auch von der Wirtschaft bereitgestellt worden ist. Von daher muss die Politik darauf gerichtet sein, die Marktkräfte über mehr Wettbewerb zu fördern und sie vor sozialpolitischen Eingriffen zu schützen. Da die nationalstaatlichen Politikinstanzen schnell den sozialpolitischen Partikularinteressen erliegen, sehen die Anhänger der neoliberalen Position im Wettbewerb der Sozialsysteme einen Lösungsweg, um gesellschaftlich effiziente Arrangements der nationalen Sozialsysteme zu generieren. Insbesondere lehnt diese Richtung eine Harmonisierung der Sozialsysteme als ineffizient ab, da sie den spezifischen sozialpolitischen Zielsetzungen und den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsständen in der Gemeinschaft nicht gerecht wird. Die zentralistische Richtung sieht die Notwendigkeit der Korrektur von Fehlentwicklungen im wirtschaftlichen Prozess. Sie geht von Markversagen aus, aus dessen Existenz sie die Notwendigkeit von Interventionen ableitet. Von daher stellt sie die Effizienz des Wettbewerbs der Sozialsysteme in Frage. Es ist für diese Richtung unlogisch auf den Wettbewerb der Sozialsysteme zu setzen, wenn die Sozialsysteme gerade deshalb geschaffen wurden, um die Ineffizienzen des Wettbewerbs, wie unzureichende Produktion von Sozialkapital, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, zu korrigieren. Hinzu kommt, dass die neoliberale Position den Wettbewerb zum Wert an sich erhebt. Die Wirtschaft ist aber nur ein Subsystem der Gesellschaft und sie muss sich von daher an den gesellschaftspolitischen und damit auch den sozialpolitischen Zielen ausrichten. Das Primat hat die Gesellschaft. Des Weiteren wird die optimistische Position der Neoliberalen in Frage gestellt, dass mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der EU eine Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung einhergeht. Wie die Berichte der Kommission zur wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion zeigen, kann man diesen Optimismus nicht teilen. Vielmehr stellen wir fest, dass sich die Kohäsion trotz der vielen Aktivitäten der Gemeinschaft immer noch unzureichend entwickelt und sie mit der vollzogenen Osterweiterung noch schwieriger wird. Aus sozialpolitischer Sicht ist dabei besonders die damit einhergehende Divergenz in den Sozialstandards in der EU besorgniserregend. Damit wird zum einen das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Gemeinschaft verletzt. Die Divergenz führt zum anderen zu sozialen Spannungen in der EU und damit zu politischen Instabilitäten. Existiert ein Wohlfahrtsgefälle in der EU, so ist mit einer ineffizienten Wanderung zu rechnen. Wohlfahrtsempfänger in Sozialstaaten mit niedrigem Wohlfahrtsniveau wandern in solche mit hohem Niveau ab. Dies führt zu Abschottungsstrategien der Länder mit hohem Niveau, was dem Konzept des gemeinsamen Marktes mit der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit widerspricht. Der wohl wichtigste Einwand gegen das neoliberale Konzept des Wettbewerbs der Sozialsysteme ist die These, dass dieser Wettbewerb zu einem ruinösen Wettbewerb entartet,
370
Hermann Ribhegge
der zu einem race to the bottom führt, in dessen Zuge soziale Standards im Konkurrenzkampf um bessere Marktpositionen systematisch abgebaut werden. Dagegen wenden die Neoliberalen ein, dass dieses race to the bottom wohlfahrtssteigernd wirkt, da wir eine Überexpansion des Sozialen in Europa haben. Dies ist eine normative Aussage, die einer wissenschaftlichen Bewertung schwer zugängig ist. Überzeugender ist der Hinweis der Neoliberalen, dass in der Realität in der Europäischen Gemeinschaft kein permanenter Abbau sozialer Sicherung stattfindet. Dies ist auch nicht verwunderlich, da der Wettbewerb der Sozialsysteme im Sinne neoliberaler Visionen in Reinkultur nicht stattfindet. Es gibt zwischenstaatliche Abkommen zwischen den EU-Staaten und insbesondere eine Koordination sowie Mindestnormen durch die Europäische Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik, die ein race to the bottom verhindern. Die zentrale Frage, die in der aktuellen Diskussion von Relevanz ist, ist nicht der Grundsatzstreit beider Positionen, sondern die Auseinandersetzung um die Art und Weise der Koordination und um die Höhe von Mindeststandards der sozialen Sicherung in der EU. Wie schwierig diese praktischen Probleme der europäischen Sozialpolitik sind, kann man gut am Beispiel von Mindeststandards der sozialen Sicherung aufzeigen. Bei der Bestimmung von Mindeststandards sind einerseits die Staaten mit einem hohen Niveau an sozialer Sicherung daran interessiert, hohe Standards durchzusetzen, um wohlfahrtsbedingte Zuwanderung in ihre Staaten sowie ein race to the bottom auf die für sie zu niedrigen Sozialstandards zu verhindern. Andererseits werden insbesondere die rückständigen Staaten auf niedrige Sozialstandards drängen, da sie bei hohen Standards in eine Finanzierungskrise geraten und sie ihre niedrigen Sozialstandards als Wettbewerbsvorteil nutzen, um trotz niedriger Produktivität aufgrund niedriger Löhne und Sozialabgaben wettbewerbsfähig zu werden. Wenn man sich die Sozialpolitik in der EU und die Regelungen des Vertrags von Maastricht anschaut, so kann man zu dem Urteil kommen, dass die EU zwischen diesen beiden Extrempositionen eine mittlere Position einnimmt. Sie versucht nicht, die Sozialsysteme in der EU gemäß des Konzepts der best practice zu harmonisieren. Vielmehr beschränkt sich die Gemeinschaft auf Mindeststandards in einigen wenigen Bereichen der Sozialpolitik, in erster Linie in Bereichen, die relativ konsensfähig sind, wie dem Arbeitsschutz. Das Hauptaugenmerk legt die Kommission darauf, die nationalen Sozialsysteme mit dem Konzept des gemeinsamen Marktes kompatibel zu machen, so dass insbesondere die vier Grundfreiheiten gewährleistet sind. Dies versucht sie nicht mit dem Konzept der Harmonisierung, sondern mit dem der Koordinierung zu ermöglichen, dem wir uns im Folgenden zuwenden wollen.
4
Koordinierungsprinzipien der EU4
Der Verordnung 883/2004, die im Wesentlichen eine Aktualisierung der ursprünglichen Verordnungen 1408/71 und 574/72 darstellt, kommt im Rahmen der Koordinierung eine zentrale Stellung zu. Ihr persönlicher Geltungsbereich umfasst u. a. alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren mitversicherte Familienangehörige. Der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung ist explizit in der Verordnung aufgeführt und erstreckt sich u. a. auf die grundlegenden Sicherungssysteme: Renten-, 4
Vgl. auch dazu Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2004.
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Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Die Verordnung umfasst nicht die unterschiedlichen Formen der Absicherung des Existenzminimums, wie die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II in Deutschland. Wenn man die zentralen Regelungen der Verordnung erläutern will, ist es sinnvoll, auf einige wesentliche Prinzipien der Verordnung einzugehen, die deren Intention verdeutlichen und die im Wesentlichen für alle unterschiedlichen Sicherungssysteme gelten. Zentrale Zielsetzung der Verordnung ist die Verwirklichung des Gleichbehandlungsprinzips. EUBürger sollen gegenüber anderen EU-Bürgern nicht dadurch schlechter gestellt werden, dass sie innerhalb der EU mobil sind. Wenn ein Arbeitnehmer ein neues Beschäftigungsverhältnis in einem anderen EUStaat aufnimmt, so stellt sich die Frage, welchem Sozialsystem er zuzuordnen ist und insbesondere, in welchem Land er versichert ist und Sozialbeiträge zahlen muss. Zwei Prinzipien kommen zur Anwendung: Nach dem Territorialprinzip gelten für den Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften nur eines Sozialsystems; nach dem Beschäftigungslandprinzip ist dieses das System, in dem der Arbeitnehmer dauerhaft beschäftigt ist. Nun kann es aber vorkommen, dass ein Arbeitnehmer für seinen bisherigen Arbeitgeber nur vorübergehend in einem anderen EU-Staat beschäftigt ist. Damit dann ein Arbeitnehmer nicht dem immensen bürokratischen Aufwand unterliegt, ständig seine Sozialversicherung zu wechseln, gilt für entsandte Arbeitnehmer, das sind Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber für höchstens zwei Jahre im EU-Ausland eingesetzt werden, dass sie weiter – nach dem Herkunftslandprinzip – in dem ursprünglichen Staat versichert sind, aus dem sie entsandt worden sind. Diese Regelung, die unter Praktikabilitätsaspekten durchaus sinnvoll ist, kann zwischen den EU-Staaten bei stark divergierenden Lohnnebenkosten im Bereich der sozialen Sicherung zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen führen. Das wichtigste Prinzip der Verordnung 883/2004 ist der Gleichbehandlungsgrundsatz, nach dem Arbeitnehmer aus einem anderen EU-Staat in dem Beschäftigungsland nicht schlechter als einheimische Beschäftigte gestellt werden dürfen. Dieses Antidiskriminierungsprinzip impliziert u. a. die Möglichkeit der Zusammenlegung von Versicherungsansprüchen aus allen EU-Staaten. Wenn z. B. ein polnischer Arbeitnehmer, der schon seit Jahren in Polen sozialversichert war, in der Bundesrepublik eine Beschäftigung aufnimmt, so muss er vom ersten Tag an Beiträge in die deutsche Arbeitslosenversicherung zahlen, hätte aber, wenn ausschließlich deutsches Sozialrecht angewendet würde, erst nach einem Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld, auch wenn er schon seit Jahren kontinuierlich Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in Polen gezahlt hat. Gerade bei Arbeitnehmern, aber auch bei vielen Rentnern liegt der Fall vor, dass sie nicht in dem Staat versichert sind, in dem sie zur Zeit wohnen. Für diese Fälle sieht die Verordnung die Aufhebung der Wohnortklausel vor, nach der man Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung nur im jeweiligen Staat (Territorialprinzip) hat. Hingegen sieht die Verordnung einen Leistungsexport von Ansprüchen in den EU-Staat vor, in dem der Versicherte wohnt. So können deutsche Rentner, die in Mallorca wohnen, sich ihre deutsche Rente nachsenden lassen.
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Hermann Ribhegge Koordinierung der Rentenversicherungen
Im Gegensatz zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung beinhaltet die Rentenversicherung nicht nur die Abdeckung eintretender Risiken, wie das des frühzeitigen Todes, sondern auch eine Vorsorge für die Zukunft in Form der finanziellen Absicherung, die aufgrund der sinkenden Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers notwendig wird. Von daher ist es für die Alterssicherung in der EU von existenzieller Bedeutung, dass Altersicherungsansprüche, die in einem EU-Staat erworben worden sind, beim Wechsel des Beschäftigungsbzw. Wohnsitzlandes mitgenommen (Portabilität) werden können und nicht verloren gehen. Die Übertragung von Rentenversicherungsansprüchen wäre EU-weit relativ leicht zu koordinieren, wenn alle Alterssicherungssysteme nach dem Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut und aktuarisch fair in dem Sinne wären, dass im Prinzip der Barwert der erwarteten Zahlungen der Rentenversicherung dem Barwert der erwarteten Einzahlungen in die Rentenversicherung entspricht. Beim Kapitaldeckungsverfahren zahlt man Beiträge in das Alterssicherungssystem, die am Kapitalmarkt angelegt werden, so dass im Alter die eingezahlten Beiträge einschließlich der Zinsen und Zinseszinsen an den Versicherten im Alter ausgezahlt werden. Wären alle Alterssicherungssysteme in der EU nach dem Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut, so benötigte man zur Koordination nur eine EU-weite Clearingstelle. Kennzeichnend für die Alterssicherungssysteme in der EU ist aber das Umlageverfahren. Beim Umlageverfahren werden die Beiträge idealiter ausschließlich zur Finanzierung der auszuzahlenden Renten der jeweiligen Periode verwendet. Es findet also nicht wie im Kapitaldeckungsverfahren ein Ansparprozess statt. Im Umlageverfahren werden die Beiträge sofort verausgabt, so dass eine direkte Mitnahme eigener Beiträge wie im Kapitaldeckungsverfahren beim Landeswechsel nicht ohne weiteres möglich ist. Beim Umlageverfahren zahlt der Versicherte Beiträge, um damit einen Anspruch auf Leistungen gegenüber den nachfolgenden Generationen zu erhalten. Dieser Anspruch gegenüber den nachfolgenden Generationen muss in der EU beim Landeswechsel übertragbar werden. Dies wäre noch relativ einfach, wenn alle Alterssicherungssysteme in der EU beitragsbezogen wären. In der EU existieren jedoch zwei völlig unterschiedlich konzipierte Alterssicherungssysteme. Zum einen finden wir in Ländern wie Deutschland und Österreich das Bismarck-System der Alterssicherung, das durch Beiträge finanziert wird, in dem sich die Höhe der Rente im Wesentlichen über die Höhe der Beiträge und Länge des Beitragszeitraums bestimmt und das primär der Absicherung des bisherigen Arbeitseinkommens im Alter dient. Zum anderen existiert in Ländern wie Großbritannien das Beveridge-System, das steuerfinanziert ist, primär der Vermeidung von Altersarmut dient und jedem Bürger einen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Rente einräumt. Betrachtet man die einzelnen Alterssicherungssysteme der EU-Staaten im Detail, so stellt man zusätzlich fest, dass sie meist keinem der beiden Systeme eindeutig zuzuordnen sind, sondern eine Mischung beider Systeme in unterschiedlichem Umfang darstellen. In vielen EU-Staaten sieht das jeweilige Alterssicherungssystem Mindestversicherungszeiten bzw. Wohnzeiten vor, die erfüllt sein müssen, um überhaupt einen Alterssicherungsanspruch zu bekommen. Nun wären Versicherte, die oft ihre Beschäftigung in der EU wechseln und in einzelnen Ländern der EU nur weniger als die jeweiligen Mindestzeiten versichert sind, benachteiligt, da sie nicht in allen Ländern die Mindestzeiten erfüllen, so
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dass sie in diesen Ländern keine Alterssicherungsansprüche geltend machen können. Um eine Diskriminierung mobiler Versicherter auszuschließen, werden bei der Bestimmung der Erfüllung von Mindestzeiten auch die Zeiten der versicherungspflichtigen Beschäftigung in anderen EU-Staaten berücksichtigt. Sehr schwierig gestaltet sich die konkrete Berechnung der Leistungen der Rentenversicherungen in der EU5. Die Rentenversicherungen jedes EU-Staates, in dem der Versicherte beschäftigt bzw. gewohnt hat, prüfen in mehreren Schritten, welchen Leistungsanspruch der Versicherte hat. Hat schon der Versicherte nach rein nationalem Recht des jeweiligen Landes Anspruch auf eine Alterssicherung, so wird zuerst diese autonome Leistung in der Weise berechnet, dass nur die nationalen Rechtsvorschriften des jeweiligen Landes berücksichtigt werden. Hat z.B. ein 63 Jahre alter polnischer Arbeitnehmer nur vier Jahre in der Bundesrepublik, aber 33 Jahre in Polen gearbeitet, so erfüllt er nicht die nationale deutsche Vorschrift einer Wartezeit von fünf Jahren und hat so keinen autonomen Rentenanspruch gegenüber dem deutschen Alterssicherungssystem. Im Gegensatz zu diesem innerstaatlichen Rentenanspruch in der Bundesrepublik werden bei der sich anschließenden zwischenstaatlichen Rentenberechnung in Form der theoretischen Rentenleistung alle Versicherungs- und/oder Wohnzeiten in den EU-Staaten mitberücksichtigt. Bei der Berechnung des theoretischen Rentenanspruches würde die deutsche Rentenversicherung nun eine Wartezeit von 37 Jahren zugrunde legen, so dass der Versicherte die Wartezeit von 35 Jahren für eine vorzeitige Rente mit 63 Jahren erfüllt und unter Zugrundelegen der vier Beitragsjahre seine Rente anteilig berechnet wird. Versicherte, deren Rentenanspruch sich in einem oder mehreren EU-Ländern unabhängig von der Dauer der Versicherungs- bzw. Wohnzeit bestimmt, wären bei dieser großzügigen Berechnungsweise u. U. mit Leistungsansprüchen besser als diejenigen Versicherten gestellt, die nur Ansprüche in einem nationalen Alterssicherungssystem haben, auch wenn sie gleiche Versicherungszeiten vorweisen könnten. Um dies zu verhindern, wird für Rentensysteme, bei denen sich die Leistung unabhängig von den Versicherungs- bzw. Wohnzeiten bestimmt, der tatsächliche Betrag der Rente wie folgt berechnet. Der theoretische Betrag wird mit dem relativen Anteil der im jeweiligen nationalen Rentensystem erworbenen Zeiten zu den EU-weit zu berücksichtigenden Zeiten gewichtet. Der Versicherte erhält aber mindestens den autonomen Betrag. Ein Versicherter, der in mehreren Ländern beschäftigt war bzw. seinen Wohnsitz hatte, erhält nach dem obigen Verfahren mehrere Renten aus unterschiedlichen nationalen Alterssicherungssystemen, wobei das Berechnungsverfahren sicherstellt, dass der Versicherte nicht schlechter als ein Versicherter gestellt wird, der das gleiche Rentenanspruchsprofil besitzt und der sich nur in einem Staat der EU aufhielt bzw. beschäftigt war. Das obige Berechnungsverfahren kann aber auch dazu führen, dass ein mobiler Versicherter ausschließlich aufgrund seiner Mobilität besser als ein ortsgebundener Versicherter gestellt wird und seine Mobilität die Alterssicherungssysteme zusätzlich belastet. So ist es möglich, dass bei dem angewandten Berechnungsverfahren ein Versicherter ungerechtfertigt eine Invaliditätsrente von mehreren Versicherungen in der EU erhält. Um diese Besserstellung mobiler Versicherter zu verhindern, sieht die Verordnung 883/2004 Antikumulierungsvorschriften vor, die insbesondere verhindern sollen, dass ein mobiler Versicherter Ansprüche erwirbt, die den höchsten theoretischen Leistungsbetrag übersteigt, auf den er in 5
Konkrete Beispiele für die Komplexität der Materie findet man bei Acker 1996.
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einem jener Staaten Anspruch hat, in denen er gewohnt bzw. beschäftigt war. Mit den Antikumulierungsvorschriften soll ausgeschlossen werden, dass die Gesamtrente höher als jede einzelstaatliche Rente ist, die als theoretischer Betrag für den Fall berechnet worden ist, dass er fiktiv seine Ansprüche nur in diesem Staat erworben hat. Dieser Fall ist besonders bei Leistungen der Rentenversicherung, die aufgrund derselben Versicherungs- bzw. Wohnzeiten von den einzelnen Rentenversicherungen berechnet oder gewährt werden, zu erwarten. Zur Regelung solcher Fälle sieht die Verordnung 883/2004 recht komplizierte Regeln zu Doppelleistungsbestimmungen vor.
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Koordinierung im Gesundheitswesen
Im Gesundheitswesen, das den ambulanten (Arztbehandlung usw.) und den stationären Bereich (Krankenhaus) umfasst, unterscheiden wir zwischen Sachleistungen und Geldleistungen, die in der EU ganz unterschiedlich koordiniert werden. Bei den Sachleistungen, wie die bis auf die Selbstbeteiligung kostenlos zur Verfügung gestellten Medikamente und die ärztliche Behandlung, gelten im Allgemeinen die Rechtsvorschriften des Landes, in dem man sich aufhält bzw. wohnt. Hingegen erhält man Geldleistungen (z. B. Krankengeld) prinzipiell nach den Vorschriften des Landes, in dem man versichert ist, so dass sich bei einem Aufenthalt im EU-Ausland bei den Versicherten bezüglich der Geldleistungen im Krankheitsfall kein besonderer Koordinierungsbedarf ergibt. Bei den Sachleistungen im EU-Ausland existieren für einen Versicherten und seine Familienangehörigen abgestufte Rechtsansprüche im Krankheitsfall. Wohnt ein Versicherter bzw. seine Familienangehörigen in einem anderen Land als dem, in dem er versichert ist, so gelten für ihn uneingeschränkt bei Sachleistungen die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung des Wohnlandes. Der im EU-Ausland Wohnende wird bei den Sachleistungen mit einem im jeweiligen Land Krankenversicherten völlig gleichgestellt. Ein besonderes Wahlrecht besteht für Grenzgänger. Grenzgänger die in einem anderen Land als in dem sie beschäftigt sind, wohnen und täglich bzw. mindestens einmal wöchentlich pendeln, können Sachleistungen nach den jeweiligen Rechtsvorschriften im Wohnland als auch im Beschäftigungsland in Anspruch nehmen. Hält man sich nur vorübergehend, z. B. als Tourist, in einem EU-Staat auf, nicht das Versicherungsland ist, so hat man nur den eingeschränkten Anspruch auf die medizinisch notwendigen Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften des Aufenthaltlandes. Dazu benötigt man noch in einigen Ländern u. a. das Formular E 111, das aber in vielen EULändern von den Leistungserbringern nicht anerkannt wird. In der Praxis sieht es dann so aus, dass man bei einem Auslandsaufenthalt die Leistung selbst bezahlen muss und eine Kostenerstattung von der eigenen Krankenkasse nach den Rechtsvorschriften des Versicherungslandes erhält. In allen EU-Ländern, in denen die Versicherten wie schon in Deutschland über eine Krankenversicherungskarte verfügen, wird der Auslandskrankenschein E 111 durch die European Health Insurance Card (EHIC) ersetzt, die seit dem 01. Juni 2004 gültig ist und eine Auslandsbehandlung wesentlich vereinfachen soll. Da aber Personen, die sich nur vorübergehend im EU-Ausland aufhalten, keinen vollkommenen Versicherungsschutz über die Verordnung erhalten, dies betrifft z. B. den Rücktransport in ihr Wohnland, empfiehlt
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es sich, für den vorübergehenden Aufenthalt im EU-Ausland eine Auslandsreiseversicherung abzuschließen. Begibt sich ein Versicherter in einen anderen EU-Staat, um dort ambulante oder stationäre Leistungen in Anspruch zu nehmen, so hat er nach der Verordnung 883/2004 nur dann einen Leistungsanspruch, wenn eine vorherige Genehmigung seiner Krankenversicherung vorliegt. Im Fall einer Genehmigung einer Auslandsbehandlung gelten für ihn in dem behandelnden EU-Staat die gleichen Rechtsvorschriften wie für die Versicherten, die in diesem Land wohnen. Mit dieser Vorschrift der Verordnung ist aber ein EU-weiter Gesundheitstourismus nicht ausgeschlossen. So müssen aufgrund eines Urteils des EuGH die Krankenkassen eine Auslandsbehandlung genehmigen, wenn die Behandlung durch Vertragspartner im Inland in angemessenem Zeitraum nicht möglich ist. Nach der Rechtssprechung des EuGH, insbesondere im Fall Kohll/Decker, können sich Gesundheitstouristen auf die Dienstleistungsfreiheit des gemeinsamen Marktes berufen. Aufgrund der Dienstleistungsfreiheit dürfen Anbieter aus Mitgliedsstaaten nicht diskriminiert werden. Eine generelle Genehmigungspflicht bei Auslandsbehandlungen stellt aber nach Ansicht der EuGH eine Diskriminierung und damit eine Beschränkung des freien Handels in der EU dar. Diese ist nach der Rechtssprechung des EuGH – sofern verhältnismäßig – im stationären Bereich gerechtfertigt. In diesem Fall würde eine Aufgabe des Territorialprinzips möglicherweise zu einer Unterversorgung weniger dicht besiedelter Regionen und zu einem finanziellen Ungleichgewicht aufgrund von Überkapazitäten, die nicht schnell abgebaut werden können, führen. Anders beurteilt der EuGH die Inanspruchnahme von ambulanten Leistungen im EU-Ausland. Hier können Versicherte ohne Genehmigung ihrer Krankenkasse Leistungen im EU-Ausland in Anspruch nehmen. Sie haben dann aber nur einen Anspruch auf Kostenerstattung nach den Rechtsvorschriften ihres Versicherungslandes und tragen so ein gewisses finanzielles Risiko. Um den europäischen Wettbewerb im Gesundheitswesen zu intensivieren und Kosteneinsparungen zu realisieren, sieht das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung von 2003 vor, dass ambulante Leistungen gegen Kostenerstattung nach den Rechtsvorschriften der Gesetzlichen Krankenkasse sowie abzüglich einer Verwaltungskostenpauschale auch ohne Zustimmung der Krankenkasse im Ausland in Anspruch genommen werden können. Bei stationären Leistungen muss erst die Genehmigung der Krankenkasse eingeholt werden. Dabei ist aber der Ermessungsspielraum der Krankenkassen eingeschränkt. Des Weiteren sieht das Gesetz vor, dass die Krankenkassen Versorgungsverträge mit Leistungsanbietern aus der EU abschließen. Diese Option ist gerade für Grenzregionen interessant, da so eine bessere Versorgung der Versicherten im ambulanten und stationären Bereich ermöglicht wird und Versorgungsengpässe abgebaut werden können.6
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Koordinierung der Arbeitslosenversicherung
Ist ein Arbeitnehmer in einem anderen EU-Staat beschäftigt, so ist er in diesem Land – anders als entsandte Arbeitnehmer – gemäß den Rechtsvorschriften des Beschäftigungslandes arbeitslosenversichert. Er erhält im Prinzip die gleichen Leistungen wie ein arbeitslosenversicherter Inländer. Um die Mobilität der Arbeitnehmer zu gewährleisten und eine 6
Zu den Chancen von Grenzregionen siehe z. B. Ribhegge 2004b.
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faktische Diskriminierung von Beschäftigten zu verhindern, gibt es einige Sonderregelungen für Beschäftigte in einem anderen EU-Staat. In den meisten Ländern hat man nur Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn eine Mindestversicherungszeit im Beschäftigungsland vorliegt, die von Beschäftigten, die ihr Beschäftigungsland wechseln, oft nicht erfüllt wird. Deshalb gilt für sie, dass auch die vorherigen Versicherungszeiten aus anderen EU-Ländern mitberücksichtigt werden, um einen Leistungsanspruch wie Inländer zu erhalten. Bei der Berechnung der Höhe der Leistungen bei Arbeitslosigkeit legen einige Länder das Arbeitsentgelt über einen größeren Zeitraum zugrunde. Bei in einem anderen Land Beschäftigten wird aber nur das Entgelt in dem Beschäftigungsland zugrunde gelegt, was sowohl zu einer Besser- als auch Schlechterstellung gegenüber Inländern führen kann. Dies gilt auch für Grenzgänger, die in ihr Wohnland im Falle der Arbeitslosigkeit zurückkehren. Zielsetzung aller Arbeitslosenversicherungen ist es, nicht nur Leistungen zu gewähren, sondern auch die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhindern und dafür zu sorgen, dass Arbeitslose schnell wieder in ein Beschäftigungsverhältnis vermittelt werden. Um dies zu erreichen, müssen Arbeitslose der Vermittlung der jeweiligen Arbeitslosenversicherung zur Verfügung stehen, sich dort regelmäßig melden und zumutbare Arbeitsangebote annehmen usw. Die Kontrolle und die Vermittlung von Arbeitslosen wird aber erschwert, wenn sich ein Arbeitnehmer nicht mehr in dem Land aufhält, aus dem er Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezieht. Deshalb wird bei der Arbeitslosenversicherung das Prinzip, dass Geldleistungen unabhängig davon, in welchem Land man wohnt, vom jeweiligen zuständigen Träger zu leisten sind, eingeschränkt. Wenn ein Arbeitsloser das Land, in dem er bisher Arbeitslosengeld bezogen hat, verlässt, so hat er unter folgenden Bedingungen auch in einem anderen EU-Staat weiter Anspruch auf finanzielle Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Er muss vor dem Verlassen des jeweiligen Landes mindestens vier Wochen nach seiner Arbeitslosigkeit bei der zahlenden Arbeitslosenversicherung gemeldet sein und der Vermittlung zur Verfügung gestanden haben, sofern die zuständige Stelle keinen früheren Zeitpunkt des Verlassens des Landes genehmigt. Der Arbeitslose muss sich dann bei der Arbeitslosenversicherung seines neuen Aufenthaltes melden und die Leistungsvoraussetzungen dieser Einrichtung erfüllen. Der Leistungsanspruch besteht aber in der Regel nur noch für drei Monate in dem neuen Aufenthaltsland gegenüber der ursprünglichen Arbeitslosenversicherung. Kehrt der Arbeitslose in diesen drei Monaten in das Land seiner vorherigen Beschäftigung zurück, so hat er weiter die gleichen Ansprüche wie ein Inländer. Überschreitet er die 3-Monate-Frist, so verfallen seine Ansprüche bei der Rückkehr in der Regel vollständig. Hat der Arbeitslose in einem anderen Land gewohnt als dem Land, in der er vor seiner Arbeitslosigkeit beschäftigt war, dann gelten für ihn einige besondere Regelungen. Bei Kurzarbeit muss er wie ein Inländer der Arbeitslosenversicherung seines bisherigen Beschäftigungslandes voll zur Verfügung stehen, er wird also einem Inländer völlig gleich gestellt. Ist er aber vollarbeitslos, so muss er sich der Arbeitslosenversicherung seines Wohnlandes zur Verfügung stellen. Er kann sich zusätzlich der Arbeitslosenversicherung seines vorherigen Beschäftigungslandes zur Vermittlung zur Verfügung stellen. Er muss aber dann auch den entsprechenden Verpflichtungen des Beschäftigungslandes nachkommen.
Europäische Sozialpolitik
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Ein Arbeitsloser, der in sein Wohnland zurückkehrt, erhält Leistungen nach den Vorschriften der Arbeitslosenversicherung seines Wohnlandes. Dies gilt uneingeschränkt für Grenzgänger. Für Nicht-Grenzgänger gilt in den ersten drei Monaten die Regeln für Arbeitslose, die sich in einem anderen Land aufhalten. Sie erhalten also zunächst Leistungen von ihrer Arbeitslosenversicherung des bisherigen Beschäftigungslandes nach den jeweiligen Leistungsvorschriften des Beschäftigungslandes.
8
Ausblick
Zielsetzung der europäischen Sozialpolitik ist es nicht nur, Sicherheit dadurch zu realisieren, dass im Schadensfall Leistungen von den sozialen Sicherungssystemen erbracht werden, sondern sie soll auch präventiv wirken und den Eintritt von sozialen Fehlentwicklungen und Missständen verhindern. Dabei kommt dem Ziel der Vollbeschäftigung eine zentrale Stellung zu. Umstritten ist aber, ob die Verfolgung des Zieles der Vollbeschäftigung auf nationaler Ebene oder auf europäischer Ebene verwirklicht werden soll. Mit dem Konzept der Offenen Methode der Koordinierung hat man einerseits die Autonomie der Nationalstaaten im Bereich der Beschäftigungspolitik gewahrt und andererseits ein Informationssystem geschaffen, das eine effizientere und koordinierte Beschäftigungspolitik ermöglichen soll. Es besteht aber das Bestreben der Kommission, die Offene Methode der Koordinierung als Hebel zur Harmonisierung der Sozialpolitik in der EU zu nutzen. Schon die Einigung auf einen Zielkatalog der europäischen Beschäftigungspolitik als Leitlinie beinhaltet eine gewisse Harmonisierung. Dies gilt insbesondere, wenn man das Konzept der best practice der Offenen Methode der Koordinierung betrachtet. Mit der dabei angewandten Evaluierung nationalstaatlicher Politiken ist die Kommission in der Lage, politischen Druck in Richtung Harmonisierung auszuüben. Regierungen geraten unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie von der best practice abweichen und Zielvorgaben nicht erfüllen. Auch wenn die Kommission im Rahmen der Offenen Methode keine Weisungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedsstaaten besitzt, so kann sie doch indirekt Druck über finanzielle Leistungen ausüben. Wenn Mitgliedsländer EU-Mittel aus den Strukturfonds beantragen wollen, so müssen sie entsprechende Programme aufstellen, die von der Kommission genehmigt werden müssen. Die Genehmigungspflicht zwingt die Mitgliedsstaaten zu zielkonformen Verhalten. Des Weiteren verfügt die Kommission über eine Reserve an Haushaltsmitteln, die sie nach dem Grad der Zielerfüllung verteilen kann. Darüber hinaus versucht die Kommission, den Anwendungsbereich der Offenen Methode der Koordinierung über den Bereich der Beschäftigungspolitik hinaus auszuweiten. Sie wird auf die Bereiche der sozialen Ausgrenzung und Alterssicherung ausgeweitet und soll auch im Gesundheitsbereich angewandt werden. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalstaatlicher und europäischer Sozialpolitik ist so noch offen und einem kontinuierlichem Wandel unterworfen.
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Hermann Ribhegge
Literatur Acker, Sabine, 1996: Renten in Europa. Marburg: Schüren. Althammer, Jörg /Lampert, Heinz, 2004: Lehrbuch der Sozialpolitik. 7. Auflage, Berlin u. a.: Springer. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.), 2003: Sozial-Kompass Europa, Bonn. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.), 2004: Übersicht über das Sozialrecht, Kapitel 24: Internationale Soziale Sicherung, Bonn. Däubler, Wolfgang, 2004: Die Europäische Union als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch I. 3. Auflage. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, S. 273-288. Eichenhofer, Eberhard, 2003: Sozialrecht der Europäischen Union, 2. Auflage, Berlin: Erich Schmidt. Ribhegge, Hermann, 2004a: Sozialpolitik. München: Vahlen. Ribhegge, Hermann, 2004b: Gesundheitswesen als Chance für die deutsch-polnische Grenzregion. In: Gesundheits- und Sozialpolitik, vol. 58, no. 5/6, S. 31-41. Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.
Europäische Finanzmarktintegration
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Mechthild Schrooten
Europäische Finanzmarktintegration
„The European Union has a great opportunity to strengthen its economy, improve its long-run competitiveness and investor returns for all citizens, if it can create a single financial market in the next few years. But this can only happen if the European regulatory system is made more efficient…. Financial markets are changing by the week – and European regulation is simply not up to speed.” (A. Lamfalussy)
Die europäischen Finanzmärkte befinden sich im Wandel: Einführung des Euro, Erweiterung der EU, Harmonisierung von Spielregeln sind wichtige Stichworte. Die ökonomische Theorie geht davon aus, dass eine verstärkte Integration der nationalen Finanzmärkte zu einer höheren gesamtwirtschaftlichen Dynamik führt (Levine 2004). Hintergrund sind die verbesserten Möglichkeiten der Kapitalallokation, die Zunahme des Wettbewerbs im Finanzsektor, zunehmende Möglichkeiten zur Portfoliodiversifikation und eine bessere Versorgung mit Liquidität. Zugleich führt eine bessere Finanzmarktintegration zu geringeren Transaktionskosten1 und kann auch positive Skalen-, Verbund- und Netzwerkeffekte (z. B. in der Infrastrukturnutzung) schaffen (Pagano 1993), so dass auch positive gesamtwirtschaftliche Effekte entstehen. Tatsächlich haben die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten der Union seit 1985 zahlreiche Richtlinien verabschiedet, um in Europa Hindernisse einer Integration des Finanzmarktes zu beseitigen (ECB 2003; European Commission 2004; Adam et al. 2002; Galati/Tsatsaronis 2001). Unter vollständiger Finanzmarktintegration wird eine Situation begriffen, in der keinerlei rechtliche und institutionelle Beschränkungen für grenzüberschreitende Finanztransaktionen bestehen; in der Folge können die Investoren ihr Portfolio jederzeit re-organisieren, ohne dabei auf die physischen Grenzen der nationalen Volkswirtschaften Rücksicht nehmen zu müssen. Oftmals wird so argumentiert, dass sich eine starke Finanzmarktintegration in gleichen Preisen für ein bestimmtes Finanzprodukt in den integrierten Volkswirtschaften zeigt. Vielfach wird davon ausgegangen, dass bei einer zunehmenden Finanzmarktintegration die grenzüberschreitenden Finanzströme zwischen den betroffen Volkswirtschaften steigen (Feldstein/Horioka 1980). In der Europäischen Union weisen die Rahmenbedingungen der Finanzmarktintegration Besonderheiten auf. Denn zwischen den nationalen Finanzmärkten sind teilweise erhebliche regulatorische Unterschiede vorhanden, die auch zu unterschiedlichen Transaktionskosten auf den nationalen Finanzmärkten und zu Reibungsverlusten bei grenzüberschreitenden Transaktionen führen. Folglich lassen sich in der Praxis die einem integrierten Finanzmarkt zugeschriebenen Skaleneffekte nur schwer realisieren. Denn ein Anleger muss Informationen über die rechtlichen Rahmenbedingungen jeder Volkswirtschaft sammeln, in der er investieren will. Erfahrungen mit Investitionen in anderen Volkswirtschaften können nur begrenzt eingesetzt werden. 1
Transaktionskosten werden hier in einem weiten Sinne verstanden: sie umfassen alle Kosten, die mit der Beschaffung von Informationen und der Durchführung von Transaktionen verbunden sind.
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Ausgangspunkt des folgenden Beitrags über die europäische Finanzmarktintegration ist ein Überblick über die Ähnlichkeiten und Besonderheiten der nationalen Finanzsysteme in Europa. In einem weiteren Schritt werden wichtige Ansatzpunkte zur Harmonisierung der Regulierung der teilweise stark heterogenen Finanzsysteme erörtert. Darauf steht das Messen von Finanzmarktintegration im Mittelpunkt. Zunächst werden wichtige Meßkonzepte vorgestellt, um dann die entsprechenden Indikatoren zu berechnen. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Finanzmärkte in der EU noch immer relativ stark segmentiert sind. Abschließend fassen wir die wichtigsten Ergebnisse überblicksartig zusammen.
1
Vielfalt der Finanzsysteme in Europa
In Europa gibt es kein einheitliches Finanzsystem; vielmehr besteht eine starke Heterogenität zwischen einzelnen Volkswirtschaften. Diese zeigt sich plakativ in der Größe des Finanzsektors. Die Größe des Finanzsektors wird mit seinem Anteil am Bruttoinlandsprodukt gemessen. Zur Messung der Größe des Aktienmarktes berechnet man üblicherweise die Marktkapitalisierung und setzt diese dann ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Die Größe des Bankensektors wird üblicherweise durch den Anteil der Kredite am Bruttoinlandsprodukt bestimmt. Fasst man beide Märkte zusammen, so ergibt sich ein Näherungswert für die Größe des gesamten Finanzsektors einer Volkswirtschaft. Tatsächlich differiert dieser Wert erheblich zwischen den einzelnen europäischen Ländern: Abbildung 1:
Größe des Finanzsektors 2002 in % des Bruttoinlandsprodukts
300
250
200
150
100
50
0
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; World Bank; eigene Berechnungen.
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Während mit Großbritannien, den Niederlanden, Luxemburg, Dänemark und Spanien fünf Volkswirtschaften über einen relativ großen Finanzsektor verfügen, müssen gerade die ostmitteleuropäischen Ökonomien derzeit mit einem relativ kleinen Finanzsektor auskommen. Seine Größe liegt weit unter der 100 % Marke, die von allen anderen EU Volkswirtschaften überschritten wird. Allerdings differiert die Größe des Finanzsektors auch zwischen den sogenannten alten Mitgliedsländern der EU-15 um mehr als 100 Prozentpunkte. So liegt seine Größe in Österreich, Italien und Schweden unter der 150 % Marke, während Großbritannien und die Niederlande eine Größenordnung über 250 % des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Betrachtet man die Größe des Bankensektors und des Aktienmarktes getrennt von einander, so zeigt sich, dass in Europa im Jahr 2002 die Niederlande über den größten Bankensektor verfügte, gefolgt von Dänemark, Zypern, Portugal, Großbritannien und Deutschland. Einen relativ kleinen Bankensektor dagegen haben die ost-mitteleuropäischen Beitrittsländer. Hierbei dürfte auch ihre unterbrochene bzw. relativ junge Geschichte als Marktwirtschaft eine Rolle spielen. Im Mittel der EU-25 hatte der heimische Bankensektor im Jahr 2002 eine Größe von knapp 100 % des Bruttoinlandsprodukts. Betrachtet man die alte EU-15, so lag der entsprechende Wert bei etwa 120 %. Abbildung 2:
Bankkredite in % des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 2002
180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
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Auch bezüglich der Marktkapitalisierung sind die Differenzen innerhalb der EU-25 groß. Im Mittel lag die Marktkapitalisierung im Jahre 2002 in den EU-25 bei gut 46 %. In der EU-15 lag der entsprechende Wert mit 64 % weit höher. Schlusslichter in der Gruppe der EU-15 sind Deutschland, Portugal und Österreich. Es zeigt sich, dass zwischen den einzelnen Volkswirtschaften der EU relativ große Unterschiede bezüglich der Bedeutung des Bankensektors und der Marktkapitalisierung bestehen (Abbildung 2 und 3). In den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern konnte ein funktions- und leistungsfähiger Bankensektor erst nach Beginn der Transformation geschaffen werden. Dort musste die vormals sozialistische Währung ad hoc die vollen Geldfunktionen als Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel übernehmen, und der vormals planwirtschaftlich operierende Bankensektor sollte eine entscheidende Rolle bei der Ressourcenallokation spielen. Noch schwieriger als die Herausbildung eines funktionsfähigen Bankensektors war die Schaffung eines Aktienmarktes. Dies setzte nicht nur eine zügige Privatisierung voraus, sondern auch den aktiven Schutz privater Eigentumsrechte durch den Staat. Das war zu Beginn der Transformation noch nicht in vollem Umfang gegeben. Erfahrungen mit der Privatisierung und dem Privateigentum galt es erst noch zu sammeln. Abbildung 3:
Marktkapitalisierung in % des Bruttoinlandsprodukts 2002
120
100
80
60
40
20
0
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; World Bank; eigene Berechnungen.
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In der Literatur wird die Bedeutung von marktorientierten Finanzierungsinstrumenten, und damit der Marktkapitalisierung und des Bankkredits, vielfach mit der Rechtstradition in Verbindung gebracht, in der die jeweilige Volkswirtschaft steht. Die dabei vorgenommene Einteilung in common law-Länder (England, aber auch die USA) und civil law-Länder (Deutschland, Frankreich, Skandinavien) geht auf eine Studie von LaPorta/Lopez-deSilanes/Shleifer/Vishny (1998) zurück, die den unterschiedlichen Schutz von Investoren in verschiedenen Ländern untersucht. Zwar lassen sich auch innerhalb der beiden Rechtstraditionen weitere Unterscheidungen machen (Tabelle 1), allerdings scheint vieles darauf hinzudeuten, dass die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Rechtstradition wesentliche Elemente der Funktionsweise des heimischen Finanzsystems begründen könnte. So wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass es in den common law-Ländern eine Tendenz zum sogenannten marktbasierten Finanzsystem gebe, in dem Finanztransaktionen eher über Wertpapiermärkte abgewickelt werden. Demgegenüber sei in civil law-Ländern vielfach ein stark bankbasiertes System zu finden, d.h. hier übernehmen vorwiegend die Banken Aufgaben der Mobilisierung von Ersparnissen, der Allokation von Finanzressourcen und der Finanzierung von Investitionen. Entsprechend sei die Verbindung von Unternehmen und Hausbank in bankbasierten Systemen enger und die Bedeutung der Hausbank für die Unternehmenskontrolle größer als in marktbasierten Systemen. Insgesamt ist die Mehrzahl der europäischen Volkswirtschaften in der civil lawTradition verwurzelt. Zugleich wird klar, dass nicht nur im Europa der 25, sondern auch in der Eurozone unterschiedliche Rechtssysteme gelten. Grundsätzlich ist im Falle der EU-25 zu beachten, dass den ehemalig sozialistischen Volkswirtschaften eine Sonderstellung zukommt. Sie haben zwar heute allesamt civil law-Systeme installiert; diese Rechtstradition muss aber in ihren Volkswirtschaften als relativ jung gelten. Die erwähnte Hypothese zur civil law- und common law-Tradition würde für die EU-25 bedeuten, dass Kontinentaleuropa eher ein bankbasiertes System, die Inselstaaten Großbritannien, Irland und Zypern dagegen eher ein marktbasiertes System etabliert haben. Tatsächlich weist Großbritannien als Volkswirtschaft der common law-Tradition den höchsten Marktkapitalisierungsgrad in den EU-25 auf. Allerdings lässt sich die Hypothese, dass die Verwurzelung in common-law Traditionen generell ein stärkeres Gewicht der Finanzierung über den Kapitalmarkt nach sich ziehe, im Falle Europas nicht aufrecht erhalten. Vielmehr zeigt sich, dass die Marktkapitalisierung in Irland deutlich hinter wichtigen kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften – beispielsweise Spanien und Frankreich – zurückbleibt. In Zypern werden trotz der common-law Tradition sogar nur Werte erreicht, die sonst in den Transformationsökonomien Ost-Mitteleuropas anzutreffen sind. Die Verwurzelung in der einen oder anderen Rechtstradition ist offenbar im Falle der europäischen Volkswirtschaften kaum entscheidend für die Größe des Bankensektors.
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Tabelle 1: Rechtstraditionen in Europa common law
civil law
Englisches Recht
Französisches Recht X
Belgien
Deutsches Recht
Dänemark
Skandinavisches Transformation Recht X
Deutschland
X
Estland
X
Finnland
X
Frankreich
X
Griechenland
X
Großbritannien
X
Irland
X
Italien
X
Lettland
X
Litauen
X
Luxemburg
X
Malta
X
Niederlande
X
Österreich
X
Polen
X
Portugal
X
Schweden
X
Slovenien
X
Slowakei
X
Spanien
X
Tschechien
X
Ungarn
X
Zypern
X
Quellen: LaPorta et al. 2000; eigene Darstellung.
Europäische Finanzmarktintegration
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Insgesamt lässt sich im Falle Europas nur sehr bedingt aus der Rechtstradition eine Aussage über die grundlegende Ausrichtung des Finanzmarktes ableiten. Vielmehr zeigt sich, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Größe des nationalen Bankensektors und der Marktkapitalisierung besteht (Abbildung 4): Volkswirtschaften mit einem großen Bankensektor weisen auch eine relativ hohe Marktkapitalisierung aus. Zugleich gilt, dass der Marktkapitalisierungsgrad der europäischen Volkswirtschaften systematisch geringer als das Gewicht des Bankensektors am Bruttoinlandsprodukt ist. Dies spricht auf den ersten Blick dafür, dass in Europa die Kapitalmarktentwicklung – nicht nur in den Beitrittsländern, sondern generell – der Entwicklung des Bankensektors zeitlich folgt. Beide Finanzierungsformen sind demnach nicht länger polarisierend gegenüber zu stellen; vielmehr gilt im Falle Europas, Volkswirtschaften mit einem großen Bankensektor können zudem von einem relativ großen „Aktienmarkt“ profitieren. Abbildung 4:
Struktur des Finanzsektors
160
140
Marktkapitalisierung
120
100
80
60
40
20
0 0
20
40
60
80
100
120
140
160
Bankensektor in %
Marktkapitalisierung = 15, 1 + 0,99 Bankensektor (2,8194) * (17,5720)* R2=0,93 *t-Werte Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
180
386 2
Mechthild Schrooten Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen
Obwohl sich die Verwurzelung in der einen oder anderen Rechtstradition im Falle der EU25 nicht zwangsläufig in einer klaren Zuordnung zu einem stärker bank- oder kapitalmarktbasierten Finanzsystem der einzelnen Volkswirtschaften äußert, haben die unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Finanzmarktes und damit auch für die zukünftige Finanzmarktentwicklung in der EU-25. Denn bislang fällt die Regulierung des Finanzsektors und die Aufsicht über die Banken in den nationalen Kompetenzbereich. In der Folge bestehen zwischen den einzelnen EU-Staaten erhebliche rechtliche Differenzen. Diese Heterogenität bedingt relativ hohe Informationskosten im Falle eines grenzüberschreitenden Engagements auf dem Finanzmarkt. Die Schwierigkeiten, die aus den unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen der nationalen Finanzmärkte resultieren, wurden bereits vor längerer Zeit von den wichtigen Akteuren der Gemeinschaft erkannt. Tatsächlich hatte man in den einzelnen Mitgliedländern der EG zu unterschiedlichen Zeitpunkten Liberalisierungsmaßnahmen bezüglich des Kapitalverkehrs eingeleitet. Tabelle 2: Liberalisierungsschritte des Finanzmarktes in Europa Aufhebung von Kapitalverkehrskontrollen
Zinsliberalisierung
Implementierung Erste BankenDirektive
Implementierung Zweite BankenDirektive
Belgien
1991
1990
1993
1994
Dänemark
1982
1988
1980
1991
Frankreich
1990
1990
1980
1992
Deutschland
1967
1981
1978
1992
Griechenland
1994
1993
1981
1992
Irland
1985
1993
1989
1992
Italien
1981
1990
1985
1992
Luxemburg
1980
1990
1981
1993
Niederlande
1992
1981
1978
1992
Portugal
1992
1992
1992
1992
Spanien
1979
1992
1987
1994
Großbritannien
1979
1979
1979
1993
* Council Directive 77/780/EEC (First Banking Co-ordination Directive); diese Direktive wurde 1977 verabschiedet und legte fest, dass europäische Banken in der Gemeinschaft unter die rechtlichen Rahmenbedingungen des Gastlandes fallen. ** Council Directive 89/646/EEC (Second Banking Co-ordination Directive); setzte durch, das europäische Banken bei einem Engagement in einem Mitgliedland der Union unter die rechtlichen Rahmenbedingungen des Heimatlandes fallen. Darüber hinaus wurden zahlreiche Maßnahmen zur Harmonisierung des geltenden Rechtes innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in Angriff genommen. Quelle: European Union.
Europäische Finanzmarktintegration
387
Erste Schritte zur Harmonisierung der Spielregeln für Finanzdienstleistungen wurden Ende der 1970er Jahre unternommen. Dabei lag der Fokus zunächst im Bereich der Bankgeschäfte und zielte zudem auf eine möglichst weitgehende Vereinheitlichung der Bankenaufsicht. Weitere wichtige Schritte wurden mit der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie und der Richtlinie über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten eingeschlagen (1993). Im Mai 1999 wurde dann, nach einem Konsultationsverfahren der Kommission und unter Beteiligung der Regierungen der Mitgliedstaaten, der sogenannte Financial Sector Action Plan (FSAP) vorgestellt, der einen Zeitplan und konkrete Maßnahmen für die Schaffung eines funktionsfähigen Finanzbinnenmarktes beinhaltet. Grundsätzlich setzt der FSAP in vier verschiedenen Teilbereichen an: (1) im Bereich professionelle Anleger, (2) im Bereich Privatanleger, (3) beim Monitoring von Finanzintermediären sowie (4) den steuerpolitischen Rahmenbedingungen, die zu einer bessere Finanzmarktintegration in der EU führen könnten. Der Aktionsplan enthält nicht nur eine Prioritätenliste, sondern auch einen Zeitplan für spezifische Maßnahmen. Mit dem Aktionsplan sollten vor allem drei Ziele erreicht werden:
Errichtung eines einheitlichen Firmenkundenmarktes für Finanzdienstleistungen Schaffung offener und sicherer Privatkundenmärkte Modernisierung der Aufsichtsregeln.2
Zur Umsetzung des FSAP Programms war es notwendig, die Gesetzgebung zügig zu harmonisieren. Vor diesem Hintergrund hat der sogenannte „Rat der Weisen“ unter der Leitung von A. Lamfalussy ein Verfahren entwickelt, dass zunächst bei der Harmonisierung der Wertpapiermärkte Anwendung fand. Das so genannte Lamfalussy-Verfahren sollte dazu dienen, das komplexe europäische Gesetzgebungsverfahren im Bereich Wertpapiermärkte mittels eines Vier-Stufen-Plans zu vereinfachen (Tabelle 3). Im Dezember 2002 beschloss der Rat, dieses Verfahren auf den gesamten EU-Finanzsektor, also auf Banken und Versicherungen, auszudehnen. Ziel des Verfahrens ist es, das Rechtsetzungsverfahren zu beschleunigen. Danach sollen Rat und Europäisches Parlament in dem ihnen übertragenen Bereich nur noch Rahmenrichtlinien beschließen. Die technischen Details werden dagegen von der EU-Kommission vorgeschlagen und von Vertretern der Mitgliedstaaten in einem so genannten Komitologie-Ausschuss beschlossen. Diese technischen Regelungsausschüsse setzen sich aus Vertretern der nationalen Finanzaufsichtsbehörden zusammen.
2
http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/l24210.htm.
388
Mechthild Schrooten
Tabelle 3: Lamfalussy-Verfahren (Wertpapiermärkte) Kommission Stufe 1 EU-Organe übernehmen unter politische Rahmenrecht- Federführung der Kommission setzung die politische Rahmenrechtsetzung. Stufe 2 Die Ausarbeitung der „techniFestlegung der „techni- schen“ und detaillierten Durchschen“ Einzelheiten führungsbestimmungen wird von der Kommission mit Unterstützung von vier Fachausschüssen vorgenommen
Stufe 3 Erarbeitung von guidelines für die Umsetzung
Stufe 4 Überprüfung der Umsetzung
Einbezogen in den Prozess Grundsatzrechtsakte werden von Rat und Parlament verabschiedet
Europäischen Bankenausschuss (EBC), den Europäischen Wertpapierausschuss (ESC), den Europäischen Ausschuss für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPC) und den Finanzkonglomerateausschuss (EFCC)
Entwicklung der Durchführungsbestimmungen. Dabei wird die Kommission wiederum von Expertenausschüssen beraten.
Ausschuss der europäischen Bankaufsichtsbehörden (CEBS), dem Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) sowie dem Ausschuss der europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (CEIOPS). Durchsetzung der einheitlichen Verstärkte Zusammenarbeit mit den Anwendung des GemeinBehörden in den Mitgliedsstaaten, schaftsrechts in der EU CEBS, CESR, CEIOPS, Privatsektor (Vertreter). Vernetzung der nationalen Regulierungsbehörden
Quellen: Deutsche Bundesbank; Bundesministerium der Finanzen; eigene Darstellung.
Wichtige Ansatzpunkte zur Harmonisierung sind darüber hinaus die Rechnungslegungsund Publizitätspflichten von Unternehmen; diese fallen bislang unter das nationales Recht. Um eine Konvergenz der rechtlichen Rahmenbedingungen zu erreichen, wurde im Jahr 2002 eine EU-Verordnung über die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (International Accounting Standards/IAS) verabschiedet, nach der alle „kapitalmarktorientierten“ Unternehmen – auch Banken und Versicherungen – mit Sitz in der EU ab 2005 verpflichtet sind, ihre Konzernabschlüsse nach diesen internationalen Standards aufzustellen. Als kapitalmarktorientiert gelten Unternehmen, deren Papiere an regulierten Finanzmärkten in der EU registriert sind. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob diese Papiere zur Beschaffung von Eigen- oder Fremdkapital dienen. Darüber hinaus können die einzelnen Mitgliedstaaten der EU auch von nicht-kapitalmarktorientieren Unternehmen eine Rechnungslegung entsprechend der internationalen Standards verlangen. Dies ist aber nicht zwingend. Trotz dieser Harmonisierungsbemühungen bleiben also insbesondere im Bereich der nicht-kapitalmarktorientierten Unternehmen erhebliche nationale Spielräume zur Regulierung bestehen. Unterschiede in den Rechnungslegungspflichten führen auch dazu, dass
Europäische Finanzmarktintegration
389
Informationen über potentielle Kreditnehmer in den einzelnen europäischen Volkswirtschaften nach wie vor unterschiedliche Kosten verursachen.
3
Zinssätze – Geeignete Indikatoren zur Messung der Finanzmarktintegration?
Bei einer Analyse der Finanzmarktintegration in Europa ist zu beachten, dass die europäischen Volkswirtschaften a priori unterschiedlichen Integrationsstrategien zuzuordnen sind und unterschiedliche Ansprüche an die europäische Integration haben. So ist beispielsweise zwischen den EU-12, den zur Eurozone gehörenden Mitgliedstaaten, und den anderen zur EU-25 zählenden Volkswirtschaften zu differenzieren. Abbildung 5:
Zinsen auf Staatsanleihen 1989 bis 2003 in %
15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1989 1990 Belgien
1991
1992 1993
Finnland
1994 1995
Frankreich
1996
1997 1998
Deutschland
1999 2000
Niederlande
2001 Spanien
2002 2003 Italien
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
Ist das Risiko von Wechselkursänderung eliminiert, wie beispielsweise in der Eurozone, so müssten unter der Annahme der vollständigen Integration der Finanzmärkte die Zinssätze zwischen den Volkswirtschaften gleich sein (Pagano 2002); mit anderen Worten, die Zinssätze dürften keine regionalen Differenzen aufweisen. Denn bei vollständiger Integration würde das Gesetz des einheitlichen Preises gelten: die Realisierung von Arbitragegewinnen wäre unmöglich.
390
Mechthild Schrooten
Grundsätzlich ließ sich vor der Euroeinführung auf dem Geldmarkt (1. Januar 1999) nicht nur eine Konvergenz, sondern auch ein generelles Sinken der Zinssätze in den zu der Eurozone gehörigen Volkswirtschaften feststellen. Danach kam es zunächst zu einem erneuten Anstieg des Zinsniveaus. Wichtige Zinssätze zur Messung der Finanzmarktintegration sind die Zinsen für Staatsanleihen, die Zinsen für Einlagen bei Geschäftsbanken und die Zinsen für Kredite. Die Abbildungen 5 bis 7 zeigen, dass sich bis heute nationale Differenzen bei den nominalen Zinssätzen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten feststellen lassen. Abbildung 6:
Zinsen auf Einlagen bei den Geschäftsbanken 1989 bis 2002 in %
25
20
15
10
5
0 1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Belgien
Frankreich
Deutschland
Irland
Niederlande
Griechenland
Spanien
Italien
2001
2002
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
Zugleich lässt sich erkennen, dass die einzelnen hier betrachteten Segmente des Finanzmarktes offenbar unterschiedlich stark integriert sind. Grundsätzlich müsste eigentlich innerhalb des Euroraumes auf gleiche Staatspapiere die gleiche Verzinsung erzielt werden, es sei denn, die von einzelnen Staaten ausgegebenen Papiere weisen unterschiedliche Risikoprämien auf. Es zeigt sich, dass auch heute noch Unterschiede bei der Verzinsung von Staatsanleihen bestehen. Allerdings zeichnet sich hier eine relativ starke Konvergenz ab. Dazu mag beitragen, dass Staatsanleihen zu einem erheblichen Maße von institutionellen Investoren nachgefragt werden, die gerade an der Realisierung von Arbitragegewinnen interessiert sind und so durch Portfolioumschichtungen genau diesen Konvergenzprozess unterstützen.
Europäische Finanzmarktintegration Abbildung 7:
391
Kreditverzinsung 1989-2002 in %
35
30
25
20
15
10
5
0 1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Belgien
Frankreich
Deutschland
Irland
Niederlande
Griechenland
Spanien
Italien
2001
2002
Quellen: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
Wesentlich stärker ausgeprägt sind die Zinsdifferenzen bei Spareinlagen. Hier schlägt offenbar ein gewisser home bias zu Buche. Diese Gruppe von Anlegern ist offenbar – trotz der stärkeren Bedeutung des Internets bei Finanztransaktionen – bislang nur begrenzt zu grenzüberschreitenden Transaktionen übergegangen. Denn ein solches Anlegerverhalten würde sich eo ipso in einer stärkeren Konvergenz der Zinssätze niederschlagen. Die geringste Einlagenverzinsung ließ sich 2002 in Irland erzielen; in den anderen Volkswirtschaften lag die Verzinsung teilweise mehr als einen Prozentpunkt darüber. Unter den hier betrachteten Segmenten des Finanzmarktes zeigt sich der Markt für Kredite am schwächsten integriert. Hier bestehen erhebliche Differenzen in den Zinssätzen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften, die zur Eurozone gehören. Im Jahr 2002 waren Bankkredite in Deutschland am teuersten, in den Niederlanden und in Irland am günstigsten. Offenbar konnten sich trotz der geographischen Nähe zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland derartige Differenzen aufrecht erhalten. Auch in diesem Teilmarkt besteht offenbar ein starker home bias. Insgesamt weisen die teilweise erheblichen Zinsdifferenzen auf dem Finanzmarkt darauf hin, dass gerade dieser wichtige Teilbereich des europäischen Dienstleistungsgewerbes auch nach der Einführung der gemeinsamen Währung keineswegs als voll integriert gelten kann. Allerdings ist der in der Literatur zur internationalen Finanzmarktintegration verbreitete Schluss, dass Zinsdifferenzen institutionelle Hemmnisse bei grenzüberschreitenden
392
Mechthild Schrooten
Finanztransaktionen anzeigen, im Falle der Eurozone nicht zulässig. Denn in der EU-12 bestehen für den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr keinerlei regulative Beschränkungen. Vielmehr scheinen hier vor allem nationale Besonderheiten, aber auch Konsumentenund Anlegergewohnheiten durchzuschlagen, die sich im allgemeinen nur zögerlich verändern. Die bestehenden Zinsdifferenzen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften der Eurozone können auch Ausdruck von unterschiedlichen makroökonomischen Entwicklungen in den Ländern der Gemeinschaftswährung, bestehender Informationsasymmetrien und unterschiedlicher Risiken sein (Gaspar et al. 2003).
4
Grenzüberschreitende Kapitalflüsse
Mit der Öffnung und Integration von Finanzmärkten nimmt das Volumen grenzüberschreitender Kapitalströme zu; daher können diese Volumen ebenfalls als Indikator für die Integration von Finanzmärkten betrachtet werden. Insbesondere ermöglicht es die internationale Kapitalmobilität, dass in den einzelnen Volkswirtschaften Sparen und Investieren auseinanderfallen können. D.h. entscheiden sich in einer Volkswirtschaft die Haushalte zu sparen, so können damit – unter der Bedingung internationaler Kapitalfreizügigkeit – weltweit Investitionen getätigt werden. Folglich – so argumentieren Feldstein und Horioka (1980) in ihrem bekannten Aufsatz – lässt sich die internationale Kapitalmarktintegration durch eine Regression der Sparquote auf die Investitionsquote messen. Ergibt sich dabei ein Koeffizient in der Nähe von 1, so sei dies als Indikator für eine relativ geringe Finanzmarktintegration zu begreifen (Lemmen 1998). Abbildung 8:
Sparquoten in % des Bruttoinlandprodukts
40
35
30
25
20
15
10
Quelle: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; eigene Berechnungen.
Europäische Finanzmarktintegration
393
Ist der Koeffizient dagegen nicht signifikant von 0 verschieden, dann fallen Investitionen und Sparen auseinander und eine hohe internationale Integration deutet sich an. Finanzmarktintegration findet demnach ihren Ausdruck in einem geringen home bias von Finanztransaktionen. Betrachtet man die Investitionsquoten in den einzelnen Mitgliedsländern der EU, so zeigt sich, dass diese erheblich variieren. So lag der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt in Großbritannien im Jahr 2002 bei etwas über 15 %, während in Tschechien und Estland mit gut 31 % Spitzenwerte erreicht wurden (Abbildung 8 und 9). Abbildung 9:
Investitionsquoten in % des Bruttoinlandsprodukts
35
30
25
20
15
10
Quelle: IMF, International Financial Statistics, CD-ROM November 2004; Berechnungen des DIW Berlin.
Hohe Investitionsquoten sind für Volkswirtschaften mit einem niedrigen Pro-KopfBruttoinlandsprodukt notwendig, um den ökonomischen Aufholprozess erfolgreich zu gestalten. Oftmals stehen den hohen Investitionsquoten keine entsprechend hohen Sparquoten gegenüber. Dann sind Mittelzuflüsse aus anderen Volkswirtschaften zur Finanzierung der heimischen Investitionen notwendig. Auch das Sparverhalten differiert zwischen den einzelnen Volkswirtschaften der EU-25 deutlich. Während in Großbritannien 2002 mit knapp 14 % wenig gespart wurde, liegt der Vergleichswert in Deutschland fast 10 Prozentpunkte höher.
394
Mechthild Schrooten
Die einfache Regression der Sparquoten auf die Investitionsquoten weist für 1999 mit einem Koeffizienten von 0,07 eine relativ hohe Integration der Finanzmärkte auf. Analoge Berechnungen für das Jahr 2002 deuten einen leichten Anstieg des Koeffizienten auf 0,11 an. Danach hätte die internationale Finanzmarktintegration der europäischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren etwas nachgelassen, bleibt aber noch immer relativ hoch. Das Feldstein-Horioka-Kriterium zur Messung der internationalen Finanzmarktintegration wurde in der Literatur vielfach kritisiert. So kann beispielsweise aus einem geringen Volumen der grenzüberschreitenden Transaktionen nicht zwangsläufig die Segmentierung der Märkten abgeleitet werden. Gerade bei einer vollständigen Äquivalenz von heimischen Finanzanlagen und ausländischen Papieren wären grenzüberschreitende Transaktionen nur dann zu begründen, wenn sich für die gleiche Finanzdienstleistung unterschiedliche Preise erzielen lassen. Damit würde allerdings wiederum das Gesetz des einheitlichen Preises in Frage gestellt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass mit dem Feldstein-Horioka-Koeffizienten der Zusammenhang zwischen Sparen und Investieren in einer Volkswirtschaft abgebildet wird; mithin wird die Frage beantwortet, inwieweit die heimische Investitionstätigkeit durch heimisches Sparen oder internationale Kapitalzuflüsse gedeckt wird. Dabei wird nicht zwischen Kapitalzuflüssen aus Europa und aus dem außereuropäischen Ausland unterschieden. Folglich sind die Schätzergebnisse nicht geeignet, etwas über die Integration der europäischen Volkswirtschaften untereinander auszusagen. Deshalb werden im Folgenden die innereuropäischen Portfolioinvestitionen als Näherungsvariable für das Volumen der gesamten europäischen grenzüberschreitenden Finanztransaktionen herangezogen (Tabelle 3). Betrachtet wird dabei der Zufluss an Portfolioinvestitionen aus einem EU-25 Land in ein anderes. Dabei ergibt sich folgendes Bild:
Die innereuropäischen Portfolioinvestitionen überschreiten die Portfolioinvestitionen der EU-25 in die USA deutlich. Lagen letztere im Jahr 2002 bei 1 294 Mrd. USDollar, so belief sich das Volumen der grenzüberschreitenden Portfolioinvestitionen innerhalb Europas auf 4 377 Mrd. US-Dollar. Zugleich zeigt sich, dass die EU-25 wesentlich stärker in den USA investieren, als umgekehrt: die Portfolioinvestitionen der USA in den EU-25 lagen im Jahr 2002 bei 1 024 Mrd. US-Dollar. Dies gilt auf der aggregierten Ebene ebenso wie auf der Ebene der einzelnen Volkswirtschaften. Mit anderen Worten, jede einzelne europäische Volkswirtschaft weist eine stärkere Verflechtung mit den europäischen Nachbarn als mit dem Finanzmarkt USA auf. So flossen beispielsweise im Jahr 2002 Portfolioinvestitionen in Höhe von 103,5 Mrd. US-Dollar von Deutschland in die USA; die deutschen Portfolioinvestitionen innerhalb Europas lagen dagegen bei 688,7 Mrd. US-Dollar. Innerhalb Europas sind Deutschland (792 Mrd. US-Dollar), Italien, die Niederlande, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg die wichtigsten Aufnahmeländer. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Größe des heimischen Finanzsektors und den Portfoliozuflüssen. Volkswirtschaften mit einem relativ großen Finanzsektor scheinen demnach stärker integriert. Die ost-mitteleuropäischen Beitrittsländer können zwar alle nennenswerte Zuflüsse europäischer Portfolioinvestitionen verbuchen, diese Zuflüsse liegen allerdings wiederum am unteren Ende der Skala.
Europäische Finanzmarktintegration
395
Insgesamt zeigt sich, dass die EU-25 einen relativ hohen Grad an internationaler Finanzmarktintegration aufweist. Zugleich sprechen die Daten über die Portfolioinvestitionen dafür, dass die Integration innerhalb Europas deutlich über der mit anderen Wirtschaftsbzw. Währungsräumen, wie beispielsweise den USA, liegt. Tabelle 4: Portfolioinvestitionen in Millionen US-Dollar nach ==>
Österreich
Von Österreich Belgien Tschechien Dänemark Estland Finnland
Belgien
3 578 3 869
Tschechien
Dänemark
Estland
359
4 551
83
122
2 987
6
427
349
4
1 024
1 702
30
52
4
2
1 595
1 932
8 1 517
13 839 36 407
69
3 669
Deutschland
38 432 14 839
380
9 654 70
Frankreich
1 617
Deutsch- Griechen- Ungarn land land
Irland
9 194 42 500
3 742
1 897
2 887
2 665 36 281 35 685
6 505
186
6 299
185
110
322
668
6 22
Frankreich Griechenland
Finnland
1 219 82
158
201
936
5 385 16 265 31
316
11 578 10 807
2 14 880
195
4 522
24 1 752
113 763 15 530
495 20 641
17 540
6 116 24 426
157 16 428 80 335
198
51
8
25
5
13
Irland
4 767
6 225
297
2 419
30
4 615 23 664 45 478
3 473
537
Italien
4 277
6 965
98
1 527
53
3 476 53 984 56 461
5 004
131 21 579
14 792 33 031
653
7 406
191
8 282 69 241 171 262
6 100
3 330 14 565
Ungarn
Luxemburg Malta Niederlande Polen Portugal Slowakei Spanien Schweden Großbritannien Summe nachrichtlich: USA
199
55
8 531 22 628
6
14 21
4 445
56
1 236
492
3
108
74
2 23
1 165
164
39
3
24
2
1 694
5 654
15
1 543
2
1 288
37
2 770
316
927
13 654 95 812 149 533 4 141 22 846
33
77
19
16
6 476 53 536 106 095
7 787
249
5 991
24
154
414
6 475
9 328
1
6
135
4
4
1
1 935 26 489 41 249
1 294
126
3 627
79
1 042
5 905
8 830 13 374
52 317
458
12 728 95 402 127 837 2 129 42 752 872
9 175
225
423
50 1 075
181
36
2 536
3 074 41 204
1 049 80 793 482 181 792 633 68 548 16 790 147 680 41 41 976 123 375 94 761
4 437
1 931 25 335
396
Mechthild Schrooten Italien
Luxemburg
Malta
Niederlande
Polen
Portugal
Slowakei Spanien
nach ==> Von Österreich Belgien Tschechien Dänemark Estland Finnland Frankreich Deutschland Griechenland Ungarn Irland
7 205
22 11 244
957
971
41 760 61 403
8 660
29 762
102
4 404
Malta
662
1 109
196
34
541
165
74
2 844
256
182
1
2 073
6 848
4
1
2
28
13
101
5 556
2 505
6 649
381
110 338 37 432
106 712
609 17 714
98 245 123 973
104 498
3 277 15 827 16 22
36 843 15 507
20 824
418
4 216
146 750
113 54 150
294
3 866
8 62 918
3 270
3 930 55
19
927
2 606
73 28 463
214
279 25
106
482 5 394
18
28
148
58
2
4
35 287 11 981
2 38 075
74
3 100
3 690 13 931
4 756
171
184
Großbritannien 106 604 25 844
80 322
9 608
Summe 575 753 461 095 145 530 995 10 614 67 359 nachrichtlich: USA 40 919 8 720 70 124 493 2 962 3 169 Quelle: International Monetary Fund.
5
41 60 358
9 517 75 839 120 009
1 074 49 056 11 037 73 405 103 462
721
3 508
Schweden
22 7 586
162
3 288
Spanien
5 6 102
16
Polen Slowakei
74 8 514
903
36
899
1
8
8 263
340
7 333 19 331
3 303
1 459
67 165
8 610 16 620
1 667 14 457 31 567
909
383
Portugal
1 359
178
52 751
Niederlande
3 200
15 16 451
3 482
Italien Luxemburg
356
Schwe- Großbri- nachrichtden tannien lich: USA
159
132
2 131
3 287
5
10
42
115
8 19 260
6 216 118 967 185 983
71 11 729
5 089 32 925 70 609
213 23 490 22 218 65 533 176 180 40
258
250
7 103 49 758 147 061 153
574
3 090
341
3 642
4 068
12
1
19
125
2
2 008 21 710 21 764 2 360
19 318 46 810
25 910 17 280
338 038 1 294 2 423 249 101 99 527 500 546 360 101 36 452 27 061 452 107
Zusammenfassung
Auch nach der Einführung des Euro sind die Finanzmärkte in den europäischen Volkswirtschaften noch stark von nationalen Besonderheiten geprägt. Eine wesentliche Ursache für die bestehende Heterogenität liegt in den unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen der einzelnen europäischen Volkswirtschaften. Die ost-mitteleuropäischen Beitrittsländer nehmen eine besondere Stellung ein, da sie zur Zeit noch über einen relativ kleinen Finanzsektor verfügen. Dieser wird von den Geschäftsbanken dominiert. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Marktkapitalisierung und damit die Größe des Kapitalmarktes in den europäischen Volkswirtschaften offenbar hinter der Größe des Bankensektors zurückbleibt. Während sich die nationalen Finanzmärkte in der EU deutlich in Bezug auf Größe und Struktur unterscheiden, zeichnet sich innerhalb der Eurozone nach der Einführung der gemeinsamen Währung eine Konvergenz der Zinssätze ab. Allerdings ist die in der Literatur als Indikator der Finanzmarktintegration angeführte Zinsparität nur bedingt festzustellen.
Europäische Finanzmarktintegration
397
Vor allem der Kreditmarkt ist weiterhin innerhalb der Eurozone stark segmentiert. Hier schlägt offenbar ein home bias zu Buche. Diese Tatsache deutet auf noch bestehende Hemmnisse bei der europäischen Finanzmarktintegration hin. Offenbar sind die Informations- und Suchkosten bei grenzüberschreitenden Finanztransaktionen in wichtigen Segmenten des europäischen Finanzmarktes immer noch relativ hoch. Die angestellten Berechnungen des Feldstein-Horioka-Koeffizienten haben indes eine starke Integration der EU-25 in die internationalen Finanzmärkte erkennen lassen. Aussagen über die Integration der europäischen Finanzmärkte lassen sich auf Grundlage dieser Schätzungen allerdings nicht treffen. Zieht man das Volumen der wechselseitigen grenzüberschreitenden Portfolioinvestitionen innerhalb der EU als Indikator für die Integration heran, so zeigt sich, dass dieses Volumen etwa vierfach höher liegt als die vergleichbare Verflechtung Europas mit den USA. In Zukunft wird es vor allem darum gehen, die Harmonisierung im Bereich der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen weiter voranzutreiben. Damit könnten beispielsweise die mit grenzüberschreitenden Transaktionen verbundenen Informationskosten gesenkt werden. Das dürfte sich dann auch in einer stärkeren Konvergenz der Zinssätze in den Teilmärkten widerspiegeln. Wichtige Schritte zur Angleichung der Spielregeln zwischen den nationalen Märkten sind bereits eingeleitet. Derzeit kommen darüber hinaus wesentliche Impulse von einer auf internationaler Ebene angestrebten Harmonisierung der Rahmenbedingungen auf dem Finanzmarkt. Dazu gehören neben der Einführung von Basel II auch die Durchsetzung internationaler Accounting-Standards für große Teile des europäischen Unternehmenssektors. Die Durchsetzung harmonisierter Spielregeln ist indes nicht nur für die Integration der europäischen Finanzmärkte von zentraler Bedeutung. Vielmehr hängt von dem Erfolg dieses Prozesses auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas im Bereich der Finanzdienstleistungen ab.
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EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
399
Frank Bönker
EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa1
1
Einleitung
Für die neuen osteuropäischen Mitglieder der EU stellt der im Mai 2004 vollzogene Beitritt nicht nur den formalen Abschluss der nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime von den politischen Eliten proklamierten „Rückkehr nach Europa“ dar. Vielen Beobachtern innerhalb wie außerhalb Osteuropas gilt die Osterweiterung der EU auch als die symbolische Bekräftigung, dass in den Beitrittsländern der Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie nunmehr abgeschlossen ist und die neuen EU-Mitglieder zu „normalen“ marktwirtschaftlichen Demokratien geworden sind. Dies ist jedoch nur eine mögliche Lesart des Verhältnisses von EU-Beitritt und ökonomischer Transformation. Einer zweiten Interpretation zufolge können beide als sich zeitlich und inhaltlich überlappende, jedoch analytisch auseinanderzuhaltende Reformprojekte verstanden werden. Aus dieser Perspektive erscheint der Beitritt zur EU weniger als krönender Abschluss der Transformation denn als eine eigenständige zweite Herausforderung, die die der ökonomischen Transformation teilweise ersetzt („von der Transformation zum EU-Beitritt“), teilweise ergänzt hat und nicht per se im Einklang mit dieser gestanden haben muss. Schließlich lässt sich noch eine dritte Lesart ausmachen. Sie ist insbesondere in der sich mit der Erklärung der dramatischen Unterschiede im Verlauf und den Ergebnissen der ökonomischen und politischen Transformation in Osteuropa beschäftigenden vergleichenden Transformationsforschung zu finden. Hier erscheint der EU-Beitritt bzw., genauer gesagt, die Perspektive des EU-Beitritts weniger als Problem denn als Lösung – als eine günstige Rahmenbedingung der ökonomischen Transformation, die maßgeblich zu dem in vielerlei Hinsicht überraschenden Erfolg der Transformation in den Beitrittsländern beigetragen hat und (mit-)erklären kann, warum der Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie in den neuen Mitgliedsstaaten der EU soviel weiter fortgeschritten und soviel komplikationsloser verlaufen ist als beispielsweise in Russland. Am pointiertesten haben wohl Erik Berglöf und Gérard Roland diese These einer positiven „Ankerfunktion“ der EU formuliert (Berglöf und Roland 2000: 4; vgl. auch Berglöf und Roland 1997): “Arguably, never before in history has the attraction of joining an association of countries had such profound impact on the political and economic development in a whole region. The economic changes in the countries where membership has been a realistic option have been dramatic, with a decade of what is perhaps the most radical reorientation of trade and structural adjustment in modern history. The encouraging record of the accession countries stands out even clearer when contrasted to the disappointing record of the transition countries left out of the accession process.” 1
Mein Dank gilt Hans-Jürgen Wagener für anregende Kommentare sowie Karl Dang und André Kalthofen für Unterstützung bei der Datensammlung und -aufbereitung.
400
Frank Bönker
In dem vorliegenden Beitrag sollen diese drei Interpretationen des Zusammenhangs zwischen EU-Beitritt und ökonomischer Transformation vorgestellt und diskutiert werden. In einem ersten Teil werden dazu zunächst das Projekt der ökonomischen Systemtransformation skizziert, die bisherigen Transformationsergebnisse referiert und die Frage diskutiert, inwieweit in den Beitrittsländern von einem erfolgreichen Abschluss der Transformation gesprochen werden kann. Im Anschluss daran werden die mit dem EU-Beitritt verbundenen Herausforderungen herausgearbeitet und die Beziehungen zwischen dem Transformationsund dem Beitrittsprojekt erörtert. Schließlich geht es im dritten Hauptteil um den Beitrag der EU und der EU-Beitrittsperspektive zu den Erfolgen der Transformation in den Beitrittsländern. Am Ende des Beitrags steht ein knappes Fazit.
2
Der EU-Beitritt als Abschluss der ökonomischen Transformation?
Nach dem überraschenden Zusammenbruch des Staatssozialismus bekannten sich die politischen Eliten in den osteuropäischen Ländern zunächst mehr oder minder einhellig zu einem Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie. Dieser war mit einer umfassenden Reformagenda verbunden. Nicht nur, dass gleichzeitig weitreichende ökonomische wie politische Reformen auf der Tagesordnung standen (Offe 1991); die ökonomischen Herausforderungen allein waren denkbar groß (Fischer und Gelb 1991; Blanchard 1997; Wagener 1997). Dies wird deutlich, wenn man vier zentrale Dimensionen der ökonomischen Transformation in Osteuropa unterscheidet, die als Systemwechsel, makroökonomische Stabilisierung, Restrukturierung und catching up bezeichnet werden können: (i) Differentia specifica der ökonomischen Transformation in Osteuropa ist der Systemwechsel, der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Er beinhaltet drei wesentliche Komponenten, die gemeinhin als Privatisierung, Liberalisierung und institution building charakterisiert werden. Bei der Privatisierung ging es um den Übergang von einer durch Staats- bzw. Kollektiveigentum zu einer durch Privateigentum an den Produktionsmitteln dominierten Wirtschaft, bei der Liberalisierung um die Ersetzung staatlicher Planung durch die marktförmige Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten, beim institution building schließlich um den Aufbau der für das Funktionieren von Märkten erforderlichen institutionellen Infrastruktur in Gestalt von formellen und informellen Regeln sowie einer funktionstüchtigen, nicht korrupten öffentlichen Verwaltung. (ii) Eine zweite Reformdimension ist die makroökonomische Stabilisierung. Hier ging es um die Verhinderung bzw. Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte, die zu Beginn der Transformation bestanden oder mit deren Entstehung im Laufe der Transformation zu rechnen war. Die makroökonomische Stabilisierung ist keine auf die Transformationsländer beschränkte Aufgabe, war dort aber von besonderer Bedeutung. Zum einen hatten einige Transformationsländer substantielle makroökonomische Ungleichgewichte geerbt; zum anderen hat der Transformationsprozess selbst die Entstehung solcher Ungleichgewichte begünstigt. Zu Beginn der Transformation bargen die Preisliberalisierung, die starken Abwertungen und die „strukturellen“ Haushaltsdefizite, mit denen in den frühen Transformationsjahren aufgrund hoher Ausgaben zur sozialen Abfederung der Bevölkerung einerseits und niedriger Einnahmen aufgrund der Umstellung des Steuersystems anderer-
EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
401
seits fast unweigerlich zu rechnen war, ein starkes inflationäres Potential und implizierten so einen besonderen makroökonomischen Problemdruck. Im weiteren Verlauf der Transformation gewann das Problem der Finanzierung der transformationsbedingt hohen Leistungsbilanzdefizite an Bedeutung. (iii) Eine dritte Dimension der Transformation kann als Restrukturierung bezeichnet werden. Damit sind die Modernisierung der Wirtschaft und der damit verbundene Abbau der in der staatssozialistischen Zeit entstandenen Verzerrungen der Wirtschaftsstruktur angesprochen. Als solche Verzerrungen können neben dem überdimensionierten Industrie- und dem unterdimensionierten Dienstleistungssektor ein hoher Energieverbrauch, sehr große durchschnittliche Unternehmensgrößen und eine planwirtschaftlichen Vorgaben und nicht geographischen und ökonomischen Gegebenheiten entsprechende Außenhandelsstruktur gelten. Der Abbau all dieser Verzerrungen erfordert nicht nur Investitionen und Kapital. Um die richtigen Anreize zur Restrukturierung zu setzen, sind zudem ein funktionierender Wettbewerb und effiziente Strukturen der Unternehmenskontrolle erforderlich. (iv) Die vierte und letzte Dimension der ökonomischen Transformation lässt sich als catching up umschreiben, bestand doch das ultimative „Ziel“ der Transformation in der Vergrößerung des ökonomischen Wohlstands und der Beseitigung des Wohlstandsgefälles, das Ende der 1980er Jahre zwischen West- und Osteuropa existierte (Tab. 1). Das Ausmaß dieses Aufholprozesses wurde noch dadurch vergrößert, dass es in allen osteuropäischen Transformationsländern nach Start der Reformen zunächst zu einem dramatischen Einbruch des Sozialproduktes, der sog. Transformationsrezession, kam (s. a. Tab. 4).2 Tabelle 1: Die relative Einkommensposition ausgewählter osteuropäischer Transformationsländer im Jahre 1987 (USA = 100)a Tschechien Litauen Slowenien Russland Estland Ungarn Belarus Lettland Bulgarien Polen Ukraine Usbekistan a
44.1 33.8 33.3 30.6 29.9 28.9 25.1 24.1 23.5 21.4 20.4 12.5
Österreich Spanien Argentinien China
72.8 50.2 32.1 5.8
Bruttosozialprodukt pro Kopf auf Grundlage von Kaufkraftparitäten
Quelle: World Bank 1996, 188, Tab. 1.
2
Das genaue Ausmaß der Transformationsrezession ist umstritten. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass die offiziellen Zahlen, wie sie auch Tab. 4 zugrunde liegen, aufgrund verschiedener Mess- und Vergleichsprobleme (Schattenwirtschaft etc.) den Einbruch des Sozialproduktes überzeichnen, speziell im Falle der GUSStaaten. Dass das Sozialprodukt nach Beginn der Transformation stark gefallen ist, leugnen aber nur die wenigsten (s. aber Åslund 2002: 121-140, wo von einem „Mythos“ die Rede ist). Zu den Ursachen der Transformationsrezession vgl. Kornai 1994.
402
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Inwieweit haben die Beitrittsländer diese Aufgaben bewältigt, so dass von einem Abschluss der Transformation gesprochen werden kann? Und wie stehen die Beitrittsländer im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Transformationsländern da? Zur Beantwortung dieser Fragen werden im Folgenden die Transformationsfortschritte in den vier unterschiedenen Dimensionen dargestellt. Dabei wird zwischen drei Ländergruppen unterschieden – erstens den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedern, zweitens den Transformationsländern, die noch keine EU-Mitglieder sind, aber gute Aussichten haben, dies in den nächsten Jahren zu werden (Bulgarien, Kroatien und Rumänien), und drittens den Transformationsländern, bei denen ein EU-Beitritt ausgeschlossen ist oder allenfalls langfristig realistisch erscheint. (i) Die Mitgliedschaft in der EU setzt formal die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft voraus. Ganz allgemein kann bei den Beitrittsländern also von einem erfolgreich vollzogenen Systemwechsel gesprochen werden. Aussagekräftiger erscheint allerdings eine Beurteilung des Standes des Systemwechsels anhand der von der EBRD entwickelten Indikatoren. Die EBRD bewertet seit 1994 den Stand der Transformation in verschiedenen Bereichen anhand einer Notenskala, die von 1 (minimale Reformen) bis 4+ (Stand der entwickelten westlichen Marktwirtschaften) reicht. (ii) Die Erfolge der makroökonomischen Stabilisierung lassen sich vor allem an der Inflationsentwicklung festmachen. Wie Tab. 3 deutlich macht, kam es in der großen Mehrzahl der Transformationsländer Anfang der 1990er Jahre zu einem dramatischen Anstieg des Preisniveaus, der in vielen GUS-Staaten sogar den Charakter einer Hyperinflation annahm. Zur Überraschung vieler Beobachter gelang es in den meisten Transformationsländern jedoch überraschend schnell, die Inflationsraten auf ein niedriges Niveau zu drücken. Im Zeitraum von 2001 bis 2004 kamen nur noch 5 von 25 Ländern auf durchschnittliche jährliche Inflationsraten von über 10 %. Von den Beitrittsländern war keines dabei. Hier schwankte die Inflationsrate zwischen 0,5 und 6,6 %. Damit lag die Inflation klar unter der der beiden anderen Ländergruppen, überstieg mit Ausnahme Litauens und Tschechiens allerdings den Durchschnitt der Eurozone von knapp 2,3 %. (iii) Der Stand der ökonomischen Restrukturierung lässt sich sowohl anhand von aggregierten Indikatoren wie dem Anteil des Außenhandels mit unterschiedlichen Ländergruppen, dem Gewicht der verschiedenen Wirtschaftssektoren oder der Energieintensität der Produktion als auch anhand von Unternehmensstudien beurteilen. Auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Ländergruppen. In den Beitrittsländern ist die Restrukturierung deutlich stärker fortgeschritten als in den beiden anderen Ländergruppen. Betrachtet man die sektorale Wirtschaftsstruktur oder den Energieverbrauch der Unternehmen, sind jedoch auch im Falle der Beitrittsländer die Spuren der Vergangenheit weiterhin erkennbar (Gros und Suhrcke 2000; Raiser et al. 2004).
EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
403
Tabelle 2: Stand des Systemwechsels in verschiedenen Gruppen von Transformationsländern (2003) Preisliberalisierung
Estland Lettland Litauen Polen Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn Bulgarien Kroatien Rumänien Albanien Armenien Aserbaidschan Belarus Georgien Kasachstan Kirgistan Mazedonien Moldawien Russland Tajikistan Turkmenistan Ukraine Usbekistan
4+ 4+ 4+ 4+ 4+ 4 4+ 4+ 4+ 4 4+ 4+ 4+ 4 34+ 4 4+ 4 44 434 3-
Privatisierung von Großunternehmen
4 443+ 4 3 4 4 43+ 3+ 2+ 3+ 2 1 3+ 3 3 3 3 3+ 2+ 1 3 3-
institution building Wettbewerbspolitik 333 3 3 33 3 2+ 2+ 2+ 22 2 2 2 2 2 2 2 2+ 21 2+ 2-
Bankensektor 443 3+ 3+ 3+ 44 3+ 432+ 2+ 2+ 22+ 3 2+ 32+ 2 21 2+ 2-
Wertpapiermärkte 3+ 3 3 4333 42+ 32 22 22 22+ 2 22 31 1 2 2
Quelle: EBRD 2004: 16, Tab. 2.1.
(iv) Noch langsamer als die ökonomische Restrukturierung kommt das catching up voran. Wie Tab. 4 zeigt, kommen die Beitrittsländer zwar auf ein – gemessen am Ausgangsniveau 1989 wie am Durchschnitt der alten EU-Mitglieder – höheres relatives Einkommen. Zugleich liegt das Pro-Kopf-Einkommen auch in ihrem Falle – mit Ausnahme Sloweniens – unter dem Portugals, dem ärmsten alten EU-Mitgliedsstaat und damit deutlich unter dem Durchschnitt der alten EU. Zwei Entwicklungen haben dazu beigetragen: Zum einen sind auch die Beitrittsländer nicht von dem starken Einbruch des Sozialproduktes zu Beginn der Transformation verschont geblieben. Das gilt vor allem für die drei baltischen Staaten, die als Teilrepubliken stärker von der ökonomischen „Disorganisation“ (Blanchard und Kremer 1997) im Zuge des Auseinanderfallens der Sowjetunion betroffen waren. Zum anderen sind die seit dem Ende der Transformationsrezession zu verzeichnenden Wachstumsraten in
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vielen Beitrittsländern hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zwar übersteigen sie zumeist die Wachstumsraten der meisten alten EU-Mitglieder. Mit Ausnahme Estlands liegen sie jedoch unter den Wachstumsraten, die man angesichts des ökonomischen Ausgangsniveaus, des Bildungsstandes und anderer wachstumsrelevanter Rahmenbedingungen aufgrund der Erfahrungen in anderen Teilen der Welt erwarten würde. Aus beiden Gründen wird der ökonomische Aufholprozess der Beitrittsländer noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Tabelle 3: Die Inflationsentwicklung in den Transformationsländern (Verbraucherpreise, Jahresdurchschnitte)
Estland Lettland Litauen Polen Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn Bulgarien Kroatien Rumänien Albanien Armenien Aserbaidschan Belarus Georgien Kasachstan Kirgistan Mazedonien Moldawien Russland Tajikistan Turkmenistan Ukraine Usbekistan
maximale Inflationsrate seit Beginn der Transformation 1076 (1992) 951 (1992) 1021 (1992) 586 (1990) 61 (1991) 1306 (1989) 51 (1991) 35 (1991) 1082 (1997) 1518 (1993) 256 (1993) 226 (1992) 5273 (1994) 1664 (1994) 2221 (1994) 15607 (1994) 1892 (1994) 855 (1992) 1664 (1992) 1276 (1992) 1526 (1992) 2195 (1993) 3102 (1993) 4735 (1993) 1568 (1994)
Quelle: EBRD 2004: 40, Tab. A.2.3.
durchschnittl. Inflationsrate der Jahre 2001-2004 3,6 3,4 0,5 2,9 6,6 6,3 2,5 6,4 5,4 2,9 21,1 3,5 4,2 2,9 38,0 5.3 6,8 4,6 2,9 9,2 15,4 18,4 9,4 6,5 19,3
EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
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Tabelle 4: Die verzögerte Aufholjagd: Die Entwicklung des Sozialproduktes seit Beginn der Transformation BSP pro Kopf im Vergleich zu den alten EUMitgliedern 2002 (EU-15 = 100) a
reales BIP 2003 (1989 = 100)
reales BIP am Ende der Transformationsrezession (1989 = 100)
durchschnittl. jährliche Wachstumsrate des BIPs seit Ende der Transformationsrezession (%)b
durchschnittl. jährliche Wachstumsrate des BIPs, 2001-2004 (%)
zu erwartende Wachstumsrate des BIPs (%)c
Estland Lettland Litauen Polen Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn
45,0 35,5 39,4 40,4 48,7 71,4 57,7 50,5
102 83 84 135 114 120 108 115
61,8 49,6 53,3 82,2 75,0 82,0 86,9 81,9
5,23 4,64 4,71 3,34 4,26 4,05 1,96 3,51
6,05 7,35 7,30 2,93 4,30 3,13 2,8 3,55
5,23 5,50 6,10 5,42 5,86 5,31 5,44 5,28
Bulgarien Kroatien Rumänien
27,2 38,7 25,1
84 91 92
73,3 59,5 75,0
1,13 4,30 1,64
4,65 4,40 5,20
4,92 5,38 5,47
Albanien 21,4 129 60,1 7,41 5,90 Armenien 12,5 89 43,4 10,00 11,2 Aserbaidschan 11,7 71 37,0 8,27 10,4 Belarus 21,3 100 62,7 5,88 5,60 Georgien 8,8 41 25,4 5,23 6,20 Kasachstan 21,8 94 61,3 5,11 10,4 Kirgistan 6,0 75 50,3 4,71 4,5 Mazedonien 24,8 78 68,0 1,71 0,5 Moldawien 6,2 41 35,3 1,18 6,7 Russland 31,2 77 57,5 3,63 6,0 Tajikistan 3,6 62 39,2 6,40 9,5 Turkmenistan 18,5 105 52,6 11,6 9,8 Ukraine 18,5 51 36,5 6,63 9,0 Usbekistan 6,3 107 83,4 3,11 2,8 a auf Grundlage von Kaufkraftparitäten b durchschnittliche Wachstumsraten seit dem (national unterschiedlichen) ersten Jahr mit positiven Wachstumsraten seit Beginn der Transformation c auf Grundlage von Querschnittsregressionen für Industrie- und Entwicklungsländer (vgl. Fischer et al. 1998) Quellen: World Bank, World Development Indicators (http://www.worldbank.org/data/wdi2004/tables/table11.pdf) (relatives BSP); Fischer et al. 1998 (erwartete Wachstumsraten); EBRD 2004: 38, Tab. A.2.1, zum Teil eigene Berechnungen (Rest).
406
Frank Bönker
Fasst man diese tour d‘ horizon durch die Ergebnisse von 15 Jahren ökonomischer Transformation zusammen, so ergibt sich ein gemischtes Bild. Einerseits schneiden die Beitrittsländer in allen vier Dimensionen besser ab als die Nicht-Beitrittsländer. Offensichtlich gibt es also einen Zusammenhang zwischen EU-Beitritt und Transformationsfortschritt. Andererseits kann die Transformation aber auch in den Beitrittsländern nicht wirklich als abgeschlossen bezeichnet werden. Dies gilt selbst dann, wenn man von den naturgemäß langwierigen Prozessen der ökonomischen Restrukturierung und des catching up absieht und sich auf den Stand des Systemwechsels, die Transformation im engeren Sinne, konzentriert.3
3
Der EU-Beitritt als zweites Reformprojekt
In der zweiten Interpretation erscheint der EU-Beitritt nicht als Abschluss oder Krönung der Transformation, sondern als ein zweites großes Reformprojekt neben der ökonomischen Transformation. Die große Mehrheit der politischen Eliten in den Ländern Mittelost- und Südosteuropas hatte sich von Beginn der Transformation an als Teil der „Rückkehr nach Europa“ den Beitritt zur EU als Ziel gesetzt. Obwohl dieser zunächst ein eher vages Ziel bleiben musste, kam es zu einer „anticipatory adaptation“ (Haggard et al. 1993: 182), einer vorauseilenden Anpassung an EU-Standards. Mit dem Fortschreiten der Transformation und der Entscheidung der EU, den Beitritt zu ermöglichen, konkretisierte sich die Beitrittsperspektive jedoch rasch. Spätestens mit der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen Ende der 1990er Jahre wurde die Beitrittsfähigkeit dann zu einem zentralen Thema der nationalen Wirtschafts- und Reformpolitik. In allen Beitrittsländern nutzen die Regierungen die Gelegenheit, die Vorbereitungen auf den EU-Beitritt als „nationale Kraftanstrengung“ zu inszenieren (Jacoby 2002). Entsprechend wurden überall ressortübergreifende Gremien zur Abstimmung der Politik eingerichtet und Mehrjahresprogramme zur Beseitigung der letzten Hindernisse für einen EU-Beitritt aufgelegt. Die Beitrittsbedingungen für die osteuropäischen Transformationsländer wurden von der EU erstmals auf der Sitzung des Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 konkretisiert. Die sog. Kopenhagener Kriterien umfassen die folgenden Bedingungen:
die Gewährleistung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Existenz einer funktionsfähigen Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standhalten kann, die Übernahme des acquis communautaire, also des kompletten Gemeinschaftsrechts.
Die Kopenhagener Kriterien fungierten als Grundlage für das screening der Beitrittskandidaten im Vorfeld und im Verlaufe der vor dem Beitritt geführten mehrjährigen Verhandlungen (Grabbe 2002). Für die Kandidaten implizierte vor allem das dritte Kriterium einen umfassenden Institutionen-TÜV, lässt der acquis mit seinen 80.000 Seiten doch praktisch keinen Rechts- und Verwaltungsbereich unberührt. Entsprechend zwang der angestrebte EU-Beitritt die neuen Mitglieder zu einer – gemeinsam mit der Kommission durchgeführten – weitreichenden Durchleuchtung und Anpassung der nationalen Rechtsordnungen und der nationalen Rechtspraxis, die die Wettbewerbspolitik genauso einschloss wie den Ar3
So auch das Urteil der EBRD (2003: 20): „Even for the future EU members, transition is not yet over.“
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beitsschutz und auch vor eher obskuren Materien wie der Besteuerung von selbstgebranntem Alkohol keinen Halt machte. Explizite makroökonomische Kriterien wurden in Kopenhagen nicht formuliert. Sie ergeben sich aber aus dem acquis, enthält dieser doch seit dem Vertrag von Maastricht die Verpflichtung der EU-Mitglieder auf das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion. Damit zwingt der EU-Beitritt die Beitrittsländer, mittelfristig den Euro einzuführen. Dafür ist jedoch die Erfüllung der sog. Maastricht-Kriterien erforderlich:
eine Inflationsrate von höchstens eineinhalb Prozentpunkten über der durchschnittlichen Inflationsrate der drei preisstabilsten Mitgliedsländer, langfristige Zinssätze, die das Zinsniveau in den drei preisstabilsten Mitgliedsländern um nicht mehr als zwei Prozentpunkte überschreiten, ein laufendes Haushaltsdefizit von höchstens 3 % und ein öffentlichen Schuldenstand von maximal 60 % des BIPs, eine mindestens zweijährige erfolgreiche Ankoppelung der nationalen Währungen an den Euro mit einer Schwankungsbreite von maximal +/- 15 % im Rahmen des Wechselkursmechanismus II.
Seit dem Beitritt zur EU sind die neuen Mitgliedsstaaten zudem verpflichtet, die fiskalischen Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen. Dies bedeutet, dass die laufenden Haushaltsdefizite schon jetzt 3 % des BIPs nicht übersteigen sollten. Im Vergleich zu den Mitgliedern der Wirtschafts- und Währungsunion haben die Beitrittsländer im Falle eines Verstoßes gegen die Kriterien allerdings schwächere Sanktionen zu befürchten. Wie haben sich das Transformations- und das Beitrittsprojekt zeitlich und inhaltlich zueinander verhalten? In zeitlicher Hinsicht kann insofern von einem Nebeneinander beider Projekte gesprochen werden, als die „Rückkehr nach Europa“ und die EU-Kompatibilität wichtige Richtschnuren bereits der frühen Wirtschaftsreformen waren. Allerdings hat sich die Bedeutung beider Projekte im Zeitablauf verschoben. War das Beitrittsprojekt zunächst Teil des übergeordneten Transformationsprojektes, so gewann es ab Mitte der 1990er Jahre deutlich eigenständige Konturen und trat, zumindest in den Augen der Öffentlichkeit, allmählich an die Stelle des Transformationsprojektes. Dazu hat zum einen die Konkretisierung der Beitrittsperspektive beigetragen. Zum anderen waren die Regierungen in den Beitrittsländern eifrig bemüht, die Transformation nach und nach für „erfolgreich abgeschlossen“ zu erklären, und froh, den anstehenden Reformen eine neue, populärere Rechtfertigung geben zu können. In der Folge verschob sich in der politischen wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion der Fokus „from transformation to integration“. Auch inhaltlich haben sich das Transformations- und das Beitrittsprojekt überschnitten. In vielerlei Hinsicht waren sie komplementär (Piazolo 2001: 5-7). Liberalisierung, institution building und makroökonomische Stabilisierung etwa waren Ziele sowohl des Transformations- wie des Beitrittsprojekts; viele der von der EU als Voraussetzung für den Beitritt verlangten Maßnahmen hätten im Zuge der Fortführung der Wirtschaftsreformen ohnehin auf der Tagesordnung gestanden. Transformations- und Beitrittsprojekt haben sich jedoch nicht in allen Fällen gedeckt oder ergänzt. In mancher Hinsicht standen sie vielmehr in einem Spannungsverhältnis zueinander.4 Insbesondere drei Felder sind hier zu nennen: 4
Zu Konflikten zwischen EU-Beitritt und politischer Demokratisierung s. Schimmelpfennig 2004.
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(i) Die Politik der EU wie auch der Wettlauf der osteuropäischen Länder um Beitrittschancen haben dazu beigetragen, dass die Liberalisierung des Außenhandels nach 1989 sehr stark durch bilaterale Abkommen zwischen der EU und den Transformationsländern bestimmt worden ist. Darunter hat die regionale ökonomische Integration zwischen den Transformationsländern gelitten, was die Entwicklung des Außenhandels beeinträchtigt hat (Beyer 1999: 539-549). (ii) Die Verpflichtung zur Übernahme des acquis communautaire ist aus Sicht der Beitrittsländer nicht ausschließlich positiv zu beurteilen. Sie hat zwar maßgeblich zum institution building in den Beitrittsländern beigetragen und so etwa geholfen, das Vertrauen ausländischer Investoren in die Qualität der Institutionen zu erhöhen. Zugleich besteht jedoch die Gefahr, dass die Sozial-, Gesundheits-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards, die der acquis enthält, für die Beitrittsländer aus ökonomischer Perspektive zu hoch und deshalb mit negativen Wachstums- und Beschäftigungseffekten verbunden sind. Richard Baldwin u.a. haben diese Sorge in einer klassischen Studie zu Kosten und Nutzen des EU-Beitritts wie folgt formuliert (Baldwin et al. 1997: 128): „The main issue here concerns the extent to which adoption of the European Union’s body of legislation and case law – the acquis – will stunt Eastern growth and raise unemployment rates. After all, the EU’s rules were designed for rich social democracies with extensive social security systems. They are thus unlikely to be appropriate for poorer but rapidly growing eastern nations. Imagine what would have happened if Korea, Taiwan and Hong Kong had been forced to adopt Social Charter rules and EU environmental standards at a comparable stage of their development .... the acquis is surely a sub-optimal set of rules for nations in the midst of their ‚take-off‘ stage of growth.”
(iii) Ein dritter Bereich, in dem die Beitritts- bzw. Mitgliedschaftsbedingungen in einem gewissen Spannungsverhältnis mit den Transformationserfordernissen stehen, ist der der makroökonomischen Politik. Aus Sicht vieler Beobachter ist die Erfüllung der Bedingungen für die Euro-Einführung für die osteuropäischen Beitrittsländer mit großen Problemen und Risiken verbunden (Begg et al. 2002; Deutsche Bundesbank 2001; Fritz und Wagener 2003). Befürchtet wird zum einen, dass sie die Beitrittsländer zu einer zu restriktiven, mit Wachstumseinbußen verbundenen und so den ökonomischen Aufholprozess verlangsamenden makroökonomischen Politik zwingt; zum anderen wird eine erhöhte Anfälligkeit für Währungskrisen befürchtet, die ihrerseits mit negativen Konsequenzen für Wachstum und Preisniveaustabilität verbunden sind. Die Gefahr einer „zu restriktiven“ makroökonomischen Politik hängt damit zusammen, dass die Inflationsrate in ärmeren, schneller wachsenden Ländern aufgrund der starken Erhöhung des Produktivitätsgefälles zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor typischerweise höher ausfällt als in reicheren Ländern. Für die Beitrittsländer wird dieser mit dem sog. Balassa-Samuelson-Effekt verbundene Anstieg des Preisniveaus auf bis zu 3 Prozentpunkte geschätzt. Die Bedingungen für die Einführung des Euros berücksichtigen diese strukturelle Inflationsdifferenz zum Euroraum jedoch nicht. Unter diesen Umständen macht der Versuch, die Inflationsrate rasch unter die vorgeschriebene Obergrenze zu drücken, entweder eine Aufwertung der Währung oder eine sehr restriktive Geld- und Fiskal-
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politik erforderlich. Beides kann negative Effekte auf das Wirtschaftswachstum haben und so den ökonomischen Aufholprozess verlangsamen.5 Ein zweites Problem besteht darin, dass der vorgesehene Weg zum Euro insofern die Gefahr von Währungskrisen erhöht, als er die Beitrittsländer durch die Verpflichtung zur zweijährigen Teilnahme am Europäischen Wechselkursmechanismus II einem harten Markttest aussetzt, der unter den Bedingungen eines liberalisierten Kapitalverkehrs und hoher Kapitalzuflüsse leicht negativ ausfallen kann (Begg et al. 2002). Aus diesen Problemen der Bedingungen für die Euro-Einführung lassen sich unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Für die einen legen sie ein vorsichtiges Vorgehen und ein Hinauszögern des Beitritts zur Wirtschafts- und Währungsunion nahe (Deutsche Bundesbank 2001; Fritz und Wagener 2003), für die anderen eine Änderung der Beitrittsbedingungen oder gar eine unilaterale Euro-Einführung (Begg et al. 2002). Im Kontext dieses Beitrags kann man im ersten Fall von einem Plädoyer für den Vorrang des Transformations- gegenüber dem Beitrittsprojekt und in zweiten Fall von dem Versuch, Transformations- und Beitrittsprojekt durch Regeländerungen kompatibel zu machen, sprechen.
4
Der EU-Beitritt als vorteilhafte Rahmenbedingung der ökonomischen Transformation
Der EU-Beitritt lässt sich jedoch nicht nur als Problem, sondern auch als Lösung interpretieren. Dies ist charakteristisch für die dritte Interpretation des Zusammenhangs zwischen EU-Beitritt und ökonomischer Transformation, die in der Beitrittsperspektive einen wichtigen transformationsförderlichen Faktor sieht. Gemäß dieser Interpretation haben die Länder, die aufgrund ihrer geographischen Lage, ihrer kulturellen Nähe zum Westen und ihrer außenpolitischen Bedeutung die realistische Perspektive eines EU-Beitritts gehabt haben, über besonders günstige Rahmenbedingungen verfügt. Damit wird die Kausalität zwischen Transformationsfortschritten und EU-Beitritt zu einer wechselseitigen. Die oben beschriebenen besseren Transformationsergebnisse in den Beitrittsländern erscheinen nun gleichermaßen als Voraussetzung wie als Folge des EU-Beitritts. Wie hat die Beitrittsperspektive den Verlauf der ökonomischen Transformation beeinflußt? Grob lassen sich drei Mechanismen unterscheiden – eine stärkere Unterstützung durch die EU, größere Anreize zur Durchführung von Reformen sowie günstigere Bedingungen zur Rechtfertigung von unpopulären Maßnahmen: (i) Erstens haben die Länder mit einer besseren Beitrittsperspektive von einer größeren Unterstützung seitens der EU profitiert. Von den zwischen 1990 und 1997 im Rahmen der von der EU für die Transformationsländer aufgelegten Förderprogramme PHARE und TACIS zugesagten Mitteln beispielsweise entfielen zwei Drittel auf die Beitrittsländer sowie Bulgarien und Rumänien und nur ein Drittel auf die GUS-Staaten (Åslund 2002: 418-423). Von den letzteren kamen zudem nur Russland und die Ukraine in den Genuss größerer Fördermittel. Auch bei den für die Exportchancen der Transformationsländer wichtigen handelspolitischen Zugeständnissen der EU lassen sich Unterschiede in der Poli5
Zu einem Zielkonflikt zwischen Integration und Transformation kommt es darüber hinaus auch dann, wenn die Anpassung von administrierten Preisen verlangsamt wird, um trotz des Balassa-Samuelson-Effektes das Inflationskriterium zu erfüllen.
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tik der EU gegenüber den Ländern mit und ohne Beitrittsperspektive feststellen. So verpflichtete sich die EU in den Europa-Abkommen mit den späteren Beitrittsländern zu einer deutlich radikaleren Handelsliberalisierung als in den Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit den GUS-Staaten (Åslund und Warner 2003). Schließlich kamen die Beitrittsländer im Zuge der Beitrittsverhandlungen in den Genuss einer Art Inspektion praktisch aller nationalen Institutionen seitens der EU. (ii) Zweitens hat die Beitrittsperspektive die Anreize für die Durchführung von Wirtschaftsreformen erhöht. In den Ländern, in denen der EU-Beitritt eine realistische Option war, winkte er als eine zusätzliche „Belohnung“ für Reformen. In ökonomischer Hinsicht war ein Beitritt nicht nur gleichbedeutend mit einer weiteren Liberalisierung des Handels und Geld aus Brüssel. Das Gütesiegel der EU-Mitgliedschaft versprach auch, das von ausländischen Investoren perzipierte „Länderrisiko“ drastisch zu reduzieren und so zu höheren Direkt- und Portfolioinvestitionen und geringeren Finanzierungskosten für Unternehmen und Staat beizutragen. Baldwin et al. (1997) gelangten in ihrer bereits erwähnten Studie zu dem Schluss, dass dieser „risk premium effect“ den mit Abstand größten ökonomischen Effekt des EU-Beitritts ausmache und langfristig ein um bis zu 30 % höheres Bruttoinlandsprodukt bedeuten könne.6 Diese ökonomischen Vorteile eines EU-Beitritts waren nicht der einzige Grund, warum die Beitrittsoption die Anreize für die politischen Eliten erhöhte, sich für Reformen einzusetzen. Darüber hinaus hatte der EU-Beitritt auch einen eigenständigen politischen Wert. Zum einen stand er, wie auch der NATO-Beitritt, für eine größere außenpolitische Sicherheit; zum anderen war er als symbolischer Abschluss der „Rückkehr nach Europa“ und der „Asian detour“ (Wagener 2000) in den Jahren des Staatssozialismus weithin positiv konnotiert.7 Auch wegen dieses politischen Zusatznutzens war die Lancierung von Wirtschaftsreformen attraktiver, wenn sie sich mit der begründeten Aussicht auf einen EUBeitritt verband. Umgekehrt stand in Ländern mit Beitrittsperspektive im Falle eines Verzichts auf Reformen mehr auf dem Spiel als in Ländern, die ohnehin keine Chance hatten, EU-Mitglied zu werden. (iii) Der dritte Grund, warum die Aussicht auf einen EU-Beitritt vorteilhaft gewirkt hat, berührt die Möglichkeiten der Rechtfertigung von Reformen. In den Ländern mit realistischer Beitrittsperspektive war es für die politischen Eliten leichter möglich, die eigene Verantwortung für unpopuläre Reformen herunterzuspielen und letztere als mehr oder minder alternativlose Konzessionen an die EU darzustellen. Diese „politics of blame avoidance“ (Weaver 1986) gewann vor allem mit dem Näherrücken und dann im Zuge der Beitrittsverhandlungen an Bedeutung. In abgeschwächter Form spielte sie jedoch bereits in den frühen Transformationsjahren eine Rolle. So war in den in den Ländern, die sich Beitrittschancen ausrechneten, die tatsächliche oder vermeintliche „EU-Kompatibilität“ ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung von Reformvorschlägen. 6
Zur Kritik dieser Schätzungen siehe Gros 2002: 148f. Zum Vergleich: Die mit der weiteren Handelsliberalisierung verbundenen Vorteile des EU-Beitritts werden gerade mal auf 1,5-6 Prozent des BIPs beziffert (ibid, 146148). 7 Wie etwa die Beispiele Polens, Rumäniens und Ungarns zeigen, bot der Einsatz für den EU-Beitritt damit gerade auch den Vertretern postkommunistischer Parteien die Möglichkeit, Zweifel an der eigenen demokratischen Läuterung zu zerstreuen.
EU-Beitritt und ökonomische Transformation in Osteuropa
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Die konkrete Bedeutung dieser drei Mechanismen für den Transformationsverlauf ist allerdings nur schwer abzuschätzen. Nicht nur, dass der Transformationsfortschritt nicht nur eine Folge, sondern auch eine Voraussetzung für den EU-Beitritt darstellt und deshalb der Schluss von Korrelation auf Kausalität besonders problematisch ist. Die Beitrittsperspektive selbst ist auch sehr stark mit anderen potentiellen Determinanten des Transformationserfolgs, insbesondere der geographischen und kulturellen Nähe zum Westen (Kopstein und O’Reilly 2000), aber auch der Art des kommunistischen Regimes (Kitschelt 1999) oder dem Ausgang der Gründungswahlen (Fish 1998) korreliert. Dies macht es sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, den Einfluss des EU-Beitritts im Rahmen quantitativer Studien zu isolieren (Kitschelt 2004; s. aber Raiser et al. 2001). Allerdings bieten Fallstudien gewisse Anhaltspunkte für die Bedeutung, die die EU als „anchor, peer, and savior“ (Åslund 2002: 454) für den Reformprozess in den Beitrittsländern gehabt hat. Interessant sind hier vor allem die Fälle Bulgariens, Rumäniens und der Slowakei. Diese Länder wiesen Mitte der 1990er Jahre im Vergleich zu den anderen Beitrittsländern deutliche Reformrückstände auf, erhöhten dann aber im Zuge der Konkretisierung der Beitrittsperspektive das Reformtempo (Schimmelpfennig 2004).
5
Fazit
Was folgt aus diesem Überblick über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen EUBeitritt und ökonomischer Transformation in Osteuropa? Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass diese Zusammenhänge vielfältig sind und sich auf unterschiedliche Art und Weise interpretieren lassen. Zugleich fiel das Urteil über die drei unterschiedenen Interpretationen durchaus unterschiedlich aus: Während sich die populäre These von dem EU-Beitritt als Abschluss der ökonomischen Transformation nur begrenzt bestätigen lässt, gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei der ökonomischen Transformation und dem EUBeitritt um zwei distinkte, zum Teil konfligierende Reformprojekte gehandelt hat bzw. die Aussichten auf einen EU-Beitritt wichtig für das Verständnis der dramatischen Unterschiede in den Transformationsverläufen sind.
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Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld
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Wolfgang Dorow und Gabriele Varga von Kibed
Transformation von Unternehmungskulturen im Spannungsfeld west-osteuropäischer Wertedifferenzen: Zwei Fallbeispiele für Lösungsansätze deutscher Konzerngesellschaften Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld
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Einführung
Mit dem Fall der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa und der Öffnung der Märkte im Jahr 1989 begann in dieser Region ein Prozess rasant steigender Akquisitionen staatlicher Betriebe durch westliche Unternehmungen. Die vom Ziel eines schnellen Markteintritts angetriebenen Akquisitionen lösten eine bis heute fortdauernde Herausforderung für die westeuropäischen Muttergesellschaften aus. Zu bewältigen war die strategische, strukturelle und kulturelle Transformation der akquirierten Betriebe, um sie in ihr europaweites Produktions- und Vertriebssystem effizient zu integrieren. Dabei zeigte sich sehr schnell, dass die unmittelbar nach den Akquisitionen eingeleiteten Modernisierungen der Produktionsanlagen und Restrukturierungen der Betriebsprozesse nur dann erfolgreich sein können, wenn die übernommenen Mitarbeiter bereit sind, ihre bisherigen unternehmungskulturellen Werte und Einstellungen der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Realität anzupassen. Westeuropäische Unternehmungen haben aus Mangel an Erfahrungen die Schwierigkeiten der Transformation der Unternehmungskultur in den übernommenen sozialistischen Betrieben Mittel- und Osteuropas häufig unterschätzt und mussten erst mühsam ein Instrumentarium des Wandels der Unternehmungskultur entwickeln. Im Folgenden wird am Beispiel von zwei Unternehmungen, der Beiersdorf-Lechia S.A., PoznaĔ und der Škoda automobilová a.s., Mladá Boleslav, Tschechien, diskutiert, welche Konzepte und Instrumente im Rahmen eines geplanten Wandels der Unternehmungskultur erfolgreich eingesetzt werden können, um frühere staatliche Betriebe in wettbewerbsfähige, marktorientierte Unternehmungen zu transformieren. Der Transformationsprozess wird dabei als ein unternehmungspolitischer (mikropolitischer) Prozess interpretiert, der auf eine geplante Veränderung von Werten, Zielen und Handlungsspielräumen der Unternehmungsmitglieder ausgerichtet ist, um das Grundziel einer erfolgreichen strategischen Positionierung der Unternehmung im internationalen Wettbewerb zu erreichen.
2
Die unternehmungspolitische Perspektive der Transformation
Transformationsprozesse in den mittel- und osteuropäischen Ländern werden seit langem intensiv aus volkswirtschaftlicher Sicht untersucht (vgl. Antal-Mokos 1998; Brada/Singh/ Török 1994; Rees 1988; Wagener 1997). Einige Autoren haben darauf hingewiesen, dass zur Erklärung des Erfolgs von Transformationsprozessen die Integration der intraorganisationalen Perspektive, d.h. die Einbeziehung der unternehmungsinternen Transfor-
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Wolfgang Dorow und Gabriele Varga von Kibed
mationsvorgänge in eine Theorie des Wandels von Institutionen ebenso notwendig sei wie die Erklärung des internen Wandels durch Rückgriff auf Theorien des makro-ökonomischen Wandels. Beispielsweise leitet Newman (2000) aus der Institutionentheorie und der Theorie organisatorischen Lernens Aussagen darüber ab, wie sich Veränderungen im Umfeld auf den internen Wandlungsprozess der Unternehmung auswirken. Eine der Thesen ist, dass ein zu radikaler Wandel im Umfeld, z.B. eine grundlegende Neukonstituierung des Systems der Unternehmenskontrolle, die Anpassungsmöglichkeiten von Unternehmungen überfordert und ökonomische Ineffizienz verursacht. Johnson et al. (2000) untersuchen die Frage, wie Unternehmungsmitglieder auf Umfeldveränderungen reagieren. Dabei unterschieden sie drei Aspekte, die im Rahmen von Privatisierungsprozessen zu analysieren sind: Die Art der Einbeziehung von Unternehmungsmitgliedern, reziprokes Verhalten im Wandlungsprozess und symbolische Verstärkungen zur Akzeptanz der neuen Strukturen. Newman/Nollen (1998) betonen zurecht die Notwendigkeit der Einbeziehung der unternehmungsinternen Wandlungsprozesse in eine Theorie der Transformation staatlicher Betriebe in marktwirtschaftliche Unternehmungen, bieten jedoch nur einen verkürzten Ansatz, da sie sich im Wesentlichen auf die Analyse von Strukturveränderungen konzentrieren. Die mit den internen Wandlungsprozessen verbundenen Probleme der Konfliktentstehung und Konflikthandhabung zwischen den Unternehmungsmitgliedern werden weitgehend ausgeblendet. Die Ursachen und Handhabungsmöglichkeiten von Konflikten sind Gegenstand der unternehmungspolitischen Perspektive (vgl. Dlugos 1974, 1977; Dorow 1982; Dlugos/Dorow/Farrell 1993; Varga von Kibed 2001; Duss 2003; Blazejewski/Dorow 2003). Die Unternehmungspolitik versteht sich dabei als ein integrativer betriebswirtschaftlichpolitologischer Ansatz. Während aus politologischer Sicht die Frage des Einsatzes von Machtmitteln zur Absicherung gefährdeter Ziele (Interessen) untersucht wird, konzentriert sich die betriebswirtschaftliche Perspektive auf die Frage nach den ökonomischen (monetären) Konsequenzen der Absicherungsaktivitäten von Unternehmungsmitgliedern (Eigenkapitalgeber/Manager und Mitarbeiter). Die durch Konflikte ausgelösten Probleme einer erfolgreichen Gestaltung von Transformationsprozessen, insbesondere im Zusammenhang mit Akquisitionen durch Unternehmungen aus anderen Kulturräumen, werden häufig vom Management unterschätzt (vgl. Vogel 2002). Die hohe Rate ineffizienter Akquisitionen aufgrund fehlgeschlagener unternehmungsinterner Wandlungsprozesse verweist auf einen Mangel an pragmatischen unternehmungspolitischen Modellen der erfolgreichen Gestaltung von konfliktträchtigen strategischen und kulturellen Wandlungsprozessen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dieser Frage und konzentriert sich im Folgenden auf die Diskussion der von Beiersdorf-Lechia und Škoda gewählten Lösungen der Gestaltung eines erfolgreichen strategischen und kulturellen Wandlungsprozesses.
Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld 3
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Beiersdorf-Lechia S.A., PoznaĔ: Radikaler Wandel durch Neugestaltung von Handlungsspielräumen
3.1 Begrenzungen der Handlungsspielräume in der Prä-Akquisitionsphase Vor der Wende in Polen produzierte Pollenia-Lechia als Teil eines größeren Kombinats zahlreiche Kosmetik- und Waschmittel-Produkte. So wurde unter anderem die nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlichte Marke „Nivea“ unter dem Namen „Nivea-Krem“ herausgebracht. Bis zur Übernahme durch die Beiersdorf AG im Jahr 1997 blieb die typische Struktur des Staatsbetriebes weitgehend erhalten: ein hohes Maß an vertikaler Integration bis hin zu verschiedenen sozialen Dienstleistungen, hohe Beschäftigtenzahl mit geringer Produktivität, eine ineffiziente Administration mit unzureichender Informationstechnik sowie eine Dominanz der mengenmäßigen Produktionsorientierung ohne Bezug zum Marketing. Zudem fehlte eine Verkaufsorganisation, da die Produkte über das Kombinat an drei staatliche Hauptabnehmer geliefert wurden. Im Jahr 1995 übernahm ein Nationaler Investment-Fonds (NIF) Pollenia-Lechia im Rahmen des Privatisierungsprogramms, jedoch verblieben 25 % des Eigenkapitals in staatlicher Hand, während 15 % der Aktien an die Mitarbeiter fielen. Trotz dieser formalen Privatisierung blieb der Einfluss von Staat und Mitarbeitern zu hoch, um eine neue, marktorientierte Strategie zu formulieren und interne Rationalisierungsmaßnahmen durchzusetzen. Enge Begrenzungen des Handlungsspielraums des Managements verhinderten die notwendigen Anpassungsprozesse an das veränderte Umfeld. Sie resultierten aus den unter den gegebenen Machtverhältnissen zwischen den Eigenkapitalgebern nicht veränderbaren internen Strukturen, aus inadäquaten technischen Systemen, knappen finanziellen Ressourcen, einerseits aus dem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, andererseits einem Übermaß an gering-produktiven Beschäftigten, aus der Fortwirkung der „alten“ Werte, aus starken Gewerkschaften sowie fehlender Absatzorganisation, die in der Lage wäre auf Veränderungen der Absatzmärkte zu reagieren. Dieser Zustand hielt bis 1997 an und verhinderte jede Art von Wandel zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Man erzielte nur geringe Gewinne als Folge fehlender Aufwendungen für Marketingaktivitäten, die in marktorientierten Unternehmungen dieser Branche 20-30 % des Umsatzes erreichen. Das Verharren von Pollenia-Lechia in den überkommenen Strukturen ist auf die mangelnden Möglichkeiten und Kenntnisse des damaligen staatlich eingesetzten Managements zurückzuführen, die Begrenzungen seines Handlungsspielraumes durch Einsatz geeigneter Managementinstrumente zu überwinden und eine marktorientierte Unternehmungsstrategie einzuschlagen.
3.2 Beiersdorf-Lechia: Erweiterungen des Management-Handlungsspielraumes in der Post-Akquisitionsphase 3.2.1 Die Akquisition von Pollenia-Lechia durch Beiersdorf Im Jahr 1997 erwarb die Beiersdorf AG vom führenden NIF die Kapitalmehrheit und mittels eines attraktiven Übernahmeangebotes auch die restlichen Kapitalanteile, um die in der Vorkriegszeit bestehenden Rechte an ihrer Marke „Nivea“ wiederzuerlangen. Die akquirierte Unternehmung erhielt den ursprünglichen Namen „Beiersdorf-Lechia S.A., PoznaĔ“
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Wolfgang Dorow und Gabriele Varga von Kibed
und wurde sofort von eigenen, von der Hamburger Konzernzentrale eingesetzten Managern geleitet. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, einen radikalen und nachhaltigen strategischen und strukturellen Transformationsprozess top-down-gerichtet durchzuführen. Klare Machtverhältnisse und eine Kapitalbereitstellung von PLN 72 Mio. im Jahr 1998 erweiterten schlagartig den Handlungsspielraum der Unternehmungsführung und erlaubten, die technischen Systeme zu erneuern sowie die Marketingfunktion organisatorisch zu entwickeln. Die Übernahme der Leitung durch Entsandte der Konzernzentrale und die Verfügung über erhebliche Investitionsmittel stellen jedoch keine hinreichende Bedingung dar für einen erfolgreichen internen Transformationsprozess. Nur zu oft sind unter ähnlichen Voraussetzungen Akquisitionsprozesse gescheitert. Entscheidend für eine erfolgreiche Transformation nach einer Akquisition sind vielmehr die den Wandel vorantreibenden mikropolitischen Prozesse des Managements zur Sicherung der verfolgten Transformationsziele. Zwei Kategorien von Einflussgrößen des Akquisitionserfolgs sind demnach zu unterscheiden: Erstens die vom Management gesetzten Grundziele der Transformation, die im Zeitablauf realisiert werden sollen, und zweitens die mikropolitischen Sicherungsziele, die die Akzeptanz der Transformations-Grundziele durch die Mitarbeiter erzielen sollen.
3.2.2 Ziele und Lösungsansätze des strategischen Wandels der Beiersdorf-Lechia S.A. Das Grundziel des von der Beiersdorf AG neu eingesetzten Managements war die Etablierung der globalen Marke „Nivea Creme“ im polnischen Markt, mit der die von der vormaligen Pollenia-Lechia produzierte preiswertere und stark nachgefragte „Nivea-Krem“ verdrängt werden sollte. Weitere Grundziele der Transformation erstreckten sich auf die radikale Reduzierung der Mitarbeiterzahl, die erhebliche Steigerung der Umsätze, die Reduzierung der vorgefundenen Produktvielfalt, den Aufbau einer Marketingabteilung und einer effizienten Absatzorganisation, die Implementierung moderner produktions- und informationstechnischer Systeme sowie die Herausbildung einer neuen Unternehmungskultur, die sich an die Kultur der Muttergesellschaft anlehnt. Um diese radikale Transformation der noch bestehenden alten, staatlich geprägten Strukturen des Kombinatsbetriebes in eine moderne, marktorientierte, privatwirtschaftliche Unternehmung durchzusetzen, wählte das Management außerordentlich erfolgreiche, innovative Methoden. Um langwierige Verhandlungen mit den starken Gewerkschaften, den übernommenen 1.500 Mitarbeitern und den Leitungskräften auf den nachfolgenden Ebenen, die gemeinsam an der Aufrechterhaltung des status quo interessiert waren, zu vermeiden, etablierte das neue Management eine parallele „Schattenstruktur“. Diese, der bestehenden Organisationsstruktur angeheftete Struktur umfasste primär eine neu gebildete Marketingabteilung und eine Human Resource-Abteilung, deren Aufgabe es war, hochmotivierte, junge Mitarbeiter zu selektieren und einzustellen. Kernaufgabe der Parallelstruktur war die schnelle Einführung der „Nivea Creme“ im höheren Preissegment, während im niedrigeren Preissegment weiterhin die polnische „Nivea-Krem“ angeboten wurde. Nachdem diese Marktstrategie erfolgreich in wenigen Monaten realisiert werden konnte, begann das TopManagement die bestehende alte Struktur aufzulösen, indem 350 Mitarbeitern mit einer attraktiven Abfindung entlassen werden sollten. Ende Juni 1998, weniger als ein Jahr nach der Akquisition, nahmen aber tatsächlich 1.000 Mitarbeiter die Abfindung an und verließen Beiersdorf-Lechia. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht die Resultate dieser Strategie.
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Tabelle 1: Kennzahlen der Transformation der Pollena-Lechia S.A. 1997 Pollena-Lechia S.A. Produktionsgeleitet Verkäufe: PLN 205 Mio. 1.500 Beschäftigte, Durchschnittsalter 42 Jahre Lokale Orientierung (Polnisch) Mehr als 20 Marken, 202 Produkte 400 Abnehmer
Marketing: 3 Angestellte, minimales Budget Verkaufsabteilung: 40 Angestellte, 1 key-account-Manager Top-down Entscheidungsprozesse 31 nicht-integrierte Softwaresysteme, wenige PCs, Fax- und Kopiergeräte, analoge Telefonanlage
2001 Beiersdorf-Lechia S.A. Verkaufs- und marketinggeleitet Verkäufe: PLN 400 Mio. 400 Beschäftigte, Durchschnittsalter 33 Jahre Internationale Orientierung (Englisch) 4 Marken, 135 Produkte Weniger als 100 gewinnbringende Abnehmer Marketing: 12 Angestellte, hohe Marketing-Investitionen Verkaufsabteilung: 102 Angestellte, 6 Accountmanager Delegierung der Verantwortung Integriertes SAP/R3 System, state-ofthe-art-Ausrüstung jedes Arbeitsplatzes, ISDN-Telefonanlage
Quelle:Blazejewski/Dorow 2003: 213.
Beleuchtet man den strategischen Transformationsprozess aus mikropolitischer Perspektive wird deutlich, dass das Management die Erreichung der Transformationsziele durch zwei Methoden sicherte: Erstens eine zwangsweise, von den Mitarbeitern nicht beeinflussbare strukturelle Veränderung von Handlungsspielräumen (Umfelddeterminierung) und zweitens durch ein auf freiwilliger Akzeptanz beruhendes Abfindungsangebot (Zieldeterminierung) für das Verlassen der Unternehmung. Diese Kombination von Umfeld- und Zieldeterminierung verhinderte kostenintensive Prozesse der Konfliktaustragung. Die Mitarbeiter hatten nur die Möglichkeit, die neue Struktur zu akzeptieren oder ihren Arbeitsplatz gegen eine Kompensation aufzugeben. Dies sicherte die schnelle, effiziente Realisierung der strategischen Transformationsgrundziele der neuen Unternehmungsführung. Erfolgsbasis der Aktionen war die Verfügungsmöglichkeit über hohe finanzielle Ressourcen. Die von der Konzernzentrale bereitgestellten PLN 72 Mio. bildeten eine erhebliche Machtgrundlage, die die wirksame Umfeld- und Zieldeterminierung der Mitarbeiter ermöglichte. Die Grenzen dieses nicht-partizipativen Top-Down-Transformationsprozesses wurden jedoch sehr bald durch manifeste Ziel- und Wertkonflikte zwischen Mitarbeitern und Management sichtbar. Dies war ein Indikator für die Unternehmungsführung, dass ein nachhaltiger Transformationserfolg nur durch einen Wandel der Unternehmungskultur gesichert werden kann.
3.2.3 Gestaltungskonzepte des unternehmungskulturellen Wandels Der Begriff der Unternehmungskultur wird hier als Verhaltensprogramm von Unternehmungsmitgliedern in Interaktionssituationen definiert, beispielsweise die Art und Weise
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wie kommuniziert, geführt wird, wie Konflikte ausgetragen oder Entscheidungen gemeinsam herbeigeführt werden. Verhaltensprogrammen liegen bestimmte Werte zugrunde, auf die sich ein großer Teil der Kulturforschung unter Vernachlässigung des Verhaltensaspektes konzentriert (vgl. Hofstede 1997; Trompenaars 1993; Schein 1989). Untersuchungen von Transformationsprozessen mittel- und osteuropäischer Unternehmungen zeigen, dass der unternehmungskulturelle Wandel erheblich hinter dem strategischen und strukturellen Wandel zurückbleibt und damit den Transformationserfolg gefährdet (vgl. Pendergast 1995; Newman/Nollen 1998). Die Möglichkeit, Unternehmungskulturen, insbesondere die dem Verhalten der Unternehmungsmitglieder zugrunde liegenden Werte, durch gezielten Einsatz von unternehmungspolitischen Instrumenten zu ändern, stellen viele Autoren in Frage. Es wird aber auch die Ansicht vertreten, dass durch kulturgestaltende Instrumente betriebliche Normen bewusst gemacht werden können, die in Entscheidungsprozesse einfließen und damit langfristig Verhaltensweisen neu programmieren. Im Transformationsprozess nach 1989 wurden „alte“ Werte und Verhaltensweisen zwar in Frage gestellt, aber nicht notwendigerweise durch neue Werte und Verhaltensweisen ersetzt. Koster/Wicha (1996) diagnostizieren für diese Zeit ein kulturelles Vakuum. Genau dies kennzeichnete die Situation von Beiersdorf-Lechia nach der strategischen und strukturellen Transformation. Weder die noch von Pollenia-Lechia verbliebenen Mitarbeiter (46 % der Beschäftigten im Jahr 2001) noch die neu eingestellten jungen Nachwuchskräfte verfügten über kulturelle Orientierungsmuster, die den transformierten strategischen Zielen und Strukturen entsprachen. Positiv an der Desorientierung war, dass mental Offenheit gegenüber einer neuen Unternehmungskultur bestand. Andererseits haben die Anforderungen, die der schnelle strategische und strukturelle Wandlungsprozess an die Mitarbeiter stellte, zu Ermüdungserscheinungen geführt und die Bereitschaft reduziert, neue Werte und Normen zu internalisieren und in neue Verhaltensweisen umzusetzen. Der vom Vorstand der Beiersdorf-Lechia geplante unternehmungskulturelle Wandel sollte durch vier unternehmungspolitische Instrumente erfolgreich gestaltet werden: (1) Formulierung einer Unternehmungsvision (2) Schaffung wechselseitigen Vertrauens (3) Stärkung lokaler Kompetenzen (4) Entwicklung eines kulturellen Dialogs.
Formulierung einer Unternehmungsvision Die konsequente strategische Ausrichtung der Unternehmung auf die Einführung der globalen Marke „Nivea Creme“ war die Grundlage für die Formulierung einer neuen Unternehmungsvision. In zahlreichen Projektgruppen wurde bereits ab Sommer 1998, d.h. weniger als ein Jahr nach der Akquisition, die „Corporate Vision“ diskutiert, jedoch blieb ihre Wirkung hinsichtlich erwarteter Steigerungen von Motivation und Innovation weitgehend aus. In den Folgejahren resultierten daraus erhöhte Anforderungen an das Top-Management, die mit der Vision verbundene Zielorientierung permanent „vorzuleben“, um den erwünschten Lernprozess zur Übernahme der globalen, westlich geprägten Beiersdorf-Kultur zu initiieren und zu verstärken. Dieser Lernprozess ist eine Daueraufgabe und kann auch heute noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.
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Schaffung wechselseitigen Vertrauens Dem Top-Management war bewusst, dass für die Entwicklung einer neuen Unternehmungskultur die Generierung von Vertrauen ein entscheidender Faktor ist. Offene, eindeutige und transparente Kommunikation sind Voraussetzungen für die Entstehung von Vertrauen (vgl. Fox 1974). Die indirekten, bürokratischen und intransparenten Kommunikationsformen der Pollenia-Lechia wurden durch schnelle Übertragungen faktischer Informationen ersetzt, die eine Berechenbarkeit der Managemententscheidungen ermöglichten. So wurde über den mit Arbeitsplatzverlusten verbundenen Verkauf der Colgate-Produktion frühzeitig und für die Mitarbeiter nachvollziehbar informiert. Neben diesen kommunikativen Elementen der Vertrauensbildung wirkten sich auch symbolische Investitionen in die Mitarbeiterbeziehung positiv aus.
Stärkung lokaler Kompetenzen Ein weiterer Ansatzpunkt für die Herausbildung einer neuen Unternehmungskultur war die Entwicklung von generellen und spezifischen Managementkenntnissen, die für die betriebswirtschaftliche Steuerung der Unternehmung im internationalen Wettbewerb fehlten. Die Kultur von Pollenia-Lechia war durch übermäßige Zentralisation selbst unbedeutender Entscheidungen und fehlende Qualifizierungsmaßnahmen charakterisiert. Die Ausbildung in den „soft factors“ fehlte völlig. Die Einrichtung von Trainee-Programmen, insbesondere zur Entwicklung von Führungsfähigkeit, steht daher bis heute im Vordergrund der unternehmungskulturellen Entwicklung. Zunehmende Kenntnisse reduzieren die Machtdistanz zwischen den Führungsebenen. Sie ermöglichen Delegation und Teamentscheidungen. Die Verbesserung der Kompetenzen befähigte die polnischen Mitarbeiter, Großprojekte wie den Bau einer neuen Fabrik im Jahr 2002 oder die Implementation eines „key accountManagement“ erfolgreich in direkter Zusammenarbeit mit dem Top-Management und der Konzernzentrale zu realisieren.
Entwicklung eines kulturellen Dialogs Eine im Frühjahr 2001 durchgeführte Mitarbeiterbefragung deckte auf, dass das bisher eingesetzte Instrumentarium zur Veränderung der Unternehmungskultur die Verhaltensweisen des Managements auf den oberen Führungsebenen zwar verändert hatte, aber die zugrunde liegenden Werte, Überzeugungen und Einstellungen nicht verankert worden waren. Darüber hinaus erstreckte sich der kulturelle Wandel nicht auf die nachgelagerten Hierarchieebenen. Offensichtlich verhielten sich die polnischen Führungskräfte gegenüber ihren deutschen Vorgesetzten im intendierten Sinne, gegenüber ihren Nachgeordneten polnischen Mitarbeitern jedoch entsprechend den tradierten Werten und Handlungsmustern: Formale Kommunikation, streng hierarchische Orientierung, patriarchalischer Führungsstil werden weiterhin praktiziert. Das Top-Mangement musste erkennen, dass intrapersonale Wertkonflikte der polnischen Führungskräfte und die Existenz inkompatibler Subkulturen die weitere Entwicklung von Beiersdorf-Lechia in höchstem Maß gefährdeten. Diese unternehmungskulturelle Situation offenbarte die begrenzte Wirksamkeit des bisherigen Instru-
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menteneinsatzes, der in einem Top-Down-Prozess erfolgte. Es wurde deutlich, dass eine grundlegende, dauerhafte Veränderung der Unternehmungskultur tiefergreifende, langfristig angelegte kommunikative Einwirkungsprozesse erfordert. Im Juli 2001 initiierte das Top-Management einen fundamentalen Kulturdialog über sämtliche Managementebenen hinweg, indem ein Projektteam etabliert wurde und einem externen Berater die Mediatorenrolle zwischen dem Team und dem Vorstand übertragen wurde. Ziel war es, eine Kultur der offenen Kommunikation, des Wissensaustauschs, der sachlichen Kritik, der Delegation und Akzeptanz von Verantwortung über die gesamte Hierarchie hinweg zu entwickeln. Wesentliche Schritte hierfür waren die Berufung polnischer Führungskräfte in den Vorstand und das Erlernen der polnischen Sprache durch den General Manager. Beide Maßnahmen waren von erheblicher Signalwirkung für die nachdrückliche Bereitschaft des Top-Managements, die Unternehmungskultur kooperativ zu entwickeln. Die Tatsache, dass dieser im Jahr 2001 begonnene Prozess bis heute fortdauert, belegt, dass strategische und strukturelle Transformationen einer Unternehmung ohne Einbindung in eine perspektivische Entwicklung der Unternehmungskultur nur Erfolgsfragmente sein können.
3.3 Schlussfolgerungen Das Fallbeispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten der Transformation einer akquirierten Unternehmung, deren Kultur von relativ stabilen Werten des gesellschaftlichen Umfeldes und den tradierten Werten und Verhaltensweisen des akquirierten staatlichen Kombinatsbetriebes geprägt ist. Das Beispiel zeigt auch die Bedeutung und Problematik des geplanten Einsatzes von unternehmungspolitischen Instrumenten, mit denen neue Werte und Verhaltensweisen erzeugt werden sollen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die unternehmungsinterne Allokation von Machtgrundlagen. Die hohe formale Macht des Top-Managements, die den strategischen und strukturellen Wandel sicherte, zeigte sich im unternehmungskulturellen Bereich als wenig wirksam. Die Fallstudie zeigt hingegen, dass personale Machtgrundlagen wie kulturelles Wissen und Vorleben neuer Werte zentrale Erfolgskriterien kulturellen Wandels sind. Kommunikation und symbolische Mittel sind nachhaltigere Mittel der kulturellen Veränderung als auf Zwang beruhende Umfelddeterminierungen, die zwar kurzfristig wirken, aber nicht akzeptiert werden und Widerstände auslösen. Die in der Transformationsliteratur aufgestellte Vermutung, dass radikale Veränderungen durch konsequente Umfelddeterminierungen, gefolgt von Zieldeterminierungen geprägt sind, findet sich in diesem Fallbeispiel bestätigt. Weiterhin ist aus dem Fallbeispiel ableitbar, dass eine Unterschätzung der kulturellen Problematik die Gefahr des Scheiterns von Akquisitionen über kulturelle Grenzen hinweg mit sich bringt. Die Sicherung der geplanten Transformationsziele durch mikro- bzw. unternehmungspolitische Prozesse zählt – wie das Fallbeispiel zeigt – zu den Kernaufgaben einer erfolgreichen Unternehmungstransformation (vgl. ausführlich Blazejewski/Dorow 2003).
Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld 4
4.1.
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Das Škoda-Volkswagen-Joint-Venture: Innovatives Human-ResourceManagement als Erfolgsfaktor des Transformationsprozesses Die Ausgangssituation: Die strategische Akquisition durch Volkswagen
Die Unternehmungsgeschichte von Škoda beginnt in der Woche vor Weihnachten 1895, als der Mechaniker Václav Laurin und der Buchhändler Václav Klement in Mladá Boleslav die Produktion von Fahrrädern aufnahmen. Aus der kleinen Werkstatt, in der neben den beiden Unternehmern noch zwei Arbeiter und ein Lehrling beschäftigt waren, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der bedeutendsten tschechischen Firmen in der damaligen österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie (zur Firmengeschichte vgl. Smutný 1996 sowie http://skoda.de/index.php?e=5-1#1518). Im Jahr 1905 begann die Firma Laurin & Klement mit der Herstellung von Automobilen. Sie wurde damit zum drittältesten Autohersteller der Welt. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich L&K mit hohen Wachstumsraten: Kraftfahrzeuge, Lastkraftwagen, Busse und Traktoren wurden in großer Zahl hergestellt und weltweit exportiert. Um die Kapitalbasis zu erweitern und zur Stärkung der Marktposition fusionierte das Unternehmen 1925 mit der Maschinenfabrik Škoda in Pilsen. 1946 wurde es als AZNP Škoda (Volkseigener Betrieb) verstaatlicht. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatswesens in den Jahren 1989/1990 nahm Škoda in Mladá Boleslav die Suche nach einem ausländischen Partner zur Gründung eines Joint Venture auf, um seine Wettbewerbschancen für die Zukunft zu sichern. Die schwierige wirtschaftliche Situation des Staatsbetriebs Škoda, mit Schulden in Milliardenhöhe, führte dazu, dass schließlich nur zwei Unternehmen an einer Kooperation mit Škoda interessiert blieben: der französische Autohersteller Renault und der deutsche Volkswagen-Konzern (zur Entstehung des Joint-Venture-Konzeptes s. Nowácek/ Zoepf 1996). Bei den Joint-Venture-Verhandlungen wählten Renault und Volkswagen gegenüber Škoda völlig unterschiedliche Strategien. Während Renault nur auf Regierungsebene mit Unterstützung des französischen Präsidenten verhandelte, wählte Volkswagen ein Vorgehen auf allen Ebenen (auf Regierungsebene, auf Unternehmungsebene, mit Gewerkschaften und Arbeitnehmern) und entsandte eigene Betriebsratsmitglieder, um die Škoda-Mitarbeiter zu überzeugen. Obwohl Renault versprach, Škoda in die bestehende Allianz zwischen Renault und Volvo zu integrieren, kam der Zusammenschluss nicht zustande. Das Kooperationsangebot von Volkswagen war für Škoda auch deshalb verlockend, weil Volkswagen bei der erfolgreichen Integration der spanischen Automobilwerke Seat bewiesen hatte, ausländischen Unternehmungen volle Autonomie und kulturelle Identität zu belassen. Sowohl die Aussicht auf Bewahrung von Autonomie, als auch die Zusicherung der Eigenständigkeit der Marke (mit eigener Entwicklung, Produktion, Einkauf und Vertrieb) sowie die geplante Entscheidungsbeteiligung durch Mitbestimmung und die Aussichten auf höhere Löhne und Sozialleistungen überzeugten schließlich Škoda, für Volkswagen als Kooperationspartner zu stimmen. Die tschechische Regierung als Eigentümer von Škoda nahm im Dezember 1990 das Angebot des Volkswagen-Konzerns an. Der Joint-Venture-Vertrag zwischen der Regierung der Tschechischen Republik und dem Volkswagen-Konzern trat am 16. April 1991 in Kraft und das neue Gemeinschaftsunternehmen nahm als Škoda automobilova a.s. seine Tätigkeit auf. Škoda wurde neben VW, Audi und Seat zur vierten Marke des Volkswagen-Konzerns. Der Joint-Venture-Vertrag sah
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vor, dass Volkswagen zunächst eine Minderheitsbeteiligung von 30 % der Anteile an Škoda hielt, um stufenweise durch Investitionen weitere Anteile bis zur Mehrheit von 70 % zu erwerben. Seit Beginn des Joint Venture trug Volkswagen die alleinige Managementverantwortung. Volkswagen plante zunächst Investitionen in Höhe von 8,2 Mrd. DM. Aufgrund weltweit rückläufiger Nachfrage in der Automobilbranche musste Volkswagen 1993 sein geplantes Investitionsvolumen jedoch revidieren: der Investitionsbetrag wurde auf 3,7 Mrd. DM bis zum Jahr 2000 gekürzt (vgl. Nowácek./Zoepf 1996 und Zoepf 1996a: 84ff.). Entscheidend für den Erfolg des Škoda-Volkswagen-Joint-Venture war es, die vorhandenen Stärken von Škoda im Transformationsprozess gewinnbringend auszubauen und durch einen konsequenten Know-how-Transfer Schwächen zu überwinden (vgl. Kunz 1995 und Gutmann 1996). Als besondere Stärken von Škoda galten die lange Tradition der Škoda-Handelsmarke, die brauchbare einfache Technologie und ein relativ modernes Auto. Auch aus westlicher Sicht galt Škoda als „Perle des Automobilbaus im Bereich des Comecon“ (Zoepf 1996a: 85): dort wurden robuste und zuverlässige Fahrzeuge mit Aluminiummotor und Bertone-Design mit Hilfe von Robotern gefertigt. Stärken im Personalbereich waren der Pioniergeist und das hohe Niveau der technischen Grundqualifikation der Arbeiter, deren hohe Erwartungen an das Joint Venture sowie Begeisterung und Bereitschaft zum Lernen bei sehr niedrigen Lohnkosten im Vergleich zu Westeuropa. Auch die Unterstützung der Regierung, die einen Reformkurs in Richtung Marktwirtschaft verfolgte und für Unternehmen vorteilhafte Rahmenbedingungen schuf, galt als sicher. Die personellen und technischen Stärken Škodas wurden von Volkswagen als solide Grundlage für das Joint Venture und den anstehenden Transformationsprozess gewertet. Gleichzeitig war jedoch offensichtlich, dass Teile der Produktionstechnologie veraltet und dass Arbeitsprozesse rückständig waren. System- und prozessorientiertes Denken und Handeln sowie die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, waren wenig entwickelt. Marktorientierte Managementfähigkeiten, Know-how in Projektmanagement, Controlling, Marketing und Personalwirtschaft fehlten. Als negative Rahmenbedingung galt auch das unwirtschaftliche Lieferanten- und Händlernetz.
4.2 Der Transformationsprozess des Škoda-Volkswagen-Joint-Venture: Ziele und Zielkonflikte Der Transformationsprozess begann 1991 unmittelbar nach Unterzeichnung des JointVenture-Vertrages. Tiefgreifende Umstrukturierungsprozesse des Škoda-Automobilwerkes wurden durch entsandte Führungskräfte des Volkswagen-Konzerns eingeleitet. Ziel war die Einbettung des Škoda-Werkes in den internationalen Volkswagen-Konzern, die entsprechende Modernisierung der Produktionsverfahren und der Produkte sowie die Entwicklung effizienter Lieferanten- und Abnehmerbeziehungen. Volkswagen entsandte hierzu 140 Auslandsangestellte zu Škoda mit der Aufgabe, die nötigen Umstrukturierungen und den Know-how-Transfer vorzunehmen. Getragen wurde der Transformationsprozess von der Überzeugung des Volkswagen-Konzerns, dass fundamentale Änderungen nur dann wirksam werden konnten, wenn sie gemeinsam mit den tschechischen Mitarbeitern und Führungskräften durchgeführt würden (vgl. Zoepf 1996a: 86ff.). Der Erfolg des Transformationsprozesses war somit von der Motivation, Flexibilität und Lernbereitschaft der ŠkodaMitarbeiter abhängig, die nur durch ein innovatives Human-Resource-Management erzielt
Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld
425
werden konnten. Der Transformationsprozess wurde zu einer Zeit eingeleitet, da der internationale Wettbewerbsdruck auf Volkswagen stieg und eine globale Rezession in der Automobilbranche einsetzte. Dies führte zu fundamentalen Reorganisationsprozessen und einer Reduzierung der Zahl der Beschäftigten im Volkswagen-Stammhaus. Die hohen Erwartungen der tschechischen Mitarbeiter an das Joint Venture mussten daher bald an die harte Wirtschaftsrealität angepasst werden. Somit stellte sich die Bewältigung von Interessenkonflikten als kritischer Erfolgsfaktor des Transformationsprozesses heraus (vgl. Dorow/Varga von Kibed 1996). Volkswagen entschied sich für eine Human-Resource-Strategie der Symbiose, bei der weder eine völlige Absorption Škodas bei gleichzeitiger Anpassung an die Vorgaben Volkswagens, noch eine komplette Erhaltung der lokalen Kultur und Identität Škodas stattfindet, sondern bei der eine Kooperation und wechselseitige Anpassung angestrebt wird. Das neue Joint Venture würde eine eigene Unternehmenskultur und Identität, neue Arbeitsund Produktionsmethoden und Konzepte entwickeln.
4.3 Der Know-how-Transfer im Škoda-Volkswagen-Joint-Venture: Projektmanagement und Tandem-Organisation Zu Beginn des Transformationsprozesses stellte sich für Volkswagen die Frage nach der optimalen Methode für den Know-how-Transfer durch die Auslandsmanager. Hauptziele waren die Implementierung spezifischen Wissens, das Entwickeln von Managementqualifikationen und von strategischen Fähigkeiten, um eine möglichst schnelle Übertragung der Verantwortung in tschechische Hände sicherzustellen (vgl. Gutmann 1996). Als mögliche Methoden des Know-how-Transfers wurden folgende Alternativen von Volkswagen geprüft (Zoepf 1996a: 87):
„Blaupause“: Die von Volkswagen entwickelten Strategien, Systeme, Regeln und Formen werden kopiert und auf Škoda übertragen. „Besetzung der Schlüsselpositionen“: Volkswagen-Manager übernehmen die wichtigsten Managementfunktionen bei Škoda und trainieren die tschechischen Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum. „Universität von Volkswagen“: Die tschechischen Manager werden in die Volkswagen-Zentrale geholt und erwerben dort durch Teilnahme an „off-the-job“-Trainingsmaßnahmen das nötige Know-how. „Learning by doing“: Die tschechischen Manager werden den deutschen Managern unterstellt und erlernen das notwendige Know-how im Verlauf der praktischen Tätigkeit. „Projektmanagement“: Der gesamte Transformationsprozess wird als System von Projekten strukturiert. Die Transformation wird als Prozess der Organisationsentwicklung angesehen und schrittweise in einzelnen Projekten realisiert. „Tandem-Organisation“: Die zentralen Managementfunktionen werden als Tandem eines lokalen und eines ausländischen Mitarbeiters organisiert. Aufgabe des letzteren ist es, sein Know-how auf den tschechischen Partner zu übertragen. Entscheidungen werden gemeinsam auf konsensualer Basis getroffen.
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Gemäß der von Volkswagen verfolgten kooperativen Joint-Venture-Strategie, dass fundamentale Änderungen nur dann erfolgreich sind, wenn sie gemeinsam mit den tschechischen Mitarbeitern und Führungskräften durchgeführt werden, entschied sich das VolkswagenStammhaus für die Methode des Projektmanagements (vor allem im Bereich des Personalmanagements) und der Tandem-Organisation. Zudem wurden zu Beginn des Joint Ventures einige für den Volkswagen-Konzern besonders bedeutsame strategische Schlüsselpositionen mit ausländischen Mitarbeitern besetzt (z.B. Vertrieb, Qualitätsmanagement, Controlling) und der Transformationsprozess zeitweise durch externe Berater und Spezialisten unterstützt. Die Projektarbeit führte zu einer Reduktion der Komplexität des Transformationsprozesses. Im Rahmen zeitlich befristeter Projekte wurden Schlüsselaufgaben in Teams bearbeitet, die von einem tschechischen Manager geleitet wurden und in denen externe Mitarbeiter das erforderliche Know-how zur Verfügung stellten. So wurden beispielsweise im Škoda-Personalmanagement 21 Projekte definiert, die sich mit Transformationsaufgaben wie der Entwicklung eines Lohn- und Gehaltssystems oder der quantitativen und qualitativen Personalplanung befassten (vgl. Zoepf 1996a: 91). Angesichts des weiten Aufgabenumfangs und der Schwierigkeit der Transformationsaufgaben ermöglichte eine solche Projektdifferenzierung eine Vereinfachung der Aufgabenstruktur und ein leichteres Motivieren der lokalen und ausländischen Führungskräfte. Um den Know-how-Transfer zu beschleunigen, wurde bei Škoda eine TandemStruktur aufgebaut, in der die Schlüsselpositionen im Unternehmen mit einem Tandem aus lokalen Führungskräften und Volkswagen-Managern besetzt wurden (vgl. Gutmann 1996: 101ff.). Beide Tandem-Partner verfügten über die gleiche Machtposition und konnten nur gemeinsam Entscheidungen treffen. Der Volkswagen-Manager sollte seinem TandemPartner Fach- und Managementwissen vermitteln und ihn bei der Übernahme selbständiger Führungsaufgaben coachen. Insgesamt wurden bei Škoda zwischen 1991 und 1994 folgende Tandems gebildet:
Personalwesen: F&E/Produktion: Vertrieb: Führung/Controlling: Vorstand:
1 8 19 12 1
Das im Rahmen der Tandem-Struktur vorgesehene gemeinsame Führen der täglichen Geschäfte, das Coachen des lokalen Partners durch den Volkswagen Manager und die frühe Übernahme von Verantwortung durch die lokalen Mitarbeiter sicherten einen raschen und praxisnahen Know-how-Transfer beim Škoda-Volkswagen-Joint-Venture. Die im Rahmen der Tandem-Struktur auftretenden Konflikte wurden vor allem durch unterschiedliche Perzeptionen der Tandem-Mitglieder und inkonsistente Rollenerwartungen an die externen Manager ausgelöst. So wurde ihnen gleichzeitig abverlangt, ihr Expertenwissen für eine rasche Ergebniserzielung einzusetzen, dabei aber auch die Rolle eines Trainers für den tschechischen Tandem-Partner zu übernehmen. Die Hauptgefahr für einen erfolgreichen Know-how-Transfer bestand somit vor allem darin, dass sich durch inkonsistente Rollendefinition die horizontale Kooperationsbeziehung im Tandem in eine vertikale Anordnungsbeziehung verwandelt. Auch die inadäquate Auswahl der Tandem-Mitglieder,
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Defizite in der Vorbereitung des Auslandsmanagers auf den Auslandsaufenthalt und zu große Einkommensgefälle zwischen den Partnern können die Kooperationsbeziehung im Tandem negativ beeinflussen. Zu Beginn des Joint Venture erhielten die tschechischen Führungskräfte nur ca. 10 % des Gehaltes der deutschen Volkswagen-Manager. Aber auch die Vernachlässigung langfristiger Lernprozesse zugunsten einer Konzentration auf die Lösung dringlicher Probleme, die Beschränkung der Rolle des lokalen Partners auf die Lösung operativer Aufgaben und die mangelnde Einbindung der lokalen Führungskräfte in die strategische Entwicklung der Unternehmung können den dauerhaften Erfolg des Knowhow-Transfers gefährden. Eine gegenseitige Bewertung der häufigsten Fehler der deutschen und tschechischen Tandem-Partner lässt sich in folgender Tabelle zusammenfassen (hierzu auch Kunz/Meiser 1994): Tabelle 2: Die gegenseitige Bewertung von deutschen und tschechischen TandemPartnern
Standpunkt der Deutschen
Standpunkt der Tschechen
Die häufigsten Fehler der deutschen Tandem-Partner Durchsetzung eigener Systeme Misserfolg bei der Übertragung von Informationen Nicht-Akzeptanz/keine Selbstverwirklichung der tschechischen Partner Unterbewertung der Fähigkeiten der tschechischen Partner Arroganz Ignoranz der spezifischen tschechischen Situation Annahme, alles sei leicht zu lösen Ablehnung der existierenden Regeln und Konzepte Fehlende Verantwortlichkeit
Die häufigsten Fehler der tschechischen Tandem-Partner Zurückhaltung von Informationen Fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Teilnahme an Trainingsprogrammen Fehlende Offenheit Nicht-Akzeptanz der deutschen Partner
Überzeugung, sie hätten nichts zu lernen Rückzug aus der Verantwortung Fehlende Akzeptanz der Deutschen
Es wäre jedoch falsch, die Tandem-Organisation an sich als Ursache von Konflikten zwischen den Tandem-Partnern zu betrachten. Die Ursachen der Konflikte liegen im Allgemeinen im Bereich nicht erfüllter Erwartungen und divergierender Wertsysteme (vgl. Dorow/Varga von Kibed 1996). Im Rahmen einer empirischen Untersuchung der Konflikte im Škoda-Volkswagen-Joint-Venture während des Transformationsprozesses konnten folgende Konfliktfelder identifiziert werden: Entgeltgestaltung, Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitsleistungen, Selbstverwirklichung und Partizipation sowie soziale Bedingungen. Die Ursachen der Konflikte lagen hier immer im Bereich kollidierender Erwartungen (im Sinne von enttäuschten Erwartungen beispielsweise der Nettoeinkommen, Arbeitsplatzgarantien oder Aufstiegschancen) oder im Bereich der Nichterfüllung von Anspruchsniveaus (hier wäre beispielsweise aus Sicht der deutschen Manager die zu geringe Wahrnehmung von Entscheidungspartizipation durch die Škoda-Mitarbeiter zu nennen).
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Im Škoda-Volkswagen-Joint-Venture wirkte die Tandem-Organisation insofern als eine spezifische strukturelle Möglichkeit der Handhabung der Konflikte zwischen deutschen und lokalen Führungskräften, und zwar auf folgenden Ebenen:
Die permanente Kommunikation zwischen den Tandem-Partnern ermöglichte eine Handhabung von Konflikten durch rationale Argumentation. Die Tandem-Organisation ermöglichte eine unmittelbare Einflussnahme der tschechischen Führungskräfte auf die Verbesserung der Arbeitsbeziehungen und trug somit zum Konfliktabbau bei. Die im Tandem-Konzept vorgesehene rasche Übernahme von Verantwortung motivierte die tschechischen Führungskräfte zum raschen Know-how-Transfer. Konflikte konnten auch dadurch frühzeitig identifiziert und gelöst werden, dass nicht nur innerhalb der Tandems, sondern auch mit den tschechischen Mitarbeitern und dem Betriebsrat sowie der Gewerkschaftsleitung kommuniziert wurde.
Die Tandem-Struktur ermöglichte also eine Kanalisierung der im Transformationsprozess auftretenden Konflikte zwischen den deutschen und den tschechischen Führungskräften. Die folgende Tabelle enthält ausgewählte Kennzahlen der personalwirtschaftlichen Ausgangssituation im Jahr 1990 und des Transformationsergebnisses im Jahr 1995:
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Tabelle 3: Kennzahlen der Transformation der Škoda automobilová a.s. 1990
1995
Anzahl der Mitarbeiter
19.882
15.985
davon
4.873
5.148
Zur Personalstruktur:
Angestellte Arbeiter
15.009
10.837
direkte Arbeiter
8.734
5.804
indirekte Arbeiter
6.275
5.033
2.341
1.039
39,4 Jahre
38,1 Jahre
Wochenarbeitszeit (je nach Schichtsystem)
40-42,5 Stunden
40 Stunden
Durchschnittliche Mehrarbeit je Mitarbeiter p.a.
148 Stunden
122 Stunden
Durchschnittliche krankheitsbedingte Abwesenheit
5,1 %
6,6 %
davon
Anzahl der Auszubildenden (nicht in Anzahl der Mitarbeiter enthalten) Durchschnittsalter der Mitarbeiter Zur Arbeitszeit und Abwesenheit:
Zu Arbeitsentgelt und Sozialleistungen: Durchschnittlicher Monatsverdienst Arbeiter (ohne Mehrarbeit und Zuschläge) Durchschnittlicher Monatsverdienst Angestellte (ohne Mehrarbeit und Zuschläge) Sozialfonds p.a. (in Mio.) Anzahl der Škoda-Werkswohnungen Anzahl der Škoda-Kindergartenplätze Zu Fortbildung und Ideenmanagement: Durchschnittliche Fortbildungsdauer je Mitarbeiter p.a. Anzahl der Verbesserungsvorschläge p.a. Anzahl der Verbesserungsvorschläge je 1.000 Mitarbeiter p.a.
Kronen 3.245
DM Kronen 180 7.086
3.562
200
26 2.134 1.340
1,45 78 49 0
10.489
0,14 Tage
5,78 Tage
919 46,2
4.092 256,0
DM 395 585 4,35
Quelle: Zoepf 1996b: 78.
4.4 Fazit: Sicherung der Transformationsziele durch innovative Kooperationsformen Die Analyse des Transformationsprozesses im Škoda-Volkswagen-Joint-Venture hat gezeigt, dass der erfolgreiche Einsatz von Auslandsmanagern einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität des Know-how-Transfers hat. Um eine effiziente Transferleistung zu sichern, ist es wichtig, Konfliktpotentiale in der Beziehung zwischen lokalen und ausländi-
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schen Führungskräften zu identifizieren. Folgende Kernkonflikte lassen sich hierbei zusammenfassen:
Zu rasche Entscheidungen der Auslandsmanager versus konsensorientierte, zeitintensive Zielabstimmungen zwischen den Joint-Venture-Partnern Anwendung der Methoden und Instrumente des Stammhauses versus Entwicklung eigener Methoden und Instrumente durch das Joint Venture Kurzfristige Erfolgsorientierung der Auslandsmanager versus langfristige strategische Entwicklung des Joint-Venture-Partners Dominanter versus integrativer Führungsstil Formierung konkurrierender nationaler versus kooperativer internationaler Arbeitsgruppen
Die von Volkswagen gewählte Joint-Venture-Strategie, dass Transformationsaufgaben nur dann erfolgreich zu bewältigen sind, wenn sie kooperativ mit den tschechischen Mitarbeitern und Führungskräften durchgeführt werden, hat entscheidend zur Eindämmung der Konflikte beigetragen. Auch die zur Optimierung des Know-how-Transfers vom Volkswagen-Stammhaus gewählten organisatorischen Methoden des Projektmanagements und der TandemOrganisation ermöglichten eine Kanalisierung der Konflikte zwischen den deutschen und den tschechischen Führungskräften. Folgende Formen der Konfliktbewältigung kamen dabei zur Anwendung: kommunikative Konfliktlösung zwischen den Tandem-Partnern durch rationale Argumentation, Motivierung der tschechischen Führungskräfte durch unmittelbare Einflussnahme auf die Verbesserung der Arbeitsbeziehungen und rasche Übernahme von Verantwortung sowie Austausch von Informationen und kommunikative Einwirkung auf die tschechischen Mitarbeiter, den Betriebsrat und die Gewerkschaftsleitung. Die Analyse des Škoda-Volkswagen-Joint-Venture hat auch die nötigen Eigenschaften von Auslandsmanagern aufgedeckt, die für den Erfolg des Know-how-Transfers von Bedeutung waren: interkulturelle Kommunikationsfähigkeit, fachliche Kenntnisse des Prozessmanagements, analytische Fähigkeiten und die Bereitschaft zum Lernen. Auch die gewissenhafte Planung des gesamten Einsatzes der Auslandmanager, von der Personalplanung, -auswahl und Vorbereitung auf die Auslandstätigkeit bis hin zum Coaching und der Leistungsbewertung während des Auslandsaufenthaltes und schließlich bis zur Reintegration in das Stammhaus spielt beim Erfolg der Transferleistung eine wichtige Rolle. Der Transformationsprozess von Škoda kann in zweifacher Hinsicht als bemerkenswert gelten: das Know-how und die neuesten Technologien aus dem Volkswagen-Konzern wurden auf den Joint-Venture-Partner Škoda übertragen und dabei wurde gleichzeitig durch Tandem-Strukturen und Projektarbeit das Potential des tschechischen Partners gezielt gefördert. Dass der Joint Venture als Erfolg zu werten ist, belegen die aktuellen Daten: im Jahr 2000 hatten sich die Verkaufszahlen bei Škoda im Vergleich zu 1991 verzehnfacht und Volkswagen bereitet zur Zeit den Markteintritt von Škoda in China vor, wo mit einem jährlichen Absatzpotential für den Škoda Octavia von mindestens 50.000 Stück gerechnet wird (vgl. Financial Times Deutschland vom 23.07.2004). Dass Škoda noch immer mit seiner Geschichte verbunden ist, zeigt folgendes Detail: das Spitzenmodell des Octavia trägt heute den Namen, mit dem alles angefangen hat: Laurin & Klement.
Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld
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Transformation von Unternehmenskulturen im Spannungsfeld
Ausblick
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Interdisziplinäre Europastudien: der Ansatz der multiplen Modernität
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Willfried Spohn
Interdisziplinäre Europastudien: der Ansatz der multiplen Modernität
1
Einleitung
Europastudien im doppelten Sinne als interdisziplinäre Europaforschung und multidisziplinäre Europalehre erfreuen sich zunehmender Beliebtheit an europäischen und nordamerikanischen Universitäten. Interdisziplinäre Europaforschung in ihrer Fokussierung auf die Vertiefungs- und Erweiterungsprozesse der Europäischen Gemeinschaft/Union und ihre Folgen für die einzelnen Mitgliedsstaaten befindet sich auf einem deutlichen internationalen Wachstumspfad. Ebenso haben multidisziplinäre Lehrprogramme zu Europa mit ihrer Konzentration auf die europäische Zivilisation und die Vielfalt ihrer Länder und Regionen nach dem Vorbild von area studies oder Regionalwissenschaften einen zunehmend festen Platz im Fächerkanon nordamerikanischer und europäischer Universitäten. Diese akademische Institutionalisierung von Europaforschung und -lehre geht deutlich einher mit der Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses und seiner Herausforderungen, insbesondere durch seine Erweiterung nach Osten im Kontext sich intensivierender Globalisierungsprozesse. Ebenso wie andere nicht-europäische Regionalwissenschaften (Spohn 1997) verstehen sich Europastudien prinzipiell als international, multi- und interdisziplinär orientierte Forschung und Lehre. In der Praxis sind sie freilich vornehmlich national geprägt und folgen fachdisziplinären Spezialisierungen. So kann man deutlich zwischen nordamerikanischen und britischen oder deutschen und französischen Europastudien unterscheiden, die auf der Grundlage der jeweiligen nationalen Wissenschaftstraditionen auf einen unterschiedlichen nationalen Fächerkanon zurückgreifen. Zugleich verstärken sich überall Tendenzen, eine integrierte inter- und multidisziplinäre Programmatik von Europastudien in Forschung und Lehre zu entwickeln und umzusetzen. So wird etwa in der Europaforschung programmatisch versucht, in der Perspektive einer integrativen Wissenschaftskonzeption die überwiegend disziplinären Spezialisierungen auf die Bedingungen und Folgen des europäischen Integrationsprozesses inter- und transdisziplinär zu bündeln (Loth/Wessels 2001). Und auch in der eher multidisziplinär orientierten Europalehre, in der häufig lokal bedingte Fächerkombinationen für eine programmgestaltende Bündelung bestimmend sind, mehren sich Bemühungen, integrierte interdisziplinäre Lehrprogramme zu entwickeln und zu institutionalisieren. Mit dieser internationalen und interdisziplinären Grundorientierung stellen Europastudien in Forschung und Lehre ein Experimentierfeld in der Überwindung des so genannten methodologischen Nationalismus dar, d.h. der vorrangigen wissenschaftlichen Orientierung auf nationalgesellschaftliche Einheiten, wie sie für viele Fächer und Fachdisziplinen in den jeweilig nationalen Wissenschaftstraditionen nach wie vor charakteristisch ist. Doch bei aller Interdisziplinarität und Transnationalität in Europaforschung und -lehre besteht
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zugleich die Tendenz, dass nun seinerseits Europa als eine den Nationalstaat transzendierende Regionaleinheit methodologisch, theoretisch und analytisch fixiert wird. So konzentriert sich die Europaforschung fast ausschließlich auf die Innenseite der europäischen Integration und vernachlässigt dabei häufig die historisch sich wandelnden geopolitischen Rahmenbedingungen. Oder die multidisziplinären europäischen Lehrprogramme beschränken sich auf einen internationalen Vergleich europäischer Länder und Regionen, ohne die historisch sich wandelnden, interzivilisatorischen Beziehungskonstellationen Europas und seiner Regionen und Nationen zu anderen Zivilisationen und Weltregionen und die sich wandelnde Identität Europas und seiner Grenzen methodologisch und analytisch mit einzubeziehen. Unter den Bedingungen der sich verdichtenden Globalität und sich intensivierenden Globalisierungsprozesse, die grundlegende Rahmenbedingungen für die fortschreitende Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses und die sich verstärkende Konturierung einer europäischen Identität darstellen, stellt der methodologische Eurozentrismus der Europastudien ein prinzipielles Problem dar, da eine rein europäische Binnenorientierung dazu neigt, von wesentlichen externen Bedingungen und Einflüssen der europäischen Integration und Identitätsbildung abzusehen. Europastudien in Forschung und Lehre sollten deshalb auch theoretisch, methodologisch und analytisch durch eine bewusste Einbeziehung des transzivilisatorischen Vergleichs, der interzivilisatorischen Beziehungsrelationen und globalen Bedingungskontexte ergänzt werden. Eine solche Überwindung des Eurozentrismus sehe ich vor allem im jüngst sich entwickelnden zivilisatorisch vergleichenden Programm der multiplen Modernitäten angelegt (siehe Eisenstadt 2000a, b; Knöbl 2001; Arnason 2004). Es entspricht cum grano salis der Forderung in den postkolonialen Studien, Europa zu provinzialisieren, d.h. als spezifische Weltregion unter anderen und nicht als universelles Modell von Modernität zu verstehen (Conrad/Randeria 2002). In einer solchen Perspektive möchte ich zunächst die Fassung Europas als einer historisch konstruierten und sich rekonstruierenden Form multipler Modernität erläutern (1), dann die Konsequenzen dieses Konzepts für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses explizieren (2) und schließlich auf das Verhältnis von Globalisierung und Europäisierung eingehen (3).
2
Globalität und Regionalisierung Europas
Die Entstehung und Entwicklung der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften reflektieren den sozialen und kulturellen Umbruch und Wandel, wie er sich im Kontext von Modernisierungsprozessen in den verschiedenen sich herausbildenden Nationalstaaten und -gesellschaften in Europa seit dem 18. und 19. Jahrhundert vollzogen hat (Gulbenkian Commission 1996; Spohn 2001). Dabei gab es wohl zwischen den verschiedenen Regionen Europas von West nach Ost und von Süd nach Nord große Unterschiede in der Entwicklungsform und -geschwindigkeit dieses soziokulturellen Wandels, doch schien er überall in Richtung auf die Überwindung traditioneller politischer Ordnungen, Sozialstrukturen und Lebensformen und die Entwicklung moderner Institutionen zu gehen. Die historisch originäre Form der Modernität in Europa galt so entweder explizit oder implizit als das allgemeine und universell gültige Modell von Modernität (Eisenstadt 2000a). Dieser Modellcharakter der europäischen Modernität war zudem von der Kolonialisierung großer Teile der Welt durch Europa begleitet und mit der missionarischen Zivilisierung der Welt nach europäischem Vorbild verbunden. Mit der Übernahme dieses Vorbilds durch große Teile der
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nicht-europäischen Eliten schien sich die europäische Modernität zugleich in ihrer universellen Gültigkeit zu bestätigen (Osterhammel 1995, 2001). Die europäische Modernität verlor ihren universellen Modellcharakter auch nicht im 20. Jahrhundert, obwohl Europa durch den internen Bürgerkrieg zwischen Faschismus und Kommunismus, die beiden Weltkriege und die anschließende Teilung zwischen den beiden Supermächten der USA und der Sowjetunion Schritt für Schritt seine Welthegemonie verlor. Die fortgeschrittenste Form von Modernität schien sich nun in den USA als der dynamischsten, europäisch geprägten Einwanderergesellschaft zu entfalten und mit deren Hilfe auch in Westeuropa wieder Fuß zu fassen. Die Modellvorstellung der europäischen Modernität wurde damit zugleich, trotz der auffälligen Unterschiede zwischen Europa und den USA, in die Vorstellung einer gemeinsamen westlichen Modernität transformiert. Im Rahmen einer solchen westlichen Modernität behauptete Westeuropa, trotz seiner globalen Machteinbuße durch die Dekolonialisierung und den Machtaufstieg der USA, seinen universellen Modellcharakter und erneuerte ihn im Kontext des europäischen Integrationsprozesses nun sogar in einer höheren postnationalen Form. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus als einem Gegenmodell zur westlichen Modernität schien sich noch einmal die westliche Modernität als allgemeingültiges Modell zu bestätigen. So erfolgte in den nach Europa zurückkehrenden Ländern Ostmitteleuropas eine deutliche Verwestlichung, die sich in der Renaissance der westlichen Modernisierungstheorie in der Transitionsforschung widerspiegelte (Grancelli 1995; Bönker/Müller/Pickel 2002). Doch war der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus zugleich ein Teil von globalen Wandlungsprozessen, die nun die Allgemeingültigkeit des westlichen Modells von Modernität nachhaltig in Frage stellten. Weder das post-sowjetische Russland, weder die aus dem Sowjetimperium entlassenen GUS-Staaten, noch insbesondere China folgen einfach dem westlichen Modell (Diamond/Plattner 2002). Aber auch die westlich orientierten Modernisierungswege in Japan, die ihm folgenden Tigerstaaten oder auch Indien reproduzieren keineswegs das amerikanische oder europäische Muster. Umgekehrt setzen sich in weiten Teilen der Dritten und Vierten Welt in Lateinamerika, Afrika und Asien Formen abhängiger Entwicklung und abgekoppelter Exklusion fort. Statt einer im westlichen Modell konvergierenden Welt bildet sich so eine Vielfalt von Modernisierungsmustern und Modernitäten heraus. Diese Vielfalt der Moderne ist zugleich auch die Grundlage für die Entwicklung einer multipolaren Weltordnung, in der wohl die USA nach wie vor eine Hegemonialstellung innehaben, diese aber zunehmend von Europa, Russland, China und Indien und durch die entstehenden Formen globaler Herrschaftsausübung begrenzt wird (Albrow 1998; Beck 1998; Zürn 2002). Im Kontext dieser weltweit sehr unterschiedlichen Modernisierungsprozesse und der sich keineswegs einebnenden Differenzen zwischen Europa und den USA wird in den Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaften deshalb auch zunehmend die universelle Gültigkeit der westlichen Modernität in Frage gestellt. So wird augenfällig, dass sich die europäische Modernität in ihren politischen und kulturellen Prämissen dauerhaft von der amerikanischen Modernität unterscheidet, und die europäischen und amerikanischen Modernitätsformen weder strukturell noch kulturell das Modell für die nicht-westlichen Formen von Modernität abgeben. Diese Ausgangsdiagnose liegt der zivilisatorisch vergleichenden Perspektive der multiplen Modernitäten zugrunde, wie sie vor allem im Umkreis von Shmuel Eisenstadt entwickelt worden ist (Eisenstadt 2000a, b). Im Kern wird dabei angenommen, dass die global vonstatten gehenden Modernisierungs- und Globalisierungsdynamiken
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entlang unterschiedlicher Modernitätsprogramme und Modernisierungsbahnen in multiplen Formen verlaufen – je nach Traditionen, Kulturen und Religionen und deren Einfluss auf die sozialen, ökonomischen und politischen Basisinstitutionen von Modernität. In einer solchen Perspektive verkörpert auch Europa, obwohl die Moderne auf seinem Boden ursprünglich entstanden war, nicht die allgemeine Form der Moderne, sondern ist durch eine Reihe von zivilisatorischen Besonderheiten gekennzeichnet. Nach Eisenstadt (1987) sollte dabei vor allem der strukturelle und kulturelle Pluralismus der europäischen Zivilisation hervorgehoben werden. Unter strukturellem Pluralismus versteht er dabei die politisch wie kulturell multiple Zentrums- und Peripherieformation Europas, wie sie historisch aus dem Zerfall und der Fragmentierung des Römischen Reichs hervorging. Dieser strukturelle Pluralismus verfestigte sich in der Moderne durch polyzentrische Prozesse der Nationalstaatsbildung und ihr kooperatives, kompetitives wie konfliktives internationales Beziehungsgefüge (vgl. Tilly 1992; Flora/Derek/Kühnle 1999). Unter kulturellem Pluralismus versteht Eisenstadt die kulturelle Verbreitung des Christentums mit seinen jüdischen und griechischen Wurzeln und seiner Verbindung mit polytheistischen „heidnischen“ Traditionen. Das Christentum entwickelte sich dabei im Konflikt vor allem mit Judentum und Islam, differenzierte sich in katholische, protestantische und orthodoxe Formen aus und verband sich im Kontext der verschiedenen Staatsformen und Nationalkulturen mit unterschiedlichen Säkularisierungsmustern (Martin 1978; Casanova 1994; Spohn 2003). Dieser strukturelle und kulturelle Pluralismus ist auch der Kern der Vielfältigkeit von Modernisierungsprozessen und Modernitätsprogrammen innerhalb Europas. Dieser strukturelle und kulturelle Pluralismus stellt allerdings keine statische, sondern eine historisch konstruierte und sich stetig rekonstruierende Einheit dar (Delanty 1995; Davies 1996). So entstand „Europa“ als geographisch-kultureller Raum zunächst im frühen Mittelalter mit dem Karolingischen Reich auf der Grundlage des Weströmischen Reichs im Gegensatz zum Oströmischen Reich und zum expandierenden Islam. Diese Konturen Europas verdichteten sich dann im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters mit der Ausweitung des westlichen Christentums nach Ostmittel- und Nordeuropa und den sich verschärfenden Konflikten zu orthodoxem Christentum und Islam. Diese mittelalterlichen Konturen Europas veränderten sich mit der Spaltung des westlichen Christentums in Katholizismus und Protestantismus, der Ausweitung des Osmanischen Reichs nach Südosteuropa, der Gewichtsverlagerung des orthodoxen Christentums nach Nordosten, der Zurückdrängung des Islam aus Spanien und der Entdeckung und Kolonisation Amerikas. Die einsetzende Modernisierung Europas ging dann einher mit wissenschaftlichtechnologischer Entwicklung, sozial-ökonomischer Dynamik, politisch-militärischem Machtzuwachs und imperial-kolonialer Machtausweitung. Entsprechend veränderten sich die Konturen Europas mit der Zurückdrängung des Osmanischen Reichs, der Einbeziehung Russlands in das europäische Staatensystem und der Schwerpunktverlagerung des Habsburgischen Reichs und Preußens nach Ostmitteleuropa. Zugleich verbanden sich diese Konturen Europas aufgrund des sich verschärfenden nationalistischen und imperialistischen Konkurrenzkampfs nur mit einer schwach ausgeprägten europäischen Identität. Erst mit der Krise Europas im 20. Jahrhundert, dem Aufstieg der USA wie der imperialen Ausweitung der Sowjetunion bildete sich auf der Grundlage der vielfältigen nationalen und regionalen Identitäten und deren Transformation durch den europäischen Einigungsprozess auch eine stärkere europäische Identität aus.
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Zugleich geht der strukturelle und kulturelle Pluralismus Europas mit sich historisch wandelnden Zentrum-Peripherie-Relationen, Entwicklungsdifferenzen und Machtgefällen einher. So war für lange Zeit nach der Spaltung und dem Niedergang des Römischen Reichs – grob für ein Jahrtausend – die östliche Hälfte gegenüber der westlichen Hälfte ökonomisch und kulturell entwickelter und in der Form der Expansion der islamischen Zivilisation nach Südwest- und Südosteuropa auch politisch mächtiger (Bartlett 1993). Diese Machtbalancen änderten sich erst im Hoch- und Spätmittelalter mit der Transformation des feudalen Westeuropa, deuteten sich zuerst in den Kreuzzügen an, machten sich in der Zurückdrängung der islamischen Zivilisation auf der Iberischen Halbinsel bemerkbar und zeigten sich auch in der Expansion des katholischen Europa sowie der germanischen Kolonisationsbewegung nach Osten. Die sich hier vorbereitenden geopolitischen und interzivilisatorischen Machtverschiebungen kommen freilich erst in der beginnenden Neuzeit zum Tragen, in der die islamische Zivilisation durch die reconquista im Südwesten und später durch den Niedergang des Osmanischen Reichs auch im Südosten aus Europa verdrängt wird. Damit setzt ein durch Kolonialismus und Imperialismus beförderter Aufstieg des westlichen Europa ein. Erst jetzt entwickelt sich mit der ökonomischen, politischen und kulturellen Modernisierung Westeuropas das Entwicklungs- und Machtgefälle zwischen Europa und den außereuropäischen Weltregionen (Mann 1993). Die sich schließlich herausbildende europäische Welthegemonie, begleitet von der zunehmenden nationalistischen und imperialistischen Konkurrenz der europäischen Nationalstaaten untereinander, bildet auch die Voraussetzung für die Abschwächung der inneren Einheit und Identität Europas. Dies ändert sich erst mit dem Niedergang und Verlust der europäischen Welthegemonie durch den Aufstieg anderer Weltregionen und der Machtbeschränkung Europas als einer Weltregion unter anderen im Rahmen der sich gegenwärtig vollziehenden Globalisierungsprozesse. Diese historisch langfristigen geopolitischen und interzivilisatorischen Machtverschiebungen haben auch einen entscheidenden Einfluss auf die sich herausbildenden Regionen innerhalb Europas mit ihren kulturellen Unterschieden, ökonomischen Entwicklungsgefällen und politischen Machtdifferenzen. Noch lange Zeit nach dem Zerfall des Römischen Reichs und der beginnenden polyzentrischen Entwicklung der weströmisch-lateinischen Hemisphäre lag das ökonomisch-kulturelle Zentrum Europas im Mittelmeerraum, insbesondere in den italienischen Stadtstaaten. Von dort aus liefen die polyzentrischen Entwicklungskreise in den Nordwesten, Norden und Nordosten Europas (Davies 1996). Erst mit der in der Neuzeit sich durchsetzenden Entwicklungsdynamik Westeuropas konstituieren sich die für die moderne Ära wirksamen Zeitzonen West-, Westmittel-, Ostmittel- und Osteuropas (Szücs 1991; Gellner 1995). Dabei sind in groben Zügen folgende Begriffe den Regionen West- und Westmitteleuropa zugeordnet: ökonomische Entwicklung, innere Staatsbildung, nationale Homogenisierung und Demokratisierung. Auf der anderen Seite werden ökonomische Rückständigkeit, mangelnde Staatsbildung, ethnisch-nationale Konfliktlagen und autoritäre Staatsformen mit Mittelost- und Osteuropa in Verbindung gebracht. Doch auch hier sind diese vier Zeitzonen keineswegs statisch, sondern wandeln sich in ihren Ausprägungen und ihrem Verhältnis zueinander. So verschiebt sich in der westeuropäischen atlantischen Zone das Entwicklungs- und Machtzentrum allmählich nach Nordwesteuropa, steigt die westmitteleuropäische Zone durch ihre wohl späte, aber dann rasche Industrialisierung zu einem konkurrierenden Machtzentrum auf, verliert die ostmitteleuropäische Zone durch die imperialen Mächte ihre Eigenständigkeit, gewinnt die osteuropäische
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Zone durch den Machtaufstieg des sowjetischen Imperiums zeitweilig weltpolitischen Einfluss auf Mitteleuropa und stellt sich schließlich mit dessen Zerfall wieder in neuer Form ein west-osteuropäisches Entwicklungs- und Machtgefälle ein (Spohn 1995). Auf diesen historischen Grundlagen entsteht der europäische Integrationsprozess an einer spezifischen welthistorischen Zäsur: dem endgültigen Verlust der europäischen Hegemonie durch die beiden Weltkriege, dem weltweiten Prozess der Dekolonialisierung, dem Aufstieg der USA und der Sowjetunion zu hegemonialen Weltmächten und der Teilung Europas sowie der Rekonstruktion Westeuropas unter US-amerikanischer Ägide. Die durch diese spezifischen geopolitischen Bedingungen geschaffene geographische Begrenzung und sozioökonomische Homogenisierung Westeuropas ermöglichte erst den sich entwickelnden Integrationsprozess Europas und die allmähliche Herausbildung einer politischen Identität Europas (Wallace 1990; Urwin 1997). Dass dabei die geographischkulturelle Einheit und die politisch-integrative Identität Europas keineswegs dasselbe sind, zeigte sich in aller Deutlichkeit mit dem Zerfall der Sowjetunion, der erneuten Öffnung Ostmittel- und Osteuropas und der Erweiterung der europäischen Integration nach Osten. Denn damit wurde die Frage in den Mittelpunkt gerückt, in welchem Verhältnis die geographisch-kulturelle Einheit Europas zum europäischen Integrationsprozess steht. Auch hier handelt es sich nicht um eine fixierte Relation, sondern um ein konflikthaftes Wechselverhältnis zwischen der kulturell-zivilisatorischen und politisch-rechtlichen Definition Europas. Dies zeigt sich namentlich an den Beziehungen der Europäischen Union zu den im Osten und Süden angrenzenden Regionen und Ländern, die sich kulturell und politisch zu Europa rechnen, die aber das historisch geformte transnationale Institutionengefüge Europas in seiner überkommenen Struktur in Frage stellen. Die aktuelle Frage der Inkorporation der Türkei und der Ukraine in die EU unterstreicht dieses Spannungsverhältnis in besonderer Weise. Unter den Bedingungen der Globalität stehen die Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften also zusammenfassend vor der Herausforderung, die Modernität Europas nicht nur als solche, sondern in ihrer Eigentümlichkeit und Entwicklungsdynamik im Vergleich zu anderen Zivilisationen theoretisch zu erfassen und empirisch zu analysieren. Eine solche Regionalisierung Europas stellt, wie eingangs erwähnt, ein Pendant zu der in den postkolonialen Studien erhobenen Forderung dar, Europa zu provinzialisieren (Conrad/Randeria 2002). Statt also Europa als Modell einer allgemein-universellen Form von Modernität zu verstehen, käme es auch darauf an, die Spezifizität und innere Strukturierung Europas im Vergleich und im Beziehungsverhältnis zu anderen Zivilisationen zu einem Kernpunkt von Europastudien zu machen.
3
Multiple Modernität Europas und europäische Integration: methodologische Konsequenzen
Legt man das umrissene Begriffskonzept der europäischen multiplen Modernität zugrunde, lassen sich eine Reihe von theoretischen und methodologischen Konsequenzen benennen, mit Hilfe derer der in den Europastudien und den daran beteiligten Fachdisziplinen vorherrschende methodologische Nationalismus und Eurozentrismus in einer interdisziplinären und globalen Richtung überwunden werden kann. Erstens müsste hierfür die in der sozial-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Europaforschung und -lehre vornehmlich ange-
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wandte Methode des internationalen Vergleichs hinterfragt werden; durch ihn werden in Europa nationale Staaten, Kulturen und Gesellschaften als fixierte, voneinander unabhängige Einheiten vorausgesetzt und unter dieser Voraussetzung dann makro- oder mikroanalytische vergleichende Untersuchungen durchgeführt. Zweitens muss auch die Analyse der Form und Entwicklungsdynamik des europäischen Integrationsprozesses hinterfragt werden, die in den einzelnen Fachdisziplinen traditionell unter der abstrakten Gegenüberstellung von Nationalstaat und dem transnationalen europäischen Institutionengefüge steht. Und drittens muss auch die Analyse des Europäisierungsprozesses in Form der Auswirkungen des europäischen Institutionengefüges auf die einzelnen Nationalstaaten, -kulturen und -gesellschaften der Mitgliedsländer überdacht werden. In allen drei Dimensionen, der des Verhältnisses der europäischen Nationalstaaten zueinander, der des Verhältnisses der europäischen Nationalstaaten zum europäischen Integrationsprozess und der der Europäisierung der Nationalgesellschaften, ist es notwendig, die internationalen und interzivilisatorischen Rahmenbedingungen und Beziehungskonstellationen stärker zu berücksichtigen. Angesichts der weltweit sich vollziehenden Modernisierungsprozesse und intensivierenden Globalisierungsdynamik gewinnen die internationalen und international vergleichenden Komponenten in den Sozial-, Politik-, Kultur- und Geschichtswissenschaften gegenüber dem traditionell überwiegend national orientierten Fächerkanon sichtbar an Gewicht. Internationale Wirtschaftswissenschaft, vergleichende Soziologie, internationale und vergleichende Politikwissenschaft, international vergleichendes Recht, aber auch vergleichende Kultur- und Geschichtswissenschaft ergänzen zunehmend die herkömmlich unter universellen Wahrheitsansprüchen national ausgerichteten Disziplinen (vgl. Hartmann 1995; Haupt/Kocka 1996; Spohn 1998). Diese internationale Orientierung zeigt sich auch und nicht zuletzt in Europaforschung und Europalehre (siehe Einleitung zu diesem Band). Europäisch vergleichende Wirtschaftswissenschaft und Soziologie, europäisch vergleichende Politik- und Rechtswissenschaft sowie europäisch vergleichende Kultur- und Geschichtswissenschaften erleben einen raschen Aufschwung und gelten nicht länger als Hilfswissenschaften. Diese europäische Vergleichsorientierung vollzieht sich parallel zur Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und zeigt sich in einer sukzessiven Erweiterung der Vergleichseinheiten von ihrem traditionell westeuropäischen zu einem süd- und nordeuropäischen und nunmehr auch ostmittel- und osteuropäischen Fokus. Andererseits setzt jedoch die vorherrschende Form des internationalen Vergleichs die nationale Einheit in Ergänzung der national orientierten Disziplinen nach wie vor voraus. Diese methodologische Voraussetzung ist selbstverständlich angesichts der sozialen Wirklichkeit von Nationalstaaten berechtigt, begrenzt aber zugleich die analytische Vergleichsperspektive. Vor diesem Hintergrund hat sich auch jüngst die wissenschaftliche Diskussion zu Formen des internationalen und interzivilisatorischen Vergleichs entwickelt (Osterhammel 2001; Kaelble/Schriewer 2003). Bezogen auf die Perspektive der europäischen multiplen Modernität lassen sich gegenüber der herkömmlichen Form des europäisch-internationalen Vergleichs vor allem folgende methodologischen Postulate hervorheben:
Soziopolitische und kulturelle Phänomene, Strukturen und Prozesse sollten innerhalb von Nationalgesellschaften in ihrem historisch sich wandelnden, multidimensionalen, internen wie externen Konfigurationszusammenhang und Konfigurationsfluss gesehen werden. Diese Sichtweise impliziert, dass Phänomene, Strukturen und Prozesse in den
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Willfried Spohn europäischen Gesellschaften nicht einfach auf der Folie des westeuropäischen Modells, sondern in ihren jeweiligen Kontexten und Konstellationszusammenhängen analysiert werden sollten. Eine solche Sichtweise verlangt ebenso, statt einer einseitigen Anwendung des synchronen oder diachronen Vergleichs eine methodologische Kombination beider Verfahren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Nationalgesellschaften in ihrer historischen Entwicklung – Konvergenz wie Divergenz und Kontinuität wie Diskontinuität – in den Blick zu nehmen. Sie erfordert statt der üblichen disziplinär-analytischen Isolierung von Faktoren und Variablen eine interdisziplinär integrierte Analyse der sozialstrukturellen, politischen und kulturellen Phänomene, Strukturen und Prozesse und somit auch Kombinationen des Struktur- und Kulturvergleichs sowie des Makro- und Mikrovergleichs. Und sie verlangt vor allem die Anwendung des Beziehungsvergleichs, der seinen Blick auf die unterschiedlichen transnationalen, interzivilisatorischen und globalen Beziehungsstrukturen und Interaktionszusammenhänge richtet (Kaelble/Schriewer 2003).
Das Begriffskonzept der europäischen multiplen Modernität impliziert auch eine spezifische Sichtweise auf den transnationalen europäischen Integrationsprozess. Vor dem Hintergrund der historischen und keineswegs abgeschlossenen Strukturierung der europäischen Institutionen ist es nicht weiter überraschend, dass auch in den verschiedenen Disziplinen, die den europäischen Integrationsprozess zu analysieren unternahmen, lange Zeit ein Gegensatz zwischen nationalstaatlich orientierten und europäisch fokussierten Ansätzen charakteristisch war. In diesen Kontroversen war und ist die Politikwissenschaft mit ihrer Subdisziplin der internationalen Beziehungen führend, in der sich konföderalistische und föderalistische, realistische und funktionalistische, intergouvernementalistische und neofunktionalistische Positionen gegenüberstehen (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996; Beichelt in diesem Band). Aber auch in den anderen Disziplinen, den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und den Geschichtswissenschaften, gibt es parallele Gegensätze zwischen national-intergouvernemental und transnational-europäisch orientierten Ansätzen (Loth/Wessels 2001). Inzwischen haben sich vor dem Hintergrund der sich kristallisierenden Mehrebenengestalt der Europäischen Union in allen Disziplinen deutlich konvergierende und interdisziplinär-integrative Ansätze entwickelt. Dennoch bleiben die unterschiedlichen Ausgangspunkte nach wie vor sichtbar, während sich neue Gegensätze zwischen rationalistischen, institutionalistischen und konstruktivistischen Positionen entwickeln (Wiener/Diez 2003). Vor diesem multidisziplinären Forschungshintergrund zur europäischen Integration betont die Perspektive der europäischen multiplen Modernität in grundsätzlicher Anknüpfung an eine interdisziplinär integrative Orientierung vor allem die zivilisatorischen Grundlagen, die sich wandelnden geopolitischen Randbedingungen und die sich verändernden internen multiplen Konstitutionsbedingungen des europäischen Integrationsprozesses. Was die geopolitischen Randbedingungen betrifft, so entstand die Europaidee schon früh als kritisches Korrektiv zur wachsenden Konkurrenz zwischen den europäischen Nationalstaaten und dem daraus folgenden Denken in Machtgleichgewichten (Pagden 2002). Doch unter den Bedingungen der europäischen Welthegemonie und der Verschärfung nationalistisch-imperialistischer Konkurrenz innerhalb Europas blieb die Europaidee auf das ideelle
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Reich einer intellektuellen Friedensutopie beschränkt. Dies änderte sich erst im Gefolge der beiden europäischen Weltkriege, die nicht nur die Hegemoniestellung Europas sondern auch die ökonomischen und moralischen Grundlagen der europäischen Zivilisation stark angegriffen hatten. Unter diesen Bedingungen bestanden die wesentlichen Antriebskräfte des europäischen Integrationsprozesses in der Entwicklung einer transnational abgesicherten Friedensordnung, die die Destruktivkräfte nationalistischer Konflikte bannen konnte. Dabei wurden insbesondere folgende Ziele verfolgt und größtenteils erreicht (Merkel 1999):
eine Lösung der deutschen Frage; die Rekonstruktion und Entwicklung einer europäischen Wirtschafts- und Wohlfahrtszone, die gegenüber den aufsteigenden Weltmächten der USA und der Sowjetunion bestehen konnte; die Entwicklung und Ausweitung demokratischer politischer Systeme; die Wiederherstellung Europas als eines handlungsfähigen Akteurs in der neuen multipolaren Weltordnung.
Ein wichtiger Faktor für die Umsetzung dieser Antriebskräfte in die sich allmählich kristallisierenden europäischen Institutionen waren dabei die Ost-West-Teilung Europas, die Abwehrstellung gegen die Sowjetunion und das durch die Hegemonialstellung der USA bereitgestellte Dach, welches die Integration Westeuropas erleichterte und förderte. Dabei spielte aber auch der fortgesetzte Niedergang der imperialen Großmächte Frankreich und Großbritannien als Voraussetzung der ersten Nordwesterweiterung eine Rolle, ebenso wie die zunehmende ökonomische und politische Dominanz und Attraktivität der Europäischen Gemeinschaft für die südeuropäischen und dann auch nordeuropäischen Länder (Wallace 1990; Urwin 1997). Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung Osteuropas veränderten sich aber erneut die geopolitischen Randbedingungen der europäischen Integration und ihrer unverändert wirkenden Antriebskräfte. Einerseits ergab sich nun die Notwendigkeit, die europäische Einigung durch die Schaffung der Europäischen Union inklusive des wiedervereinigten Deutschland auf feste Grundlagen zu stellen. Andererseits verstärkten sich nun aber durch die Osterweiterung sowie die zunehmende Attraktivität der EU in europäischen Randgebieten die Zentrifugalkräfte der europäischen Integration (Zielonka 2002; Beichelt 2004). Im Blick auf diese sich verändernden geopolitischen Randbedingungen des europäischen Integrationsprozesses betont das Konzept der europäischen multiplen Modernität aber ebenso die Konstitutionsbedingungen für das transnationale europäische Ordnungsgefüge. Statt, wie in den verschiedenen Fachdisziplinen der Europaforschung nach wie vor üblich, von einem unhistorischen abstrakten Gegenüber von Nationalstaat und europäischem Integrationsgefüge auszugehen, legt das Konzept der europäischen multiplen Modernität das Gewicht auf die multiplen nationalstaatlichen Einflussvektoren auf die europäische Integrationsordnung (so der Ansatz Stein Rokkans, vgl. Flora u.a. 1999). Die verschiedenen dynamischen Antriebskräfte des europäischen Integrationsprozesses ruhen in jedem Mitgliedsstaat auf unterschiedlichen Motivations- und Interessenlagen, die sich in unterschiedlichen Europapolitiken und -konzeptionen niederschlagen. Sie lassen sich in groben Zügen wie folgt umreißen (Spohn/Triandafyllidou 2002; Eder/Spohn 2005):
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Willfried Spohn Erstens spielen geopolitisch-militärische Faktoren eine Rolle. Große Staaten sehen Europa eher als eine kombinierte Fortsetzung einer verloren gegangenen weltpolitischen Rolle, kleine Staaten definieren Europa eher als Schutz gegen den Machteinfluss der Großen. Zweitens sind die unterschiedlichen politischen Modernisierungswege von Bedeutung. Nationalstaaten mit früher Staatsbildung und Demokratisierung sehen Europa eher als Bedrohung demokratischer Traditionen, während Nationalstaaten mit später Staatsbildung und autoritären Traditionen Europa eher als demokratischen Stabilisator wahrnehmen. Drittens sind auch die unterschiedlichen ökonomischen Positionen innerhalb der europäischen Wirtschaft wichtig: Entwickelte Kernökonomien versuchen, ihre jeweiligen Wirtschaftsmodelle auf Europa zu übertragen. Periphere und unterentwickelte Wirtschaften versuchen dagegen, Europa als Modernisierungs- und Entwicklungsagentur einzusetzen. Diese unterschiedlichen politischen und ökonomischen Europaorientierungen gründen viertens auf unterschiedlichen kulturell-religiösen Traditionen und kollektiven Identitäten: Protestantische Länder favorisieren einen eher liberalen Zuschnitt Europas, katholische und gemischte Länder eher einen korporativen Zuschnitt. Christlichorthodoxe Länder kennzeichnet eher eine national-religiöse Defensive, während die säkularistischen Strömungen quer zu diesen national-religiösen Traditionen eher zentralistisch-säkulare Europakonzeptionen favorisieren. Fünftens ist von Bedeutung, in welchem Maße die multiplen Europapolitiken und -orientierungen der politischen Eliten durch demokratische Legitimation und Partizipation beeinflusst werden.
Das Konzept der multiplen europäischen Modernität hat auch Konsequenzen für die jüngste Entwicklung in der Europaforschung: die Analyse der Folgewirkungen des europäischen Integrationsprozesses auf die politischen, sozioökonomischen und kulturellen Ordnungen der involvierten Nationalstaaten und -gesellschaften. Diese werden in den verschiedenen Fachdisziplinen unter der gemeinsamen Leitkategorie der Europäisierung thematisiert. Die Politikwissenschaft und ihre Subdisziplin der internationalen Beziehungen interessieren sich dabei vornehmlich für die Europäisierung nationaler politischer Institutionen, Arenen und Entscheidungsprozesse (Meny 1999). Die Rechtswissenschaft thematisiert die Auswirkungen des europäischen Rechts auf nationale Rechtstraditionen (Böckenförde 1997; Weiler 1999). Die Ökonomie analysiert den Einfluss von europäischen Wirtschaftsbeziehungen, -institutionen und -politiken auf die jeweiligen Nationalwirtschaften (Kösters/ Beckmann/Hebler 2001; Mattli 1999). Die Soziologie beleuchtet primär den Einfluss der Europäisierung auf nationale Sozialstruktur, politische Kultur und Zivilgesellschaft (Bach 2000; Eder/Giesen 2001). Und auch in der europäischen Anthropologie bzw. Ethnologie wird versucht, den Europäisierungsprozess auf seine Folgen für nationale Kulturen, lokale Lebenswelten und Identitäten zu untersuchen (Kaschuba 1999). In diesen verschiedenen disziplinären Zugängen ist charakteristischerweise eine Gegenüberstellung von Nationalstaat und nationaler Gesellschaft und einem transnationalen europäischen Ordnungsgefüge dominant. Der Europäisierungsprozess wird dabei primär als funktionale Anpassung an den europäischen Institutions- und Regulierungsrahmen analysiert. Im Vordergrund steht eine top-down-Perspektive, die die Transformation nationaler
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Strukturen, Institutionen und Kulturen primär aus dem Blickwinkel des europäischen Ordnungsgefüges betrachtet und analysiert. Die Konzeption der multiplen europäischen Modernität schlägt dagegen eine Vermischung von top-down- und bottom-up-Perspektive vor, die den Europäisierungsprozess als Interaktions- und Mischungsverhältnis zwischen den multiplen nationalen Institutionen und Kulturen und den multiplen Auswirkungen des sich formierenden europäischen Institutionen- und Kulturgefüges konzeptualisiert und analysiert.
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Globalisierung, multiple Modernität und transnationale Integration Europas
Damit habe ich zu kennzeichnen versucht, welche methodologischen Konsequenzen der Ansatz der europäischen multiplen Modernität für die Analyse der historischen Grundlagen des strukturellen und kulturellen Pluralismus der europäischen Zivilisation hat. Das Kernpostulat lautet, dass die multiple europäische Modernität sich in einem dynamischen Interaktionsprozess zwischen dem strukturellen und kulturellen Pluralismus der europäischen Zivilisation einerseits und dem europäischen Integrationsprozess andererseits entwickelt. Allerdings wurde der Ansatz der europäischen multiplen Modernität nur im Blick auf die internen multiplen Konstitutionsbedingungen und die Folgewirkungen der Transformation Europas durch den europäischen Integrationsprozess thematisiert. Zugleich lenkt der Ansatz der europäischen multiplen Modernität den Blick aber auch auf die Wechselbeziehungen zwischen den europäischen Zivilisationen, der europäischen Integration und den nichteuropäischen Zivilisationen. In drei Richtungen sollen nun abschließend die Konsequenzen des Ansatzes der europäischen multiplen Modernität für interdisziplinäre Europastudien umrissen werden. Sie betreffen zunächst (1) die inter-zivilisatorischen Beziehungen in der historischen Konstitution der europäischen Zivilisation, dann (2) die inter-zivilisatorischen und globalen Einflüsse in der Entstehung und Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses und schließlich (3) die sich dadurch transformierenden multiplen Beziehungen der Europäischen Union und ihrer Nationalstaaten zu anderen Weltzivilisationen und regionen im Kontext der Globalisierung. (1) Europastudien haben sich bisher nur am Rande mit den interzivilisatorischen und globalen Aspekten der Entwicklung Europas und des europäischen Integrationsprozesses befasst, auch wenn in jüngster Zeit eine Reihe von Veröffentlichungen diese Aspekte verstärkt aufgreifen (Axtmann 1998; Beck/Grande 2004). Darin kommt zunächst zum Ausdruck, dass die Europäische Union erst jüngst Versuche unternommen hat, eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik zu institutionalisieren. Wie schwierig sich dies in einem der sensibelsten Bereiche nationaler Souveränität gestaltet, haben die Unstimmigkeiten gegenüber der amerikanischen Irak-Intervention gezeigt. Die Unterscheidungen zwischen Innen- und Außenpolitik, politischem System und internationalen Beziehungen, nationalem und Völkerrecht, Volks- und Weltwirtschaft, nationaler Gesellschaft und Weltgesellschaft, nationaler Kultur und Kulturen anderer Völker samt ihren historischen Korrelaten folgen dabei im Wesentlichen der Differenz zwischen der nationalstaatlichen Gesellschaft und ihren mehrdimensionalen Außenwelten. Europastudien haben nicht zuletzt dazu beigetragen, diesen methodologischen Nationalismus und die ihn begleitenden nationalen Innen-/Außen-Differenzierungen im Kontext des europäischen Integrationsprozesses zu durchbrechen. Zugleich neigen sie aber dazu,
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diesen methodologischen Nationalismus in den verschiedenen Fachdisziplinen auf einer höheren Ebene in Form eines methodologischen Eurozentrismus zu reproduzieren (Münch 1998; Beck/Grande 2004). Europäisches Regieren und global governance, Europarecht und Völkerrecht, europäische Wirtschaft und Weltwirtschaft, Europa und Globalisierung, europäische Kultur und globale Kultur samt ihren jeweiligen geschichtswissenschaftlichen Pendants werden häufig als analytische Einheiten jenseits des Nationalstaats fixiert, disziplinär institutionalisiert und zudem häufig theoretisch-methodologisch vorausgesetzt. (2) Alle diese multidimensionalen Unterscheidungen zwischen Nationalstaat, Europa und Welt sind selbstverständlich nicht als solche falsch, da sie wesentliche Strukturierungsformen sozialer Wirklichkeit, kultureller Grenzziehungen und kollektiver Identitäten zur Grundlage haben. Sie werden allerdings dann zum Problem, wenn sie primär aus einer national oder europäisch begrenzten Perspektive angegangen und die sich historisch wandelnden Konstruktionen dieser Einheiten und die ihnen zugrunde liegenden Interaktionsbeziehungen und Handlungsbezüge nicht nur auf der makrologischen, sondern auch auf mikrologischen Ebene vergessen werden. Das Begriffskonzept der europäischen multiplen Modernität lenkt deshalb die Aufmerksamkeit nicht nur auf die inneren multiplen Formen von Modernität in Europa, sondern auch auf ihre historisch sich wandelnde, strukturelle und kulturelle Spezifizität im interzivilisatorischen Vergleich. Dies gilt für die historische Konstitution und Konstruktion Europas gegen kulturell mächtigere Zivilisationen, den hegemonialen Aufstieg und später den relativen Niedergang durch das Erstarken anderer Weltregionen. Dem Konzept der europäischen multiplen Modernität liegt eine interzivilisatorische Konzeption einer geteilten Geschichte, geteilten Welt oder verwobenen Moderne zugrunde (Randeria 1999). Die Konzeption erfordert die Betrachtung der gegenseitigen Wechselbeziehungen und Interaktionsverhältnisse zwischen den europäischen Nationalstaaten, dem transnationalen europäischen Ordnungsgefüge sowie den nichteuropäischen Zivilisationen und Weltregionen unter den Bedingungen von Globalisierung und Globalität. Nur mittels einer solchen interzivilisatorischen und globalen Perspektive kann der für Europastudien weitgehend charakteristische Eurozentrismus überschritten und überwunden werden. (3) In einer deutlichen Parallele zur Vertiefung und Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses und den sich namentlich mit der Osterweiterung stellenden Problemen der Grenzziehung nach Osten erfolgte in den Geschichtswissenschaften, aber auch der historischen Soziologie und historischen Geographie ein markanter Aufschwung von Untersuchungen und Darstellungen zu Europa (etwa Schulze 1994; Davies 1996). Europäische Geschichte ist selbstverständlich nicht neu, doch bestand sie herkömmlich vor allem in Form eines Gesamtüberblicks über die Nationalgeschichten der europäischen Länder (etwa Schieder 1968). Europäische Geschichte als Geschichte der europäischen Zivilisation war dagegen die Ausnahme, und ihre auffällige Entwicklung ist erst ein Phänomen der Umbruchsperiode nach 1989. Dadurch geriet auch die historische Konstitution Europas im Interaktionsprozess mit anderen Zivilisationen schärfer in den Blick. Andererseits kann man in einer deutlichen Parallele zu den sich intensivierenden Globalisierungsprozessen auch einen markanten Aufschwung der Weltgeschichte, der Geschichte des Weltsystems oder der Geschichte der Globalisierung verzeichnen (Osterhammel/Pedersson 2003). Aus der Perspektive der europäischen multiplen Modernität sind dabei vor allem jene Richtungen interessant, die explizit Wechselverhältnis zwischen Europa und den nichteuropäischen Zivilisationen im Sinne einer geteilten Geschichte thematisieren. Für die
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Entstehungsgeschichte Europas im Mittelalter sind dabei vor allem die Wechselbeziehungen zum Byzantinischen Reich, zur expandierenden islamischen Zivilisation und zu Asien von zentraler Bedeutung (Abu-Lughod 1989; Bartlett 1993). Für die Entwicklungsgeschichte und Rekonstruktion Europas in der beginnenden Neuzeit sind es der Aufstieg des Osmanischen Reichs, die Entdeckung der Neuen Welt und die Gründung von Kolonien (Stearns 2001, Bd.1; Kaelble 2004). In der modernen Ära im 19. und frühen 20. Jahrhundert führen die Einbeziehung Russlands, der Niedergang des Osmanischen Reichs, die Unabhängigkeitsbewegungen in Nord- und Südamerika und der sich verschärfende Wettlauf um Kolonien zu Konkurrenz- und Konfliktlagen zwischen den europäischen Großmächten. Zugleich findet aber auch in der kolonialisierenden Missionierung eine Formierung ihrer imperial-nationalen Identitäten statt (Malmborg/Strath 2002). Der Verlust der imperialen Welthegemonie seitens der europäischen Großmächte, der Aufstieg der USA und der Sowjetunion, aber auch die transnationale Erfahrung der europäischen Auswanderung in den Schmelztiegel der USA und andere europäisch dominierte Siedlergesellschaften führen schließlich zu einer schärferen Konturierung einer gemeinsamen transnationalen Identität Europas (Kaelble 2001). Seit der Beendigung des Ost-West-Konflikts formiert sich Europa auch allmählich wieder zu einer regionalen Macht innerhalb der neuen Weltordnung. Vor diesem Hintergrund haben sich auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften Forschungsrichtungen entwickelt, die das Beziehungsverhältnis von Globalisierung und europäischer Integration in den Blick nehmen. Hierdurch gelangen nun auch die externen Konstitutionsbedingungen Europas, seine Grenzbildungen und seine Interaktionsbeziehungen zu anderen Zivilisationen und Weltregionen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen schärfer in den Blick (Arnason 2004).
In den Politikwissenschaften und ihrer Subdisziplin der internationalen Beziehungen wird vor allem das Wechselverhältnis von globaler Herrschaft und europäischem Regieren thematisiert und untersucht (Held 1995; Roloff 1999). In paralleler Richtung wird in den Rechtswissenschaften der Beziehungszusammenhang von Völkerrecht und europäischem Recht, insbesondere auch von universell formulierten Menschenrechten und europäischen Staatsbürgerrechten untersucht (Soysal 1994; Weiler 1999; Kierzkowski 2002). Die Ökonomie einschließlich der politischen Ökonomie wiederum analysiert das Verhältnis zwischen sich globalisierender Weltwirtschaft und europäischer Wirtschaft (Kierzkowski 2002; Weber 2001). In der Soziologie gewinnen multidimensionale Ansätze des Weltsystems und der Globalisierung und ihre Umsetzung in makro- und mikroanalytische Studien an Bedeutung (Münch 1998; Vobruba 2001). In den Kulturwissenschaften einschließlich der Anthropologie und der kulturwissenschaftlich orientierten Soziologie und Politikwissenschaft interessieren vor allem die kulturellen Austauschprozesse, Identitätsbildungen und Grenzziehungen zwischen Europa und den nicht-europäischen Zivilisationen (Axtmann 1998; Viehoff/Segers 1999). Von besonderer Bedeutung sind hier vor allem auch die internationalen Migrationsprozesse, in denen kulturelle Hybridbildungen von multiplen Modernitäten eine Schlüsselrolle spielen (Spohn/Triandafyllidou 2002; Joppke/ Morawska 2003).
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Auch in diesen mannigfaltigen Forschungsentwicklungen überwiegen häufig disziplinäre Arbeitsteilungen und systemtheoretisch-analytische Fixierungen von Europa und Weltsystem, Europa und Globalisierung oder Europa und „die Anderen“, und es überwiegt dabei häufig eine eurozentrisch oder westzentrierte Perspektive. Doch wird damit auch der Boden für eine stärker interdisziplinäre und multiperspektivische Richtung in den Europastudien, der Europaforschung und Europalehre bereitet. In dem Maße, wie Europa nun in Form der Europäischen Union wieder zu einer regionalen Macht aufsteigt, verstärkt sich auch sein Einfluss auf die anderen Weltregionen – sei es in Form sich rebalancierender Beziehungen zu den USA, in einer Vielzahl internationaler Organisationen oder der EU-Außenpolitik gegenüber den anderen regionalen Großmächten (Weidenfeld 2003). Damit verstärkt sich aber zugleich der Prozess der europäischen Identitätsbildung im Beziehungsverhältnis zu diesen Weltregionen und -zivilisationen. Hier spielen zum einen die multiplen nationalen Beziehungen der ehemaligen europäischen Kolonialmächte zu den kolonialisierten Weltregionen, die Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonialisierung eine konstitutive Rolle (Loth/Osterhammel 2000; Conze/Lappenküper/Müller 2004). Zum anderen sind die neuen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Weltregionen und dem in der Europäischen Union vereinten Europa von Bedeutung. Diese interzivilisatorischen Wechselbeziehungen sind herkömmlich vor allem unter dem Gesichtswinkel von Dominanz- und Abhängigkeitsbeziehungen sowie korrespondierenden Formen des kulturellen Imperialismus oder Orientalismus konzeptualisiert worden. Sie sollten jedoch auch aus der umgekehrten Perspektive der außereuropäischen Zivilisationen in ihrem Verhältnis zu Europa thematisiert und untersucht werden. All diese Entwicklungen erfordern nicht nur eine interdisziplinäre, sondern vor allem auch eine multiperspektivische Forschung und Lehre in den EuropaStudien. Diese sollten Europa, seine vielfältigen Staaten und Nationen und die Europäische Union auch aus der Perspektive nicht-europäischer Zivilisationen und Weltregionen und der nach Europa transferierten Migranten thematisieren und analysieren. Eine solche wahrhaft multiperspektivische Orientierung ist bisher in den Europastudien weitgehend ein Desiderat geblieben.
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