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German Pages 204 Year 2000
Europa-Philosophie
Europa-Philosophie Herausgegeben von Werner Stegmaier
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP Einheitsaufnahme
Europa-Philosophie / hrsg. von Werner Stegmaier. Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 ISBN 3-11-016900-2
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Vorwort Europa hatte ein Problem. Es gab Europa als solches nicht, und so oft es zu Europa wurde, drohte es auch wieder verloren zu gehen. Europa war und ist kein Kontinent (nur eine vorgeschobene Halbinsel Asiens), wirtschaftlich unterhielten seine Völker nach außen oft stärkere Beziehungen als nach innen, bildeten also auch keine dichte ökonomische Einheit, und auch als politische und kulturelle Einheit nahm sich Europa so recht nur dann wahr, wenn es von außen bedroht war. Europa, so wie wir es heute verstehen, begann in einem griechischen Mythos, und in diesem Mythos beginnt es mit einem Raub. Es war ein Raub aus Liebe. Er soll gegenüber, an der phönikischen Küste des Mittelmeers geschehen sein, der Küste des biblischen Kanaan, des heutigen Palästina. Man war dort vor allem im Handel erfolgreich und hatte das erste Alphabet erfunden. Europa war ein Mädchen. Sie war eine Tochter Agenors, des Königs von Phönikien, geraubt wurde sie von Zeus, dem liebeshungrigen Gottvater der Griechen. Er war in Gestalt eines schönen weißen Stiers im Wasser vor der Küste geschwommen und der Königstochter, die dort spielte, so sanft erschienen, daß sie auf seinen Rücken stieg. Da war er mit ihr nach Kreta fortgeschwommen, und sie wurde dort von Zeus Mutter zweier Könige, Minos und Rhadamanthys: Sokrates hat sie später, im Schlußwort zu dem Prozeß, in dem er zum Tode verurteilt worden war, als die wahrhaft guten und gerechten Richter, nun in der Unterwelt, gepriesen. Kadmos, der Sohn des Königs, Europas Bruder, sollte sie suchen, und als er sie an der Küste nicht fand, suchte er sie schließlich in Griechenland, und als er sie auch dort nicht fand, befragte er das Delphische Orakel, das ihm riet, die Suche aufzugeben. Aber auch er blieb in Griechenland. Er gründete - nach einer langen Geschichte, die mit einer Kuh beginnt und zu einem Drachen führte, der erschlagen werden mußte und aus dessen Zähnen eine Schar bewaffneter Männer erwuchs, die ihrerseits sofort begannen, einander zu erschlagen, bis nur noch fünf übrigblieben, ... - mit diesen Fünfen gründete Kadmos schließlich Theben, und es war wieder Zeus, der ihm eine Braut gab: Harmonia, die Tochter des Ares, des Kriegsgotts, und der Aphrodite, der Göttin der Liebe. Das sieht nach happy end aus, aber es kam fürs erste anders. Kadmos und Harmonia hatten vier Töchter, die alle das Unheil ereilte. Eine von ihnen war Semele, die, wiederum von Zeus, Mutter des Dionysos wurde, des Gottes des "Weines und des Rausches, dessen Göttlichkeit den Grie-
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Vorwort
chen zweifelhaft war und der alle grausam verfolgte, die an ihr zweifelten, der, unstet, erneut in den Orient bis nach Indien ausschwärmte und in dessen Kultfeiern Frauen, die von ihm erfüllt waren, wilde Tiere ergriffen, zerrissen und roh verschlangen; die Athener gründeten ihm zu Ehren die Theaterfestspiele, für die Tragödien und Komödien verfaßt wurden, die bis heute zu den bedeutendsten Europas zählen. Kadmos und seine Frau zogen sich nach weiteren leidvollen Geschichten schließlich nach Illyrien zurück, in den südlichen Balkan, wo sie in Schlangen verwandelt wurden, - bis Zeus sie am Ende doch nach Elysien versetzte, Inseln der Seligen im fernen Westen, wohin die Lieblinge der Götter sich eines guten Lebens erfreuten, ohne den Tod zu erleiden ... Der griechische Mythos scheint Europa schon gut getroffen zu haben in dem, wodurch es sich dann, im Guten und im Schlimmen, als Erdteil auszeichnete: durch den Gebrauch der Schrift, die es zur Entwicklung der europäischen Wissenschaft nutzte, durch weltweiten Handel, Verführung, immer neue Kriege, durch Gerechtigkeit und Güte als Idealen des Lebens, wenn auch vielleicht nur eines späteren. Der Mythos traf es auch darin, daß Europa keinen festen Ort fand. Als mit Herodot die europäische Geschichtswissenschaft begann, suchte man es noch im Bereich südlich des Balkan, der Alpen und der Pyrenäen; erst die Römer erschlossen das Weitere. Und heute, wo sich Europa längst nicht mehr auf Europa beschränkt, wo es sich mit seiner Wissenschaft, seiner Technik, seiner Ökonomie und den Formen seiner politischen Organisation über die Welt ausgebreitet hat, ist es sich neu fraglich geworden. Was ist Europa, wenn es keine geographische und noch immer auch keine ökonomische und politische Einheit ist? Was ist Europa, wenn es sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in Exzessen des Krieges und des Massenmordes ergangen hat und sich doch aus den Idealen der Gerechtigkeit und der Güte verstehen will? Europa war nie einfach Europa, es blieb sich immer fraglich und mußte sich darum immer erst als Europa begreifen. Eben das könnte die Ursache seiner Verbreitung über die Welt, im Guten und im Schlimmen, gewesen sein: dass es sich aus einer Idee verstand und aus dieser Art, sich zu verstehen, seine gerühmte Philosophie und Wissenschaft und aus seiner Philosophie und Wissenschaft wiederum die Rechte freier Menschen entwickelte. Hegel sagte, nach Jahrhunderten voller Eroberungen und Entdeckungen, 1830 noch stolz: „Das Prinzip des europäischen Geistes ist daher die selbstbewußte Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, daß nichts gegen sie eine unüberwindliche Schranke sein kann, und die daher alles antastet, um sich selber darin gegenwärtig zu werden. Der europäische Geist setzt die Welt sich gegenüber, macht sich von ihr frei, hebt aber diesen Gegensatz wieder auf, nimmt sein
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Anderes, das Mannigfaltige, in sich, in seine Einfachheit zurück. Hier herrscht dann dieser unendliche Wissensdrang, der den anderen fremd ist. Den Europäer interessiert die Welt; er will sie erkennen, sich das ihm gegenüberstehende Andere aneignen, in den Besonderungen der Welt die Gattung, das Gesetz, das Allgemeine, den Gedanken, die innere Vernünftigkeit sich zur Anschauung bringen."1 Seither, seit weiteren eineinhalb Jahrhunderten, hat Europa sich jedoch immer mehr in der „Krise" gesehen. Am schärfsten geschah das bei Nietzsche: „Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen."2 Der Diskurs der Krise beginnt deutlich schon mit Novalis' irritierender Rede Die Christenheit oder Europa von 1799; nach Nietzsche wurde er vor allem von Martin Heidegger mit seinen Vorlesungen zum „europäischen Nihilismus" und von Edmund Husserl mit seiner Schrift zur Krisis der europäischen Wissenschaften vorangetrieben. Nach Jahrhunderten der Krise ist, bemerkte nun Jacques Derrida in seinem Europa-Essay Das andere Kap, das Wort »Krise5 „vielleicht nicht mehr angemessen",3 wenn es bedeuten soll, dass sich die Krise irgendwann einmal zum Guten oder zum Schlimmen hin entscheiden muß. Sie ist selbst zum „Programm der Selbstreflexion oder der Selbstdarstellung", zum Diskurs des modernen Europa geworden,4 den es weder abschließen noch aufgeben kann, sondern der es nun ist: „Unsere Aufgabe besteht darin, auf diesen Diskurs der modernen Tradition zu antworten und uns ihm gegenüber verantwortlich zu zeigen."5 In diesem Band wird das versucht. Kardinale Texte der philosophischen Selbstreflexion Europas in der Moderne werden von je zwei Autor(inn)en im Hinblick auf Europas Gegenwart und seine Zukunft neu gelesen; sie sind so ausgewählt, daß die eine jeweils aus der jüngeren, der andere aus 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, § 393 Zusatz, Suhrkamp Werkausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1986, 62 f. 2 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1887 - März 1888, KGW VIII 11 [411]/KSA 13.189 f. 3 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa (dtsch.: L'autre cap, suivi de La Democratic ajournee, Paris 1991), aus dem Frz. v. A.G. Düttmann, Frankfurt am Main 1991, 26. 4 Ebd., 23. 5 Ebd., 25.
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der reiferen Generation stammt und die eine zugleich aus Deutschland, der andere aus dem europäischen oder nicht-europäischen Ausland kommt, hier aus Polen, Österreich, Italien, Rußland und Korea. Zur Einführung setzt ein hervorragend ausgewiesener Europa-Historiker, Hagen Schulze, die philosophischen zu den historischen Aspekten Europas ins Verhältnis, und der Autor einer bahnbrechenden Philosophie des Zeichens, Josef Simon,6 entwickelt eine aktuelle Sicht des europäischen Denkens im ganzen. Das Ergebnis ist eine umfassende und konsequente Orientierung über die »Europa-Philosophie«. Der Herausgeber erprobt seit mehreren Jahren am 1994 neu gegründeten Institut für Philosophie der Universität Greifswald zusammen mit Carola Häntsch und Hartwig Frank die neue Lehrform »Internationales Lehrprojekt«: innerhalb einer Semesterwoche erörtern Wissenschaftler aus dem In- und Ausland mit den Student (inn )en und miteinander ein zentrales, in den Lehrprogrammen aber nicht vorgesehenes Lehrgebiet. 1998 haben wir im Blick auf das Jahr 2000 »Europa als philosophische Idee« zum Thema eines solchen Internationalen Lehrprojekts gemacht. Allen, die, mit großer Energie, dazu beigetragen haben, danken wir herzlich. Die Internationalen Lehrprojekte werden wiederum im Rahmen des 1995 von uns ins Leben gerufenen »Nord- und osteuropäischen Forums für Philosophie« an der Universität Greifswald organisiert. Es ermöglicht einen intensiven wissenschaftlichen Austausch unter den Instituten für Philosophie im Ostseeraum und wird vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Alexander von Humboldt-Stiftung, besonders aber von der Trebuth-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft unterstützt. Auch ihnen sei im Namen aller Teilnehmer bestens gedankt. Dank gebührt schließlich dem Verlag Walter de Gruyter, der die »Europa-Philosophie« in sein Progamm aufgenommen hat, Frau Dr. Gertrud Grünkorn, die sich dafür eingesetzt hat, und Ines Mielke, die wie immer schnell und zuverlässig für die Erstellung des Gesamttextes gesorgt hat. Greifswald, im November 1999
Werner Stegmaier
Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. S. dazu Tilman Borsche und Werner Stegmaier (Hgg.), Zur Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1992.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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HAGEN SCHULZE Europa als historische Idee
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JOSEF SIMON Europa als philosophische Idee
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ANDRZEJ M. KANIOWSKI Europa oder das Rationale. Bemerkungen zu Novalis aus einer europäisch-polnischen Sicht . . .
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THOMAS BUCHHEIM „Universelle Individualität". Zur romantischen Fiktion Europas nach Novalis
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WERNER STEGMAIER Nietzsche, die Juden und Europa
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JOHANN FIGL Überwindung des „europäischen Nihilismus"? Religions- und kulturphilosophische Perspektiven angesichts der Deutungen Nietzsches und Heideggers
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DONATELLA Di CESARE Die Heimat der Verschiedenheit. Über die plurale Identität Europas
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ELISABETH STRÖKER Krise der europäischen Wissenschaften als Krise der Kultur: Husserls Europa-Gedanke in seinem Spätwerk
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GABRIELLA BAPTIST Krisis als Eröffnung von Möglichkeiten oder als Herausforderung des Unmöglichen? Die „Vermöglichkeiten" Europas in der Sicht des späten Husserl . . 141
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Inhaltsverzeichnis
BORIS MARKOV Das andere Europa - aus der Perspektive Rußlands
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BYUNG-CHUL HAN Zu Derridas Gedanken über Europa in Das andere Kap
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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
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HAGEN SCHULZE Europa als historische Idee Wenn1 man nur wüßte, was Europa eigentlich ist! In einer ersten Annäherung bietet sich die Definition der Geographie an. „Europa", sagt Paul Valery, „ist eine Halbinsel Asiens".2 Das ist die einfachste Wahrheit, die von Europa ausgesagt werden kann, und jeder Blick auf die Landkarte bestätigt sie. Offenbar gibt es keine natürliche Trennlinie zwischen Asien und seinem westlichen Subkontinent. Die niedrigen Hügelketten des Ural als Grenze sind nicht mehr als eine Verlegenheitslösung der Geographen, und das auch erst seit dem 18. Jahrhundert; seit der Antike galt in der Regel der Don als Grenzfluß, später die Wolga, und ob die Kaukasusregion als europäisch oder asiatisch anzusehen sei, ist bis heute umstritten. Auch geomorphologische Argumente für eine Trennung Europas von Asien gibt es nicht. Den Teilnehmern der großen Geographen-Tagungen, die in den sechziger Jahren vom Europa-Rat zur Formulierung verbindlicher Schulbuch-Definitionen veranstaltet wurden, blieb daher nichts anderes übrig, als eine naturwissenschaftliche Bestimmung des europäischen Kontinents zu verneinen. Man kam zu dem Schluß, daß Europa nur dann als eigener Erdteil angesehen werden könne, wenn „der Mensch und sein Wirken in Siedlung, Wirtschaft, Kultur, Geschichte und Politik in die Betrachtung einbezogen wird".3 Was soll das heißen? Soll man sich Europa also mit politischen Kategorien nähern? Auch damit hat es seine Schwierigkeiten. Wie steht es etwa mit Rußland oder mit der Türkei, die beide Europa angehören wollen, obwohl der bei weitem größte Teil ihrer Territorien auf asiatischem Gebiet liegt? Noch schwieriger wird es, wenn man die politische Zugehörigkeit dieser und anderer Staaten zu Europa im Verlauf der Vergangenheit betrachtet. Bis in das 19. Jahrhundert hinein galt die Türkei, heute Mitglied des Europarats und mit einem Fuß bereits in der Europäischen Gemeinschaft, als der Erzfeind Europas schlechthin, euro1 2 3
Um den Essay-Charakter des Beitrags beizubehalten, sind die Fußnoten auf Quellenbelege beschränkt. P. Valery, La crise de l'esprit, in: OEuvres, Bd. I, Paris 1962, 1004. Mitteleuropa im Geographieunterricht. Die erste Konferenz zur Revision der Erdkundelehrbücher, hg. v. Europarat, Braunschweig 1964, 165.
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Hagen Schulze
päischer Kultur und Gesittung entgegengesetzt. Und die Vermutung ist nie verstummt, die Europäisierung Rußlands sei immer nur oberflächlich gewesen. Der Staat Peters des Großen wie das Reich Lenins trage im Grunde hauptsächlich asiatische Züge, habe zumindest die lange westliche Entwicklung von der Renaissance über die Aufklärung bis zum demokratischen und parlamentarischen Liberalismus nicht mitvollzogen, und die schmale Oberschicht, die seit der Aufklärung nach Westen geblickt habe, sei bereits durch die Welle des Panslawismus überrollt und dann durch die Oktoberrevolution und deren Folgen ausgerottet worden. Rußland sei also eher Antagonist denn Bestandteil Europas.4 Aber auch die Einbeziehung Großbritanniens in Europa ist bekanntlich gelegentlich nicht ohne Probleme, und Spanien hat sich nach seinem Rückfall in außenpolitische Bedeutungslosigkeit im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts oft stärker von der marokkanischen Gegenküste angezogen gefühlt als von der Welt nördlich der Pyrenäen. Die spanische Intellektuellengruppe „Generation von 1898" hat eine bittere Debatte über die Zugehörigkeit der iberischen Halbinsel zu Europa geführt, deren Echo bis heute in den spanischen Medien wahrzunehmen ist. So erweist sich also auch die Definition des Kontinents durch einfache Addition seiner politischen Bestandteile als durchaus ungenügend. Überdies zeigen die genannten Beispiele, daß sich Europa nicht einfach durch eine Momentaufnahme abbilden läßt: Begriff und Wesen sind nur mit Blick auf den historischen Wandel zu erfassen, wie er sich in den Köpfen der Menschen spiegelt. Europa, so faßt es der italienische Historiker Federico Chabod, ist „ein Werk der Geschichte, das heißt menschlichen Willens, das im Verlauf der Jahrhunderte seinen dauerhaften Stempel den Generationen aufgedrückt hat, die in dem Europa genannten Kontinent aufeinander gefolgt sind. Es ist das nunmehr Jahrtausende alte Erbe der Väter, das wir von Geburt auf in uns tragen und das wir unsererseits durch unsere Erfahrungen, Gedanken und Gefühle bereichern und vervielfältigen, um es unseren Kindern und Enkeln weiterzureichen."5 Die Wirklichkeit Europas wurzelt demnach im Bewußtsein der Menschen, ein kollektiver imaginärer Entwurf, der sich wandelt, wie sich die Menschen wandeln. Wie also hat sich bisher europäisches Bewußtsein gebildet, und worin besteht die europäische Identität?
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Chr. Dawson, Understanding Europe, London/New York 1952, 83 ff.; D. Gerhard, Old Europe. A Study of Continuity, 1000-1800, New York 1981, 6 ff.; O. Halecki, The Limits and Divisions of European History, New York 1950, 63 ff. 5 F. Chabod, Storia deü'idea d'Europa, Bari 1961, 8.
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Europa galt nicht immer als das, was heute Europa heißt. Man nimmt an, daß der Name semitischen Ursprungs ist; „ereb", das Dunkle, nannten die an der kleinasiatischen Küste lebenden Phöniker das Land im Westen, hinter dem die Sonne unterging. Der erste Blick auf Europa fand also von außerhalb, von Asien her, statt. Griechen übernahmen das Wort und bezeichneten damit das gestaltlose Jenseits im Norden, das Land der Barbaren. Zwar weiteten griechische Geographen den Begriff später auf das Land zwischen dem Schwarzen Meer und den Säulen des Herkules aus, doch blieb er noch lange unbestimmt und wurde nicht häufig gebraucht. Volkstümlich war nicht die geographische Bezeichnung, sondern der Mythos von Europa, der Tochter des phrygischen Königs Agenor und von ihrer ungewöhnlichen Beziehung zu dem Gott in Stiergestalt, wie Ovid ihn uns in klassischer Form überliefert - es scheint, daß auch diese Erzählung mehr asiatische als griechische Elemente enthält. Zweimal allerdings begegnet uns in der griechischen Antike Europa in politischem Gewand und beide Male aus bezeichnendem Anlaß: Im Anschluß an die Perserkriege befaßt sich der Arzt Hippokrates um das Jahr 400 v. Chr. mit dem Unterschied zwischen den Menschen, die auf der westlichen Seite des Hellespont leben, und denen vom östlichen Ufer, wobei er das Land im Osten Asien, das im Westen Europa nennt: Die Menschen des Ostens sind träge und apathisch, sie leben in despotisch regierten Großreichen; in Europa dagegen blühen die vielen kleinen Staaten, in denen Freiheit herrscht, und deren Bestand von der freiwilligen Teilnahme ihrer Bürger abhängt. Und als der Philosoph Isokrates fünfzig Jahre danach nach einem Namen sucht, um die Einheit von Griechen und Makedonen gegen das barbarische Persien zu beschwören, verfällt er auf Europa, das dann verschiedentlich als Bezeichnung des makedonischen Großreichs unter Philipp . und Alexander dem Großen dient. Bemerkenswert ist hier dreierlei: Europa wird zur politischen Identifikation benutzt, wenn es um die Unterscheidung von einem existentiellen Feind geht, dessen Kultur als grundlegend verschieden von der eigenen verstanden wird. Dieser Unterschied ist in seinem Kern der zwischen Freiheit und Despotie; und der Begriff verschwindet wieder, sobald die Bedrohung geschwunden ist. Doch das sind frühe, fast verwehte Spuren, von denen nur noch eine bis heute ganz deutlich geblieben ist, die Idee der Freiheit. Für die nächsten tausend Jahre bleibt es bei einem schwankenden Begriff der Geographen, denn die Welt der griechischen, der hellenistischen, der römischen Antike ist der Raum um das Mittelmeer, und Europa stellt nicht mehr dar als den nördlichen Rand dieses mediterranen Kulturraums. Ohne die Kultur, die Institutionen, die Symbole des Römischen
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Reichs ist das spätere Europa nicht zu denken; aber Rom bleibt für alle Zukunft auch Chiffre für den hegemonialen, unterdrückenden Machtstaat: Es ist kein Zufall, daß alle Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, die auch nur ferne Beziehungen zum Territorium des einstigen Römischen Reichs unterhielten, halbmythische Gründergestalten feierten, die den Widerstand gegen Rom symbolisierten, von Rumänien bis Portugal, von Deutschland bis England. Hermann der Cherusker hat in fast allen Staaten Europas seine Verwandten. Erst in der Spätantike gewinnt der Name Europa wieder an Bedeutung und wiederum auf kennzeichnende Weise: Die Vandalen, die Goten, die Hunnen verheeren und verändern fast ausschließlich jenen nördlichen Teil des Römischen Reichs; Asien und Afrika bleiben vergleichsweise verschont, doch in Europa vermischt sich die Zivilisation Roms mit den ungeschichtlichen Barbaren aus dem Norden: das Gebiet der jahrhundertelangen Invasionen, der Kriege, der Auflösung des Westteils des Römischen Reichs, alles das wird nun von den Historikern und Geographen „Europa" genannt. Und im 6. Jahrhundert fügt Papst Gregor der Große eine weitere Begriffsbestimmung hinzu: Europa, das ist jener Teil des zerfallenden Römischen Reichs, der christlich geworden ist und sich dem römischen Papst als geistlichem Haupt unterstellt hat, in erster Linie Italien und Gallien. So kommt die Idee von Europa als christlichem Abendland ins Spiel. Aber das waren immer noch papierene Definitionen, verschwommen, gelehrt und ohne Leben. Wieder bedurfte es der Gefahr von außen, um das Wort und den Inhalt zusammenzubringen. Im Jahr 732 stieß eine arabische Reiterarmee unter dem Feldherrn 'Abderrahman tief nach Gallien vor. Bei Tours und Poitiers traf er auf das Heer des fränkischen Hausmeiers Karl Martell. Sieben Tage, so berichtet der Chronist, tobte die Schlacht, dann zog sich das arabische Heer zurück. Wer waren die Sieger? Karl Martells Heeresaufgebot bestand aus einem bunten Gemisch von Mitgliedern gallisch-romanischer und germanischer Völkerschaften; dem Chronisten der Schlacht war klar, daß sich da nicht mehr das alte römische Weltreich zur Wehr gesetzt hatte, sondern eine ganz neue Gemeinschaft, für die ihm kein besserer Name einfiel als „europenses". Diese Europäer, die damit das erste Mal als handelnde Gemeinschaft in die Geschichte eintraten, blieben aber nur auf dem Schlachtfeld vereint; danach, so der Chronist, „europenses se recipiunt in patrias", die Europäer kehrten also in ihre jeweiligen Heimatländer zurück, womit ihre Gemeinschaft wieder aufgelöst war. Man wäre geneigt, diesen Zusammenhang von Bedrohung und europäischem Selbstgefühl für eine belanglose Episode zu halten, wenn er nicht immer von neuem aufträte. Wenn Karl der Große die Awaren über die
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Donau zurücktreibt, wenn Otto I. die Ungarn auf dem Lechfeld besiegt, wenn Papst Urban II. 1095 in seiner Kreuzzugspredigt zur Verteidigung der Christenheit gegen die Ungläubigen aufruft, dann ist jedesmal von einem bedrohten Raum namens „Europa" die Rede, immer im Sinne von der durch die Not gebotenen Einheit der Stämme und Reiche gegen die Angreifer von außen, die nicht nur militärisch gefährlich, sondern auch kulturell und religiös völlig verschieden von der Gemeinschaft der Europäer sind. Nicht anders Kaiser Friedrich II., der von den Verwüstungen der Tataren an den Ostgrenzen des Abendlands spricht und hofft, sie würden an einem vereinten und daher überlegenen kaiserlichen Europa zerschellen. Europa, das wird bereits im Mittelalter deutlich, erlebt seine Einheit vor allem dann, wenn es um die Abwehr einer gemeinsamen Gefahr geht, und es verliert diese Einheit, wenn die Gefahr geschwunden ist. Wenn die Türken vor Wien stehen, wird die Einheit Europas ebenso beschworen wie angesichts des chinesischen Boxer-Aufstands von 1900, in dem die Angstphantasien von der „Gelben Gefahr" ihre Evidenz zu finden scheinen und der von einem gesamteuropäischen Expeditionskorps niedergeschlagen wird. Und ist nicht die Europa-Idee, ohne die die heutigen europäischen Institutionen nicht denkbar wären, aus dem Geist des europäischen Widerstands gegen die Okkupation Europas durch das nationalsozialistische Deutschland und dann als Antwort auf die Bedrohung Westeuropas durch Stalin entstanden? Nüchtern betrachtet ist die Identität Europas über Jahrhunderte hinweg negativ bestimmt gewesen. Von der Schlacht von Salamis, bei der 480 v. Chr. eine griechische Flotte die persische Eroberungsstreitmacht vernichtete, bis ins Zwanzigste Jahrhundert lautet die bedrückende Wahrheit dieses Kontinents, daß Europa sich immer nur gegen etwas, nie für etwas zusammenschließen wollte; „die auffälligste Schwäche der europäischen Idee," so sagt es der britische Historiker Geoffrey Barraclough, „ist, daß sie stark nur so lange bleibt, wie die Bedrohung Europas stark bleibt; es ist eine befristete Einheit, die auf einer zeitweiligen oder auch nur vermuteten Gemeinsamkeit der Interessen beruht und schnell zerfällt, sobald der unmittelbare Zweck weniger drängend ist." Das ist die augenblickliche Situation Europas: Ohne die beiden großen Despoten des 20. Jahrhunderts, Hitler und Stalin, wäre die europäische Einigungsbewegung nicht entstanden. Eine Generation, die weder die nationalsozialistische noch die stalinistische Diktatur erlebt hat, die sich zudem derzeit aus dem Osten kaum bedroht fühlt, neigt dazu, das reale Europa eher als Ärgernis anzusehen, als ein Gewirr von bürokratischen Institutionen, deren Handeln oft schwer zu verstehen ist, als einen
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Kontinent von Butterbergen und Milchseen, als ein Feld der mörderischen Konflikte zwischen holländischen und französischen Schweinezüchtern, aber ohne inneren, geistigen Zusammenhang, ohne wirkliche Notwendigkeit und Legitimation. Stattdessen scheint die Perspektive der Nationalstaaten ein weiteres Mal den Blick auf die europäischen Gemeinsamkeiten zu verstellen; selbst in Fragen grundsätzlicher gemeinsamer Interessen, wie denen der Friedenssicherung oder des Umweltschutzes unterscheiden sich die Einstellungen und Verhaltensweisen nicht nur der nationalen Regierungen, sondern auch der Völker. Der Glaube überzeugter Europäer der vierziger und fünfziger Jahre, der Nationalstaat sei lediglich Folge einer überholten Ideologie und könne beliebig abgeschafft werden, ist mittlerweile an der Realität der bestehenden politischen und geistigen Strukturen Europas zerschellt: Die europäischen Nationen, im Anfang des 19. Jahrhunderts noch utopische Gebilde in den Köpfen intellektueller Minderheiten, erweisen sich in der Gegenwart als lebendige kulturelle und geistige Wesen, die die Wirklichkeit des Kontinents weitaus stärker bestimmen als die Hoffnung Europa. Das liegt nicht nur daran, daß die politischen und rechtlichen Institutionen der Staaten einstweilen noch stärker sind als die der Europäischen Gemeinschaft; tatsächlich spricht viel dafür, daß die kulturellen und gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten Europas die Unterschiede auf diesen Gebieten weit übertreffen. Der Berliner Sozialhistoriker Hartmut Kaelble konstatiert geradezu „eine zunehmende Angleichung der europäischen Gesellschaften, die in einigen Aspekten sehr weit ging und dort zwischen westeuropäischen Ländern zu Ähnlichkeiten führte, wie man sie auch zwischen amerikanischen Bundesstaaten" finde.6 Das entscheidende Hindernis für ein starkes europäisches Identitätsgefühl liegt aber in den Köpfen der Menschen. Denn weil die Menschen ihre Gemeinsamkeit stets als gemeinsame Vergangenheiten empfinden, erkennen sie sich in erster Linie in ihren nationalen Geschichten wieder; „eine Nation," so sagt es der französische Soziologe Edgar Morin, „wird durch ein kollektives Gedächtnis und durch gemeinsame Normen und Regeln zusammengehalten. Die Gemeinschaft einer Nation schöpft aus einer langen Vergangenheit, die reich ist an Erfahrungen und Prüfungen, Leid und Freude, Niederlagen, Siegen und Ruhm, die in jeder Generation jedem Individuum durch Elternhaus und Schule weitervermittelt und von ihm tief verinner licht werden ..."7 6
H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1918, München 1987, 157. 7 E. Morin, Penser L'Europe, Paris 1987, 168.
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Im historischen Gedächtnis der Europäer steht deshalb die nationale Identität im Vordergrund; wie man den Wald manchmal vor Bäumen nicht sieht, nehmen die Europäer ihren Kontinent vor lauter Nationen nicht wahr. Wir müssen also versuchen, Europa zu denken, damit es lebendige Wirklichkeit werden kann. Dazu hilft der Blick auf das gemeinsame Erbe; es geht darum, die europäische Geschichte neu zu lesen, um die europäischen Gemeinsamkeiten im Guten wie im Bösen, in den Chancen wie in den Gefährdungen aufzuspüren und darum, diejenigen roten Fäden zu entdecken, die die Identität Europas über Jahrhunderte, vielleicht sogar über Jahrtausende zusammenhalten. Haben wir dies getan, wird uns auch die Antwort auf die Frage leichter fallen, was Europa denn in Wirklichkeit sei, was es sein kann und was es sein soll. Wenn wir also den Versuch unternehmen, die Identität Europas aus seiner Geschichte heraus positiv zu bestimmen, stehen wir vor einem schwierigen Unternehmen, weil es von Anfang an mit einem scheinbaren Widerspruch belastet ist: Wer nach einem definitiven Anfang Europas oder nach einem durchgehenden, einheitlichen Charaktermerkmal sucht, vor dessen Augen verschwimmt der Gegenstand. Erst, wenn man die Idee eines einheitlichen, harmonischen, klar definierten Europas aufgibt, kann man Europa entdecken: ein Europa der Uneinigkeit, der Streitigkeiten und der Antagonismen. Das Gemeinsame Europas liegt in seiner inneren Vielfalt und Widersprüchlichkeit, in seinen Brüchen und Dissonanzen: „Erst durch das Auseinanderbrechen der Christenheit," so der französische Soziologe Edgar Morin, „konnten solche ureigenen europäischen Realitäten wie der Humanismus, die Wissenschaft und die Nationalstaaten entstehen, und erst durch die Auseinandersetzungen und Antagonismen zwischen den Nationalstaaten konnte sich der Begriff Europa verbreiten und durchsetzen."8 Die Vielfalt Europas zeigt sich auf allen Ebenen. Das beginnt mit den Landschaften; Gebirge, Ebenen, Seenplatten, Wald- und Heidegebiete, die sich in Asien, in Amerika oder Afrika gleichförmig über immense Weiten erstrecken, liegen in Europa nahe beieinander; daher auch die bunte Vielfalt der Art, wie die Menschen den Boden nutzen, ihre Nahrungsmittel erzeugen, Häuser, Städte und Straßen bauen. Nicht anders die Sprachen Europas; gewiß ist das Indoeuropäische gemeinsamer Sprachgrund fast aller europäischen Idiome, aber die sprachliche Fragmentierung, von den großen slawischen, lateinischen und germanischen Sprachfamilien bis hinunter in die regionalen Dialektabweichungen ist
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Ebd., 29.
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die wichtigste Ursache für die bleibende Vielfalt der Regionen, Völker und Staaten und für die Hindernisse, die einem einheitlichen Europa entgegenstehen. Und wie die Sprachen sondern sich die vielen Kulturen voneinander; das gilt nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern auch in anderer. Da ist die tiefliegende Schicht der ursprünglichen Kultur des Volkes, keineswegs so archaisch-dauerhaft, wie romantische Volkskundler geglaubt haben, sondern durchaus entwicklungsfähig und veränderbar, aber doch mit Wurzeln, die weit in die europäische Frühzeit hineinreichen und auf untergründige Weise unsere heutige Welt mit heidnischen Lebensformen verbinden. Darüber hat sich die Kultur der allgegenwärtigen christlichen Kirche gelegt, die zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise Lebensstil und Denken der Europäer geformt hat, die aber auch ihrerseits in Kirchenspaltungen, Reformationen und Glaubenskriegen höchst gegensätzliche Ausformungen ausgebildet hat. Und schließlich die humanistische Kultur, die Kultur eines spekulativen, ketzerischen, weltlichen Denkens, das zu allem führen kann, zur aufgeklärten Vernunft wie zur mörderischen Ideologie. Alle diese Kulturen durchdringen und bekämpfen einander zugleich, sie bestimmen Epochen, um in den folgenden zu vergehen und noch später in verwandelter Gestalt wiederzukehren: So bleiben Griechenland, Judäa, Rom, das Mittelalter Teile unserer Gegenwart. Wie in einem Webstuhl schießen die verschiedenen Fäden der vielen Kulturen von einem Land Europas zum anderen, aus einer Epoche in die nächste, überkreuzen sich gegenseitig und ergeben schließlich das bunte Muster, in dem die Einheit der europäischen Kultur besteht. Und schließlich die Vielfalt der Milieus, der Regionen und vor allem der Staaten: Europa ist nie anders als politisch zerstückelt zu denken gewesen. Die europäische Geschichte ist auch eine Geschichte der Kriege zwischen den Staaten Europas, aber gerade hierin zeigt sich ihr Paradox: Während die Staaten Asiens über die Jahrtausende hinweg entweder schnell entstehen und vergehen oder aber zu großen, despotischen Hegemonialmächten aufsteigen, balancieren sich die vielen Staaten Europas für die Dauer gegenseitig aus. Das Heilige Römische Reich konnte nur deshalb bis 1806 bestehen, weil es gestaltlos und ohne Macht war und innerhalb seines Rahmens einer Vielzahl von Staaten eine weitgehend souveräne Existenz erlaubte; und Ähnliches galt für Europa in größerem Maßstab. Immer, wenn ein Staat soviel Macht zusammenballte, daß er Europa zu beherrschen drohte, schlössen sich die übrigen Staaten zu Koalitionen zusammen, um die Übermacht eines Einzelnen zu verhindern; war der Herausforderer niedergeworfen, kam es zu neuen Machtungleichgewichten, die zu neuen Bündnissen und neuen Kriegen
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führten. Dabei blieb aber der Besiegte Teil des Ganzen, wurde nicht einfach von der Landkarte gewischt, sondern als gleichberechtigter Partner im europäischen Machtgeflecht akzeptiert- die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts blieben lange die große Ausnahme. So bildete sich trotz häufiger Kriege ein relativ stabiles europäisches Mächte-Gleichgewicht heraus, dessen Balance rechtlich geregelt war: Das ius publicum europeum, das europäische Völkerrecht entstand und damit ein Instrument des vernünftigen Ausgleichs zwischen den Staaten, das bis zum Ersten Weltkrieg seine Funktionsfähigkeit zur Aufrechterhaltung der europäischen balance of power unter Beweis stellte. Damit ist eins der entscheidenden Elemente europäischer Identität gewonnen: Die Pluralität der Ideen, Kulturen, Regionen und Staaten, die sich dadurch auszeichnet, daß die Vielfalt bleibt, also nie für längere Zeit der Vorherrschaft einer Idee, einer Kultur oder eines Staates anheimfällt. Jeder Versuch der Hegemonie ruft Gegner auf den Plan, und aus der Auseinandersetzung entsteht früher oder später neue Heterogenität. Das gilt auch für Religionen und Ideologien; selbst das für Europa so prägende Christentum hat schließlich den Kampf um die geistige Vorherrschaft aufgeben müssen, nachdem es bereits zuvor in einander widerstreitende Konfessionen zerfallen war. Das gilt für kulturelle Ausdrucksformen, die für sich Alleingültigkeit beanspruchen; die französische Hofkultur des 17. und 18. Jahrhunderts etwa, die Geist und Politik Europas in ihrer Epoche beherrschte, unterlag schließlich den romantischen Nationalkulturen des 19. Jahrhunderts. Das gilt insbesondere für das europäische Staatensystem, dem es stets gelang, Vorherrschaftsansprüche seiner Mitglieder zurückzuweisen, ob es sich um Schweden im 17., Frankreich im 18. und 19. oder Deutschland und Rußland im 19. und 20. Jahrhundert handelte; erst Hitlers wahnwitzige Weltherrschaftspläne sollten die Selbstregulierungskraft Europas überfordern, die Rettung kam über den Atlantik und aus der asiatischen Steppe. Das Überdauern der Vielfalt durch Selbstregulierung ist aber auch in einem weiteren Bereich zu beobachten: in dem der Innenpolitik, in dem Verhältnis der Staaten zu ihren Bürgern und in den Beziehungen der Bürger untereinander. Der balance of power, also dem rechtsförmig geregelten Ausgleich zwischen den politischen Kräften im Staatensystem, entspricht das Prinzip der Demokratie: Hier geht es um den Ausgleich zwischen den Interessen der Bürger und ihrer Vereinigungen auf rechtsförmiger Grundlage, meist in Gestalt einer Verfassung; nicht nur die Rechte, Pflichten und Interessen der einzelnen Bürger werden ausbalanciert, sondern auch die Befugnisse der staatlichen Institutionen, um deren Macht zu begrenzen.
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Und wieder sieht man, wie schwierig es ist, Europa zu definieren; denn offenbar ist die Demokratie keineswegs diejenige Regierungsform, die in der europäischen Geschichte überwiegt, und was sich im Einzelnen hinter dem Begriff verbirgt, ist höchst unterschiedlich. Die „Demokratie" der griechischen Antike beruhte auf der Volksversammlung und auf der jährlichen Bestimmung der Herrschenden durch Losentscheid; die moderne Demokratie, zusammengesetzt hauptsächlich aus Elementen der britischen und der französischen Verfassungsgeschichte, beruht auf Repräsentation und Ämterwahl. Und zwischen beiden Regierungsformen klafft ein zeitlicher Abstand von fast zweitausend Jahren; weder die römische Staatspraxis noch das Mittelalter kannten die Demokratie, und in der frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war sie lediglich ein Wort der Gelehrtensprache. Seit der Französischen Revolution gelten aber Idee und Praxis der Demokratie als Inbegriff jeder fortschrittlichen europäischen Verfassung; im imperialistischen Zeitalter und erst recht nach dessen Niedergang strahlte das europäische Demokratiemodell von Europa auf die gesamte Welt aus, und wenn auch heute nur eine Minderheit von Staaten im Sinne der klassischen europäischen Verfassungstheorien als demokratisch angesehen werden kann, so besitzt das Modell doch so viel Legitimationskraft, daß Diktaturen jeder Richtung sich mit dem Wort zu schmücken lieben, bis hin zu dem sonderbaren NonsenseBegriff „Volksdemokratie". Um dergleichen Scheindemokratien von der Demokratie aus europäischer Tradition zu unterscheiden, hilft es, sich weiterer Elemente bewußt zu werden, die zur Identität Europas beitragen. Da ist vor allem an die Idee der Freiheit zu denken, in der antike und neuzeitliche Demokratie zusammentreffen. Als Europa das erste Mal in seiner Geschichte als politischer Begriff auftauchte - zur Zeit der Perserkriege, als Gegenbegriff zu Asien - wurde es durch die bei den Griechen herrschende Freiheit definiert, und zwar durch Freiheit in ihren zwei wichtigsten Bedeutungsformen, die sich bis heute erhalten haben: als Unabhängigkeit von Fremdherrschaft und als Entfaltungsmöglichkeit der Einzelperson in einer freien Regierungsform, eben der Demokratie, wie Platon sie sieht: „Nicht wahr, an erster Stelle steht doch dies, daß sie freie Menschen sind und daß der Staat förmlich überquillt von Freiheit und Schrankenlosigkeit im Reden und daß jeder in ihm die volle Möglichkeit hat zu tun, was er will."9 Seither hat das Wort „Freiheit" eine Unzahl der verschiedensten Bedeutungsvarianten, Gegenbegriffe und Konnotationen erfahren, aber
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Platon, Politeia, 557b.
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Platons Definition vom Zusammenhang der Freiheit mit der Demokratie ist im Kern bis heute gültig; sie kann als Maßstab dafür gelten, ob wir es mit wirklicher Demokratie zu tun haben oder aber mit der verbrämten Diktatur einer Einzelperson, eines Apparats oder einer Partei. Mit der durch Verfassung und Recht geschützten, durch die Idee der Freiheit normierten Vielfältigkeit Europas ist ein weiterer, vielleicht der wichtigste rote Faden unserer gemeinsamen Identität verknüpft: die Behauptung von der individuellen Würde jedes einzelnen Menschen als letztem Wert und letztem Ziel jeder Ordnung. Das hat seine Wurzel einerseits in der antiken, vor allem stoischen Lehre von der Einmaligkeit jedes Einzelwesens, zum anderen in der christlichen Vorstellung von der Würde des Einzelmenschen als Ebenbild Gottes. Da jedes Individuum, mit Ranke zu reden, „gleich zu Gott ist", besitzt es gegen seine Mitmenschen wie gegen jede Organisation unveräußerliche Rechte, die seit Jahrhunderten, in Abwehr absolutistischer Herrschaftsansprüche, in besonders feierlicher Form kodifiziert worden sind - man denke etwa an die britische Habeas-Corpus-Akte von 1679, mit der willkürliche Verhaftungen eingeschränkt wurden, an das Potsdamer Edikt von 1685, mit dem den brandenburgischen Untertanen Religions- und Gewissensfreiheit zugesichert wurde, an die Virginia Bill of Rights von 1776, die zum ersten Mal einen Katalog der unveräußerlichen Menschenrechte enthielt, und vor allem an die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung von 1789, wohl die größte und folgenreichste Leistung der Französischen Revolution. Denn von nun an galt als Voraussetzung eines demokratischen Staatswesens, daß die Würde jedes einzelnen Menschen natürlich, unveräußerlich und heilig sei und daß der Zweck des Staates in nichts anderem bestehe als in der Wahrung der Menschenwürde und der daraus folgenden Rechte. Und das hatte nicht nur weitreichende Folgen für die politische Ordnung Europas, sondern auch für die europäische Kultur. Denn damit war anerkannt, daß dem Denken und der Meinungsäußerung von Staates wegen keine Fesseln angelegt werden dürfen und daß frei sein solle, was als letztes Element europäischer Identität zu nennen ist: die menschliche Vernunft. Max Weber hat von dem „Rationalisierungsprozeß" als einem ausschließlichen und bestimmenden Wesenszug Europas gesprochen und an diesem Leitfaden die Kontinuität des Kontinents von den Griechen bis zur Gegenwart entwickelt. Rationalisierung, Logik, Entzauberung prägen den Verlauf der europäischen Geistesgeschichte; das heißt Wissenschaft, das heißt Mathematisierung und Technisierung, das heißt rationale, bürokratische Herrschaft. Mit einem Wort: Die Entdeckung der Vernunft verlieh den Europäern ein Instrument zur Beherrschung der
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Natur wie der Menschen, wie es in anderen Weltgegenden nie auch nur in annähernd ähnlicher Effektivität entwickelt worden ist. Rationalismus ist das Geheimnis der jahrhundertelangen europäischen Weltherrschaft, von der Waffentechnik bis zur Verwaltung, und wenn es heute eine Weltkultur jenseits aller nationalen und regionalen Besonderheiten gibt, dann auf der Grundlage der europäischen Idee wie der europäischen Anwendung von Vernunft. Vernunft heißt aber nicht nur Herrschaft; sie bedeutet auch Kritik, denn sie ist dem Glauben entgegengesetzt. Mit ihr ist der Geist des Zweifels, der Skepsis und der Ironie in das europäische Denken eingetreten, der jede Gewißheit in Frage stellt, einschließlich der Gewißheit der Vernunft selbst. Aus dem dauernden Widerspruch von Gewißheit und Zweifel hat Europa die Lebendigkeit, Wandelbarkeit und Fruchtbarkeit seiner Kultur gezogen; der Pendelschlag zwischen Vernunft und Glaube, Mythos und Logos, Aufklärung und Romantik, Tradition und Fortschritt bestimmt den Takt, in dem die Kultur Europas, während sie sich selbst unablässig in Frage stellt, unaufhörlich neu entsteht. Von hier aus spannt sich der Bogen zurück zu unserem Ausgangspunkt auf der Suche nach Bestandteilen der europäischen Identität: zur Vielfalt in der Einheit, entsprungen aus der Idee der Individualitäten und ihres Vorrechts vor der Uniformität, gegeneinander ausbalanciert und geschützt durch rationale Institutionen und Verfassungen auf der Grundlage der Idee der Freiheit und der Menschenrechte, geordnet nach den Prinzipien des Interessenausgleichs und der Demokratie. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: dies ist ein Idealbild. Es setzt sich zusammen aus wesentlichen Elementen, die die Geschichte Europas, und nur Europas, hervorgebracht hat, aber keineswegs aus allen diesen Elementen. Ein Blick von außen auf unseren Kontinent kann auch zu ganz anderen Wahrnehmungen führen. Die Geschichte Europas ist auch die Geschichte der unaufhörlichen Kriege, die Schattenseite der Buntheit und Widersprüchlichkeit - tatsächlich ist die Periode vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute die längste Friedenszeit, die Europa jemals gekannt hat, und wie gefährdet dieser Frieden bereits wieder an der europäischen Peripherie ist, wissen wir alle. Die Geschichte Europas ist auch die Geschichte von Unterdrückung, Gewissenszwang und blutiger Diktatur; die kalte Effektivität der fürchterlichsten Massenvernichtung der Geschichte, des nationalsozialistischen Holocaust, war in ihrer Rationalität spezifisch europäisch- eben gerade nicht „asiatische Tat", wie Ernst Nolte meint. Die Geschichte Europas ist auch die Geschichte des Kolonialismus, der Unterwerfung und Unterdrückung der übrigen Welt, ihrer Ausbeutung und ihres Ausblutens im Dienste des Wohlstands
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unseres eigenen Erdteils. „Wenn man mir sagt, daß Europa das Land des Rechts ist, so denke ich an Willkür," schreibt der französische Historiker Jean-Baptiste Duroselle; „daß es das Land der Menschenwürde ist, so denke ich an Rassismus; daß es das Land der Vernunft ist, so denke ich an romantische Schwärmerei. Und Gerechtigkeit finde ich auch in Pennsylvania, Menschenwürde auch bei den arabischen Nationalisten, Vernunft überall auf der Welt, wenn man davon ausgeht, daß, wie Descartes sagt, der gesunde Menschenverstand die am weitesten verbreitete Sache der Welt sei" 10 - wobei Descartes allerdings Erasmus von Rotterdam widerspricht, für den die weitestverbreitete Sache der Welt die Torheit war. Und sind nicht alle jene Merkmale, die wir als europäische Eigenarten herausgearbeitet haben, auch mit einer finsteren Seite versehen? Ist nicht die Idee der Demokratie bereits seit der Französischen Revolution durch blutige Verbrechen im Namen des Volks beschmutzt, ist nicht die Idee der Freiheit auch Vorwand für Anarchie und Willkür von Minderheiten gewesen, steht nicht die Vernunft auch im Dienst diktatorischer Unterdrückungsapparate, der Perfektionierung des Kriegsgeräts, der Zerstörung der Natur? War nicht die Vielfalt und Individualität der europäischen Daseinsformen Voraussetzung für den Antagonismus der Nationalstaaten und damit Anlaß für die mörderischsten Kriege, die die Menschheit kennt? So widersprüchlich und schwierig ist also unser europäisches Erbe; nicht nur sind Hell und Dunkel darin dicht benachbart, sondern das Helle ist auch stets in Gefahr, von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Wir müssen beides erkennen, um die Frage zu beantworten, was Europa ist, was es sein kann, und was es sein soll.
10 Jean-Baptiste Duroselle, L'idee d'Europe dans l'Histoire, Paris 1965, 12.
JOSEF SIMON Europa als philosophische Idee
Wenn über Europa „als philosophische Idee" gesprochen werden soll, muß zunächst bedacht werden, daß der Begriff „Idee" selbst schon etwas genuin Europäisches ist, und das gilt auch für den Begriff des „Begriffs". Selbstverständlich „gibt" es, aus europäischer Sicht, auch außerhalb des europäischen Denkens „Begriffe" oder „Ideen", bzw. das, was man im europäischen Denken so nennt, so daß es als sinnvoll erscheint, sich über die genauere Bestimmung zu streiten, nur ist diese Selbstverständlichkeit wohl wiederum „spezifisch" europäisch. Dann aber ist es auch schon „spezifisch" europäisch gedacht, wenn vorausgesetzt wird, daß der Begriff des „Denkens" - so wie wir ihn z.B. in seinem Gegensatz zu dem Begriff der „Anschauung" konzipieren - sich „von selbst" verstehe und überall eine zumindest ungefähre Entsprechung haben müsse, so daß es, da Philosophie die „denkende" Erfassung der Wirklichkeit sei, eigentlich auch keine besondere, von unserer Philosophie abgesonderte Philosophie geben könne. Es bleibt vorausgesetzt, daß wir, wenn wir z.B. von der englischen oder französischen Philosophie sprechen, die in englischer oder französischer Sprache verfaßte „allgemeine" Philosophie meinen, deren Überlegungen wir über die Sprachgrenzen hinweg ohne weiteres in das eigene Denken einbeziehen und uns „aneignen" können. Vorausgesetzt ist, es werde entweder „richtig" oder überhaupt nicht gedacht. Das Denken des einen müsse mit dem eines jeden anderen kompatibel und entsprechend übersetzbar sein; jedes müsse sich auf jedes andere beziehen, sich mit jedem anderen „auseinandersetzen" können, und das tertium comparationis sei „die" Wirklichkeit. Die Erfahrung, daß vieles „schwer" zu verstehen ist, machen wir schließlich auch innerhalb derselben Sprache, und auch hier stellt sich die Frage, ob wir den Grund der Schwierigkeit dem uns „fremd" erscheinenden Denken oder uns selbst zurechnen und wie lange wir dem, was uns unverständlich ist, einen „Sinn" unterstellen wollen. Eine Grenze für dieses hermeneutische Entgegenkommen wird es aber wohl geben müssen, so schwer sie auch allgemein zu ziehen sein mag.
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Die Frage nach der Übersetzbarkeit eines Denkens, das sich in außereuropäischen, „exotischen" Sprachen ausdrückt, beantworten wir in der Regel weniger optimistisch. Wir sind nicht so sicher, ob es sich auch in dem, was in diesen Sprachen ausgedrückt wird, um ein „Denken" nach unserem Begriff des Denkens handelt, den wir damit schon als einen speziell „europäischen" in Betracht ziehen. Andererseits hat aber gerade die Schwierigkeit, die sich mit solch einem „Denken" ergibt, ihren besonderen Reiz. Sie bewirkt eine ästhetische Anziehung. Die Fremdheit der Sprache^ vor allem das Fehlen grammatischer Formen, die uns von der „gemeinsamen Grammatik" der europäischen Sprachen her als „grundlegende" Formen des Denkens erscheinen, macht es uns schwerer, das für uns schwer Übersetz- und daher auch schwer Denkbare unmittelbar von uns aus als „irrational" zu bezeichnen; wir sehen vielmehr unseren heimischen Begriffdes Rationalen „in Frage" gestellt, ohne schon im Fremden einen anderen zu finden. Es erscheint uns von daher als eine spezifisch europäische Idee, daß „das" Denken „in Begriffen" und „unter Ideen" die „Wirklichkeit" erschließen solle und daß man denken könne, daß dies „möglich" und daß „die" Wirklichkeit überhaupt etwas im Denken zu „Erschließendes" sei. Daß wir innerhalb des europäischen Denkens solche gemeinsamen Voraussetzungen annehmen und größere Schwierigkeiten haben, „Entsprechendes" in Kulturen und Lebensformen außerhalb Europas zu entdecken, scheint doch eher für den Gedanken eines spezifisch europäischen Denkens zu sprechen und angesichts der Gleichsetzung seiner „Formen" mit Formen „der Wahrheit" zur Vorsicht und Besonnenheit zu mahnen. II
Das gemeinsam Europäische führen wir zumeist „genealogisch" auf einen gemeinsamen Ursprung der Philosophie bei den Griechen zurück. Insofern war Europa stets eine philosophische Idee. Wenn man jedoch das europäische „Denken" bei den Griechen, genauer mit den „Vorsokratikern", mit Thaies von Milet oder Parmenides von Elea beginnen läßt, der einen markanten „Anfang" dezidiert normativ formuliert, ist das eine Markierung, die sich erst aus einem späteren Selbstverständnis ergibt, das gerade hier „seinen" Anfang findet. Wenn Thaies sagt, daß „alles Wasser" sei, interessiert uns an diesem Satz heute weniger der seltsame Inhalt als die Form der Allaussage. Wir hören diesen „vorsokratischen", also schon von später her in eine bestimmte Geschichte der Philosophie eingeordneten oder ihr vorgeordneten Philosophen sä-
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gen, „alles" sei nicht das, als was es uns erscheint, sondern „in Wahrheit" etwas anderes, als das es uns gerade nicht erscheint, denn das Erscheinende sei vielfältig. Demnach beginnt das europäische Denken mit der Aufhebung aller Besonderheiten oder damit, daß sich „Denken" (als „Logos") von der vielfältig unterscheidenden mythischen Weltorientierung abzusetzen beginnt, die eben noch nicht oder doch noch nicht „wesentlich" dachte, sondern noch unbedacht erzählte, was zur Orientierung im Gedächtnis geblieben war. Am Anfang hätte danach um der Einheit des Gesichtspunktes willen eine Negation der Vielfalt der Voraussetzungen der Weltorientierung gestanden, als Negation der mythischen Vielfalt handelnder göttlicher „Personen", die meist nicht in ihrem Willen und in ihren Handlungen „übereinstimmen". Der bekannteste Satz aus dem Lehrgedicht des „Vorsokratikers" Parmenides, den schon Platon als den „Vater" der Philosophie bezeichnet, setzt „Denken" (noein) und „Sein" (einai) gleich, indem er sie als „dasselbe" (to auto) aussagt. Dieser „Grundsatz" der europäischen Philosophie ist für sich genommen rätselhaft. Was heißt „dasselbe", wenn es gegen den offensichtlich erfahrbaren Unterschied von „Denken" und „Sein" gesetzt wird? Heute liegt die Auslegung nahe, daß (nur) „das Denken" den wahren Zugang zum Seienden, so wie es im Unterschied zu seiner „sinnlichen Erscheinung" „in Wahrheit" sei, bietet, so daß vom Denken her Sein und Gedachtsein „dasselbe" seien. Gemeint ist im Zusammenhang dieses Gedichts aber doch eher, daß das Denken umgekehrt von seinem Sein her mit allem Seienden verbunden sei. Es heißt in diesem Zusammenhang: „Dasselbe aber ist Denken und des Gedankens Gegenstand. Denn du kannst das Denken nicht ohne das Seiende antreffen, in dem es ausgesprochen ist. Denn es gibt nichts außer dem Seienden."1 Das Seiende, in dem das Denken ausgesprochen ist, ist die Sprache; die Frage verlagert sich demnach im Grunde auf das Sein der Sprache, in der das Denken sich darstellt und insofern ist. Aus moderner Sicht möchte man fragen, woher Parmenides das „wisse", und denkt damit, so wie es uns heute als selbstverständlich erscheint, vom Denkenden her. Das Denken unter der Voraussetzung der Selbigkeit von Denken und Sein im Sein ist bei Parmenides aber kein (in sich notwendiger) Gedanke, sondern ein Gebot. Er denkt es nicht selbst und „lehrt" es auch nicht im eigenen Namen, sondern vernimmt und verkündet es als Gebot der Dike, der Göttin der Vergeltung. Denken ist hier
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Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1951, 238, Parmenides, Fragment 8.
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noch kein „subjektiver Akt"; es soll gerade nicht als „eigenes", von anderem Denken verschiedenes Denken verstanden werden. Nur das Seiende ist; das Nichtseiende, von dem man spricht, wenn man sich Unterschiedliches vorstellt, und von dem das eine ist, was das andere nicht ist, soll, um Vergeltung und Unglück zu vermeiden, überhaupt nicht gedacht werden. Das Seiende soll auch nicht als aus dem Nichtseienden geworden gedacht werden. „Man darf weder denken noch aussprechen, daß es nicht vorhanden wäre." „So muß es denn schlechthin vorhanden sein oder überhaupt nicht." - Das bedeutet das Nichtsein bzw. die Scheinhaftigkeit aller zeitbedingten Weltorientierung und damit zugleich die Unmöglichkeit wahrer menschlicher Aussagen als Aussagen über das ungeteilte und vom Nichtsein freie Sein. Aussagen „machen" schon ihrer reinen Form nach Unterschiede. Nach Parmenides gebietet die Göttin der vergeltenden Gerechtigkeit, den Mythos zu verlassen und „logisch" zu sein. Das Gebot ist selbst noch mythisch. Vom Nichtseienden zu sagen, daß es sei, ist in sich widersprüchlich. Daraus allein folgt nicht, daß man Widersprüche vermeiden solle. Das Gebot der Widerspruchsfreiheit ist, als Gebot der Göttin, nicht logisch, sondern „fundamental"; es verbietet im Grunde den Gebrauch unterscheidender „Begriffe", die als solche am Nichtsein teilhaben. Damit verbietet es im Grunde die menschliche Sprache oder doch deren philosophischen Gebrauch als Wahrheitsbezug. Daß eine Göttin spricht, immunisiert Parmenides gegen den Einwand, diese onto-logische „Lehre" als seine eigene Position auszusprechen und sich „polemisch" gegen anderslautende „Lehren" und damit Lehre gegen Lehre zu stellen. Andere philosophische „Positionen" waren zu dieser Zeit durchaus bekannt, z.B. die des älteren „Vorsokratikers" Heraklit, der lehrte, daß „alles" im Fluß und gerade die polemische Auseinandersetzung der „Vater aller Dinge sei".2 Zuvor hatte Anaximander in ebenfalls mythisch-rechtlicher Diktion gelehrt, daß die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen „einander Sühne und Buße" leisteten für ihre „Ungerechtigkeit" gegeneinander gemäß der „Verordnung der Zeit". Die Zeit ist hier das einzig Beständige. Sie läßt die Dinge wegen ihres unterschiedlichen Seins, in dem sie am Nichtsein teilhaben, vergehen. Die Position des Parmenides, die die Idee des einen Seins in feierlich-mythischer Sprache zu einem europäischen „Grundbegriff" erhob, war selbst schon eine Gegen-Position im Streit um das Sein,3 man kann sogar sagen: im persönlichen Streit um die Aufhe-
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Ebd., S. 171 bzw. 162, Heraklit, Fragment 91 bzw. 53. Vgl. Platon, Sophistes, 246 a.
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bung der Differenz von „Personen" gegenüber den „Dingen" und der Frage nach deren Sein. Es ist eine charakteristische Merkwürdigkeit des europäischen Denkens, daß es sich in seinen frühen Ansätzen „grundsätzlich" auf „Dinge" und nicht etwa auf Personen bezieht. Die „metaphysische", den universellen Überblick über alles voraussetzende Frage, was „alles" sei, hatte schon vor jeder näheren Antwort „alles" gleichermaßen zu Dingen erklärt. Von „Dingen" geht die abendländische Wissenschaft grundsätzlich aus. In der Neuzeit kommt zwar die Bewegung, aber als Bewegung von Dingen hinzu, und es wird nach bleibenden Gesetzen dieser Bewegung gefragt. Daß Personen mit dem, was Personen „bewegt", nicht gleichermaßen „ursprünglich" in den Blick kommen, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, welche Dinge als Personen zu beachten seien und was man „über" Personen allgemein sagen könne, nicht aber in dem, was sie aufgrund ihrer Differenzen gegeneinander einander zu sagen hätten, blieb für den Begriff der Wahrheit im Sinn der verifizierenden Methode der europäischen „Wissenschaft" konstitutiv. Sie konnte nur auf dem Boden des dingorientierten Ansatzes entstehen. Die Personen, deren individueller Einbildungskraft sich die europäische Wissenschaft in ihren maßgeblichen Entwicklungsstufen verdankt, treten hinter ihre „realistisch" verstandenen Lehren über die „Natur der Dinge" zurück, wenn auch ihre „Lehren" mit ihrem persönlichen Namen verbunden bleiben. Die europäische Philosophie hat wesentlich eine Geschichte, in der sich jeweils die jüngeren Positionen gegenüber den älteren als „Aufklärung" und „Fortschritt" im Sinne der Annäherung an die „Idee" eines umfassenden Wissens verstehen. Die aus dieser Philosophie erwachsene Wissenschaft begreift sich selbst nur in Ausnahmen als „polemisch". Sie nimmt die älteren Stufen als Spezialfälle in sich auf. Die umfassende Einheit erscheint als die zu erreichende und insofern immer noch gebotene europäische philosophische „Idee". Der frühere Standpunkt hatte sich jedoch zu seiner Zeit ebensowenig als Teilaspekt verstanden wie der ihm gegenüber „umfassendere" spätere Standpunkt. Bei Platon ist schon vom Mord am „Vater" Parmenides die Rede.4 Dessen archaisch starre, mythisch verankerte Lehre wird in einem Streitgespräch erörtert, bei dem verschiedene „Standpunkte" zu Wort kommen, aber doch im Interesse der Überwindung ihrer Besonderheit. „Um der Wahrheit willen" will sich Sokrates widerlegen lassen, und er erwartet dasselbe von jedem Gesprächspartner.5 Die dialogische Erörte4 5
Platon, Sophistes, 241 d. Vgl. Platon, Gorgias, 458 a 3-5.
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rung soll logisch „erzwingen" (biazesthai), „daß sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht sei, als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht sei". Ohne Berücksichtigung der Hinsichten verschiedener Personen werde „kaum jemand imstande sein, von falschen Reden und Vorstellungen zu reden".6 Die Platonische „Ideenlehre", dergemäß die Philosophen die Wahrheit privilegiert „erschauen", wird dialogisch ausgehandelt, und insofern schließt sie einen methodischen Kompromiß mit der göttlich inspirierten „Lehre" des „Vaters" Parmenides, die zu denken gebietet, daß nur das Seiende (zu denken) sei. Die Göttin hätte zu Menschen, die „Dinge" unterscheiden und insofern auch vom Nichtseienden sagen, daß es sei, eigentlich nicht reden können. Eigentlich hätte sich schon hier die Frage nach der Übersetzung aus einer göttlichen in eine menschliche Sprache als das hermeneutische Problem eines divinatorischen Verstehens stellen können; denn diese Frage stellt sich überall dort, wo einer „besser" zu verstehen denkt als ein anderer. Wenn außer dem einen Sein aller Dinge auch ihre Verschiedenheit bedacht werden soll, muß das Nichtsein gelten gelassen werden: eines ist, was das andere nicht ist. Dieses Problem wiederholt sich auch dann, wenn nicht mehr von einzelnen Dingen, sondern von ihren „Ideen" die Rede sein soll. Das Nichtsein betrifft dann sogar nicht mehr nur das menschliche Reden, sondern auch schon die rein im Denken als das wahrhaft Seiende zu erfassenden „Ideen". Damit betrifft der Widerspruch das Sein des Denkens und damit das Sein als „es selbst". Es wird als „es selbst" in Frage gestellt und „zerdacht". Das europäische Denken hat sich gleich zu Beginn (soweit wir es, so wie wir es verstehen, zurückverfolgen können) in Aporien verstrickt, die es von sich aus nicht auflösen kann. Es steht von Anfang an vor der Frage, die Parmenides in dem nach ihm benannten Platonischen Dialog Sokrates stellt: „Was denkst du also zu tun in betreff der Philosophie? Wohin willst du dich wenden, wenn dir diese Frage ungelöst bleibt?" und Sokrates kann darauf nur antworten: „Ja, ich vermag das zur Zeit noch nicht recht abzusehen."7 Diese Aporetik hält Sokrates nun jedoch für „vollkommen wahr" (alethestata);8 der Widerspruch wird bewußt stehengelassen. Es ist eingesehen, daß das Gebot, ihn zu vermeiden, sich nicht erfüllen läßt, wenn es darum geht, die Voraussetzung des Seinsbezuges des Denkens selbst zu begründen. 6 7
Platon, Sophistes, 241 d 2-7. Platon, Parmenides, 135 c 5-6.- Es geht hier um den Gedanken, daß man dann, wenn man „nicht für jede besondere Klasse der Dinge auch eine besondere [seiende und nicht nur gedachte] Idee festsetzen" wollte, „alles Vermögen zu wissenschaftlicher Untersuchung vollständig zerstören" würde. 8 Ebd. 166 b 7-c 5.
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Aber auch Aristoteles nennt das Gebot der Widerspruchsfreiheit im Denken noch „das sicherste Prinzip unter allen" (bebaiotate ton archon). Er gilt als der Philosoph, der dieses Gebot zuerst in die Form eines Grundsatzes und damit in die Form eines Aussagesatzes umformulierte. Nach ihm ist es „unmöglich" (adynaton), daß „dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme", weil es „unmöglich" ist, „anzunehmen (hypolambanein), dasselbe sei und sei nicht".9 Damit entwickelt Aristoteles das Widerspruchsverbot aber auch weiter: Als Gebot der Göttin konnte es überall, über alle Standpunkte hinweg zu vernehmen sein. Menschen ist es aber logisch unmöglich, vom gleichen Standpunkt aus und zum gleichen Zeitpunkt „anzunehmen", daß dasselbe sei und nicht sei. Was unmöglich ist, braucht nicht verboten zu werden. Die begriffliche Identifikation von etwas als „dasselbe" in seinem Unterschied zu etwas anderem ist hier offensichtlich kein Problem mehr. Es ist vorausgesetzt, daß etwas (in seiner Unterscheidung von anderem) als „dasselbe" gegeben ist, und es wird gesagt, im Bezug darauf sei es „unmöglich" zu sagen, daß ihm, als diesem Selben, dasselbe zugleich zukomme und nicht zukomme. Dadurch, daß das Widerspruchsproblem sich nun nur noch auf den Satz und nicht mehr auf „Dinge" in ihrer Bestimmtheit gegenüber anderen „Dingen" bezieht, hat die europäische Philosophie ihren Charakter als Dingphilosophie gefestigt und die Frage nach der Begründung dieser Einschränkung hinter sich gelassen. Aristoteles verbindet den „Grundsatz" der Widerspruchsfreiheit unmittelbar mit einem zweiten Grundsatz, der dies bekräftigen soll: dem „Satz vom ausgeschlossenen Dritten". Demnach kann „zwischen den Gliedern des Widerspruchs (metaxy antiphaseos) nichts in der Mitte liegen",10 das zwischen den sich widersprechenden „Standpunkten" vermitteln könnte. Nur einer von beiden kann Recht haben, aber einer von beiden muß nun auch recht haben, ohne daß man damit schon wüßte, welcher von beiden. Damit ist die Wahrheit jedenfalls unter den Menschen zu suchen. Dieser zweite „Grundsatz" ist der Grundsatz des entschiedenen Standpunktes: Man muß an einer, d.h. mangels einer „höheren", definitiv vermittelnden Sicht: an seiner „Sicht der Dinge" und an seiner Aussage darüber festhalten, um nicht in Widersprüche zu geraten. Der Wahrheitsbegriff wird damit an die Form einer Aussage über etwas aus der Perspektive des Urteilenden gebunden. Das ist gewissermaßen ein Vorbegriff der „modernen" europäischen Subjektivität.
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Aristoteles, Metaphysik, 1005 b 19-23.
10 Ebd. 1011 b 2 3 f f .
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Aristoteles vermeidet konsequenterweise eine „rein logische" Argumentation zur Begründung des eigenen Standpunktes als des überlegenen, „philosophischen". Während die Idee des „Guten" im Platonischen Idealismus der allgemeinen Problematik der Verschiedenheit auch der Ideen ausgesetzt blieb, gerade weil sie als allen anderen Ideen vorausliegende Idee ihrer Bestimmtheit gedacht wurde, verweist Aristoteles auf das „praktisch" gelingende Zusammen-Handeln von verschiedenen „theoretischen" Standpunkten aus und reflektiert auf ethische Voraussetzungen dieses tatsächlichen Gelingens.11 Seine Tugendbegriffe bezeichnen die Mitte zwischen extremen Verhaltensweisen. Mit dem Ansatz bei den Voraussetzungen eines gemeinschaftlichen Handelns in der Menschenwelt begründet er die Ethik als eigenständige philosophische Grunddisziplin neben der „Physik" der vorsokratischen „Physiologen". Im tatsächlichen Gelingen gemeinsamer Praxis soll sich zeigen, was jemand gegenüber anderen wirklich und wirksam für wahr halten kann. Aristoteles rettet die Einheit des praktischen Denkens „angesichts" der Wahrnehmung eines anderen, vom eigenen Standpunkt aus unverständlichen und insofern kommunikativ unbrauchbaren Denkens, indem er die Wahrheitsfähigkeit der Wahrnehmung negiert. Er argumentiert, nicht alles 'Wahrgenommene könne wahr sein. Dafür nennt er zwei Gründe: eine Sinneswahrnehmung (aisthesis) könne nur in dem ihr eigentümlichen Gebiete „von Irrtum frei" sein: Man sieht zwar, was man sieht, aber man hört eventuell etwas anderes. Außerdem sei „die Vorstellung (phantasia) von der Wahrnehmung verschieden".12 Man könnte sich ja auch nur „einbilden", „etwas" wahrzunehmen. Wenn es also um die Frage geht, ob in fremden Äußerungen, die man nicht versteht, aber doch wahrnimmt, dennoch „Verstand" sei, bleibt der Verstand die entscheidende Instanz, und deshalb geht es in der europäischen Philosophie um die Rechtfertigung des eigenen als des allgemeinen Verstandes, d.h. darum, daß der eigene Verstand in seinen Äußerungen als „Verstand" verstanden werden kann. „Untersuchungen über den menschlichen Verstand" bilden in der europäischen Neuzeit ein herausragendes Thema. Aristoteles beruft sich in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Fachmanns, des Gesunden und des Wachen. Fachkundigkeit, Gesundheit und geistige Wachheit sollen die Merkmale für die Verständigkeit des Verstandes sein. Die „intersubjektive" Übereinstimmung einer Mehrheit der Urteilenden kann als Kriterium nicht genügen. Es könne nicht sein, daß dann, „wenn alle krank oder verrückt" und „nur zwei bis drei 11 Vgl. Aristoteles, Politik, 1252 b 29-30. 12 Aristoteles, Metaphysik, 1010 b 1-3.
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gesund oder bei Verstande wären, diese für die Kranken und Verrückten gelten würden, nicht aber die anderen".13 Wenn Ansicht gegen Ansicht, auch die einer Mehrheit gegen die einer Minderheit steht, stellt sich die übergeordnete Frage, „wer denn den Gesunden [vom Kranken] unterscheiden solle und wer den, der über jeden Gegenstand richtig urteile",14 bestimmen könne. Für Aristoteles ist es in diesem Zusammenhang offenbar ein Argument, daß nicht „verborgen" (adelon) bleiben könne, welche von einander widersprechenden Aussagen „wahr oder falsch sei".15 Nach dem ersten Satz der Aristotelischen „Metaphysik" streben „alle Menschen (pantes anthropoi) von Natur aus (physei) nach Wissen", und zwar rein „theoretisch", auch wenn sie „nicht zu handeln beabsichtigen".16 Ihr Streben nach wahrem Wissen ist nicht an besondere Zweckgesichtspunkte gebunden; die Wahrheit ist ihr gemeinsamer „natürlicher Ort". Sie wird, um es mit Heidegger zu sagen, als um ihrer selbst willen zu entdeckende Wahrheit, als „Unverborgenheit" vorausgesetzt. Diese Voraussetzung gab dem Willen, sie zu entdecken, entscheidende Impulse und dem europäischen Wissenschaftsbegriff seinen Glauben an eine progressiv zu entdeckende Wahrheit. Wenn der Philosoph nun als derjenige angesehen wird, der sich, analog zum Arzt als dem Fachmann für die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit, auf die definitive Bestimmung der Wahrheit versteht, suggeriert das wiederum einen „höheren" Standpunkt. Der Philosoph soll gegenüber den Fachleuten für besondere Künste der „Fachmann für das Allgemeine", für eine „Praxis" sein, in der alle Fachleute sinnvoll zusammenwirken können. Er wäre demnach ein Mensch, der im „natürlichen" Wahrheitsstreben „des" Menschen als eines „von Natur aus" politischen Tiers17 durch keine speziellen Gesichtspunkte eingeschränkt ist. Damit ist die „Wesensbestimmung" des Menschen als politisches Tier (zoon politikon) seiner Bestimmung als logisches Tier (zoon logon echon) systematisch vorangestellt. Der Mensch ist sozusagen der Vermittlungskünstler zwischen verschiedenen, einander „unmittelbar" sogar widersprechenden Gesichtspunkten, und da nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten zwischen logisch Entgegengesetztem nichts sein kann, muß ihm in seiner „Phantasie" oder „Einbildungskraft" die Vermittlung einfallen. Die Phantasie wird als produktiver Faktor in das Denken einbe13 14 15 16 17
Ebd. 1009 b 3-11. Ebd. 1011 a 5-6. Ebd. 1009 b 3-11. Ebd. 980 a 21-26. Ho anthropos physei politikon zoon (Aristoteles, Politik, 1253 a 3 f.)
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zogen. Im Praktischen wird die Ausrichtung auf das „Mittlere" zwischen an sich gegensätzlichen Ideen zur Tugend. Die Tugend der Tapferkeit liegt zwischen den Untugenden Tollkühnheit und Feigheit. Der einzelne muß seine verschiedenen Sinne praktisch, d.h. unter Zweckgesichtspunkten auf seine Weise „zusammenbringen", um zweckrational handeln zu können. Der Fachmann leistet dies auf seinem besonderen Gebiet und für dessen Zwecke, der Politiker sollte die verschiedenen Zwecke der Fachleute auf den allgemeinen, politischen Zweck hin prüfen und koordinieren. Er muß handeln, als hätte er die bessere Übersicht, und es muß sich jeweils zeigen, ob sein Handeln dieser Voraussetzung entspricht. Wenn das der Fall ist, ist er tatsächlich bei den „Sachen" (pragmata). Er ist „praktisch" über den theoretisch-philosophischen Zweifel hinaus. Philosophische Zweifel (aporemata), wie und worin die verschiedenen Sinneswahrnehmungen zu vereinigen seien, entstammen demnach einer unnützen Spekulation. Sie gleichen der müßigen Frage, „ob wir jetzt schlafen oder wachen" und fordern- über die praktische Lebensnotwendigkeit hinaus - „für alles ein Prinzip" (arche), auch für das, „wofür es keinen Beweis gibt; denn des Beweises Prinzip" sei „nicht selbst Beweis".18 Aristoteles bedenkt, daß Beweise auf Prämissen beruhen, die im gleichen Lebenszusammenhang selbst nicht bewiesen werden können, aber auch nicht bewiesen werden müssen. Das ist eine Verabschiedung vom „rein theoretischen", seinem Sein nach auf „das Sein" bezogenen Begriff des Denkens. Die europäische Philosophie unterscheidet von daher Theorie und Praxis „grundsätzlich". Der gemeinsame Gesichtspunkt liegt im gemeinsamen, „politischen" Interesse; er ist nicht „theoretisch". In diesem Punkt unterscheidet sich Aristoteles von Platon, der in seiner „Politeia" keinen wirklichen, sondern einen „idealen" Staat vorstellt. Aristoteles geht dagegen vom wirklichen Staat aus, wie er „um des Lebens willen entstanden" ist und, so wie er geworden ist, „um des vollkommenen Lebens"19 als eines Lebens in der „Gerechtigkeit" willen besteht. Aber auch nach Aristoteles ist er „der Natur nach früher als die Familie und der einzelne Mensch",20 insofern er tatsächlich bewirkt, daß alle besonderen Ziele, einschließlich der besonderen Erkenntnisinteressen, in einem Ziel zusammenstimmen. Bei Platon sollte der in diesem Sinne „ideale Staat" im Gegensatz zum wirklichen Staat von Philosophen regiert werden, die, anders als alle anderen, die „wahre" Gerechtigkeit von sich aus „schauen" könnten, 18 Aristoteles, Metaphysik, 1011 a 6-13. 19 Aristoteles, Politik, 1252 b 29-30. 20 Ebd. 1253 a 19-20.
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weil sie anders seien. Denn sie würden, im Unterschied zu den anderen Menschen, vor ihrer Geburt und damit vor ihrem Eintritt in eine besondere Lebensform „unter der Erde innen geformt und aufgezogen".21 An die Stelle göttlicher Gebote tritt bei Platon als derjenige, der die Übersicht hat, noch der „Philosoph". Bei Aristoteles sind dagegen um des Lebens willen politische Kompromisse einzugehen, so „wie es tatsächlich unter den Menschen geschieht".22 Das setzt jedoch voraus, daß das politische Leben sich in einer nach „außen" hin „abgeschlossenen" Lebensform vollzieht, in der gewährleistet ist, daß die Wörter, mit denen in ihr umschrieben wird, „was" etwas in Wahrheit sei oder „was" ein Wort in seinem allgemeinen Verständnis bedeute, für die allgemeinen politischen Zwecke der Rede „hinreichend" verstanden werden, so daß das Definieren „praktisch" zum Stehen kommen kann und sich nicht im Unendlichen (eis apeiron) verläuft. Die Verschiedenheit der Sprachen und der Kulturen tritt hier noch nicht als philosophisches Problem in den Blick. Der interne Konsens ist politisch vorausgesetzt, und es wird davon ausgegangen, daß „über die Barbaren der Hellene", über die fremde die eigene Lebensform herrschen soll.23 Die griechische Philosophie war insofern von ihren Anfängen her eine Philosophie der eigenen Lebensform. Mit dem „politischen" Ausschluß des Fremden kam sie jedoch als besondere auch nicht in den eigenen Blick. Die Wörter der eigenen Sprache stehen in ihrer einheimischen grammatischen Zusammenfügung ohne Bedenken „für" die Eindrücke der Dinge (pragmata) in die Seele jedes einzelnen.24 Daß die Sprachzeichen „konventionell" sind, steht dem nicht entgegen, weil sie sich gerade in ihrer Konventionalität auf den allgemeinen „politischen" Gebrauch hin ausrichten lassen, in dem sich das dafür genügende Bestimmtsein der Dinge ausdrückt. Nach Aristoteles ist derjenige der beste (politische) Redner, der die Wahrheit spricht; denn sie überzeugt, statt nur zu überreden. Aber sie muß sich im „übergeordneten" politischen Blick zeigen. Aus der „politisch" ausgerichteten und dadurch in sich geordneten Sicht zeigt sich das Ganze als „Kosmos", als ein in sich gegründeter Zusammenhang. Diese Ordnung initiiert den Gedanken eines unbewegten Bewegers aller Bewegung, der sie als selbst unbewegter in einer Ordnung hält.25 21 22 23 24 25
Platon, Politeia, 414 d. Aristoteles, Politik, 1261 a 9-10. Ebd. 1252 b 9. Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, 16 a ff. Aristoteles, Metaphysik, 1071 b ff.
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Auch das menschliche Denken wird als eine Bewegung verstanden, die von Natur aus nach Wissen strebt, um in diesem Ziel als dem natürlichen Ort des Denkens zur Ruhe zu kommen. „Wahrheit" ist das, was das menschliche Streben auf sich hinbewegt, ohne selbst in Bewegung zu sein. - Damit ist innerhalb einer polytheistischen Religion ein monotheistischer „Gott" gedacht. Er ist der wahre „Gegenstand" des wahren, in sich ruhenden oder reinen Denkens und zugleich dieses „reine" Denken selbst (noesis noeseos). Alles wahre Denken ist im Grunde sein Denken, das alles Mythische, in dem auch persönliche Unterschiede göttlich sein können, aus sich auschließt. Dieser philosophische Gott hat seine Wirklichkeit ausschließlich im Denken, insofern es „von Natur aus" auf ihn hin ausgerichtet ist. III
Mit dem Überschreiten der überschaubaren Lebensform der Polis entpolitisierte sich das europäische Denken. Vor allem das römische Weltreich nahm fremde Lebensformen, fremde Religionen und Götter in sich auf und wurde gegenüber ihrer Besonderheit gleichgültig. Hegel bringt in seiner „Phänomenologie des Geistes" (der für ihn immer noch dasselbe wie der europäische Geist ist) den „Stoizismus, Skeptizismus und das unglückliche Bewußtsein" mit der „Freiheit des Selbstbewußtseins" in Zusammenhang.26 Das einzelne Individuum wurde „selbstbewußt" gegenüber dem Staat. Mit dem Christentum wurde eine Religion aus der Peripherie des Reiches zu einer Staatsreligion, in der die Offenbarung Gottes im Leben einer individuellen Person geglaubt, d.h. individuell-subjektiv für wahr gehalten wurde. In diesem „Glauben" und dem ihm entsprechenden Leben galt das Individuum als etwas „Absolutes". Die persönliche Verbindung des einzelnen Menschen mit dem „Absoluten" wurde zu einer „inneren" und insofern auch apolitischen Verbindung. „Einheit" wird ein „unglückliches Wort", insofern es sich auf eine Einheit in dieser Welt bezieht. Es bezeichnet nach Hegel „noch mehr als die Identität eine subjektive Reflexion", die einer gleichmachenden „Vergleichung, der äußerlichen Reflexion entspringt".27 Mit dieser „Reflexion" destruiert sich die Einheit als politisch und kosmopolitisch orientierende Idee. Nach Hegel ist erst „durch das Christenthum", das von außen nach Europa kam, „in der modernen Welt im Geiste [...] die konkrete Indivi26 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Sämtliche Werke, ed. Glockner (Werke), 19, 158. 27 Hegel, Wissenschaft der Logik, I, Werke 4, 100.
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dualität vorhanden".28 Daß „jedes Individuum als zur Seligkeit bestimmt erscheint",29 ist eigentlich schon der Übergang zur Moderne. Diese zweite Wurzel des europäischen Geistes, nach der gerade nicht der Staat und nicht das Sein in der Ordnung des Staates, sondern das Individuum „von unendlichem, absoluten Werthe"30 ist, kann begrifflich nicht mehr weiter erklärt oder allgemein „vermittelt" werden. „Individuum est ineffabile." Dennoch galt es, den philosophisch gedachten Gott mit dem Gott der christlichen Offenbarung zu vermitteln und ihn in der Sprache der Philosophie „theo-logisch" zu umschreiben. Das brachte eine Spannung in das europäische Denken, die es bis heute über das Religiöse hinaus kennzeichnet: Die Individualität, die sich selbst nicht begrifflich bestimmen läßt, ist, als das unterhalb des untersten Begriffs „Gegebene", als der Ursprung aller begrifflichen Bestimmungen gedacht. Dadurch wird sie zum eigentlichen Gegen-stand, zum Widerstand gegen absolute Ansprüche aus begrenzter Sicht. Sie relativiert alle begrifflichen Bestimmungen und bleibt gegenüber jedem Bestimmungsversuch für andere Bestimmungsversuche „ästhetisch" stehen. Ein maßgeblicher Versuch zur Auflösung dieser Spannung war der Gedanke, daß das „Reich Gottes" und damit das der Menschen in ihrer Individualität nicht von „dieser Welt" sei. Insofern ist es von allen politischen Reichen „dieser Welt" unterschieden. Das christliche Europa wurde dadurch zu einer „höheren" Idee, die allen in „dieser Welt" denkbaren Staaten ihre Idealität entzog. Das Individuum dachte sich im Bewußtsein seiner absoluten Würde aus „dieser Welt" mit ihren endlichen und unübersichtlichen Bedingungen einer vernünftigen Lebensgestaltung hinaus. Andererseits blieben die europäischen Staatsgebilde in der ihnen gemeinsamen christlichen „Idee" ihres Ungenügens miteinander verbunden. Dieses Ungenügen äußert sich in der Idee individueller Menschenrechte gegen die bestehenden Staaten. Es führt zur Idee einer „Geschichte in weltbürgerlicher", d.h. in einer über die bestehenden Staaten hinausweisender „Absicht" (Kant) und eines „Fortschritts" im „Bewußtsein" der Freiheit eines jeden Individuums gegenüber den Staaten (Hegel). Das erreichte Selbstbewußtsein individueller Freiheit steht gegen den Absolutheitsanspruch jeder möglichen Staatsidee, und unter dieser Idee der „Bestimmung des Staates" wird die Geschichte der Staaten zu „Weltgeschichte" und die „Weltgeschichte" zum „Weltgericht".
28 Hegel, Geschichte der Philosophie, Werke 19, 376. 29 Ebd. 409. Hervorh. v. Vf. 30 Ebd. 17, 79.
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Bei Nietzsche wird dann nur noch das Individuum „etwas Absolutes" genannt.31 Er versteht dies als Polemik gegen die europäische Substanzphilosophie, die das Wahre theoretisch im Allgemeinen sucht. Von daher gesehen, läßt er die europäische Philosophie mit der individuellen Person des Sokrates beginnen. Sokrates ist nach Nietzsche der „Typus des theoretischen Menschen", „einer vor ihm unerhörten Daseinsform",32 weil er als Mensch allgemeine (logische) Begründungen für das Gebotene sucht, um es als Sache einer reinen „Einsicht" erscheinen zu lassen. Mit dieser „genealogischen" Betrachtung der europäischen Philosophie stellt Nietzsche sie nicht nur in ihren positiven „Lehren", sondern von ihrer historischen „Eigenart" her insgesamt in Frage. Unter dieser „modernen", vom philosophischen Gottesbegriff abgelösten und in einem neuen Sinn „absoluten" Idee steht Vorstellung gegen Vorstellung. Der absolute Zweck ist nicht mehr die Wahrheit der Vorstellung, sondern „der Mensch", der sie hat, d.h. „die Menschheit" in jedem einzelnen und damit das Individuum in seinem „angeborenen" Recht auf Freiheit gegenüber allen denkbaren Bestimmungen seines „Wesens". Es selbst ist „bestimmungsloses" Subjekt individueller Selbstbestimmung ohne privilegierte Berufung auf „Teilhabe" an einer „höheren Sicht der Dinge". In der allgemeinen „Menschenvernunft" hat „ein jeder seine Stimme",33 und keiner hat vor anderen und deren „fremder Vernunft"34 das letzte Wort. Jeder hat ein Recht auf seine individuelle „Meinung", ohne sie in allgemein geltenden Vor-Urteilen begründen zu müssen. Im Zusammenhang des europäischen Denkens kommt im Recht auf die „freie Meinung" die anfänglich verdrängte Personalität wieder zum Vorschein. Kant wendet sich ausdrücklich gegen jeden „erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie". Aus der Sicht der „gebundenen" Meinung ist das ein nihilistischer Zustand. Nietzsche verbindet dann auch das europäische Denken explizit mit dem Begriff des „Nihilismus" und bezeichnet sich als den ersten vollkommenen Nihilisten Europas.35 Er sucht in seinen „starken GegenBegriffen"36 die tradierte philosophische Begrifflichkeit zu überwinden und jede „Lehre" zu vermeiden, die sich als solche notwendig als eine Rede von einem „höheren" Standpunkt aus zu verstehen gibt. Er begibt
31 32 33 34 35 36
Nietzsche, Nachlaß, Kritische Studienausgabe (KSA) 10, 663. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 15, KSA l, 98. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 752/B 780. - Hervorh. v. Vf. Zu diesem Begriff vgl. z.B. ebd. A 821/B 849. Nietzsche, Nachlaß, KSA 13, 190. Nietzsche, Nachlaß, KSA 13, 603.
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sich damit bewußt in die Aporie, in der tradierten Sprache gegen diese Sprache und ihre „Grammatik" zu formulieren. „Das vernünftige Denken" ist nach Nietzsche „ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können", aber „wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn."37Nietzsche ist der erste Philosoph, der sich dem europäischen Denken im ganzen entgegenzusetzen suchte, und er war sich zugleich der Tragik dieses Versuches bewußt. Als Versuch, sich einem Ganzen entgegenzusetzen, blieb er notwendig selbst „theoretisch" und wiederholte den „Typus" des europäischen Denkens, einschließlich der Aporien, die es von Anfang an kennzeichneten. IV
Die europäische „Modernität", dergemäß Vorstellung unvergleichbar gegen Vorstellung steht,38 ist im Grundsätzlichen spätestens bei Descartes formuliert. Er beschränkt den für das europäische Denken charakteristischen Anspruch, im Denken Gewißheit zu haben oder doch finden zu können, bewußt auf den Zeitpunkt seines eigenen, persönlichen Denkens (quandiu cogito).39 Das sich selbst denkende Denken denkt sich nur noch formal als (seiende) „Substanz". Wenn Descartes, nachdem er im Denken die Gewißheit gefunden hat, daß er eine „denkende Substanz" sei, weiterfragt, „wer" (oder „was") er selbst über die Zeit seines Denkens hinweg, also im alten Sinn „substantiell" sei, hat er Bedenken, sich überhaupt noch als etwas durch Begriffe Bestimmtes zu bezeichnen und z.B. zu sagen, er sei doch wohl „ein Mensch". Denn dann könnte sich die weitere Frage ergeben, „was" ein Mensch sei (sed quid est homo?). Könnte man zweifelsfrei antworten, er sei ein „animal rationale"? Dann könnte ja weitergefragt werden, „was" Animalität und „was" vor allem Rationalität „im wesentlichen" sei, d.h. was diese Wörter durchgehend bedeuteten, und man geriete „aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere"
37 Nietzsche, Nachlaß, KSA 12,194 bzw. 193. - „Der Glaube an die [indoeuropäische] Grammatik, an das sprachliche Subjekt, Objekt, an die Thätigkeits-Worte hat bisher die Metaphysiker unterjocht" (ebd. 11, 526). 38 Man müßte, „was Vorstellung sei? doch immer wiederum durch eine andere Vorstellung erklären" (Kant, Logik, Akademieausgabe (AA) IX, 34). - Vgl. auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 376: „ Wie vergleicht man Vorstellungen?" 39 Descartes, Meditationes, II, 6.
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(ex una quaestione in plures difficilioresque delaberer). Man würde ein Zeichen, nach dessen „Bedeutung" man fragt, weil man es nicht (mehr) hinreichend versteht, durch mehrere andere Zeichen ersetzen, und wenn immer weiter nach „Erklärungen der Bedeutung" gefragt würde, würde man sich im unübersichtlichen semantischen Geflecht seiner „eigenen" Sprache verlieren, und es könnte sein, „daß uns ein Widerspruch verborgen bleibt".40 Mit dieser Überlegung verliert der traditionelle Begriff der Substanz seine überzeitliche Bestimmtheit. Descartes sagte selbst, er hätte „nicht so viel Zeit" (nee jam mihi tantum otii est), daß er „sie zwischen derartigen Subtilitäten mißbrauchen wollte".41 Die zeitliche Begrenzung des individuellen Lebens gebietet, begriffliche Bestimmungen „pragmatisch" auf das Lebensnotwendige auszurichten. Sie verbietet, unreflektiert „metaphysisch" zu denken, d.h. die Ausdrucksmittel unreflektiert auf „Seiendes" bezogen zu denken, und gebietet, sich auf Probleme zu konzentrieren, die sich im zeitlich begrenzten Leben stellen und in angemessener Zeit als lösbar erscheinen. Descartes orientiert sich damit bewußt lebensimmanent, ohne jedoch die Problematik der Begegnung mit fremden Lebensformen, in die das „Leben" führt, einzubeziehen, obwohl diese sich eigentlich schon mit dem Christentum durch die „Globalisierung" über die „Grenzen" der Staaten und Sprachen hinaus ergeben hatte. - Rückblickend sieht man nun aber auch schon in der griechischen Philosophie Individuen am Werk. Sokrates und Platon erscheinen dann als „welthistorische Individuen".42 In der Individualität ihres Denkens, vermöge ihrer Einbildungskraft oder Phantasie, haben sie die Philosophie kritisch und selbstkritisch weitergeführt. Die Problematik einer „fremden Vernunft" wird explizit erst bei Kant zu einem philosophischen Thema, mit der Konsequenz, daß er das logische Definieren, das in der aristotelischen Tradition zu „realistischen" Wesensbestimmungen führen sollte,43 in diesem strikten Sinn nur noch der Mathematik zugesteht und nicht mehr den Darstellungen des Denkens in der Sprache, wie sie ist und im Leben gebraucht wird. Die Mathematik - vorausgesetzt, daß sie ihre Begriffe in „reiner Anschaung" und nicht „metaphysisch" in anderen Begriffen „konstruiert" - wird damit zum „wesentlichen" Organ der Wissenschaft, und in jeder Wissenschaft, die sich als „Naturlehre" versteht, ist demnach „nur so viel 40 Vgl. Leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, in: Die philosophischen Schriften, ed. Gerhardt, 4, 424: „fit ut lateat nos contradictio". 41 Descartes, Meditationes, II, 5. 42 Vgl. Hegel, Geschichte der Philosophie, Werke, 18, 42 bzw. 170. 43 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1030 a 6-7.
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eigentliche Wissenschaft", „als darin Mathematik anzutreffen ist".44 Nicht mehr das Denken, die Anschauung ist nun als der Bezug auf etwas „außer uns" gedacht, und „außer uns" heißt nun: „im Räume außer uns". Was „außer uns" ist, ist gegenüber unseren synthetischen Bestimmungsversuchen „außereinander". Nur die so verstandene „Anschauung" weist aus der Lebensformimmanenz des jeweiligen Denkens und der durch sie bedingten Akzeptanz von Bedeutungserklärungen hinaus, weil der angeschaute Gegenstand gegenüber jeder seiner ihm zugedachten Bestimmungen (d.h. gegenüber jedem Ansehen des Gegenstandes als „hinreichend" bestimmt) „ästhetisch" für weitere und andere Bestimmungen stehenbleibt. Das Ästhetische wird zum Wahrheitsweg, weil die anfängliche europäische Voraussetzung der Wahrheit „hinreichend" definierter Begriffe sich als problematisch erwiesen hat. Ein „allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit" ist nach Kant nicht mehr „möglich" und „sogar in sich widersprechend",45 denn es könnte nur durch einen Vergleich unserer Vorstellung von einem Objekt mit einem Objekt „außer uns", außerhalb unserer Vorstellung gegeben sein. - Entscheidend für eine Charakteristik des europäischen Denkens ist jedoch, daß es unter diesem kritischen Aspekt, wenn sie allgemein gelten soll, auch nur noch eine formale Begründung des sittlich Guten geben kann. Der „kategorische Imperativ" gebietet, nach solchen subjektiv gebildeten oder kulturell übernommenen Handlungsgrundsätzen (Maximen) zu handeln, die „jederzeit zugleich" als allgemeine Gesetze gedacht werden können. Das gewährleistet keine Koordinierung des Zusammenlebens frei handelnder Menschen, denn die Menge der Maximen, die diesem formalen Kriterium genügen, ergibt sich als Untermenge der subjektiven Maximen, die man hat, so daß nicht gewährleistet ist, daß auch nur zwei Menschen, wenn sie denn diesem „kategorischen Imperativ" zufolge moralisch handelten, sich dabei nach übereinstimmenden Grundsätzen richteten. Somit kann nichts in der Welt „gut" genannt werden, außer der „gute Wille", nach subjektiven Grundsätzen zu handeln, die zugleich als allgemeine Gesetze gedacht werden können. Für das wirkliche Zusammenleben und Handeln bedarf es gerade wegen dieser Kritik auch der praktischen Vernunft der Regelung durch das Recht. Es ist, mit seiner unvermeidlichen „Befugniß zu zwingen",46 nunmehr „das Heiligste, was
44 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA IV, 470. 45 Kant, Logik, AA IX, 50. Hervorh. v. Vf. 46 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 231.
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Gott auf Erden hat".47 Da es aber nur Bestand haben kann, wenn die moralische Verpflichtung eingehalten wird, ein „rechtlicher Mensch" zu sein und einer Rechtsgemeinschaft beizutreten, um sich durch sie zwingen zu lassen, wenn man Unrecht anders „nicht vermeiden" kann,48 ist es zugleich Gottes empfindlicher „Augapfel". 49 Das Bewußtsein der Notwendigkeit eines so verstandenen Rechts ist eine Konsequenz des europäischen Geistes. Wenn man jedoch „nach dem subjectiven Grunde der Handlungen fragt, aus welchem [...] am ersten zu erwarten ist, was der Mensch thun werde, nicht bloß nach dem objectiven, was er thun soll: so ist doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens eines Ändern unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur (zu dem, was die Vernunft durchs Gesetz vorschreibt, genöthigt werden zu müssen): denn was Einer nicht gern thut, das thut er so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, daß auf diese als Triebfeder ohne den Beitritt jener nicht sehr viel zu rechnen sein möchte."50 Über den subjektiven Willen hinaus schafft aber auch die „Liebe" keine Allgemeinverbindlichkeit; sie kann weder geboten noch erzwungen werden. Mit diesem „kritischen" Denken wird ins Bewußtsein gehoben, daß jede Urteilsbildung, in der „etwas" in einer bestimmten begrifflichen, d.h. sprachlich vorgezeichneten Fassung „für wahr" gehalten wird, sich „fremder Vernunft" gegenübersieht.51 Ihr „gegenüber" hat sich das eigene Fürwahrhalten einschließlich seiner praktischen Folgen zu verantwor47 48 49 50 51
Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 353 Anm. Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 236 f. Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 353 Anm. Kant, Das Ende aller Dinge, AA VIII, 337 f. „Wahrheit" beruht ihrer Namenserklärung nach zwar auch nach Kant immer noch „auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen". „Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also, äußerlich, die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen." Wenn andere dem eigenen Urteil zustimmen, „ist wenigstens eine Vermutung, der Grund der Einstimmung aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander, werde auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objekte, beruhen". „Überredung demnach kann von der Überzeugung subjektiv zwar nicht unterschieden werden, wenn das Subjekt das Fürwahrhalten, bloß als Erscheinung seines eigenen Gemüts, vor Augen hat; der Versuch aber, den man mit den Gründen desselben, die für uns gültig sind, an anderer Verstand macht, ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun, als auf die unsrige, ist doch ein, obzwar nur subjektives, Mittel, zwar nicht Überzeugung zu bewirken, aber doch die bloße Privatgültigkeit des Urteils, d.i. etwas in ihm, was bloße Überredung ist, zu entdecken" (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 848 f.).
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ten.52 Wenn Wittgenstein schreibt, man könnte „sagen", „das Hinzunehmende, Gegebene [...] seien die Lebensformen",53 bringt er diese Selbstkritik des europäischen Denkens im Anschluß an den „logischen Positivismus" noch einmal zur Sprache. „Die Welt zerfällt in Tatsachen",54 weil die Sprache in Sätze zerfällt und wir deren Bezug zur Welt in der grammatischen Form von Aussagesätzen hergestellt sehen. Erst der spätere Wittgenstein sah darin eine besondere, „unpersönliche Darstellung der Welt"55 und damit den Ausdruck einer eingeschränkten Lebensform. Eine auf Aussagesätze reduzierte Sprache ist nur eine von den „unzähligen anderen" Sprachen, die wir uns „vorstellen können", und weil wir sie uns innerhalb unserer Lebensform vorstellen können, sind es „primitivere" Sprachen als unsere, die diese (und auch andere) Möglichkeiten der Vorstellung von Sprache in sich enthält.56 Sich eine Sprache „vorstellen" heißt: sich eine Sprache vorstellen, die primitiver ist als „unsere", in der wir Sprachen so oder so beschreiben können. Deshalb kann man sich auch die eigene selbst nicht „vorstellen". „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen."57 Auch diese Lebensform ist dann „primitiver" als „unsere", aus der heraus wir uns andere Lebensformen „vorstellen".
V Demnach können wir fremde Lebensformen nach unserem europäischen Verstehensmuster nicht „adäquat", sondern allenfalls unter bestimmten eigenen Zweckgesichtspunkten „hinreichend" verstehen. Das ist eine relativ spät formulierte, aber von den Anfängen des europäischen Denkens her konsequente Einsicht. Da wir immer nur „im Vergleich" zu unseren eigenen Möglichkeiten verstehen können, können wir das Fremde nur negativ bestimmen: „Was" wir können, können andere Kulturen nicht, und zu den grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache finden wir in fremden Sprachen nicht immer ein genaues Äquivalent. Was 52 „Aufgeklärt seyn heißt: selbst denken, den (obersten) Probirstein der Warheit in sich selbst suchen, d.i. in Grundsätzen" als dem „Grund des Vorwarhaltens; denn ich muß es verantworten" (Kant, Nachlaßreflexion 6204). 53 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften, Frankfurt a.M. 1963,1, S. 539. 54 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1.2. 55 Wittgenstein, Tagebücher, 27.10.1914 (Schriften I, 108). 56 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 2 und $ 20. 57 Ebd., § 19.
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andere Sprachen „stattdessen" haben, können wir in unserer Sprache oft nur mühsam umschreiben. Wir können im „Vergleich" mit außereuropäischen Kulturen nur unsere eigenen Verstehenstopoi verwenden, indem wir sie gegebenenfalls in ihrer Negation nehmen. So können wir z.B. auf buddhistische Vorstellungen verweisen, nach denen aus unserer Sicht „an die Stelle" des Seins, das wir von den europäischen Anfängen her als den Inbegriff reiner Positivität verstehen, eine „Leere" des Geistes zu setzen sei und „an die Stelle" unseres sich als wahr verstehenden Redens das Schweigen. Wir müssen das Fremde, wenn wir versuchen, es zu übersetzen und zu umschreiben, zugleich als Fremdes stehenlassen und uns des Versuchscharakters der Umschreibungen bewußt bleiben. Was sich in der Semiotik der eigenen Sprache „leicht" sagen läßt, läßt sich in einer fremden oft nur „schwer" und umständlich sagen und ist deshalb nicht unbedingt „dasselbe". „Wovon man nicht sprechen kann", und das heißt in diesem Kontext: was sich nicht in einem auf Dinge als bestimmbare „Gegenstände" ausgerichteten Sprachgebrauch beschreiben (bzw. „abbilden") läßt, darüber muß man nach Wittgenstein „schweigen".58 Als weiteres Beispiel für „fremdes" Denken könnte man anführen, daß es im Japanischen „für" unser philosophisches Grundwort „Sein" verschiedene Wörter gibt, die zugleich die soziale Relation zwischen den jeweils beteiligten Personen ausdrücken: das „unhöfliche" „da", das in dieser Beziehung „neutrale" Wort „desu", das höfliche „dearu" und schließlich das noch höflichere „gozai mas" -, oder keine Wörter „für" unsere persönlichen Fürwörter „ich", „du" usw., die in unserer Philosophie doch „grundlegende" Begriffe sind, stattdessen aber Wörter, die verschiedene Stufen der höflichen Zumutung des eigenen „Gesichtspunkts" des Fürwahrhaltens gegenüber anderen Personen ausdrücken.59 Solche Beispiele verdanken sich schon dem Vergleich und dessen Gesichtspunkt. Es ist schon europäisch gedacht, wenn wir sagen, diese japanischen Wörter stünden in ihrer Vielzahl „für" unser umfassenderes Wort „sein" oder „für" unser Wort „ich", das jeder auf sich bezieht. Hier ist die „Grenze als Grenze" zu sehen. Das europäische Denken wurde im Laufe seiner Geschichte zunehmend zum Denken seiner Grenze. Seit Kants „Kritik" aber wurde das Denken der Grenze zum propädeutischen Vorbegriff des „Denkens" im traditionellen Sinn dieses Begriffs. Nach Kant ist „alle menschliche Einsicht zu Ende", „so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen 58 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 7. 59 Vgl. Kimura Bin, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, Darmstadt 1995.
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gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden".60 Würden „Grundbegriffe" definitiv begrifflich umschrieben, wären es keine Begriffe für „Grundvermögen" mehr. Das in ihnen Umschriebene würde als eine „Art" von etwas anderem bestimmt. Sie sind nur dann nicht „beliebig erdichtet", wenn ihre „Erdichtung" durch die Einbildungskraft für den Verstand zweckmäßig ist, und dieser Verstand kann zuletzt immer nur der eigene sein. Mit diesen Fragen sieht sich das europäische Denken auf die Idee einer Gerechtigkeit verwiesen, die das Fremde anerkennt, ohne es definitiv verstehen zu wollen. Nach Nietzsche ist sogar „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? - Comprendre c'est egaler."61 Europa als philosophische „Idee" bedeutet von seinen Anfängen her die Absicht einer denkenden Weltorientierung, in seiner Geschichte jedoch die zunehmende Einsicht in die Grenzen einer solchen Orientierung vom eigenen „Standpunkt" aus. Damit hebt sich auch der Gegensatz des Rationalen, verstanden als das „allgemein" Nachvollziehbare, und des Irrationalen, verstanden als das, was man „von sich aus" nicht versteht, auf. Man könnte diese Idee mit der Idee einer sich selbst gegenüber kritischen Aufklärung gleichsetzen: Sie erscheint zunächst als „denkende" Aufklärung gegenüber einem Mythos in seiner Besonderheit und in dieser „bestimmten Negation" als „Logos"; im Laufe ihrer Geschichte problematisiert sie jedoch ihren Selbstbegriff als allgemein vorgegebene, im „reinen" Denken zu erfassende Idee. Damit verändert sich der Begriff des Denkens gegenüber seinem historischen Vorverständnis, ohne daß er sich definitiv anders denken ließe. Nach Kant ist es „sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse".62
60 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 46 f. 61 Nietzsche, Nachlaß, KSA 12, 51. 62 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 775.
ANDRZEJ M. KANIOWSKI
Europa oder das Rationale. Bemerkungen zu Novalis aus einer europäisch-polnischen Sicht Meinem verehrten Lehrer und Freund Professor Hans Michael Baumgartner zum Gedenken
Obwohl mein Titel „Europa oder das Rationale" entsprechend dem Titel von Novalis' Rede Die Christenheit oder Europa formuliert ist, soll darin nicht Europa mit dem Rationalen gleichgesetzt werden, wie es m.E. bei Novalis mit Europa und der Christenheit der Fall ist. Es geht mir nicht darum, die Christenheit aus dem Europäischen auszublenden oder zu tilgen, was übrigens kaum möglich wäre. Mein Anliegen ist ein anderes und besteht darin, das in Novalis' poetischer Rede verdrängte Rationale erneut zur Geltung zu bringen, auf seine Unentbehrlichkeit für Europa sowie auch - und besonders - für die Verwirklichung mancher Elemente von Novalis' Vision hinzuweisen, der Vision eines Europa, in dem Frieden herrscht und in dem sich das Universelle mit dem Individuellen vereinbaren läßt. Weil im Hinblick auf die Verwirklichung solcher Visionen die Macht eine entscheidende Rolle spielt, werde ich mich in erster Linie dem von Novalis entwickelten (und von manchen prominenten katholischen Denkern in Polen, aber auch sonst in Europa vertretenen) Konzept einer nicht auf Vernunft, sondern auf Glauben bauenden Macht widmen. In meinen Betrachtungen, die bewußt als Gegenbild zu Novalis' poetischen Hoffnungen konzipiert sind, wird so die Rolle der Christenheit in der Verwirklichung jener Erwartungen weniger beachtet. Die poetische Rede von Novalis kann aus drei hermeneutischen Perspektiven betrachtet werden. Eine der möglichen Zugangsweisen ist die von den Klassikern des hermeneutischen Ansatzes - Schleiermacher und Dilthey - vertretene. Danach ginge es darum, die Intentionen des Autors unter Berücksichtigung seines historischen Kontextes zu verstehen. Die zweite Möglichkeit wäre, im Sinne Ricoeurs von dem im Text buchstäblich Ausgedrückten abzusehen und den eher symbolischen Gehalt bzw. Überschuß an Gehalt zu entziffern und zum Ausgangspunkt eigenen Weiterdenkens zu nehmen. Die dritte und von mir bevorzugte Zugangsweise ist die von Gadamer: der Interpret tritt mit seinen eigenen Fragen aus seinem eigenen Sinnhorizont an den Text heran, der ihm seinerseits
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Andrzej M. Kaniowski
aus seinem Sinnhorizont etwas zu sagen hat - er teilt eine Wahrheit mit, die der Interpret im Lichte seiner Fragen und innerhalb seines Sinnhorizonts auszulegen hat. Ich spreche aus einer polnisch-europäischen Sicht. Novalis' Position und zum Teil auch seine Erwartungen korrespondieren - mehr oder weniger mit ideologischen und politischen Positionen, die stark (oder zumindest laut) in Polen hervortreten. Sie führen national-katholische Tendenzen und politische Orientierungen aus den 20-er und 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts fort. Sie könnten nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern Europas weiterhin Einfluß haben. Sie schließen philosophische Ansätze ein, die das liberaldemokratische Konzept der Macht ablehnen, entweder weil liberale Demokratie „einen Terror der Mehrheit" bedeute oder weil sie umgekehrt den Randgruppen (etwa Homosexuellen oder anderen, die von der „wahren Bestimmung" des Menschen abweichen) zu viele Rechte einräume und dadurch zu einem „Terror der Minderheiten" führe. Interessanterweise werden beide Ansichten oft von denselben Intellektuellen vertreten (z.B. von manchen Lehrern der Katholischen Universität Lublin). Die intellektuelle Ablehnung des Rationalen im Sinne des liberaldemokratischen Machtkonzepts ist die theoretische Basis für national-katholische bzw. nationalistische und populistische politische Bewegungen, die in keinem der europäischen Länder zu großen Parteien geworden sind und dennoch politischen Einfluß haben können. Ihre Alternative zum liberaldemokratischen Machtkonzept ist die auf dem Glauben basierende Macht. Angesichts dieser Tendenzen und Bewegungen kann man Novalis' Rede nicht mit bloß geisteswissenschaftlichem bzw. literaturhistorischem Interesse lesen als poetisch verschlüsselte Botschaft, die symbolisch auszudeuten ist. Dies ist nicht unberechtigt, aber unangemessen in Bezug auf die jetzt anstehenden Fragen. Einräumen muß man, daß einer der für die nationalistischkatholische Denkweise konstitutiven Begriffe bei Novalis kaum eine Rolle spielt: der Begriff der Nation. Dennoch bestehen weitreichende Gemeinsamkeiten, in Bezug nicht nur auf das Konzept der Macht und die ihm zugrunde liegende Einstellung, sondern auch in Bezug auf das Konzept der Gemeinschaft und auf die kulturkritische Diagnose Europas, die dazu verleitet oder doch verleiten kann, die Übel, die sie herausstellt, mit Mitteln zu bekämpfen, die noch größere Übel herbeiführen können. Eine auf den ersten Blick erkennbare Gemeinsamkeit besteht in der Forderung nach „der Allgegenwart" des katholischen Glaubens „im Leben".1 Diese Forderung hängt mit der Grundvorstellung zusammen, l
Novalis, Die Christenheit oder Europa, § 25, S. 42, zitiert nach: Novalis, Werke in
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daßz\wischen Glauben und Wahrheit (bzw. Vernunft) ein innerer Zusammenhang besteht. Ihr liegt wiederum eine mehr oder weniger radikale Verleiugnung der Differenzierung von Religion und Wissenschaft zugrunde, düe für die Moderne kennzeichnend ist, in Gestalt der Sehnsucht nach der verlorenen Einheit der Seienden, Guten und Schönen. In der Moderne bildem sie eigensinnige Sphären mit eigenen Maßstäben und Werten. Diie geforderte „Allgegenwart" des katholischen Glaubens „im Leben" ist sowohl bei Novalis als auch bei den gegenwärtigen Vertretern natiomal-katholischer Ideologien durch die Hoffnung oder gar Überzeugung getragen, dass nach der ersehnten Wiedererweckung der Religion „keiruer [...] mehr protestieren [wird] gegen christlichen und weltlichen Zwarng, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden" (Christenheit, § 30, S. 42). Zwar soll nach den gegenwärtigen ideologischen Strömungen die Religion bzw. die Kirche die führende Funktion nicht direkt ausüben. Dies ist hier jedoch von zweitrangiger Bedeutung, weil es nicht um den Glaubensinhalt geht. Von Belang ist nur, dass eine auf den Glauben gestützte Einstellung jeglichen Protest gegen den Zwang der Macht von vornherein ausschließt, einfach deshalb, weil es in dem ersehnten Zustand keinen Grund für Proteste mehr geben kann bzw. darf. Wie Novalis glauben gegenwärtige Verteidiger eines christlich-lateinischen Europa fest daran, daß „nur die Religion [...] Europa wieder aufwecken und die Völker sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren [kann]" (Christenheit, § 24, S. 41). Jetzt geht es nicht mehr um den Frieden, sondern um gefährdete traditionelle Werte; aber auch jetzt noch wird die Gegenwart als Anhäufung von „ungeheuren Phänomenen" angesehen, zu denen die „Geschichte des modernen Unglaubens" der Schlüssel sei (Christenheit, § 11, S. 34). Gemeinsam ist so auch eine gegenaufklärische Einstellung. Aber gibt es zwischen den nationalistischen (oder nationalistischkatholischen) Verteidigern des Glaubens (mithin des „christlichen Europa") und Novalis tatsächlich eine tiefere Gemeinsamkeit? Novalis ist in vieler Hinsicht scharfsinniger, offener, raffinierter und undogmatischer als seine polnischen (und sonstigen) katholischen Nachfolger. Was Novalis als Religiosität eines Philisters anprangert- eines Philisters, der „den höchsten Grad seines poetischen Daseins [...] bei einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe und in der Kirche" erreicht (Blutenstaub, § 77, S. 117) -, ist zwei Bänden, hrsg. von Rolf Toman, Köln 1996.
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für die populistisch orientierten Ideologien eines Nationalkatholizismus die meistgeschätzte Form menschlichen Lebens. Wieweit Novalis einen willkürlichen Begriff des religiösen Lebens hat, möchte ich offen lassen. Sicher hat er im Vergleich mit den genannten Verteidigern eines christlich-lateinischen Europa einen weit höheren Sinn für das Erhabene, Poetische und Überirdische. Dennoch teilt er mit ihnen Vorstellungen und Erwartungen, die es trotz aller Unterschiede erlauben, von einer wesentlichen Gemeinsamkeit zu sprechen. In einer po/m'sc^7-europäischen Perspektive, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen religionspolitischen Erfahrungen Polens, habe ich kein abstraktes oder poetisch-utopisches Bild des Christentums (ein möglicherweise wünschenswertes und vielleicht sogar an manchen Orten innerhalb des Christentums und des Katholizismus zum Teil verwirklichtes Bild) vor Augen. Zugleich ist aber auch eine abstrakt-europäische Sicht in einer philosophischen Perspektive möglich, in der es um Wesensmerkmale dessen geht, was überhaupt „europäisch" bedeutet. Hier können Verfälschungen richtiggestellt und Illusionen und Gefahren vermieden werden, Verfälschungen und Illusionen, die nicht nur Novalis' Rede, sondern dem Selbstverständnis der (katholischen) Christenheit immer noch zugrunde liegen. Ich möchte im folgenden insbesondere die Rolle des Philosophischen und des Rationalen für die europäische Kultur hervorheben. Für das Europäische in einem kultur-zivilisatorischen Sinne ist eine grundsätzliche und unaufhebbare Dualität kennzeichnend, eine Dualität, die eher als Opposition denn als Komplementarität zu verstehen ist. Eine ihrer wichtigsten Ausprägungen ist die Opposition von Glauben und Vernunft, dann von Liebe und Solidarität einerseits und Regeln und Mitteln (für die Gestaltung des Zusammenlebens) andererseits, ferner von Idealem und Faktischem und schließlich von Phänomenalem und Noumenalem. In anderen Zusammenhängen oder auf anderen Ebenen kann die Dualität wieder anders ausgedrückt werden. In Novalis' Begrifflichkeit handelt es sich um den Gegensatz zwischen „dem eingeschränkten Wissen" und „dem unendlichen Glauben" (Christenheit, § 2, S. 25), zwischen einer „weltlichen" und einer „überirdischen" Kraft (Christenheit, § 20, S. 40), zwischen „Liebe und Glauben" einerseits und „Wissen und Haben" andererseits. Die wichtigste Opposition, und da möchte ich gerade die Gegensätzlichkeit betonen, ist m.E. die zwischen Glauben und Vernunft. Bewußt und hier in vollem Einklang mit Novalis spreche ich von einer Opposition, während von den katholischen Theologen die Komplementarität hervorgehoben wird. In diesem Sinne schreibt Papst Johannes Paul II. im ersten
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Satz seiner Enzyklika Fides et ratio: „Der Glaube und die Vernunft sind wie zwei Flügel, auf denen der menschliche Geist sich zur Kontemplation der Wahrheit emporhebt". Der Unterschied zwischen der Position Novalis', der den Glauben der Vernunft und dem Wissen entgegensetzt und ihnen vorordnet, und der katholischen Lehre ist in unserem Zusammenhang jedoch von geringerer Bedeutung. Letztlich kommt auch in der katholischen Lehre dem Glauben der Vorrang zu. Gemeinsam ist beiden, dass zu der im Medium des Glaubens erschlossenen Wahrheit keine skeptische Einstellung eingenommen werden kann. Die Glaubenswahrheit kann nicht in Zweifel gezogen werden, muß also unerschütterlich bleiben. Die Anerkennung dieser Wahrheit geschieht nicht anhand von kritisierbaren Argumenten, sondern aufgrund eines Aktes des Willens, durch den ich mich dieser Wahrheit völlig unterordne oder unterwerfe. Trotz einer teilweisen, aber dadurch eher scheinbaren Ähnlichkeit mit dem Akt der Anerkennung eines moralischen Gesetzes, also der Unterordnung unter die praktische Vernunft bei Kant (dem übrigens namhafte katholische Ethiker in Polen in diesem Zusammenhang einen Irrationalismus vorwerfen) hat die auf Glauben aufgebaute Einstellung einen anderen Charakter. Der Unterschied wäre gering, wenn der Glaube und alles, was bei Novalis und in der katholischen Lehre mit ihm zusammenhängt, auf das Innere des Subjekts beschränkt würde. Dies ist aber weder bei Novalis noch in der katholischen Lehre der Fall. Die im Akt des Glaubens als wahr erschlossenen Inhalte sind nicht so sehr in der Vernunft bzw. im Inneren des Subjekts oder im transzendenten Gott verankert und so dem Subjekt unmittelbar zugänglich, sondern sie werden dem Subjekt durch etwas Äußeres und zugleich Diesseitiges vermittelt: durch die Kirche, die den Charakter einer auctoritas besitzt, und zwar dadurch, dass sie trotz ihrer Diesseitigkeit als eine Entität angesehen werden soll, die vom Überirdischen, vom Transzendenten durchdrungen und beseelt ist. Der Einzelne kann keineswegs (und ebensowenig die Mehrheit oder Gesamtheit der Einzelnen) gegenüber der auctoritas als gleichberechtigter Gegenspieler auftreten. Mit der Kirche, im Gegensatz z.B. zum modernen Staat, kann der Einzelne grundsätzlich keinen Prozeß führen. Wenn es um Glaubenswahrheiten und ihre Auslegung geht, gibt es keinen Gerichtshof (außer der Amtskirche selbst), der zwischen dem Einzelnen, der im Akt des Glaubens eine andere Wahrheit erschließt als die, die von der auctoritas autorisiert wird, und dieser auctoritas entscheidet. Ein solcher Einzelner (der einzelne Gläubige) wird zum noch nicht zur Einsicht gekommenen „Abweichler" oder gar zum Ketzer. Der Autorität kann nur Gehorsam geleistet werden, zumal jener, die durch ihren Bezug auf das „Überirdische" das Fassungsvermögen eines endlichen und möglicherweise mit der Gnadengabe nicht beschenkten Wesens übersteigt.
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Es ist nicht zu leugnen, dass durch die Struktur des Glaubens den Europäern einige den griechischen Philosophen noch unbekannte Werte und Weltbilder und eine neue sittliche Sensibilität zukamen. Die auf sich selbst gestellte Neuzeit hat die auf dem christlichen Glauben aufgebaute Weltsicht und die mit ihr korrespondierende Welteinstellung jedoch in wesentlichen Punkten einer Revision unterzogen. Grob gesagt, hat sie den Menschen „verweltlicht" und dadurch in seiner irdischen Dimension mehr Freiheit und mehr Würde, aber auch einen größeren Spielraum für Fehltritte gewährt. Diese „Verirdischung", die von Max Weber als „Entzauberung" gedeutet wird, führte zur Durchsetzung des Rationalen - des Rationalen, das trotz immer wieder aufkommender Versuche, etwas Überirdisches als Instanz für das gesellschaftliche Zusammenleben zu installieren (etwa in der Form einer Religion der Vernunft bei den Jakobinern oder eines den Volksgeist verkörpernden Führers oder auch einer den Weltgeist wahrnehmenden Partei), sich immer stärker und fester auf Einsichten stützte, die einem endlichen Fassungsvermögen möglich sind. Konkret bedeutet diese Einstellungsänderung ein neues säkulares und rationales Verhältnis zu Macht und Staat. Macht und Staat als weltliche Instanzen werden ihrer Aura entkleidet und einer ständigen Kritik unterworfen. Sie werden nicht verehrt, sondern beurteilt, und zwar nach Maßstäben, die nicht nur für Eingeweihte und Jünger der Machthaber, sondern grundsätzlich für alle einsehbar sein sollen. Für diese entzauberte Einstellung ist auch ein bestimmter Begriff der Macht und des Staates kennzeichnend, der durch ein Glaubensverhältnis zu ihnen unmöglich würde. Diesem Begriff der Macht darf - anders als für Novalis und die ähnlich gesinnten zeitgenössischen Politideologen - der Glaube (und die mit ihm zusammenhängenden Einstellungen und Vorstellungen) nicht beigemengt werden. Mit der Macht im gesellschaftlichen Zusammenhang ist es ähnlich bestellt wie (laut Kant) mit der Selbstliebe. Zum Streben nach Macht bedarf es so wenig wie für die Selbstliebe einer besonderen Verpflichtung, eines Bezugs auf das Noumenale, Intelligible oder - mit Novalis gesprochen - das Überirdische. Das Noumenale, das QuasiÜberirdische, das Kontrafaktische muß die Macht nicht stützen, sondern zügeln, d.h. ihr - ebenso wie der Selbstliebe - Gesetze und Beschränkungen durch die Vernunft auferlegen. Demgegenüber bezieht Novalis eine entgegengesetzte Position. Mit einer gewissen Sympathie für die Französische Revolution vergleicht er den „Staatsumwälzer" mit Sisyphus. „Jetzt hat er [der Staatsumwälzer] die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der anderen Seite wieder herunter", schreibt er (Christenheit, §12, S. 35). Diese Last kann aber nach Novalis „oben bleiben, wenn [...] eine
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Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält" (ebd.). Novalis widersetzt sich der „Tendenz [des Staates] nach der Erde" (ebd.). Doch wie die Selbstliebe sollten Macht und Staat so nüchtern wie möglich betrachtet werden; die Macht braucht ebensowenig wie die Selbstliebe eine Verherrlichung und Immunisierung gegen eine nüchterne irdische Blickweise. Es wird kein Gleichgewicht erreicht oder doch nur ein Scheingleichgewicht, wenn man der Versuchung unterliegt, den Staat im Sinne ,,eine[r] [...] Sehnsucht an die Höhen des Himmels" zu binden und ihm „eine Beziehung aufs Weltall" zu verschaffen (ebd.). Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sollten wir, was Macht und Staat betrifft, skeptisch und kritisch allen utopischen Verheißungen entgegentreten und auch die staatlichen Gesetze anders als Novalis betrachten. Für Novalis geht jedes dieser Gesetze auf einen „mystischen Souverain" zurück (Glauben und Liebe, § 9, S. 133) und soll von uns als „Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswerten Person" (ebd.) angesehen werden. Auch hier kommt die schon beschriebene Einstellung zum Vorschein, die sich nicht auf Gründe, sondern auf Glauben und Hingabe stützt. Anscheinend kann sich Novalis keinen anderen Modus einer normativen Geltung vorstellen als die willige Befolgung von Verordnungen einer verherrlichten Machtinstanz. Diese aber wäre nichts anderes als eine „selbst verschuldete Unmündigkeit" (Kant). Gefährlich ist auch Novalis' Gedanke einer „schönsten poetischen Gesellschaftsform" (Glauben und Liebe, § 10, S. 134). Der verpönte „papierne Kitt, der jetzt die Menschen zusammenkleistert" (ebd.), soll durch Liebe, religiöse Verschmelzung der Menschen, ersetzt werden. Nach Novalis' Vorstellung könnte das gesellschaftliche Zusammenleben nach dem Muster eines Familienlebens gestaltet werden. Dem Staat und der Gesellschaft sollte, nach Novalis' Begriffen, ein Prinzip zugrunde liegen wie das der Ehe: „Uneigennützige Liebe im Herzen und ihre Maxime im Kopf, das ist die alleinige, ewige Basis aller wahrhaften, unzertrennlichen Verbindung, und was ist Staatsverbindung anders, als eine Ehe?", fragt er rhetorisch (Glauben und Liebe, § 30, S. 142). Lassen wir die Frage offen, ob sich die Familie als eine nur auf Liebe und Ergebenheit gestützte Form des Zusammenlebens denken läßt. Übertragen auf die Gesellschaft kann eine solche Vorstellung bestenfalls als poetische Vision betrachtet werden, als ideales Vorbild. Gegen eine solche wohlwollende Interpretation sprechen aber nicht nur die im 20. Jahrhundert im Namen einer Rasse, eines Volkes oder einer Klasse (jeweils als eines „mystischen Souverains") unternommenen Versuche, eine solche Form der Gemeinschaft zustandezubringen, und das Fortdauern einer solchen Sehnsucht insbesondere in nationalistischen Ideologien,
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sondern auch Novalis' Vorstellungen davon, wie eine solche Gesellschaft gestaltet sein sollte. Der von Novalis beim Jesuitenorden gepriesene „Geist der Hierarchie" (Christenheit, § 9, S. 30) soll die ersehnte Gesellschaftsform durchdringen. Kennzeichnend dabei ist die Position des Königs, der in den zeitgenössischen Ideologien strukturell und machtpolitisch gesehen die Position eines Führers, einer den Geist des Volkes wahrnehmenden Elite oder der revolutionären Avantgarde einer klassenlosen Gesellschaft entspricht. Unheilverkündend lautet die - freilich von Novalis anders gemeinte - Kennzeichnung des Königs: „Jeder Staatsbürger ist Staatsbeamter. [...] Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter. Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf dem Glauben an einen höhergeborenen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen, beruht. Unter meines Gleichen kann ich mir keinen Obern wählen; auf einen, der mit mir in der gleichen Lage befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen ein echtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunkt geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch" (Glauben und Liebe, § 12, S. 135). Zwar hat Novalis dabei auch eine erzieherische Funktion des Königs im Blick: Alle Menschen sollen nämlich durch ihre verehrende Einstellung zum König ihrerseits thronfähig werden. Er vergißt aber hinzuzufügen, daß der König nicht kraft seiner beurteilbaren Fähigkeiten und erwiesenen Tugenden, sondern kraft seines Amtes, seiner Nähe zum Himmel und vor allem seiner königlichen Abstammung zum Vorbild wird. Es mag wohl sein, dass eine derart verstandene Monarchie nicht zu einer so ungeheuerlichen Ausartung kommen muß wie die uns inzwischen bekannten diktatorischen Regimes. Sicher ist aber auch schon hier, dass sich keiner dem Machthaber gleichberechtigt fühlen darf. Dies ist um so verwunderlicher und unverständlicher, als für Novalis das, wodurch der Machthaber zum König wird, „das innige Gefühl Ihres [gemeint ist wohl „Majestät" - A.M.K] Werts" (Glauben und Liebe, S 18, S. 137) ist. Nicht nur die besondere Position jener Macht, die ihre Legitimität aus gleichsam mystischen Quellen schöpft, entscheidet über den Charakter dieser „schönsten poetischen Gesellschaftsform". Von Belang sind hier auch Novalis' konkrete Vorstellungen über das Individuum und über die in einer solchen Gesellschaftsform vorprogrammierte Einstellung zu jenen Menschen, die sich in die geforderte Einheit nicht einfügen oder nicht zu denen gehören, welche der Geist „wie ein paar Liebende zusammenschmelzen" wird (ebd., § 10, S. 134). Zwar spricht Novalis von einer „universellen Individualität", von einer erwarteten „Entwicklung aller
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Anlagen" des Menschen. Bezieht man dies aber auf die Maßnahmen, die für diese „schönste Gesellschaftsform" wirklich vorgesehen sind, wird man ins Grübeln geraten. Dazu gehört die Forderung, im Namen einer Allpräsenz des Staates für alle Bürger „Abzeichen und Uniformen [...] ein [zu] führen" (Glauben und Liebe, § 13, S. 135). Vollends inhuman werden sie dort, wo Novalis Verständnis zeigt für die einst durch „das weise Oberhaupt der Kirche" ergriffenen Maßnahmen gegen „gefährliche Entdeckungen im Gebiet des Wissens" (Christenheit, § 2, S. 24), d.h. gegen „die kühnen Denker", die etwa zu behaupten wagten, daß „die Erde ein unbedeutender Wandelstern sei" (ebd. S. 24 f.). Paradoxerweise wird hier die Leugnung der Autonomie des Wissens als Ausdruck „echter Freiheit" gepriesen. So entsteht unvermeidlich der Eindruck, daß ein Versuch, dieses Projekt einer vereinigten Menschheit, das sicherlich gut gemeint war und aus Menschenliebe entstand, zu verwirklichen, letztlich ebenso zum Scheitern verurteilt ist wie das ebenso gut gemeinte Projekt von Marx. Übrigens hat Marx viel mehr mit Novalis als mit Kant und Hegel gemeinsam. Beide, Novalis und Marx, vertreten die Idee einer vereinigten Menschheit, und beide wollen sie im Diesseits vereinigt sehen. Von beiden wird jede Spannung und jede gesellschaftliche Disharmonie oder Zerrissenheit als ein das Wesen des Menschen zersetzender Faktor empfunden. Im Gegensatz zu Kant, für den zum Wesen des Menschen eine „ungesellige Geselligkeit" gehört, steckt das Rationale und das Gute in dem zu verwirklichenden Zustand und nicht in den Mitteln, die das Zusammenleben der mangelhaften, gleichwohl vernünftigen menschlichen Wesen erträglich machen können und erst dadurch zur Verwirklichung des Guten beitragen. Für Novalis' (und Marx') Traum von einer vollkommenen Einheit ist meines Erachtens ein doppeltes Defizit kennzeichnend: Eine Fixierung auf den Endzustand führt erstens dazu, daß man nicht an das jetzt Erträgliche denkt und sich mit ihm zufriedengibt, und zweitens dazu, daß man auf die Annerkennungswürdigkeit, Wünschbarkeit und Rationalität der Mittel, die dazu dienen, das Zusammenleben zu organisieren, kaum reflektiert. Die ganze Aufmerksamkeit wird dem erhabenen und undiskutierbaren Zielzustand geschenkt. Das hat verhängnisvolle Folgen, die L. Kolakowski beschreibt: „Ein Traum von einer vollkommenen Einheit kann nur in einer karikaturistischen Gestalt verwirklicht werden, die aller ursprünglichen Intention widerspricht: als eine künstliche Einheit, die unter Druck von oben mit Zwang verwirklicht werden kann. [...] es gibt keinen Grund zu erwarten, daß dieser Traum jemals in einer anderen Form verwirklicht werden könnte als in der eines furchtbaren Despotismus; eine Despotie ist eine verzweifelte Imitation vom Para-
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dies."2 Freilich hat auch die Philosophie ihren Beitrag zur europäischen Geschichte des Despotismus geleistet. Dazu konnte es kommen, weil die Philosophie gegen ihre ursprüngliche Verfassung verstieß und sich in den Dienst des Machtstrebens stellte. Im Gegensatz zum Glauben aber anerkennt die Philosophie, ähnlich wie die aus ihr ausdifferenzierte Wissenschaft, recht verstanden keine andere Autorität als die des besseren Arguments. Deshalb ist die europäische Philosophie nur im Plural (sei es auch in einem bescheidenen Ausmaß) denkbar. Zum Wesen der europäischen Philosophie gehört ihr ständiges Bestreben, zu einer angemessenen und vor allem gut begründeten Ausdeutung der Welt zu gelangen. Der christliche Glaube läßt sich auf eine ähnliche Art nicht praktizieren, soweit er jedenfalls eine als ewig und überirdisch intendierte Wahrheit bewahren will. Deshalb benötigt der Glaube einen Katechismus und nimmt, im Unterschied zum philosophischen Wissen, nicht unbedingt Schaden, wenn er sich in Machtstreben oder in Machtausübung verstrickt. Selbstverständlich hat ebenso wie das philosophische Wissen auch der christliche Glaube einen unverlierbaren Wert im europäischen Leben. Aber beide repräsentieren verschiedene Formen der Einstellung des Menschen. Dabei muß jene Einstellung den Vorrang haben, die für die Philosophie kennzeichnend ist. Es ist nämlich so, daß „der Mensch als ein vernünftiges Wesen berechtigt ist, alle Behauptungen, alle Lehre, welche ihm Achtung auferlegt, zu prüfen, ehe er sich ihr unterwirft, damit diese Achtung aufrichtig und nicht erheuchelt sei."3 Dies gilt insbesondere für alle Behauptungen der Machthaber und über die Machtordnung, über die menschliche Freiheit und über das Zusammenleben von Menschen. Aber selbst dann, wenn der Glaube nicht charakterisiert wird als Bereitschaft, sich einer Autorität unterzuordnen, sondern als eine Weise „des Sichselbstgewahrwerdens des menschlichen Geistes" und damit als eine Weise der „Erschlossenheit von Welt" neben Philosophie, Wissenschaft und Kunst, kann der Offenbarungsglaube „von Seiten der Vernunft nicht eo ipso als die einzige und alles erfüllende Wahrheit gelten, sondern allein als ein Angebot, das dem durch Vernunft bestimmten und sich bestimmenden Subjekt, dem konkreten existierenden Menschen, zur Entscheidung aufgegeben ist."4 Eine solche Bestimmung des Verhältnisses von L. Kolakowski, The Myth of Human Self-Identity: Unity of Civil and Political Society in Socialist Thought, in: The Socialist idea: A Reappraisal, ed. by L. Kolakowski and S. Hampshire, London 1974, 34 f. I. Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, Ak.Ausg, Bd. VIII, 55.
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Glauben und Vernunft ist für Novalis offensichtlich nicht akzeptabel. Aber eben diese Bestimmung bringt, so meine hier verteidigte These, das Besondere und zugleich Konstitutive des Europäischen zum Ausdruck. Der Mensch darf, so meine ich, nicht danach streben, seine existentiellen Fragen, die er für sich selbst kraft des Glaubens möglicherweise enträtseln kann, auch für andere endgültig lösen zu wollen. Die Dimension des Zwischenmenschlichen, d.h. der gegenseitigen Freiheit, kann nur gemeinsam und kraft Vernunft geregelt werden. Deshalb ist für mich die Kantische Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben noch aktuell und zeitgemäß, während Novalis' Vision zur Gestaltung Europas mir kaum dienlich scheint. Vielmehr macht seine Vision darauf aufmerksam, wie sich in gut gemeinten Wünschen und Bestrebungen nach einer vereinigten Menschheit eine teuflische Gefahr verbergen kann. Für nicht nur sprachliche Verbesserungen möchte ich meinen Bonner Freunden, Frau Dr. Petra Kolmer und Herrn Martin Booms, herzlich danken.
H. M. Baumgartner, Endliche Vernunft. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Glaube, Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk, Schriften 5, Bonn 1995, 15 und 17.
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„Universelle Individualität". Zur romantischen Fiktion Europas nach Novalis 1. Die Befremdlichkeit der Rede Novalis' Rede Die Christenheit oder Europa (Okt.-Nov. 1799)1 ist ein nicht nur für heutige Ohren kurioses und wenig neue Erkenntnis abwerfendes Stück romantischer Prosa, jedenfalls für das erste Hören; ähnlich empfanden es wohl auch die Romantiker im Hause der Schlegels zu Jena, für die es nur ein erstes Hören gab, bevor der sich schließlich durchsetzende Vorschlag laut wurde, sie gar nicht erst ins Athenäum, das sozusagen hauseigene Presseorgan des romantischen Kreises, aufzunehmen. Religionskitsch, Geschichtspoesie und chiliastische Hoffnungen - umrahmt durch einen allenfalls märchenhaft zu nennenden Anfang Europas in den seligmachenden, friedensfürstlichen Armen der katholischen Kirche einerseits: „Wie wohltätig, wie angemessen der innern Natur der Menschen diese Regierung, diese Einrichtung war, zeigte das gewaltige Emporstreben aller ändern menschlichen Kräfte" (III, 509/507)2 und andererseits einer geweissagten, goldenen Endzeit in der paradiesischen Einheit einer alles Leben erfassenden christlichen Religiosität und Gemeinschaft:
In zeitgenössischen Briefen und Mitteilungen wird sie abwechselnd als Novalis' »Christenheit« oder seine »Europa« angesprochen, es handelt sich also in der Zusammenstellung nicht um einen originalen Titel des Autors (vgl. dazu R. Samuel in der Einl. zur Werkausgabe, Bd. III, 497-506). Novalis selbst bezeichnete sie vorzugsweise als seine »Rede« (s. Einl. des Hrsg. III, 497 f.), bisweilen auch als »die Europa« (Hrsg. III, 503). Seitenangaben mit vorangestellter römischer Ziffer beziehen sich auf den entsprechenden Band der Kritischen Ausgabe: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von P. Kluckhohn und R. Samuel, Darmstadt 1968; die Rede »Die Christenheit oder Europa« findet sich im III. Band hg. von R. Samuel in Zus. mit H.J. Mahl und G. Schulz. Angaben ohne Bandziffer beziehen sich auf die Ausgabe im Inselverlag: Novalis. Werke und Briefe, hg. von R. Bach, Leipzig 1942.
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„Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als friedliche und förmliche Staatsprozessen betrieben werden" (III, 524/526). Dazwischen eingeschlossen aber die, wie es scheint, Verniedlichung vieltausendfach tödlicher Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat, Kirche und Kirche, aufklärerischem Furor und restaurativer Borniertheit zu einem Prozeß angeblicher Reifung und Selbstfindung des europäischen Menschen. - Das mochte damals niemand, und das mögen wohl auch wir Heutigen nicht, zumal nach den weiterhin erbrachten Beweisen unseres schönen Reifeprozesses. Schon Schelling, noch während des Treffens in Jena, sah sich zu einem Verdammungsurteil in Knüttelversen herausgefordert:3 Solche Schreiber von religiösem „Wörterdunst", wie er es nennt, „Glauben sich in allen Gliedern trächtig Von dem neuen Messias noch ungeborn In ihrem Rathschluß auserkorn, Die armen Völker gross und klein Zu führen in den Schafstall hinein, Wo sie aufhören sich zu necken Hübsch christlich in Eins Zusammenblecken". Nun muß man erstens bedenken, daß das Befremden eine der klassischen Methoden rhetorisch figurierter Rede ist, ein Genre, zu dem sich Novalis in diesem Stück ja bekannt hat.4 Nur darf es auch nicht und durfte es nie zuviel des Befremdens sein, durch das eine Rede als Abgeschmackt' oder ,frostig' eingeschätzt und damit wertlos wurde.5 Zweitens zeigt ein genaueres und wiederholtes Lesen des Textes, daß das Verfremden, wie es Novalis hier übt - so freie Blüten treibend es auf Anhieb vielleicht wirken mag - in einem sogar noch über das Gemeinrhetorische hinausgehenden Sinn Methode hat, nämlich romantische Methode: „Die Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik", sagt Novalis in seinen spätesten Aufzeichnungen (Okt. 1800 III, 685/441). Ähnliches meint die berühmte Operation des „Romantisierens", die er in seinen Logologischen Fragmenten (1798) genauer expliziert: 3
.Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens', in: Schellingiana rariora, hg. von L. Pareyson, Torino 1977, 89-97, hier 95 f. 4 So der Hg. der Werke III, 498: „Novalis selbst nannte sie Rede". 5 Vgl. Novalis' eigene Urteile über „Redekunst", 469 f.
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„Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert [...]. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche; dies wird durch die Verknüpfung logarithmisiert. Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. [...] Wechselerhöhung und Erniedrigung" (II, 545/441 f.). Nach dieser Methode ist sichtlich auch die Rede Die Christenheit oder Europa gestrickt. Sie ist eine solche bewußt geübte Identifikation der bösesten und gemeinsten Realität, dem, wie es an einer Stelle heißt, „fürchterlichen Wahnsinn" (III, 523/524) der Nationen in Europa mit dem Höchsten ihrer Sehnsucht, nämlich einem Frieden, der alles zur Selbstentfaltung kommen, allem sein Recht angedeihen ließe. Ihr Anfang und Ende sind deshalb nicht gleichsam versehentlich märchenhaft und hymnisch, sondern mit Absicht und Methode. Der Überschwang von sehnsüchtiger Erinnerung des Vergangenen und hoffender Ahndung einer idealen Zukunft hat den einzigen Zweck, in einer grausamen Gegenwart die Tatkräfte der Verbesserung zu wecken und ihnen einen „ursprünglichen Sinn" vor Augen zu rücken, nämlich die friedliche Koexistenz oder, wie Novalis sehr viel sprechender sagt: „Reaktivität" (= Synergie, mit einem heute modischen Begriff): „Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Koaktivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen" (Poeticismen [1798] II,533/ 438). Nun wird man vielleicht einwenden: Was wir brauchen, was Europa braucht und was heute noch mehr der ganze Globus braucht, ist nicht eine Koaktivität des Endlichen mit - sei es eingebildetem oder wahrem Unendlichen, sondern allenfalls der Menschen miteinander oder mit der Natur. Was also geben uns die Phantastereien eines Novalis dafür? Doch ist es gerade diese Auffassung, daß das Endliche nur mit sich einhergehe und in Geschäften stehe, welche Novalis als eine Art von Selbstvergessenheit oder Selbstmißverständnis des Menschen vor Augen führen möchte. In der Reflexion anschließend an das Märchen vom seligen Anfangszustand Europas schreibt er: „Es war eine erste Liebe, die im Drucke des Geschäftslebens entschlummerte, deren Andenken durch eigennützige Sorgen verdrängt und deren Band nachher als Trug und Wahn ausgeschrieen und, nach spätem Erfahrungen
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Thomas Buchheim beurteilt, auf immer von einem großen Teil der Europäer zerrissen wurde. Diese innere große Spaltung, die zerstörende Kriege begleiteten, war ein merkwürdiges Zeichen der Schädlichkeit der Kultur für den Sinn des Unsichtbaren [...]. Vernichtet kann jener Sinn nicht werden, aber geteilt, gelähmt, von ändern Sinnen verdrängt" (111,509/508).
Anderswo6 bezeichnet er den auf diese Weise nur scheinbaren Vorzug der Kultiviertheit sogar als ein „Planierungssystem" für alles Abweichende oder Herausragende, d.h. für alle potentiell weiterbringenden Tendenzen. Die Kultivierung des Erreichten, so sehr sie die legitime Blüte früherer Fortschritte sein mag, bedeutet für Novalis immer eine Verkomplizierung, Versteifung, Selbstverwicklung des Lebens, das deshalb immer weniger hinaussieht über die gewonnene Form, sich nicht angewiesen glaubt und weniger hinüberblickt auf Fremdes und Anderes. Im Gegenteil dazu ist der Grundzug und die Stärke des Europäischen, nach einer modernen philosophischen Analyse von Remi Brague, gerade darin zu entdecken, daß das von Haus aus nur barbarische Wesen der Europäer immer über sich hinauslangt nach dem Fremden, der Kultur der anderen, und sich dieses durch Universalisierung versucht anzueignen.7 Bei Novalis ist in der Tat - legt man diese Auffassung zugrunde: durchaus europagemäß - „das Fremde" die Chiffre für das geistige Leben des Menschen überhaupt und damit auch für das Unendliche als den prinzipiell unauslotbaren und in keine endgültige Gewohnheit überführbaren Horizont eben dieses Lebens. Den Sinn dieses „Unsichtbaren" oder „Unendlichen" möchte er durch die Poesie wecken oder bestärken. Denn „Alles Neue wirkt, als Äußres, Fremdes, poetisch" (Allg. Brouillon 1798/ 99 111,303). Entsprechend lautet die todsuchende Klage in den Hymnen an die Nacht (1,152 f./50): „Die Lust der Fremde gieng uns aus". In theoretischen Aufzeichnungen (Romantische Fragmente 1798 11,646) heißt es ausführlicher: „Der Geist strebt den Reiz zu absorbieren. Ihn reizt das Fremdartige. Verwandlung des Fremden in ein Eigenes, Zueignung ist also das unaufhörliche Geschäft des Geistes. Einst soll kein Reiz und nichts Fremdes mehr sein. Der Geist soll sich selbst fremd und reizend sein, oder absichtlich machen können".
6 7
In der Sammlung Blüthenstaub (1798) 11,459; vgl. 466. R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt am Main 1993 (Europe, la voie Romaine, Paris 1992). Vgl. auch ders.: „Sohnland Europa", in: P. Koslowski und R. Brague (Hgg.), Vaterland Europa. Europäische und nationale Konflikte, Wien 1997, 21-40.
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Unter diesem Aspekt - des Fremden und seiner Funktion für das Leben könnte man also sagen, daß Novalis generell durch seine Dichtung das eigentlich Europäische in uns wachrufen und fördern möchte. Dies erfordert nun allerdings im ersten Schritt zunächst einmal die Auflösung der vorhandenen Verkrustungen und gegenseitigen Hemmungen des in mannigfaltige Gewohnheit und Selbstkultivierung verstrickten und damit ebenfalls, wenn auch in einem schlechten Sinne, typisch europäischen Lebens. Verfremdung und Befremdung sind deshalb die sich natürlicherweise nahelegenden poetischen Stilmittel. „Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Kristallisation. Es gibt aber eine geistige Gegenwart, die beide durch Auflösung identifiziert, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters" (Blüthenstaub 1798 11,461/322).
Novalis' Rede liegt der Anspruch völlig fern, etwas über die Vergangenheit oder geschichtliche Entwicklung Europas behaupten zu wollen, auch fern, ihm eine rosige Zukunft im Schafstall der Religion zu prophezeien. Das einzige, was sie bezweckt, ist die Gegenwart des Lebens zu einer „geistigen" statt „gewöhnlichen" umzugestalten, d.h. uns zu einer nicht auf Kristallisation und Verkrustung der eigenen Kultur gebauten, sondern von sich selbst freien und dem Fremden zugewandten Lebensart aufzufordern.8 Novalis Rede ist (wie es sich für das Genre gehört) eine Mahnrede oder protreptische Rede für uns, nicht ein Schwanengesang auf untergegangene und nur in der Phantasie wiederkehrende Zeiten. Man kann dies in der Tat den Grundtenor der ganzen Rede nennen: der Antagonismus von Befreiung und Erstarrung. Wo keine ausdrückliche Beziehung auf das Unendliche mehr geübt wird, da konvertiert auch der befreiteste Zustand wie von allein zur Erstarrung und Selbstvergessenheit bei den einmal gefundenen Errungenschaften der Kultur. Da dies als ein ganz allgemein auf das kulturelle und geistige Leben des europäischen Menschen zielendes Anliegen zu nennen ist, halte ich eine politische Deutung der Rede im engeren Sinn und innerhalb des Spannungsfeldes von konservativer Restauration und politischer Freiheits-Utopie für unangemessen oder mindestens nicht ihre eigentliche Stärke betreffend. Zur diesbezüglichen Debatte und unterschiedlichen Einschätzung der Rede vgl. bes. W. Maisch, »Europa«. Poetische Rede des Novalis. Deutung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart 1965; H. Kurzke: Romantik und Konservativismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, und H.-J. Mahl, Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hg. von W. Voßkamp, Stuttgart 1982, Bd. 3, 273-302.
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Schon gleich im märchenhaften Anfangszustand Europas ist dies der Keim der Perversion zum Schlechten: „Unendliche Trägheit lag schwer auf der sicher gewordenen Zunft der Geistlichkeit. Sie war stehn geblieben im Gefühl ihres Ansehns und ihrer Bequemlichkeit [...] In der Vergessenheit ihres eigentlichen Amts, die Ersten unter den Menschen an Geist Einsicht und Bildung zu sein, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewachsen" (111,510/509).
Fortan herrschte, so sagt Novalis, nicht mehr die Macht und der Geist des Christentums, sondern „seine Ruine, sein Buchstabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verspottung" (111,510/509). Die Ruine eines Geistes aber ist nichts anderes als seine Verkrustung zur bloßen Kultur, die man um der bloßen Selbsterhaltung willen pflegt. Ebenso werden alle weiteren Stationen der Geschichte geschildert: Die Reformation, im Namen und mit dem Recht des „Gewissens" (= Sinn für das Unsichtbare) aufgetreten, „vergaß" um dieses Ziel ihres eigenen Hervortretens und „trennte das Untrennbare" ohne Not, indem sie „einen neuen Buchstaben" dem bisherigen gegenübersetzte. Die Religion wurde ferner „irreligiöserweise in Staatsgrenzen eingeschlossen" und die Buchstabenphilologie vernichtete die „Irritabilität", d.h. Ansprechbarkeit des religiösen Sinns (111,511/510 f.). Genauso droht es mit der französischen Revolution zu gehen: „Soll die Revolution die Französische bleiben, wie die Reformation die Lutherische war? Soll der Protestantismus abermals widernatürlicherweise als revolutionäre Regierung fixiert werden? Sollen Buchstaben Buchstaben Platz machen? Sucht ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung, dem alten Geiste? Und glaubt euch auf eine bessere Einrichtung, einen besseren Geist zu verstehen!" (111,518/518).
Der immer wiederholte Grundfehler der europäischen Geschichte nach Novalis ist es, die Partei zum Geist zu erklären, die bestimmte kodifizierte Einrichtung zur wahren Entwicklung humanen Lebens, eine Gegenwart durch Kristallisation statt durch geistige Auflösung zu schaffen. 2. Zww Aufbau der Rede Wie schon gesehen ist die Grundhaltung der Rede eine bedeutend skeptischere, als auf den ersten Blick erkennbar ist: ein bloßes Märchen, gefolgt von einer einschneidenden Reflexion, gefolgt von einer geradezu deprimierenden Geschichtsdarstellung, mündend in eine negative Diagnose der Gegenwart, die schließlich radikale Wende-Bedingungen zu
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einer in utopischer Ferne liegenden, gebesserten Zukunft benennt. Insgesamt das kunstvoll veranstaltete Sich-Treffen von gemeiner Vergangenheit und idealer Zukunft zu einer poetischen, d.h. durch den Charakter geistiger Beweglichkeit und Auflösung statt Erstarrung gekennzeichneten Gegenwart, wobei diese Poesie aber erst noch zur Poiesis, d.h. zur wirklichen, handlungsleitenden Zielorientierung für Hörer aus Fleisch und Blut zu werden hätte, was der späte Novalis „Poesie mit lebendigen Kräften" 9 oder „mit lebendigen Figuren"10 nennt. Das wollte Novalis mit seiner Rede im Kreis der Romantiker erreichen, hat es aber schon dort nicht erreicht, womit die Rede in ihrem unmittelbaren rhetorischen Ziel eigentlich als gescheitert betrachtet werden muß. Deshalb ist es gar nicht so erstaunlich, daß Novalis kaum Ärger oder Enttäuschung zeigte, daß sie nicht publiziert wurde. Denn sie war bereits gescheitert und an ihren eigentlichen Adressaten abgeglitten. Ich beginne mit der Cäsur nach dem Märchen, nämlich der aus der Gegenwart erfolgenden Reflexion auf den Abstand zwischen zeitlosem Ideal (der Vergangenheit sowohl wie der Zukunft) und der zeitlich verfaßten realen Lage der Dinge: „Noch war die Menschheit für dieses herrliche Reich nicht reif" (111,509/507), und zwar aus mindestens drei prinzipiellen, d.h. in ihrem Wesen liegenden Gründen: der erwähnten „Schädlichkeit der Kultur für den Sinn des Unsichtbaren" (111,509/508), d.h. dem Hang zur Inkrustation; zweitens der Okkupation aller Kräfte zur Steigerung des je eigenen „Wohlbefindens", d.h. dem Hang zur Hypertrophie; drittens der Ablenkung im „Tumult zerstreuender Gesellschaften" (III, 510/508), d.h. dem Hang zur selbstvergessenen Oberflächlichkeit oder zum Zeitvertreib. Hinzu kommt als viertes der allgemeine Gesichtspunkt, daß alles Zeitliche einer „Oszillation entgegengesetzter Bewegungen" (111,510/509) wesentlich ausgesetzt ist und daß demzufolge nur dasjenige haltbar sein kann in der Zeit, was gelernt hat, diese Gegensätzlichkeiten in sich aufzunehmen und auszuhalten. Solange dies nicht der Fall ist, besteht die geschichtliche Wirklichkeit in einer zerstörerischen Abfolge antagonistischer und parteiischer Ruinen des ursprünglichen Geistes: „Einmal war doch das Christentum mit voller Macht und Herrlichkeit erschienen, bis zu einer neuen Weltinspiration herrschte seine Ruine, sein Buchstabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verspottung" (III, 510/509).
9 An Caroline (20. 1.1799) IV',27'5/657. 10 Allg. Brouillon 1798 111,496.
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Dieser Satz markiert das Ende der die Entfernung zwischen Ideal und Realität abschätzenden Reflexion auf den geschichtlichen Prozeß insgesamt. Dabei ist nicht einmal klar, ob - auf das Ganze der Rede gesehen überhaupt eine neue „Weltinspiration" ins Haus steht oder nicht. Nun aber folgt als dritter Teil der Rede die Beschreibung der ruinösen geschichtlichen Realität selbst als ein ständiger Wechsel von parteiischen Strebungen, die jeweils mit gutem Grund und berechtigten Zielen auftreten gegen eine selbstvergessene, vorangegangene Vormacht, die aber dann ihrerseits das Ganze der geschichtlich erreichbaren Welt ihrer Partikularität, nicht aber dem ursprünglichen universellen Anliegen zu unterwerfen suchen und dadurch selbst wiederum zur Ruine werden vor einer neuen, ihr entgegengesetzten Bewegung. So folgt der verkrusteten Macht des Klerus die Reformation; gegen ihre kleinliche Buchstabenphilologie (vgl. 111,512/511) erhebt sich die jesuitische Gegenreformation, die wiederum durch ihren alles Andersartige zerstörenden Eifer (111,514/514) zur Ruine wird. An dem nun sich verkrampfenden Streit der Religionen (der „Trennung des Untrennbaren" [111,511/ 510] zu „sektiererischer Abgeschnittenheit" 111,513/512) entzündet sich der generelle Gegensatz von „Wissen und Glauben" (111,515/515) und erhebt sich die gegen Religion überhaupt und alles Höhere zu Felde ziehende Aufklärung. Diese wiederum hypertrophiert sich in Deutschland einerseits zu moralisch-pädagogischer, aber in der Hauptsache kleinkarierter Selbstbeweihräucherung. Mit „Toleranz" als „Losungswort" (111,516/517) wird, sobald sich nur „irgendwo ein alter Aberglaube an eine höhere Welt" regt, dergleichen mit vereinter Kraft zum Erliegen gebracht. Während auf der anderen Seite, in Frankreich, sich die Aufklärung zur brutalen „Anarchie" und „Vernichtung alles Positiven" (111,517/517) auswächst, die allerdings - womit Novalis seinen Abriß der wahrhaft gemeinen und bösartigen Vergangenheit Europas beschließt - in der totalen Vernichtung so etwas wie die Chance auf einen neuen Anfang oder eine Neuschöpfung Europas auftut: „Der Geist Gottes schwebt über den Wassern, und ein himmlisches Eiland wird als Wohnstätte der neuen Menschen, als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerst sichtbar über den zurückströmenden Wogen" (111,517/518).
Die Frage ist nur: strömen sie denn zurück oder nicht? Kann der negativste Zustand der Gegenwart, und unter welchen Bedingungen in einen positiven Neubeginn umgemünzt werden? Hier entspinnt sich der vierte Teil der Rede, die Diagnose der Gegenwart und der Versuch, in ihr poetisch die Keime einer möglichen neuen Entwicklung zu entdecken. Der Text belegt den Wechsel der Tonart eindeutig:
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„Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor?"
Zugleich damit wird das poetische Projekt genannt, auf das die Diagnose schließlich zielt: „Die Last" „wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält." (111,517/518) Das heißt, es braucht die Erweckung jenes Sinns für das Unendliche, dessen Wiedergewinnung das ursprüngliche Ziel der Rede war. Deshalb muß zunächst die Lehre aus der Betrachtung der Geschichte gezogen und der immer wiederholte Fehler herausgestellt werden. Das geschieht mit der schon zitierten Fragenfolge, die beginnt: „Soll die Revolution die Französische bleiben ...?" (111,518/518). Ihre Pointe liegt darin, daß man nicht die partikuläre Einrichtung einer Idee, den einmal gefundenen „Logarithmus" des Unendlichen als solchen zum wahren Geist erklären und gegen alles andere zu universalisieren versuchen darf. Und sie mündet in dem berühmten, aber wohl manchmal mißverstandenen Satz: „O, daß der Geist der Geister euch erfüllte und ihr abließet von diesem törichten Bestreben, die Geschichte und die Menschheit zu modeln und eure Richtung ihr zu geben!" (111,518/518).
Sein Sinn ist nicht, daß die Menschen tatenlos dem Fortwandeln einer überpersönlichen Geschichte zusehen sollen, sondern nur, daß sie endlich aufhören, ihr ein künstliches, hypertroph in die je eigene partikulare Richtung zielendes Wachstum aufzwingen zu wollen. Das „künstliche Wachstum" des „Modeins" soll also in ein „natürliches Wachstum" gemeinsamen Emporkommens und Angezogenseins vom Höheren - dem Himmel - verwandelt werden (vgl. 111,513 f./5l3). Nach dieser allgemeinen Vorstellung des poetischen Projekts wird nunmehr Ausschau gehalten, was für Chancen oder Anhaltspunkte der negative Status quo der Geschichte bietet, wiederum unterschieden nach den im Fokus der Diagnose liegenden Ländern Frankreich und Deutschland. Hier bemerkt man sogar einen gewissen Sarkasmus: „In Frankreich hat man viel für die Religion getan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen [...] hat" (111,518/519).
Mit dieser Anspielung auf das Religionsedikt von 1790 wird das Negativste, die Zerschlagung aller öffentlichen Religionsausübung, zugleich gepriesen in ihrer Umwendbarkeit zur anfanggebenden Chance, „die Herzen wiederzugewinnen" und so auf dem Umweg über das innere Wachstum zu einer umso kräftigeren Äußerung zurückzugelangen. Die
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Zerschlagung der Kruste und Außenseite ist in ein neues Aufleben aus dem Innern umzufunktionieren. Das muß allerdings erst getan werden. Ebenso der andere mögliche Ansatzpunkt, der in Deutschland zuhause ist: Die Hypertrophie religionsfeindlicher Aufklärung durch den alles verständlich findenden „Stubenverstand" kann sich an ihrem letzten geheimnisvoll bleibenden Gegenstand, nämlich der Natur, in die ernste Arbeit vielfältigster Wissenschaften und Erkenntnisgewinnung wandeln. „In Wissenschaften und Künsten wird man eine gewaltige Gärung gewahr. Unendlich viel Geist wird entwickelt [...], nichts wird ungerüttelt, unbeurteilt, undurchsucht gelassen [...]. „Eine Vielseitigkeit ohnegleichen, eine wunderbare Tiefe, eine glänzende Politur, vielumfassende Kenntnisse [...] findet man hie und da, und oft kühn gepaart" (111,519/519 f.).
So ist ein überall sich interessierender „Fleiß" am Werk, im Einzelnen und Besonderen die „Grenzenlosigkeit" des Unendlichen und damit doch wieder Allumfassenden erfahrbar zu machen. In diesem Zusammenhang fällt auch das Oxymoron von der „universellen Individualität", in welcher eine „neue Menschheit" bestehen könnte, die jenes sich über zurückströmenden Wogen zeigende Eiland besiedeln soll. Ob es allerdings zu dieser Umwendung des Negativsten in das neu zu Gebärende kommen wird, bleibt bis zuletzt mehr als fraglich. Novalis' Rede ist nur poetischer Entwurf einer solchen verwandelten Gegenwart, der es, wie schon gesagt, nötig hat, durch handelnde Menschen in Poiesis überführt zu werden. Dessen ist sich gerade hier Novalis sehr bewußt, wenn er schreibt: „Reizender und farbiger steht die Poesie wie ein geschmücktes Indien dem kalten, toten Spitzbergen jenes Stuben Verstandes gegenüber. [...] Die tiefe Bedeutung der Mechanik lag schwer auf diesen Anachoreten in den Wüsten des Verstandes; [...] sie opferten dem ersten Selbstbewußtsein das Heiligste und Schönste der Welt mit wunderbarer Verleugnung und waren die ersten, die wieder die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Notwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen und die Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen durch die Tat anerkannten und [... der] Gespensterherrschaft ein Ende machten" (111,520/521).
Wenn überhaupt, so sind es vorläufig nur wenige einsame Anachoreten in der Wüste des Verstandes, die der poetisch entworfenen neuen Möglichkeit durch die Tat eine noch fast unaufspürbare Realität verschaffen. Ich denke, daß Novalis hier auf die Mitglieder des Jenaer Kreises (Schelling, Ritter, die Schlegels, Tieck, Steffens, auch Schleiermacher u.a.) anspielt. Die allerdings verschmähten die Ehre. Indien liegt eben, so reizend es für die Vorstellung wirkt, in unerreichbarer Ferne. Wichtiger
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ist, daß Novalis mit diesen Ausdrücken: „Heiligkeit der Natur" bis „Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen" auf dasjenige deutet, was er als die neue Religion ankündigen möchte. Denn er fährt fort: „Erst durch genauere Kenntnis der Religion wird man jene fürchterlichen Erzeugnisse eines Religionsschlafs [...] besser beurteilen." (111,520/521) Das heißt: erst wenn das Neue wirklich gewonnen wäre, könnte man vielleicht für die historischen Übel der Zwischenzeit eine Rechtfertigung finden.
Über jedes dieser Stichworte, die die neue Religion kennzeichnen, wäre viel zu sagen, wofür hier kein Raum ist. Allein eins ist klar, daß der Gott dieser Religion, und daß der neuzugewinnende Sinn des Unendlichen nicht einfach mit dem Inhalt und der rituellen Form überkommener christlicher Religion gleichgesetzt werden darf. Novalis schwärmt nicht der Wiedereinsetzung alter Buchstaben und Bibeln entgegen, sondern einer Neuentdeckung des Unendlichen in dem, was wir auch heute für das am meisten Wirkliche halten: Natur und Kunst, Wissenschaft und Lebensform und ihrer aller geschichtliche Existenz weise. 3. Was bedeutet »universelle Individualität«? Was ist es nun, das Novalis mit jener „universellen Individualität" zum Zielgedanken seiner Rede erhebt? Im Text wird sie vorbereitet durch die geschilderte „Gärung" der Wissenschaften und Künste, deren anhaltende Produktivität eine „Ahndung" von fünferlei Wesenszügen der „Innern Menschheit" vermittelt, welche bis dato brach oder verschüttet liegen. Alle fünf werden nur aufgezählt, aber nicht erläutert. Es sind: „schöpferische Willkür", „Grenzenlosigkeit", „unendliche Mannigfaltigkeit", „heilige Eigentümlichkeit" und „Allfähigkeit" (111,519/520). Gemeint sind offenbar Formen der Grenzüberschreitung oder Grenzerkundung (Gegenteile selbstzufriedener kultureller Inkrustation), d.h. Ausdrucksweisen des prinzipiellen Unzufriedenseins mit einer herrschenden, einmal gefestigten Normalität. In solchen Grenzgängen, Erkundungen und Erprobungen des »bis wohin man gehen kann« sammelt sich die ganze Kompromißlosigkeit und Ungehaltenheit des Menschen in dem, was nun einmal da ist und was ihn als einen besonderen, eingeschränkten Teil im Ganzen bestimmt. Es sind Formen des Ausgriffs oder Ausbruchs aus der Beschränktheit des Partikularen, die aber gegenüber der beschriebenen Historic Europas den Vorzug haben, eben nicht nur die je schon vorhandene Partikularität zum allein sich Durchsetzenden in der Welt machen
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zu wollen. Der Trieb zum Übergreifenden, eben Unendlichen, muß sich auf das richten, was ihn erlaubt, nicht auf das, was sich ihm entgegenstemmt, so daß eins von beiden zerstört wird. Besonderheit zerstört Besonderheit, Partei schwächt Partei. Aber nicht ebenso stört das vollendet Einzelne das übergreifende Ganze, zu dem es ja gehört, und nicht das Individuelle, das überall ein anderes ist, das Universum in seiner größten Mannigfaltigkeit. „Universelle Individualität" heißt nicht Verallgemeinerung der Besonderheiten eines Individuums, sondern im Gegenteil Individualisierung ihrer Verschiedenheit zu einem Maximum der Vielfalt. Jedenfalls kann man dies noch am ehesten den dunklen Sätzen und nur andeutenden (eben „ahndenden") Kennzeichnungen von Novalis entnehmen. Auch die Fortsetzung des Gedankens ist, wie seine Vorbereitung, ähnlich verrätselt und besteht vor allem in einer Aufzählung nicht ganz zusammenpassender Dinge. Doch ist Novalis die intellektuelle Redlichkeit durchaus zuzutrauen, daß er zeigen möchte, wie auch er für das unabsehbare Ziel menschlicher Entwicklung keine Theorie bereithält, die aufginge, sondern allenfalls eine vage sich abzeichnende Richtung voraussehen kann; zumal ja nicht, wie wir gesehen haben, die Betrachtung des Geschichtsgangs Europas das Ziel der Rede ist, sondern die Forderung, in bestimmter Weise nicht und in der nur sich andeutenden entschlossener zu handeln. So schreibt er: „Noch sind alles nur Andeutungen, unzusammenhängend und roh, aber sie verraten dem historischen Auge eine universelle Individualität, eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gottes [also eine ecclesia, die noch gar nichts weiß von ihrem Glück, das vereinigende Moment einer Gemeinschaft der Menschen zu enthalten] und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren [der Kirche] tausend Gliedern. Wer fühlt sich nicht mit süßer Scham guter Hoffnung? Das Neugeborne wird das Abbild seines Vaters, eine neue goldne Zeit mit dunkeln unendlichen Augen [...] sein" (III, 519/520).
Es fällt nicht eben leicht, hier der kühle Interpret unserer etwas profaneren Zeit zu bleiben und das Buch nicht zuzuschlagen. Gewiß ist, wie Novalis betont, das Gesagte „unzusammenhängend und roh", aber so viel scheint doch klar, daß jene „Kirche", die aus der universellen Individualität hervorgeht, eine von sich selbst „überraschte", d.h. eine unvorhergesehene Versammlung zur Einheit ist. Versammlung aber ist nichts anderes als Kirche, »ecclesia«. Und die Überraschung besteht wohl darin, daß in der unerbittlichsten und stringentesten Verfolgung des Individuellen, Einzigartigen durch Künste und Wissenschaften eben eine Versammlung überhaupt
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stattfinden kann, nämlich die um das Unendliche. Dieses aber wird nicht etwa in nur einem Zentralort des sich zusammenfügenden Gebildes empfangen, sondern in allen „tausend Gliedern" des so gesammelten Universums zugleich. Jeder, der die oben erwähnten Züge des Menschseins auf eine Weise zur Anwendung bringt, fühlt sich deshalb „guter Hoffnung" oder schwanger. Zu betonen ist also, daß Novalis nicht ein zentralistischer Bau der universellen Versammlung, sondern im Gegenteil ein extrem dezentralistischer Bau vorschwebt, dessen Zentrum, nach einer alten Idee des Unendlichen, überall und dessen Peripherie oder Begrenzung eben deshalb nirgends ist.11 Das müßte man also, falls man dem Text eine auch politisch signifikante Idee abgewinnen wollte, ebenso auf die Grundanlage politischer Organisation übertragen denken. Ich denke, daß durch diese Hinweise das Unbehagen, das einen beim Lesen beschleicht, etwas gedämpft und vielleicht aufgelöst werden kann. Das „Neugeborne" ist aus dem gleichen Grund ein ebenso vielfältiges, nämlich „goldne Zeit mit dunkeln unendlichen Augen", d.h. mit Augen, die den Sinn für das Unendliche wiedergewonnen haben. Mit ziemlicher Gewißheit aber heißt die Ausgeburt mit den unendlichen, dunklen Augen „Europa", die nach einer zwar falschen, aber verbreiteten Volksetymologie , d.h. die ,in Weiten Blickende' ist. So ist hier insgesamt und kurz gesagt wohl die Rede von einer Wiedergeburt Europas aus dem Geist mannigfaltigster und zum Äußersten getriebener Wissenschaft und Kunst. Das paßt zu Novalis und dem Jenaer Kreis ebenso, wie es uns besser passen wird, dies dabei zu verstehen. Das zentrale Paradox besteht darin, daß ein strenges und entschiedenes Vorantreiben der Individualität, sei es in Erkenntnis, Kunst oder der persönlichen Selbstbildung sich nicht etwa zusehends entfernt von dem Allgemeinen und einer gemeinsamen Verbindung, sondern über die darin entdeckte Unendlichkeit, die sich inkommensurabel zu jeder Partikularität verhält, doch zu einer um so intensiveren Zusammengehörigkeit, wenn auch überraschend, gelangt. Wenn jedes Individuum auf seine Weise vordringt zur Unendlichkeit, in der es sich nicht als Besonderes behaupten kann, sondern in dieser Hinsicht auflöst, dann stimmen alle in ihr überein. Und bevor sie dorthin dringen, werden sie, damit beschäftigt, auch nicht der wechselseitig zerreibenden Auseinandersetzung um Oberflächlichkeiten anheimfallen. 11 Es handelt sich um einen in zeitgenössischen philosophischen Entwürfen durchaus wieder geläufigen Topos, der einer der »Definitionen Gottes« aus dem ,Buch der 24 Philosophen' entspringt; vgl. dazu F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Th. Buchheim, Hamburg 1997, 130 f.
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Es war dies unter anderem einer der Grundgedanken von Schleiermachers kurz zuvor im selben Jahr verfaßten Reden über die Religion, von denen, wie bekannt, Novalis sich sehr inspiriert fühlte. Dort liest man bspw.: „insofern das einzelne wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich eins das andere zerstören durch sein Dasein; im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr".
- versteht sich, alles, was durch die konsequente Verfolgung eines jener Züge zum Unendlichen erst dorthin gelangen konnte.12 Aber auch bei Novalis selbst trat dieser Gedanke nicht zum ersten Mal in der vorliegenden Rede und nicht zum ersten Mal auf die Entwicklung Europas gemünzt hervor. Nur erscheint auch schon damals der Gedanke verklausuliert und verrätselt, wie meist bei Novalis, so daß er kaum zusätzliche Aufklärung verschaffen kann: „Es gibt drei Hauptmenschenmassen [wir würden sagen ,Klassen von Menschen']: Wilde, zivilisierte Barbaren, Europäer. Der Europäer ist so hoch über den Deutschen als dieser über den Sachsen, der Sachse über den Leipziger. Über ihn ist der Weltbürger. Alles Nationale, Temporelle, Lokale, Individuelle läßt sich universalisieren und so kanonisieren und allgemein machen. Christus ist ein so veredelter Landsmann. Dieses individuelle Kolorit des Universellen ist sein romantisierendes Element. So ist jeder National- und selbst der persönliche Gott ein romantisiertes Universum. Die Persönlichkeit ist das romantische Element des Ichs" (Ergänzungen zu den Teplitzer Frgg. 1798 11,616/388).
Der „Wilde" steht für sich isoliert und hat auch kein Mittel, seine Individualität zu universalisieren. Der zivilisierte Barbar lebt in einer gewissen kulturellen Gleichförmigkeit, die jedoch mit ihren partikulären Oberflächen leicht mit anderer Besonderheit ins Gehege kommt. So sind die Europäer sozusagen vor ihrer Wiedergeburt im Novalis'schen Sinne. Der eigentliche „Europäer" aber dringt durch die konsequente Anwendung eines der grenzgängerischen Wesenszüge der „Innern Menschheit" vor zu einer Sicht des Unendlichen, durch die er oder sie als Individualität universell, d.h. mit aller anderen entwickelten Individualität in Harmonie und Einverständnis ist. So ist er eigentlich schon „Weltbürger" und Kosmopolit. Überhaupt kann man sagen, daß Novalis' Entfaltung des Europäertums von vornherein auf den Kosmopolitismus, d.h. auf das 12 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1. Aufl. Berlin 1799 [anonym], 64 (Schleiermacher, Werke, Leipzig 1911, Bd. IV, 248).
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wirklich universelle Menschsein zielt. In mancher Hinsicht trifft er bereits mit unseren heutigen Auffassungen von einer notwendigen Globalisierung des Handelns und Wirtschaftens zusammen. Z.B.: „Man muß die ganze Erde, wie Ein Gut - und von ihr Ökonomie lernen. Die Staaten müssen endlich gewahr werden, daß die Erreichung aller ihrer Zwecke bloß durch Gesamtmaßregeln möglich sind. Allianzsysteme. Näherungen zur Universalmonarchie" (Frgg. und Studien 1799-1800 111,623). - wobei das letztere eher im Sinn organisatorischer Einheit als politischkonstitutionell zu verstehen ist. Daß der Europäer „über den Deutschen", wie dieser über den Sachsen und der wieder über den Leipziger zu stellen sei, will vor allem eines besagen: daß auch der Weltbürger durchaus z.B. ein Leipziger sein kann, so wie sogar „Christus" nur ein „veredelter Landsmann" gewesen ist. Das Universelle hat nicht einen eigenen, exklusiven Stammbaum, sondern trägt je ein anderes „individuelles Kolorit". Es ist vielmehr eine Frage der Anstrengung und Arbeit an sich selbst, ob etwas Bestimmtes oder jemand Besonderer universell wird oder nicht. „Alles Nationale, Temporelle, Lokale, Individuelle läßt sich universalisieren und so kanonisieren und allgemein machen". Freilich nicht dadurch, daß es seine Besonderheit allem aufzunötigen sucht, sondern dadurch, daß es sich zum Kanon, zur akzeptierten Maßstäblichkeit entwickelt und steigert. Die „Hauptmenschenmassen" sind nicht gottgegebene, unverrückbare Fakten, wie natürliche Arten, sondern hängen ab vom Agieren der Person. „Die Persönlichkeit ist das romantische [d.h. verändernde, bildende] Element des Ich". 4. Was könnte man aus Novalis gewinnen? Eine genauere Untersuchung des Gedankengangs in Novalis' Die Christenheit oder Europa zeigt trotz mancher zurückbleibender Dunkelheit und ihrem fast unerträglich feierlichen Ton einige gute Anknüpfungspunkte für zeitgenössische Problemlagen rund um Europa. Andererseits ist natürlich zuzugeben, daß die Verständlichmachung des Textes und das Abstreifen des befremdlich Überhöhenden keine ganz unerhörten Wahrheiten zutage fördert. Das Schlimmste nach Novalis ist: der von Trägheit in Bezug auf sich selbst und die eigene Entwicklung fortgetragene Ausdehnungsversuch der eigenen partikulären Lebens- und Denkweise. Die drei Stichworte des zu Vermeidenden waren: Inkrustation, Hypertrophie und Oberflächlichkeit. Die demgegenüber von Novalis empfohlene Methode lautet: eine durch
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unablässige Wahrnehmung des Fremden unternommene Arbeit an der Infinitisierung der eigenen Individualität und ihrer finiten Verhältnisse. Denn die Ausdehnung des Lebens im letzteren Sinn erlaubt, auch bei schärfstem Wettstreit, in der so verwirklichten Universalität des Unendlichen einig zu bleiben oder allererst zu werden. Statt der Dehnung der partikulären Oberflächen ist eine Steigerung der inneren Komplexität Richtung Unendlichkeit für die menschliche Existenz immer möglich. Der Streit dreht sich nicht um die Längen, sondern um Maßstäblichkeit für sie, „Kanonisierung" des ursprünglich Individuellen lautete das Stichwort, das Novalis gibt. Es soll sich also um einen Wettbewerb frei anzuerkennender Maßstäblichkeit in Wissenschaft, Kunst und Lebensart handeln. Wie das ins Genauere vor sich gehen könnte, ist nicht zu sagen. Es gibt keine vorgreifliche Theorie des Sinns des Unendlichen, ja nicht einmal eine Übersicht des eigenen, möglichen Weges dorthin, sondern diese Perspektive stellt sich, wie gehört, nur „überraschend" ein. Das aber hat zwei wesentliche Vorzüge auf seiner Seite: Erstens ist klar, daß nicht von irgendeiner übergeordneten Instanz aus ausgeschlossen werden darf, wo dergleichen passiert und wo nicht. Diese Unmöglichkeit wiederum verbreitet Freiheit für Unternehmungen aller Art und fördert und läßt alle Vielfältigkeit zu, sofern sie sich nicht im Wege der erstgenannten intolerablen Methode geltend zu machen streben. Das vielfältige Unternehmertum ist durchaus auch - wer wollte das ausschließen? - im ökonomischen Sinne zu verstehen. Novalis spricht in seiner Rede von der „Achtung des Weltlichen" als einem Element der zu gewinnenden Religion, die im übrigen „unter zahllosen Gestalten" ihren Gläubigen sichtbar werde (111,520/520). Was er mit „Achtung des Weltlichen" meint, ist zwar, wie so vieles, nicht ganz deutlich, aber es klingt sehr diesseitig. Wie überhaupt der Sinn des Romantisierens war, dem Diesseitigsten die Flügel des über es Hinausweisenden zu verleihen. Novalis hat in seinen letzten Lebensjahren verstärkt ökonomische Ideen verfolgt, und seine poetischen Pläne zumindest auch unter diesem Aspekt gesehen.13 Einmal schreibt er unter der Überschrift „Vom mercantilischen Geiste": „Der Handelsgeist ist der Geist der Welt. Er ist der großartige Geist schlechthin. Er setzt alles in Bewegung und verbindet alles. Er weckt Länder und Städte - Nationen und Kunstwerke." 13 Hierauf macht bes. F. Roder, Novalis: Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, Stuttgart 1992, aufmerksam: vgl. 633 f. (zur Rede insgesamt 619-634).
„Universelle Individualität". Zur romantischen Fiktion Europas nach Novalis
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Hiernach wären wir mit der jetzigen Methode der europäischen Einigung durchaus auf einem richtigen Weg. Allerdings fügt Novalis hinzu, und das läßt uns wieder ein Stück zurückfallen: „Der historische Handelsgeist - der sklavisch sich nach den gegebenen Bedürfnissen richtet - ist nur der Bastard des ächten, schaffenden Handelsgeistes" (Brouillon 1798/99 III, 464). Wesentlich ist also auch für den „Handelsgeist", wie überall im ,grenzgängerischen' Handeln und Denken, über das Vorgegebene hinauszustreben: deshalb ist, sich sklavisch nach gegebenen Bedürfnissen zu richten, eine Verfehlung jedenfalls des wahren Handelsgeistes. Gemeint ist stattdessen vielleicht so etwas wie ein , visionäres', ,innovatives' Unternehmertum, was auch heute viele sich wünschen. Gemeint ist aber auch wohl gar nicht nur das wirtschaftliche, sondern überhaupt das handelnde Leben im Verkehr mit anderen. So meint ein anderes Fragment aus derselben Zeit: „Schöne liberale Qeconomie. Bildung einer poetischen Welt um sich her. Dichten mit lebendigen Figuren" (Allg. Brouillon 1798/99 III, 496). Und noch in den spätesten Aufzeichnungen (Juni 1800) heißt es: „Sollten die Menschen nicht auch mehr, wie Geld, circuliren? [...] Ich gerate sonst auf den kümmerlichen Weg der Philisterey. Thätigkeit soll mich kuriren" (111,665). Das bringt mich schließlich zum zweiten Vorzug der Ansicht, daß das Ziel der Infinitisierung des Selbst sich nur überraschend einstellt. Er besteht darin, daß es dann so etwas wie Vorstufen auf dem Weg zum Sinn des Unendlichen geben muß. Das heißt, wir müssen nicht gewiß sein, überhaupt dorthin gelangen zu können, bevor wir uns auf den Weg jener das Fremde wahrnehmenden Arbeit an uns selbst machen. Selbst wenn wir Novalis lieber für einen haltlosen Schwärmer um das Irrlicht des Unendlichen hielten, könnten wir dennoch die Methode der sich universalisierenden Individualität mit einigem Ernst und Anstrengung üben, damit wir jedenfalls nicht zurückfallen in den alten Fehler der europäischen Geschichte, nämlich eine einmal gefundene Explikationsweise menschlichen Existierens zur Uniform des uns erreichbaren Globus zu machen.
WERNER STEGMAIER Nietzsche, die Juden und Europa Die Juden und Europa sind für Nietzsche ein Thema. Sie sind es in zweifacher Hinsicht: einerseits, sofern aus dem Judentum das Christentum und aus dem Christentum das christliche Europa hervorgegangen war,1 und andererseits, sofern jetzt, nachdem das christliche Europa an sich verzweifelte, es wiederum die Juden sein würden, die ein neues, besseres Europa hervorbringen könnten.2 Im Blick auf die Vergangenheit griff Nietzsche zugleich mit dem Christentum auch „die Juden" scharf an, und dies trug dazu bei, dass er - fälschlich - für einen Antisemiten gelten konnte.3 Doch er griff die Juden nur an, um das Christentum zu
1 Vgl. Josef Simon, Nietzsche on Judaism and Europe, in: Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture, London/New York 1997, 101-116 (dtsch. Heidelberg 1998, 112-125, unter dem Titel: Das Judentum und Europa bei Nietzsche). Simon macht vor allem deutlich, inwiefern Europa nach Nietzsche den Juden „den grossen Stil in der Moral" (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 250) verdankt. 2 Hierauf liegt das Schwergewicht des folgenden Beitrags. 3 Dies ist von der Nietzsche-Forschung immer wieder richtiggestellt worden. Vgl. zunächst den „Versuch" von Richard Maximilian Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch, Stockholm 1939,2. um einen Anhang und ein Nachwort erw. Aufl., hg. v. H.R. Schlette, Bonn 1985, später Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), 249-253, Michael Ahlsdorf, Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluß von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk, Phil. Diss. FU Berlin 1990, 7, Yirmijahu Yovel, Nietzsche, the Jews and Ressentment, in: R. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's Genealogy of Morals (Philosophical Traditions 5), Berkeley u.a. 1994, 214-236, Weaver Santaniello, Nietzsche, God, and the Jews. His Critique of Judeo-Christianity in Relation to the Nazi Myth, Albany (SUNY) 1994, die Beiträge des Bandes Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture, a.a.O., und zuletzt Yirmiyahu Yovel, Dark Riddle. Hegel, Nietzsche and the Jews, Tel Aviv: Polity Press 1998. - Hubert Cancik, Judentum in zweiter Potenz'. Ein Beitrag zur Interpretation von Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist', in: J. Mertin, D. Neuhaus, M. Weinrich (Hgg.), ,Mit unsrer Macht ist nichts getan ...' Festschrift für D. Schellong zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1963, 55-70, hat Nietzsche erneut „AntiJudaismus", nun „in zweiter Potenz" (61 f.), vorgeworfen (vgl. auch H. Cancik u. H. Cancik-Lindemaier, Philhellenisme et antisemitisme en Allemagne: le cas Nietzsche, in: D. Bourel u. J. le Rider (Hgg.), De Sils-Maria a Jerusalem, Paris 1991, 21-46). Andrea Orsucci, Orient- Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslö-
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treffen, und auch das Christentum nur, um die verfestigte Selbstgerechtigkeit der Moral aufzubrechen, die sich in seinem Namen in Europa ausgebildet hatte. Im Blick auf seine Gegenwart, die erhitzten Nationalismen und kämpferischen Sozialismen im Europa des 19. Jahrhunderts, zeichnete er die Juden dagegen vor allen ändern Völkern aus, eben weil sie keinen Nationalismus brauchten, um ein Volk zu sein,4 und keinen Sozialismus, um Gerechtigkeit zu lernen. Dies machte ihn zu einem erklärten „ Anti-Antisemiten ".5 Im Blick auf die Zukunft Europas im 20. und 21. Jahrhundert schienen ihm (schon damals) alle Nationalismen und Sozialismen „klein" gedacht, in allzu engen moralischen Horizonten, die gute, zukunftsfähige Politik nicht zuließen. Erst wenn beide überwunden sein würden, waren für Nietzsche neue politische Horizonte zu gewinnen, Horizonte einer
sung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 32), 318-340, hat auch diesen Vorwurf sorgfältig an Nietzsches Texten und deren Quellen widerlegt. - Daß Nietzsche kein Antisemit war, heißt nicht - und darin ist sich die jüngere Forschung einig -, daß er den Juden darum schon „gewogen" gewesen wäre (vgl. Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251). Wir sind heute, nach dem Holocaust, geneigt, die Stellung zum Judentum nach einem strengen Entweder-Oder zu beurteilen: wer nicht für „die Juden" ist, muß gegen sie (gewesen) sein. Zu Nietzsches Zeit hat man dagegen vom Antisemitismus als einem generellen „kulturellen Code" auszugehen (vgl. Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, 13 ff.). Hier sind darum die Differenzierungen des „Problems der Juden" (Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 475) bedeutsam, die Nietzsche vornimmt, insbesondere in Bezug auf das Problem Europas. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251, und Simon, Das Judentum und Europa bei Nietzsche, a.a.O., 119 f., und ders., Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft. Volk und Judentum bei Nietzsche, in: Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus. Forschungskonferenz des Instituts für Philosophie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg vom 3. bis 6. September 1995 in Greifswald, Berlin/New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36), 3-14. Vgl. Nietzsches Brief an seine Schwester Elisabeth Förster vom 7. Februar 1886 (KSB [Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, München/Berlin/ New York 1986] 7.147 ff.), in dem er sich einen „unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten" nennt. Er verbindet hier unmittelbar Europäertum und Gegnerschaft zum Antisemitismus. Die halb geliebte, halb verabscheute Schwester hatte einen bekennenden Antisemiten geheiratet, der daran ging, in Paraguay eine nationale und soziale Kolonie zu gründen, und auch Nietzsche um finanzielle Unterstützung gebeten. Nietzsche weist die Bitte gewunden zurück und versucht stattdessen die Schwester vom Unternehmen ihres Mannes abzubringen. Um des überseeischen „Abenteuers" eines „Agitators in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung" willen sei sie bereit, „ganz die Tradition ihres Bruders" aufzugeben: „wir freuen uns nicht mehr über das Gleiche."
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„großen" Politik eines „guten" Europa.6 Die Juden aber hatten früh gelernt, lernen müssen, in solchen Horizonten zu denken, dank der Lebensbedingungen, die ihnen in der europäischen Geschichte aufgezwungen worden waren. Nietzsche zog daraus die Folgerung, dass das zu Kriegen und Revolutionen aufgelegte Europa seiner Zeit am ehesten zu einem „guten" Europa werden könnte, wenn es sich, statt die Juden auszugrenzen, auf sie einließ. Die Juden, von denen er dabei sprach, waren wiederum die europäischen, genauer: die mittel- und westeuropäischen, nicht die orientalischen, aber auch nicht die osteuropäischen Juden, die im Einflußbereich Rußlands lebten. Die mittel- und westeuropäischen Juden hatten sich nach der Emanzipation um die Wende zum 19. Jahrhundert weitgehend an die modernen europäischen Gesellschaften assimiliert und sich in vielen Bereichen an ihre Spitze gesetzt. In Rußland hatte man im Zuge der Teilungen Polens den Juden am Ende des 18. Jahrhunderts einen „Ansiedlungsrayon" ausgewiesen, der von Litauen und Kurland im Norden über den russisch okkupierten Teil Polens, Weißrußland und die Ukraine bis zum Schwarzen Meer im Süden reichte und in dem sich die spezifisch jüdische Kultur des „Schtetl" entwickelte.7 Von den osteuropäischen Juden, die ebenfalls aus den Ghettos herauszudrängen begannen, ging schon Ende der 80er Jahre, als Nietzsche ansonsten noch kaum bekannt war, ein erster Nietzscheanismus, der „Jüdische Nietzscheanismus" aus.8 Nietzsche selbst erfuhr davon nichts mehr. Jedoch war für ihn Rußland, „jenes ungeheure Zwischenreich, wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst,"9 die stärkste Herausforderung Europas. Wenn es am ehe-
Einen kurzen und klaren Überblick zu Nietzsches politischem Denken über Europa gibt Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, a.a.O., 124-146. Der Ansiedlungsrayon beherbergte am Ende des 19. Jahrhunderts knapp 5 Millionen Juden, die Hälfte aller Juden auf der Erde. Dennoch machten sie nur ca. ein Neuntel der dort lebenden Gesamtbevölkerung aus. Als besonders „nützlich" betrachtete Juden wie Großkaufleute, Ärzte, Handwerker bestimmter Berufe durften sich außerhalb des Rayons aufhalten. Die armen Schichten lebten weitgehend in Ghettos. Seit 1880 setzte eine Massenauswanderung vor allem in die USA ein. Die assimilierten Juden in Mittel- und Westeuropa grenzten sich ihrerseits stark von den osteuropäischen Juden ab und unterstützten Bestrebungen, ihre Zuwanderung zu verhindern (vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251: „.Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Ostreich) zu die Thore zusperren!'"). Vgl. Ludger Heid, Das Ostjudenbild in Deutschland, in: Julius H. Schoeps, Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh 1992, 350-352. Er war in sich wiederum außerordentlich vielgestaltig. Vgl. Stegmaier/Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus, a.a.O., Einleitung. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 208 (KSA 5.139).
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sten die Juden waren, durch die Europa sich erneuern konnte, so war es vor allem Rußland, das es dazu zwang.10 i. Die Identität Europas oder: Europa und seine „christliche Moral-Hypothese" Man kann in Europa eine territoriale, eine ökonomische, eine politische und eine kulturelle Einheit sehen. Für Nietzsche war es all dies nicht. Als Kontinent war Europa nur ein „vorgeschobenes Halbinselchen" Asiens,11 seine ökonomische und politische Einheit war nicht in Sicht, deren Notwendigkeit noch nicht einmal erkannt, und die Kultur Europas war für ihn noch keine, die den Namen verdiente. Und doch war Europa Europa. Es war für ihn durch etwas anderes, kaum Greifbares, aber um so stärker Zwingendes bestimmt, durch eine Moral, „eine Summe von kommandirenden Werthurteilen [...], welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind."12 Was in Fleisch und Blut übergegangen ist, bestimmt das Denken und Handeln so sehr, dass es nicht mehr wahrgenommen wird. Es sei denn, es versagt. Im 19. Jahrhundert hatte die Moral Europas zu versagen begonnen: sie war, so Nietzsche, nihilistisch geworden. Und dadurch wurde sie nun auch kenntlich. 10 „Asien" wirkte auf Europa und seinen Anwalt, Nietzsche, ähnlich fremd und irritierend wie „die Juden" (vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 475). Die Angst vor „Asien" und vor „den Juden" vereinigte und potenzierte sich in der Angst vor den Ostjuden (vgl. Ludger Heid, Das Ostjudenbild in Deutschland, a.a.O.). Ernst Nolte hat daraus Hitlers Krieg gegen Rußland und seine Vernichtung der europäischen Juden erklärt und zunehmend auch mit der Vereinnahmung von Nietzsches Denken legitimiert (Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action fra^aise, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, München 1963, bes. 533 f.; Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987, bes. 514 f.; Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt am Main/Berlin 1990, bes. 192 f.; vgl. Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 18901990, Berkeley 1992, dtsch.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, aus dem Engl. v. K. Laermann, Stuttgart/Weimar 1996, 344-348). Nietzsche selbst dürfte nichts mehr als das Denken der Nationalsozialisten zurückgewiesen haben. 11 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 52. - Vgl. auch Paul Valery, Zur Krise des europäischen Geistes (Beiträge aus den Jahren 1897 bis 1937), in: P.V., Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt am Main und Leipzig 1995, 34: „Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands?". Auf beide greift Jacques Derrida mit seinen Europa-Essays zurück (Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Frz. v. A.G. Düttmann, Frankfurt am Main 1991). 12 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 380.
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In Rußland, am Rand Europas, war man darauf zuerst und am stärksten aufmerksam geworden, und von dort übernahm Nietzsche auch den Begriff des Nihilismus.13 Dort wollte man den Nihilismus jedoch gerade durch eine Erneuerung des Christentums, also religiös überwinden.14 Nietzsche versuchte den „europäischen Nihilismus"15 stattdessen philosophisch aufzuklären und fand, dass die Moral Europas von Anfang an nihilistisch gewesen war - seit es sich als christliches Europa formiert hatte. Europa wurde danach zu Europa durch die „christliche Moral-Hypothese". Sie gab, so Nietzsche, dem Einzelnen einen „absoluten Werth" (vor Gott) und dem „Leid und Übel" in der Welt „Sinn" (durch das Leiden Gottes am Kreuz), und die Philosophie, die ihr diente, sicherte für das „ Wissen um absolute Werthe beim Menschen" „adäquate Erkenntniß" zu. Durch diese dreifache Sinngebung habe die „christliche MoralHypothese" damals die Gefahr des „Nihilismus" bannen können, die bedrohliche Einsicht, dass es mit dem immer Ungewissen und so oft leidvollen Leben, seiner „Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens" nichts ist, nichts auf sich hat. Die „christliche Moral-Hypothese" machte, so Nietzsche, diesen Nihilismus erträglich,
13 Zur Herkunft des Nihilismus-Begriffs vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Art. Nihilismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Darmstadt 1984, Sp. 846853, zum Nihilismus-Begriff in Rußland daran anschließend W. Goerdt (Sp. 853854), zum Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie Elisabeth Kühn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 25). 14 Der Versuch zur religiösen Überwindung des Nihilismus in Rußland gipfelte im Werk Dostojewskis und in Tolstois Bekenntnisschrift Mein Glaube (1884/85), die Nietzsche beide hoch schätzte (vgl. Lev Schestov, Tolstoi und Nietzsche, Köln 1923; ders., Dostojewski]" und Nietzsche, Köln 1924). Sie trugen ihrerseits dazu bei, der starken Wirkung Nietzsches in Rußland den Weg zu ebnen (vgl. Maria Deppermann, Nietzsche in Rußland, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), 211-252, bes. 227, die über zwei von George Kline und Bernice Glatzer Rosenthal veranstaltete Forschungskonferenzen berichtet). 15 Ein Nachgelassenes Fragment Nietzsches aus der Zeit vom Sommer 1886 bis Herbst 1887 ist überschrieben „Der europäische Nihilismus" und datiert „Lenzer Heide den 10. Juni 1887", KGW Vffl 5 [71] / KSA 12.211-217 (im folgenden Lenzer HeideFragment genannt). In dessen ungewöhnlich langen, zum Teil ausgearbeiteten, zum Teil nur skizzenhaften Notizen versucht Nietzsche über sein Denken zu Europa, dessen besonderer Moral und deren Nihilismus Übersicht zu gewinnen. Das Fragment bietet die zugleich umfassendste und dichteste Darlegung des „europäischen Nihilismus" (zur Übersicht vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral'. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, 49-54). Es ist dennoch bisher kaum im Zusammenhang interpretiert worden. Vgl. jedoch den Beitrag von Johann Figl in diesem Band.
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sie war, mit einem Wort, „das große Gegenmittel" gegen das Leiden, und sie war es, indem sie dem Leiden selbst einen „absoluten" Wert zusprach, einen Wert, der nun durch keine Erfahrung mehr anzufechten war.16 Nach Nietzsches Vermutung machten also nicht so sehr bestimmte Werte Europa zu Europa, sondern die Absolutsetzung von Werten, die sich in einem einzigen konzentrierten, dem Leiden des Einzelnen. Europa hätte sich danach um den Gedanken versammelt, dem Einzelnen sein Leiden unter den Zufällen des Lebens erträglich zu machen, indem es ihn auf ein Absolutes, allen Zufällen Enthobenes, Unbedingtes blicken ließ, auf das er sein Handeln ausrichten sollte. Dieses Absolute, Unbedingte war eine „Hypothese" und als grundsätzlich nicht überprüfbare eine „metaphysische" Hypothese. In ihr fanden sich - darin ist sich Nietzsche mit vielen früheren Interpreten, darunter Hegel, einig - das Judentum und das Griechentum zusammen, das Judentum mit seinem Gedanken eines einzigen jenseitigen Gottes und die griechische Philosophie mit ihrem Gedanken einer ebenfalls jenseitigen, sonnengleichen, alles erhellenden und in sich seligen Vernunft. Zusammen ergab das, so Nietzsche, den „Platonismus für's ,Volk'",17 das Christentum. Das Christentum vereinigte in seiner Sicht so das Judentum des Orients mit dem Griechentum des Okzidents zu einer auf Jahrtausende wirksamen „moralischen Ontologie".18 Das Verlangen eines kleinen jüdischen für alles Leiden aufs äußerste empfindlichen „Berg-, See- und Wiesenpredigers" nach „Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz", nach „Liebe als einziger, als letzter Lebensmöglichkeit"19 des Leidenden, wurde mit Hilfe der griechischen Philosophie, die er, dieser Jesus von Nazareth, nicht kannte und die ihrerseits an derartiges nicht gedacht hatte, nach und nach mit einer so weit- und tiefgreifenden philosophischen Begründung ausgestattet, dass es die Gestalt einer metaphysischen Moral-Hypothese annehmen konnte, die unabhängig von allen besonderen Erfahrungen unbedingt und universal gelten sollte. Es wurde „gut" und „wahr". Wenn das Gute aber zugleich das Wahre und das Wahre das Gute ist, werden beide unanfechtbar, gegen alle Kritik immun. So konnte die metaphysisch-christliche Moral zum „herrschenden Gedanken" Europas werden.20 Europa
16 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 1. 17 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Vorrede. 18 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1886 - Frühjahr 1887, KGW VIII 7 [4] / KSA 12.265. 19 Nietzsche, Der Antichrist, Nr. 31, 29, 30. 20 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, I, Vom Wege des Schaffenden.
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war schließlich so vollkommen von der Universalität seines Guten und Wahren überzeugt, dass es sich in der Folge moralisch berechtigt und verpflichtet glaubte, auch all die, die noch nicht fähig oder bereit waren, sich ihm anzuschließen, von ihm zu überzeugen oder, wenn sie sich nicht überzeugen ließen, mit Gewalt zu unterwerfen. Wenn Nietzsche die europäisch-christliche Moral eine „Hypothese" nannte, stellte er sie damit in Frage. Im modernen, wissenschaftlichen Sinn läßt eine Hypothese immer auch andere Hypothesen zu. Eine Moral aber, die vollkommen von sich überzeugt ist, duldet keine andere neben sich. Sie akzeptiert nicht, eine bloße Hypothese zu sein, und greift jeden, der sie so nennt, als unmoralisch an. Nietzsche gestand der europäischchristlichen Moral das zu und stellte es in Rechnung. Er sah, dass eine absolute Moral durch nichts anderes als durch sie selbst in Frage gestellt werden kann. Die europäisch-christliche Moral aber war so angelegt, dass sie mit der Zeit nicht umhin konnte, eben das zu tun. Sie konnte nicht umhin, sich in Frage zu stellen, weil sie den Anspruch auf „Wahrheit" erhob. Denn dieser Anspruch auf Wahrheit schloß den Anspruch auf deren Überprüfbarkeit ein. Mit der philosophischen Vernunft war auch die philosophische Kritik Teil der europäischen Moral geworden.21 Im christlichen Kontext sprach diese Kritik als Gewissen, und aus dem Gewissen konnte im modernen wissenschaftlichen Kontext wiederum, so verwoben sich nach Nietzsche die Fäden, die Gewissenhaftigkeit werden, mit der nun die „extreme Hypothese" ,„Gott'"22 in Frage gestellt wurde: „Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der
21 Die kritische Tradition der europäischen Philosophie geht bis auf Sokrates, einer ihren Gründerväter, zurück. Er fragte beharrlich nach einem Wissen vom Guten und Bösen und verneinte ebenso beharrlich, selbst ein solches Wissen zu haben oder bei ändern gefunden zu haben. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 202: „Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte Schlange einst zu lehren verhiess, - man ,weiss' heute, was Gut und Böse ist." (Vgl. dazu Werner Stegmaier, Philosophieren als Vermeiden einer Lehre. Inter-individuelle Orientierung bei Sokrates und Platon, Nietzsche und Derrida, in: Josef Simon (Hg.), Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt am Main 1995, 213-238.) Auch Christus versteht der späte Nietzsche nicht als Begründer einer Moral, sondern als Kritiker aller Moral (vgl. dazu ders., Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von »Der Antichrist« und »Ecce homo«, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), 163-183). 22 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 3.
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Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis."23
Nietzsche spricht von der „Selbstaufhebung" der griechisch-christlichen Moral,24 von „Europa's längster und tapferster Selbstüberwindung".25 Sie müßte dazu führen, dass über Moral und Wahrheit nun anders gedacht werden konnte, als es bisher möglich und erlaubt war, dass das europäische Denken sich dafür öffnete, dass es jenseits seines eigenen Gut und Böse andere Moralen mit ihrem Gut und Böse geben konnte, die ihm selbst fremd geblieben waren und über die es darum nicht zu richten befugt war. Öffnete es sich dafür, würde es, war Nietzsches These, erst zu einem „guten Europa" werden, einem Europa, das über seine eigene Moral hinausdenken und andere Moralen gelten lassen kann. Auch vom künftigen Europa hat Nietzsche also einen moralischen Begriff, den Begriff jedoch nun einer Moral, die sich selbst zur Disposition stellen kann. Es gab für Nietzsche Anzeichen dafür, dass es „nunmehr vorbei" war, mit gutem Gewissen auf der Wahrheit der eigenen Moral zu bestehen; dies hatte nun, zumindest bei „allen feineren Gewissen", „das Gewissen gegen sich". „Feinere Gewissen" sind solche, die fähig sind, auch gegenüber ihrem eigenen Gewissen gewissenhaft, auch gegenüber ihrer eigenen „Wahrheit" wahrhaftig zu sein, und „mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europa's längster und tapferster Selbstüberwindung".26 Vorerst jedoch war es noch ein gewagtes „Abenteuer" weniger Einzelner, so zu denken. Im ganzen konnte so schnell nicht umgedacht werden. Nietzsche erwartete zunächst katastrophale Folgen der Umorientierung. Mit der „Selbstaufhebung" des absoluten Anspruchs der Moral, durch den in Europa die Gefahr des Nihilismus gebannt worden war, mußte auch der Nihilismus zurückkehren, und nun in einer neuen, 23 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 357. Vgl. auch Lenzer Heide-Fragment, Nr. 2, und Zur Genealogie der Moral III, 27, wo Nietzsche die Stelle zitiert und den Schluß nochmals bestärkt. 24 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, KGW VIII 5 [72] / KSA 12.217 (Notiz im Anschluß an das Lenzer Heide-Fragment), und Zur Genealogie der Moral III, 27. Zu Nietzsches - von dem Hegels abweichenden Begriff der Selbstaufhebung vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, 298-304, und (ohne Kenntnis des vorigen) Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Würzburg 1995. 25 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 357 / Zur Genealogie der Moral III, 27. 26 Ebd.
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bedrohlicheren Gestalt. Die scheinbar absolute, wahre Moral war nun als eine nur bedingt gültige zu erkennen, als bloße „Interpretation", die bestimmten Menschen von bestimmter Art unter bestimmten Bedingungen zu leben half. An eine Interpretation aber kann man nicht glauben, und wenn nun die Wahrheit selbst eine Interpretation ist, kann sie auch nicht mehr durch eine andere Wahrheit ersetzt werden; denn auch sie wäre dann eine bloße Interpretation. So war man durch die Enttäuschung über die „Wahrheit" als solche, die dem Dasein und seinen Übeln „Sinn" geben sollte, „überhaupt gegen einen ,Sinn' im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden". Das Ergebnis war, dass nun „alles umsonst"" schien: „Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei."27
Europa konnte nur ein „gutes Europa" werden, wenn es sich seinem neuen Nihilismus tapfer stellte - den es selbst aus der Moral hervorgebracht hatte, die ihn ursprünglich bannen sollte. Nietzsche wollte darauf aufmerksam machen, zeigen, dass die scheinbar absolute Wahrheit der europäischen Moral eine Interpretation im Lebensinteresse der Europäer war. Er tat dies nicht, indem er die alte Wahrheit zu widerlegen versuchte - eine absolute Wahrheit läßt sich nicht widerlegen -, sondern indem er seinerseits Gegen-Interpretationen zu ihr entwarf. Als solche Gegen-Interpretationen sind seine späten „Streitschriften", vor allem Zur Genealogie der Moral und Der Antichrist zu verstehen.28 Dort nun schreibt er „den Juden" die Kraft zu einer „radikalen Umwerthung" von Werten zu, der Werte ihrer „Feinde und Überwältiger", der Römer, die mit aristokratischen Tugenden und militärischer Stärke die Herrschaft über ein Weltreich errichtet hatten. Er entwirft eine welthistorische Intrige:29 das kleine Volk, das, von einem machtvollen Gott geführt, sich sein heiliges Land erorbert und dort große Könige erlebt hatte, dann, nach innerem Zwist, von den Babyloniern unterworfen und ins Exil getrieben worden war, hier nur noch durch seine Religion ein Volk bleiben konnte, so schließlich ganz auf seine Priester hörte und zum „priesterlichen Volk" wurde, dieses tief religiöse und tief gedemütigte Volk, das mit allen militärischen Aufständen gegen
27 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 4. 28 Die Genealogie der Moral verfaßte Nietzsche wenige Wochen nach der Niederschrift des Lenzer Heide-Fragments vom 10. Juli bis 28. August 1887 (vgl. Stegmaier, Nietzsches >Genealogie der Moral·, a.a.O., 32-35), Der Antichrist Ende 1888. 29 Vgl. Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', a.a.O., 109-114.
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die verhaßte Herrschaft der Römer gescheitert war, habe sich „durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu schaffen" gewußt- es habe sich das Leiden aller Ohnmächtigen, Schwachen und Schlechtweggekommenen im Römischen Reich zunutze gemacht, um ihm durch Moral Sinn zu geben und selbst als Verwalter dieser Moral über sie zu herrschen. Es habe einen „Sklavenaufstand in der Moral" verursacht und damit das Christentum auf den Weg gebracht, das zuletzt tatsächlich in Rom über Rom gesiegt und in der Folge Europa unumkehrbar geprägt habe.30 Nietzsche kann dem, bei aller Kritik der Moral selbst und den Gefühlen des „Hasses" und der „Rache", von denen sie ausgegangen sei, seine Achtung nicht versagen: eine solche Politik durch Moral, wie sie „den Juden" gelungen sei, sei „wahrhaft grosse Politik".31 Dies war für jeden, der es sehen wollte, nicht historische Wahrheit, sondern eine polemische, extrem zugespitzte Gegen-Interpretation, allein dazu entworfen, die christliche Moral (oder was dafür galt) in ihrer Selbstgerechtigkeit zu treffen. Die Juden zu Nietzsches Zeit fühlten sich denn auch wenig davon betroffen.32 Was seine Interpretation der Zukunft Europas, der Folgen des Nihilismus seiner Moral, betraf, verfuhr Nietzsche weit zurückhaltender. Er sprach davon nur wenig in den Werken, die er noch zur Veröffentlichung vorbereitete (das sind vor allem die Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Ecce homo). Deutlicher sind sie dem Nachlaß zu entnehmen, Notizen, die Nietzsche für sich selbst machte. Im Anschluß an die Genealogie der Moral notierte Nietzsche,33 er wolle „die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte" erzählen und darin beschreiben, „was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann schon jetzt erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in 30 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral I, 7, und I, 16. Vgl. zuvor schon Jenseits von Gut und Böse, Nr. 195 (zitiert in Zur Genealogie der Moral I, 7), und danach Der Antichrist, Nr. 24-26. 31 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral I, 8. - Sie hätten mit ihr, fügt er Zur Genealogie der Moral I, 16, hinzu, „eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen" bewiesen: „man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist." Vgl. Der Antichrist, Nr. 24. 32 Vgl. die Beiträge von Friedrich Niewöhner, Menachem Brinker, Manfred Voigts, Uschi Nussbaumer-Benz, Hanna Delf, Jacob Golomb und Renate Reschke in: Stegmaier/Krochmalnik (Hgg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a.a.O. 33 Nachgelassene Fragmente, November 1887 - März 1888, KGW VIII11 [411] / KSA 13.189 f.
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hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt sich überall an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen."
Nietzsche will die „Logik" dieser Notwendigkeit „zu Ende" denken, um aus ihrer rückhaltlosen Kenntnis Möglichkeiten einer „Gegenbewegung" abschätzen zu können. Seine Mittel, fügt er hinzu, sind die eines Philosophen, der „Nichts bisher gethan [hat] als sich zu besinnen", eines Philosophen jedoch, der „Einsiedler aus Instinkt" war, der „seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und -Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, - der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat ..."
Einen „Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird", nennt man sonst einen Propheten; die Propheten der hebräischen Bibel tun nichts anderes, als Schlüsse aus der Gegenwart und der Vergangenheit auf die nächste Zukunft zu ziehen. Und wie sie dem Volk, dem sie prophezeien, selbst zugehören und sein Schicksal teilen, schließt sich auch Nietzsche in den Nihilismus Europas ein, als den, der ihn ganz durchlebt hat. Seine Prophezeiungen waren denkbar düster. Der neue, gegenwärtige „europäische Nihilismus", erwartet er, wird weit schwerer zu ertragen sein als der ursprüngliche. Denn er ist nun ein Nihilismus der Enttäuschung, der Enttäuschung über das christlich-moralische Denken, das sich als „Gegenmittel" gegen den Nihilismus selbst diskreditiert hat.34 Mehr noch: mit der gewissenhaften Kritik seiner selbst, seiner moralischen Kritik der Moral, war das moralische Denken in einen „Antagonismus" geraten,35 eine Aporie, die es nicht mehr auflösen kann. Die Folge ist, so Nietzsche, dass es sich selbst auflöst.
34 Der Philosoph dieser Enttäuschung war für Nietzsche Arthur Schopenhauer. 35 Den moralischen Antagonismus, „das was wir erkennen, nicht zu schätzen" - nämlich die dunklen Gründe seiner Moral - „und das, was wir uns vorlügen möchten" die Absolutheit eben dieser Moral, die nun in ihre dunklen Gründe blickt -, „nicht mehr schätzen zu dürfen" (Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 2).
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Sein „Auflösungsprozeß"36 würde dann nicht nur es selbst betreffen, sondern das Leben im ganzen, das durch es strukturiert ist. Der neue Nihilismus tritt zwar, überlegt Nietzsche weiter, einerseits unter günstigeren Lebensbedingungen der Menschen ein: „das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa", Technik und Medizin, ein differenziertes Rechtssystem, eine rational organisierte Verwaltung und inzwischen auch umfassende Sozialversicherungssysteme haben es erheblich erleichtert. Die „moralische Interpretation" der Leiden der Menschen ist dadurch nicht mehr „so nöthig".37 Andererseits aber hat diese „moralische Interpretation" im Laufe von Jahrtausenden den Europäern das Bedürfnis nach einem „Sinn" des Lebens so „eingefleischt",38 das es nun weiter seine Erfüllung fordert. Die Europäer sind moralische Wesen geworden und können ohne moralische Interpretationen des Lebens im ganzen nicht mehr leben. Sie werden nicht mehr an solche Interpretationen glauben, aber sie werden auch den Verlust des Rechts auf sie nur schwer verkraften. So werden sie, schließt Nietzsche, zunächst im Denken selbst gelähmt sein.39 Lähmung des Denkens ist völlige Desorientierung. Sie führt, so Nietzsche, zu einem „blinden Wüthen". Man mußte damit rechnen, dass die „Schlechtweggekommenen", denen die Moral verloren ging, die sie am Leben gehalten hatte, in einen „ Willen zur Zerstörung" verfielen, zur Zerstörung ihrer selbst und von allem, was nun „in diesem Grade sinn- und ziellos" geworden war. Die Erfahrung des Nihilismus mußte hier in einen „ Willen ins Nichts" umschlagen, aus „Instinkt", nicht aus Überlegung. Menschen, die „keinen Trost mehr haben", werden „zerstören, um zerstört zu werden," sie werden, befürchtete Nietzsche ebenso hellsichtig wie beängstigend, am Ende „die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein."40 Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Totalitarismen, die Weltkriege, der Holocaust, könnten „Symptome",41 vielleicht nur erste Symptome des Nihilismus der europäischen Moral gewesen sein. 36 Ebd. 37 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 3. 38 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 2. 39 „Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage ,sind nicht alle .Werthe' Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?' Die Dauer, mit einem .Umsonst', ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht , sich nicht foppen zu lassen." (Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 5). 40 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 4, 9, 11, 12 u. 14. 41 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 11.
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2. Der „Prozess des werdenden Europäers" Nietzsche versucht die „Crisis" der europäischen Moral42 zugleich philosophisch und „psychologisch" zu fassen, einerseits vom Selbstverständnis der Moral und andererseits von ihren Wirkungen auf den Einzelnen her.43 Daneben und früher schon verfolgt er die Wandlungen der europäischen Moral anhand der Wandlungen der Gesellschaft, nach heutigen Begriffen also in einer soziologischen Perspektive.44 Er beobachtet einen Prozeß der Europäisierung der europäischen Gesellschaften im Fortgang des 19. Jahrhunderts.45 In diesem Prozeß erweisen sich, um es vorwegzunehmen, die Juden als die Zukunftsfähigsten. Für die Europäisierung der europäischen Gesellschaften gibt es nach Nietzsche insbesondere fünf Anhaltspunkte: (1) die „demokratische Vermengung der Stände und Rassen", (2) das Ende der Kleinstaaterei, (3) die Entwicklung des „historischen Sinns", (4) die Umstellung von sozialen „Ständen" auf soziale „Rollen" und (5) die Auflösung des „Grundglaubens" an einen „festen Bau" der Gesellschaft. (1) Die „demokratische Vermengung der Stände und Rassen": Nietzsches soziologischer Ausgangspunkt ist der „unsinnig plötzliche Versuch von radikaler Stände- und folglich Rassenmischung" in „unserem Europa von heute".46 Er spricht damit den Prozeß an, der ansonsten „mit einer politi42 Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 14. 43 Vgl. Nietzsche, Lenzer Heide-Fragment, Nr. 4. - Zu Nietzsches Begriff der Psychologie und der Vielfalt seiner methodischen Perspektiven in der Genealogie der Moral vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral', a.a.O., 94 ff. 44 Die Soziologie seiner Zeit hatte in Nietzsches Sicht noch eine stark metaphysischmoralische Gestalt. Vgl. Horst Baier, Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Decadence, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 6-33. Die moderne Soziologie insbesondere philosophisch orientierte Autoren wie Georg Simmel, Max Weber, Max Scheler, Karl Mannheim, Arnold Gehlen, Norbert Elias, Pierre Bourdieu und wohl auch Niklas Luhmann - war maßgeblich von Nietzsche beeinflußt. 45 Anlaß ist immer wieder die zu seiner Zeit rege diskutierte Frage „Was ist deutsch?" Er erörtert sie in einer Reihe von Aphorismen vor allem des V. Buches der fröhlichen Wissenschaft und von Jenseits von Gut und Böse, die der Genealogie der Moral unmittelbar vorausgehen. Dabei stellt sich heraus, daß gute Antworten auf diese Frage europäische Antworten sind. Vgl. schon Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Nr. 323: „ Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen." 46 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 208.
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sehen Formel die demokratische Bewegung Europa's" genannt wird.47 Damit wird der Prozeß moralisch gedeutet, im Sinn der herkömmlichen Moral. Nietzsche will hinter solche „moralischen und politischen Vordergründe" zurückgehen und möglichst nüchtern ansetzen: er versucht es „physiologisch" im Sinn der neuen Vererbungslehren seiner Zeit. Sie arbeiten unbefangen auch mit dem Rassebegriff.48 Das bedeutet nicht schon, dass es ihnen - und Nietzsche - um die ,Reinheit' und ,Reinhaltung' von Rassen geht; Nietzsche weist die „verlogne Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht" ausdrücklich zurück.49 Stattdessen geht es ihm im Blick auf Europa um die Ergebnisse von Rassenmischungen. Das erste Ergebnis solcher Rassenmischungen müßte die „Anähnlichung der Europäer" sein. Da sie beginnen, sich frei in Europa zu bewegen und niederzulassen, und sich so allmählich „von jedem bestimmten milieu" lösen, müßte sich mit der Zeit „eine wesentlich übernationale und nomadische Art Mensch" ausbilden, „welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt."50 Dies würde „im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen" bedeuten, die Heranbildung eines „nützlichen arbeitssamen, vielfach brauchbaren und anstelligen Heerdenthiers Mensch ".Nietzsche setzt hinzu: „ der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer [wird] wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein". Nach den Vererbungsgesetzen müßte die Rassenmischung aber zugleich zur Ausprägung starker Unterschiede in wenigen Exemplaren führen. Für den „Prozess des werdenden Europäers", so Nietzsche, hieße das: es müßten zugleich „Ausnahme-Menschen" entstehen, „AusnahmeMenschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität". Sind sie für die übrigen anziehend (attraktiv, faszinierend), können sie sich für leitende Funktionen (Nietzsche sagt provozierend: als „Befehlende") anbieten.
47 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 242. 48 Zu Nietzsches Quellen im einzelnen vgl. Orsucci, Orient - Okzident, a.a.O., 53-57. Die Vererbungs-Forschung war damals in starker Bewegung. 49 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377. „Es giebt", bemerkt er schon früh (Morgenröthe, Nr. 272), „wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in großer Seltenheit". Der Aphorismus schließt: „Die Griechen geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur: und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Kultur." - Vgl. zu Nietzsches nicht-rassistischem Gebrauch des Rasse- und Züchtungs-Begriffs demnächst Gerd Schank, Zur Bedeutung der Begriffe Rasse und Züchtung bei Nietzsche, Berlin/New York 2000 (Monographien und Texte der Nietzsche-Forschung). 50 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 242. Vgl. Fröhliche Wissenschaft, Nr. 361.
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Aber eben darin sind sie auch gefährlich: denn sie geben nun jenseits der alten gesellschaftlichen Ordnungen als Einzelne die Maßstäbe vor. Im ganzen bedeutete das politisch - Nietzsche formuliert bewußt moralisch provozierend -, dass „die Demokratisirung Europa's" einerseits zwar „auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft", andererseits aber „zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen [ist] - das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten."51 Blickt man auf das 20. Jahrhundert, so war der gefährlichste Typus des ,Tyrannen' der gesellschaftlich entwurzelte ,Führer' einer von der breiten Mehrheit der Bevölkerung gut geheißenen ,Bewegung', z.B. Adolf Hitler. (2) Das Ende der Kleinstaaterei: Mit dem von Napoleon Bonaparte herbeigeführten Reichsdeputationshauptschluß 1803 wurde das Ende der Kleinstaaterei in Deutschland eingeleitet, von Garibaldi 1861 in Italien durchgesetzt und mit Bismarcks Gründung eines neuen Deutschen Reiches 1871 in Deutschland vollzogen. In Nietzsches europäischer Sicht blieb die „Kleinstaaterei"52 Europas dabei jedoch nicht nur erhalten, sondern verstärkte sich noch. Nietzsche konnte die Bildung von Nationalstaaten nur als Hemmnis und Verzögerung der Europäisierung Europas sehen.53 Der europäische Nationalismus sei „künstlich", nicht im Interesse der Völker, sondern „bestimmter Fürstendynastien" und „bestimmter Klassen des Handels und der Gesellschaft"; er brauche „List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten",54 „Todhasse", um sich aufrechtzuerhalten.55 Der Druck auswärtiger Großmächte, Amerikas auf der einen, Rußlands auf der ändern Seite, zwinge Europa jedoch zum ökonomischen und politischen Zusammenwachsen: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft - den Zwang zur grossen Politik."56
51 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 242. - In Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377, formuliert Nietzsche noch aggressiver politisch: „wir denken über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei - denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus ,Mensch' gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu nicht wahr?" 52 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377, und Jenseits von Gut und Böse, Nr. 208. 53 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 475, und Jenseits von Gut und Böse, Nr. 242. 54 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 475. 55 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377. 56 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 208.
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(3) Die Entwicklung des „historischen Sinns": „Gute Europäer" sind „zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu Bereist'", um „an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können", - sie haben für Dinge wie Nationalismus und Rassismus zu viel „,historischen Sinn'".57 Der historische Sinn, so Nietzsche, ist im 19. Jahrhundert zum „sechsten Sinn" in Europa geworden.58 In engem Austausch zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften wurde man fähig, alles, was auf der Erde bisher als zeitlos galt, die Gebirgsformationen, die biologischen Arten, die Normen der Moral, die Dogmen der Religion, die Wahrheiten der Wissenschaften, die Kategorien des Denkens, als zeitlich, als unter geschichtlichen Bedingungen entstanden und sich wandelnd zu sehen. Alles kam in Fluß. Am empfindlichsten traf das die Moral. Sie wurde damit aber auch auf neue Weise interessant. Ihre Normen und Werte können und müssen nun jeweils zu ihren geschichtlichen und situativen Bedingungen in Beziehung gesetzt werden. Nietzsche bestimmt den historischen Sinn ganz von hier aus als „die Fähigkeit, die Rangordnung der Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat," als „den ,divinatorischen Instinkt' für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte". Wer so zu sehen gelernt hat, wird sich selbst als „eine Art Chaos" sichtbar, als jemand, in dessen „,moderne Seele'" „die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen," eingeströmt ist - was Nietzsche hier als ,moderne Seele' beschreibt, ist ziemlich genau das, was wir inzwischen ,postmodernes' und ,multikulturelles' Denken nennen. Als Symptom der „demokratischen Vermengung der Stände und Rassen" scheint ihm dieses Denken begrüßenswert und bedenklich zugleich, bedenklich, weil der Sinn für „das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen" darin verlorengehe - hier denkt er besonders an die antike griechische Kultur -, aber auch begrüßenswert, weil sich nun neue Tugenden entwickeln. „Menschen des ,historischen Sinns'" sind „anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend". Das bedeutet vor allem - und darauf kommt es nun an -: sie geben die „zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige" auf, die jene vollkommenen 57 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377. 58 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 224.
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Kulturen wahren (und wahren müssen, um sich als „vollkommene" zu bewahren), und lassen nun „einer neuen Begehrlichkeit, einer Unbefriedigung am Eignen, einer Bewunderung des Fremden" Raum.59 Sie brechen mit der Selbstgerechtigkeit der europäischen Moral. (4) Die Umstellung von sozialen „Ständen" auf soziale „Rollen": Die Europäisierung Europas im Zuge der modernen Ökonomie und Kommunikation bringt auch ein neues Selbstverhältnis mit sich. Man hat in den modernen europäischen Gesellschaften immer weniger einen festen Stand und nimmt immer mehr Rollen auf Zeit ein. In Begriffen der modernen systemtheoretischen Soziologie Luhmanns: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in den europäischen Gesellschaften eine Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung. Die europäischen Gesellschaften geben ihre ständisch-hierarchische Ordnung auf. In ihr war der Einzelne durch Geburt auf schichtenspezifische Verhaltensnormen verwiesen, die streng gegeneinander abgegrenzt und dadurch vergleichsweise stabil waren. Sie setzen stattdessen jetzt auf die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen, durch die er optimal Funktionen erfüllen kann. In der funktional differenzierten Ordnung steht nichts mehr fest: zunehmend konkurrieren alle mit allen auf einer Vielfalt von dynamischen Märkten. Die Folge ist eine sich selbst beschleunigende Innovationsdynamik in allen Funktionssystemen der Gesellschaft und auch in ihrer Moral.60 Nietzsche spricht hier vom „Rollen-Glauben" der Europäer. Er ist nicht ganz neu. Schon in der Demokratie des alten Athen sollte jeder jede Rolle übernehmen können, schon damals hatte man gelernt, „Schauspieler" zu sein, und war erfolgreich damit. Nun, so Nietzsche, kehrt der alte „Athener-Glaube" als „Amerikaner-Glaube" wieder, die Schauspieler, „alle Arten Schauspieler" und Selbstdarsteller werden wieder hoch geachtet und werden „die eigentlichen Herren". Immer aber, wenn Schauspieler die Macht übernahmen, war es mit den „festeren, beschränkteren Zeitaltern" vorbei, und es kamen „die interessantesten und tollsten" herauf. Die »„Baumeister"' alten Typs, Menschen, die „Werke [...] unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste", sinken dann im Wert.61 59 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 224. Vgl. das Siebente Hauptstück (Nr. 214-239) von Jenseits von Gut und Böse im ganzen. 60 Vgl. zusammenfassend Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, Kapitel 4: Differenzierung (595 ff.), Kapitel 5: Selbstbeschreibungen (866 ff.). 61 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 356.
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(5) Die Auflösung des „ Grundglaubens " an einen „festen Bau " der Gesellschaft: Zu diesen Werken, die Jahrtausende zu ihrer Vollendung brauchen, gehört auch der Bau von „breiten Gesellschafts-Thürmen". Mit dem neuen „Europäer-Glauben" an die Rolle, die Funktion, verändert sich zuletzt die Erfahrung von Gesellschaft überhaupt. Gesellschaft ist dann nichts mehr, was eine dauernde Gestalt hätte, was der Einzelne trägt und von dem er getragen wird. Der „Grundglaube", so Nietzsche, stirbt aus, nach dem „der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er allererst fest sein muss,,Stein' sein muss ... Vor Allem nicht- Schauspieler!" Für eine solche Gesellschaft sind wir alle inzwischen „kein Material mehr".62 Wenn es darum geht, sich auf wechselnde Rollen und Partner einzustellen, sind es, in heutigen Begriffen, nicht mehr Institutionen, sondern Kommunikationen, worauf die Gesellschaft beruht und was sie will, - sie wird zur Kommunikationsgesellschaft, und die modernsten Soziologien deuten sie auch so. Zu Nietzsches Zeit war dies (und ist für viele noch heute) ein befremdlicher, abwegiger Gedanke. Die Anzeichen, „dass Europa Eins werden will", wurden in Nietzsches Sicht denn auch vor allem von Dichtern, Künstlern, Musikern wahrgenommen. Sie waren am ehesten darauf vorbereitet, auf die alten klaren hierarchischen Ordnungen zu verzichten. Als „Virtuosen" der „Schaustellung", „mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft," waren sie „geborene Feinde der Logik und der geraden Linien" und so in der europäischen Moderne als erste „begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden".63 Vor allem aber waren das, nach Nietzsche, die Juden. 3. Die Juden als „Erfinder und Wegzeiger der Europäer" Beide Perspektiven des Problems der Europäisierung Europas, die moralkritische und die soziologische, treffen im Denken Nietzsches im „Problem der Juden"64 zusammen. In der moral-kritischen Perspektive würden die Juden, die in den Anfängen Europas die Kraft zu einer „radikalen Umwerthung" der damals herrschenden Werte hatten, am ehesten zu einer neuen Umwertung fähig sein, zumal sie selbst kaum in den Genuß der christlichen Werte gekommen waren - das christliche Europa hatte 62 Ebd. 63 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 256. 64 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 475.
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sich undankbar gezeigt und sie zu Heimatlosen, Wanderern, Abenteurern gemacht. Auch in der soziologischen Perspektive mußten die Juden zu den ersten „guten Europäern" gehören. Über Jahrtausende ohne einen festen Stand in den europäischen Gesellschaften - auch nach der Emanzipation und Assimilation blieben sie ja ausgegrenzt -, mußte ihnen der Übergang vom sozialen Stand zur sozialen Rolle, von der stratifikatorischen Differenzierung zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, besonders leicht fallen. Sie waren lange schon gezwungen, „Schauspieler" zu werden, und hatten in Jahrtausenden ihrer Geschichte einen „Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art" entwickelt. Ein solcher Überschuß mußte sich bei all denen ausbilden, „die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt". Nietzsche zählt zu ihnen den „Hanswurst, Narren, Clown",65 der zum sozialen Vorboten des ,freien' Künstlers wurde, „in höheren gesellschaftlichen Bedingungen" den Diplomaten und außerdem - die Frauen.66 Das jüdische Volk aber, das „Volk der Anpassungskunst par excellence", wurde geradezu zu einer „welthistorischen Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern".67 Einen „Hanswurst" nannte sich Nietzsche zuletzt auch selbst.68 Hanswurste, Juden und Frauen hatten in seiner Sicht anderen Europäern jetzt einen entscheidenden Vorteil voraus, die Distanz zu den Normen der alten Moral, unter deren Geltung sie an den Rand der europäischen Gesellschaften geraten waren. Sie waren nun freier für andere Begriffe des Moralischen, hatten am wenigsten Scheu vor „dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden". Weil die Juden an einer ändern Moralität festhielten, die sich nicht griechisch und nicht christlich vereinnahmen ließ, waren sie selbst stets als Fremde in Europa betrachtet worden.
65 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 361. 66 Daran hat sich eine breite Literatur angeschlossen, ausgehend vor allem von Jacques Derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches, in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main/Berlin 1986, 129-168. 67 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 361. 68 Nietzsche, Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, 1.
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Nietzsche spricht sich über diese andere Moralität - und über die andere Rationalität, die sich damit verband, - nicht aus. Er kannte nicht nur, wie die meisten Nicht-Juden, das Judentum wenig, sondern vermied auch, es in seiner Andersheit zu fassen. Er spricht von ihnen in der europäischen Perspektive und nimmt sie darin als „Erfinder und Wegzeiger der Europäer",69 als Vorbild für die Modernisierung der europäischen Gesellschaften wahr und für die Tugenden, die sie ermöglichen. Er hat dem - vor der Genealogie der Moral - vier große Aphorismen gewidmet. (1) Den ersten von ihnen, den 475. Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches, überschreibt Nietzsche „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen". Er kommt dort nur „beiläufig" auf das „Problem der Juden" zu sprechen, vom Problem des Nationalismus aus, und versucht einen ethischen Balanceakt. Er spricht davon, dass die Juden vor allem Opfer des Sozialneids „innerhalb der nationalen Staaten" geworden seien, sofern „hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willenskapital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss" - sie wurden „Sündenböcke" für Modernisierungsdefizite der nationalen Staaten. Aber, setzt Nietzsche dagegen, unter dem Gesichtspunkt der „Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse [...] ist der Jude als Ingredienz ebensogut brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest." Dann zitiert er, um zunächst auch nach dieser Seite gerecht zu sein, das antisemitische Klischee von der „widerlichsten Erfindung des Menschengeschlechts überhaupt", dem „jugendlichen BörsenJuden", um dann wiederum dagegenzusetzen, dass man dem Volk, „welches nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, [...] den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt." Die Juden als Volk sind nicht gut oder böse, man hat sich ihnen gegenüber mit moralischen Urteilen überhaupt zurückzuhalten. Nietzsche stellt dann etwas anderes in den Vordergrund: dass das Judentum, dem man Willkür, Irrationalität und Obskurantismus im Denken vorzuwerfen gewohnt war, an der europäischen Aufklärung nicht nur beteiligt war, sondern sie über die „dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, [...] unter dem härtesten persönlichen Zwange [...] vertheidigt[...]" 69 Nietzsche, Morgenröthe, Nr. 205.
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hatte. Sie hätten an „einer natürlicheren, vernunftgemässeren und jedenfalls unmythischen Erklärung der Welt" festgehalten und so dafür gesorgt, „dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb." (2) Der zweite der genannten Aphorismen, der 205. der Morgenröthe, ist nun schon ganz dem „Volke Israel" gewidmet. Nietzsche versucht nun die Tugenden zu benennen, die es in der harten „Schule von achtzehn Jahrhunderten", seit dem Beginn der Diaspora, erworben hat und durch die es zum „Erfinder und Wegzeiger der Europäer" werden könnte. Man wird sie als inzwischen hoch geschätzte Tugenden nicht nur einer europäischen, sondern globalen Ethik der Gegenwart wiedererkennen. Dazu gehört nach Nietzsche, - sich als „Einzelner", nicht nur in einer „Gemeinschaft" behaupten zu können, - in furchtbaren Lagen „kälteste Besonnenheit und Beharrlichkeit" zu üben, - Unglück und Zufall geschickt zu überlisten und auszunutzen, - „Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung" zu beweisen, - mit Verachtung umzugehen, ohne sich davon berühren zu lassen, - Leiden zu ertragen, ohne sich ihnen zu ergeben oder durch sie hart und bitter zu werden, - sich im engen Kreis (bei den Juden: der Familie) einen auf Dauer angelegten Rückhalt zu schaffen, - sich aus Gewerben (bei den Juden: „welche man ihnen überliess [oder denen man sie überliess]") wirtschaftliche Selbständigkeit zu verschaffen, - daraus „ein Gefühl der Macht" (und bei den Juden: „der ewigen Rache") zu ziehen, um nicht im Ressentiment zu erstarren, - die Macht aber so besonnen auszuüben, dass weiterer Verkehr mit den ändern immer möglich bleibt, - in jedem Fall „sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen", bis man so weit kommt, ,,[d]as, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen." Dies sind Tugenden unter den Bedingungen harter Konkurrenz, denen inzwischen die meisten unterliegen. Es sind dennoch nicht Tugenden eines rücksichtslosen „Willens zur Macht". Ein besonnener und beharrlicher Wille zur Macht wird gerade Rücksicht auf andere nehmen und sich um ihr Wohlwollen bemühen. Er wird dagegen nicht zum Schutz seiner Schwä-
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chen gegenüber ändern auf eine allgemeingültige Moral pochen; man würde darin allzu leicht einen Vorwand seines eigenen „Willens zur Macht" erkennen. Die Juden, so Nietzsche, „besitzen die bei Weitem grösste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung". Ihre Tugenden sind Tugenden ebenso der Schwäche wie der Stärke.70 Tugenden der Stärke sind sie aus der Rücksicht auf die Stärken und Schwächen der ändern heraus. Es sind nicht oder noch nicht die Tugenden der „Vornehmheit", die, nach Nietzsche, zur Leitung anderer empfehlen.71 Die sozialen Zwänge, so sah er es zu seiner Zeit, hätten die Juden vorerst zur „geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit", noch nicht zu „Herren" erzogen. Er rechnet es ihrem intelligenten Verhalten zu, dass sie darum noch vorsichtig sind, „die Herren Europa's zu werden". Die Entscheidung, ob sie das wollten, aber liege bereits bei ihnen. Dennoch, fügt er später hinzu, strebten sie offensichtlich eine derartige Herrschaft nicht an: „Dass die Juden, wenn sie wollten - oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen -, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls." Sie wollten stattdessen „von Europa ein- und aufgesaugt", also Europäer werden, und dem sollte man besonnen entgegenkommen - „wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen."72 Die Alternative wäre für die Juden, „Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten." In Ägypten waren sie zum ersten Mal Sklaven, und mit ihrem Auszug aus Ägypten begannen sie ein eigenes, das auserwählte Volk eines machtvollen Gottes zu werden. Dass Europa sie im 20. Jahrhundert vernichten wollte, kam Nietzsche, trotz aller düsterer Erwartungen, nicht in den Sinn. (3) Nietzsche dankt den Juden auch hier für das, was Europa ihnen verdankt, und bekräftigt das noch einmal im dritten der genannten Aphorismen, dem 250. in Jenseits von Gut und Böse.73 Er tut dies, 70 Zu Nietzsches Unterscheidung von Stärke und Schwäche vgl. Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', a.a.O., 19-21 u. 124-127. 71 Vgl. ebd. 72 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251. 73 Vgl. zur Interpretation dieses Aphorismus Stephane Moses, Nietzsche und der Gedanke des auserwählten Volkes, in: ders., Spuren der Schrift. Von Goethe bis Celan, Frankfurt am Main 1987, 39-51, und Simon, Nietzsche on Judaism and Europe/Das Judentum und Europa bei Nietzsche, a.a.O.
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nachdem dort bereits vom „Sklaven-Auf stand" des jüdischen Volkes in der Moral die Rede war, der das Christentum auf den Weg gebracht habe (Nr. 195). Wenn hier ein Widerspruch vorliegt, dann in der Moral selbst, und Nietzsche betont nun, gerade bei den Juden, die „Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten". Doch nicht um sie zu verurteilen: sondern um sie aus den jüdischen Erfahrungen als „Verführungen zum Leben" verstehen zu lernen, „in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, - vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden - dankbar." Die Bedingtheit, Vielfalt, Vielseitigkeit des Moralischen ist die Voraussetzung, sich in ihr auszuzeichnen, und damit die Voraussetzung, dass sie überhaupt etwas Auszeichnendes sein kann. Dazu gehört der fremde Blick auch auf die eigene Moral, die Fähigkeit, die eigene Moral als besondere Moral neben anderen sehen können. Nietzsche hat dafür die Formel „Pathos der Distanz", der Distanz zu einer Moral für jedermann. Sie ist möglich geworden durch die Selbstaufhebung der scheinbar absolut gültigen Moral und insofern ein kritischer ethischer Begriff. Das Pathos der Distanz ist ein Pathos, weil es kein Wissen sein kann - man kann von individuellen Moralen nicht in einem allgemeingültigen Sinn wissen. Man braucht aber auch nicht von ihnen zu wissen. Es genügt, dass es im Handeln damit „Ernst" ist.74 Den Juden spricht Nietzsche ausdrücklich ein solches „Pathos der Distanz" zu.75 (4) Im vierten der genannten Aphorismen schließlich, dem unmittelbar folgenden 251. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse, zieht Nietzsche eine Art Summe seines Denkens über die Juden und Europa. Er führt jetzt umgekehrt vom Problem der Juden aus zum „,europäischen Problem'" hin, wie er es verstehe und bei dem sein Ernst liege, „die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste". Er vollführt noch einmal den ethischen Balanceakt, einerseits die „eigentliche Antisemiterei" „unbedingt" abzulehnen, dabei aber doch auf den „allgemeinen Instinkt" des 74 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251 (Schluß). S.u. 75 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente November 1887 - März 1888, KGW VIII 11 [377] / KSA 13.170: „die Juden haben mit dem Hochmuth einer geistlichen Aristokratie als Fundament, auf dem ihr künstliches Gebilde von Theokratie erst möglich war, den Staat verachtet ... Ohne den Staat kann keine ,Kirche' bestehen ... Die Fremdherrschaft hält das Pathos der Distanz aufrecht." Die Bemerkung findet sich unter Exzerpten aus Julius Wellhausens Werk Prolegomena zur Geschichte Israels (2. Aufl. Berlin 1883), das zu einer wichtigen Quelle für Nietzsches Der Antichrist wurde. - Zum Begriff des Pathos der Distanz vgl. Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', a.a.O., 100-102.
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Volkes zu hören, das keinen unbegrenzten Zuzug von Juden, zumal aus Osteuropa, zulassen will, und andererseits dem uneingeschränkten Respekt vor den Juden und ihren Tugenden, „die man heute gerne zu Lastern stempeln möchte". Dann trägt er noch einmal die Kritik am europäischen Nationalismus vor und beschließt sie mit dem schon zitierten Verzicht der Juden auf „die Herrschaft über Europa". Und er endet nun mit einer „heiteren Deutschthiimelei", dem Vorschlag, zunächst einmal sollten sich „die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums" mit den Juden einlassen, „zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens - in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch - das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt-) hinzuthun, hinzuzüchten liesse."76 Aber Nietzsche wäre nicht Nietzsche, wenn er nicht auch hier einen neuen Akzent setzen würde. Er stellt nun die jüdisch-europäische Ethik in einen umfassenderen Zusammenhang, in Zusammenhang mit dem Denken der Zeit, und verknüpft hier das Judentum mit dem „russischen Reich": die Juden „verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, - als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist -: nämlich nach dem Grundsatze ,so langsam als möglich!'" Und er folgert daraus: „Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte." In der Epoche seiner metaphysischen Moral sah Europa die Zeit im Gegensatz zu einem Zeitlosen und in diesem Zeitlosen das absolute Gültige. Alle weiteren Gegensätze, die sein Denken leiteten, folgten diesem Gegensatz: Gott und Mensch, Sein und Werden, Vernunft und
76 Das liest sich wie ein vorgreifender Kommentar zu Theodor Fontanes Stechlin und den vorsichtigen Annäherungen des alten Grafen an ,seine' Juden. Auch Fontäne, dessen Stellung zu den Juden der Nietzsches sehr ähnlich ist, hatte hier noch Schwierigkeiten. Vgl. Hans-Heinrich Reuter, Fontäne, 2 Bde., Berlin 1968, Bd. 2, 742 ff. (mit dem Ergebnis, Fontäne sei „an der Judenfrage' gescheitert", 749), und Ernst Simon, Fontanes jüdische Ambivalenz, in: ders., Entscheidung zum Judentum, Frankfurt am Main 1979, 266-275. Nietzsche nahm Fontäne nicht nachweislich, Fontäne Nietzsche nur oberflächlich zur Kenntnis (vgl. seine Briefe an Fr. Stephany vom 8. Juni 1893 und vom 1. Febr. 1894, an seine Tochter Mete vom 9. Aug. 1895 und an Otto Neumann-Hofer vom 1. März 1895 über die Kontroverse um Lou AndreasSalomes Nietzsche-Buch von 1894).
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Sinnlichkeit, Form und Inhalt, Bedeutung und Zeichen. Das Zeitlose war darin stets der Wert, das Zeitliche der Unwert. Sich so in einem Jenseits der Zeit gegen die Zeit versichern zu müssen und die Moral seines Lebens darauf zu gründen, mag Ausdruck einer tiefen Lebensangst, des Nihilismus, gewesen sein. Die Juden und die Russen zeigen, so Nietzsche, dass ein anderes Verhältnis zur Zeit immer schon möglich war: die Geduld, das Ausharren auch unter ungünstigsten Umständen, die Kraft, sich und anderen Zeit zu lassen, Leiden lange hinzunehmen. Ein solches Verhältnis zur Zeit, die „asiatische Dauerhaftigkeit" 7J ist uns heute, im europäischen und globalen Konkurrenzdruck, noch fremder geworden. Aber vielleicht werden wir sie auf Dauer ja brauchen. „Gute Europäer", gerade die „Gesündesten", „Stärksten", so Nietzsche, werden „Zeit-Überwinder" sein.78 Wir haben noch keine hinreichenden Begriffe dafür, wie sie es sein können. Nietzsche hatte keine Sympathie für das jüdische Volk79 - das Fremde, als das er es wahrnahm, kann kein Gegenstand der Sympathie sein. In seiner europäischen Perspektive gewann er jedoch wachsende Achtung vor „den Juden" und ihren Tugenden, und Achtung ist, was Fremden als Fremden zuerst gebührt. Aber auch Nietzsches heute so erfreuliche europäische Perspektive auf die Juden, nach der sie Europa dazu verhelfen können, zu einem „guten Europa" zu werden, macht sie noch zum Mittel, nimmt sie noch in Dienst. Sie kann nicht die Perspektive der Juden selbst sein. Was eine jüdische Perspektive für die Philosophie, die Europa-Philosophie, bedeuten könnte, ist erst in den letzten Jahrzehnten unseres 20. Jahrhunderts vor allem durch Emmanuel Levinas und Jacques Derrida deutlich geworden. Beide kennen ihren Nietzsche und berühren sich in ihrem Denken eng mit ihm.80 Und dennoch ist es noch einmal ein „ganz anderes" Denken.81
77 Nietzsche, Morgenröthe, Nr. 206. 78 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede 1886, 6. 79 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 251: „Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre." 80 Vgl. zu Derrida die Beiträge von Boris Markov und Byung-Chul Han in diesem Band, zu Emmanuel Levinas' Verhältnis zu Nietzsche Werner Stegmaier, Levinas' Humanismus des anderen Menschen - ein Anti-Nietzscheanismus oder Nietzscheanismus?, in: Stegmaier/Krochmalnik (Hgg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a.a.O., 303-323. 81 Vgl. Werner Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000.
JOHANN FIGL Überwindung des „europäischen Nihilismus"? Religions- und kulturphilosophische Perspektiven angesichts der Deutungen Nietzsches und Heideggers Mein Beitrag bezieht sich hauptsächlich auf die Texte: Friedrich Nietzsche, Der europäische Nihilismus (1887), und Martin Heidegger, Der europäische Nihilismus (1940), wobei ich schwerpunktmäßig auf die Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsche eingehen werde. Diese Ausführungen stehen in einem größeren kulturphilosophischen Kontext. Daraus ergeben sich organisch zwei Teile meines Beitrags: l. Nietzsches Versuch der Befreiung von der europäischen und christlichen Tradition, 2. Heideggers Versuch der Freilegung der abendländischen Seinsgeschichte und Überwindung des europäischen Nihilismus. Kulturphilosophische Perspektiven angesichts der Deutungen Nietzsches und Heideggers bilden die Schlußüberlegungen. 1. Nietzsches Versuch der Befreiung von der europäischen und christlichen Tradition 1.1. Editionsgeschichtliche Hinweise Es ist bekannt, daß Nietzsche kein Werk geschrieben hat mit dem Titel „Der europäische Nihilismus". Wohl aber ist das erste Buch in der zweiten, klassisch gewordenen Auflage der Nachlaßkompilation Der Wille zur Macht mit „Der europäische Nihilismus" überschrieben. Es umfaßt die Nummern l bis 134. Zweifellos gibt es im späten Nachlaß Nietzsches zahlreiche Aussagen zur Thematik nicht nur des Nihilismus im spezifischen Sinn des europäischen Nihilismus. Und auch Heidegger bezieht sich, wie im folgenden Teil deutlicher gezeigt werden wird, schwerpunktmäßig auf dieses erste Buch des Willens zur Macht und leitet von dorther seine Konzeption ab, daß es sich um eine abendländische Problematik handle. Er bezieht sich dabei auf einige Nummern, die er für besonders wichtig hielt, aber es ist interessant, daß sich unter diesen gerade jenes Stück nicht befindet, das den Charakter einer geschlossenen Abhandlung hat und den Titel trägt Der europäische Nihilismus. Es ist
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sowohl der Ort, wo es entstanden ist, als auch der Zeitpunkt genau angegeben, nämlich in der Lenzer Heide am 10. Juni 1887. Dieses Stück war in der klassisch gewordenen Ausgabe des Willens zur Macht ohne Grund auf vier andere Aphorismen aufgeteilt worden, die weit auseinander lagen; es waren die Nummern 4, 5, 55 und 114, alle zudem mit vom Manuskriptbestand abweichenden Varianten wiedergegeben. Heidegger konnte also gar nicht diese Geschlossenheit eines Skriptums erahnen, außer er hätte die erste Edition - auch eine Kompilation - von Der Wille zur Macht gelesen, die 1901 erschienen war (im Band 15 der GroßoktavAusgabe), wo es einheitlich abgedruckt war. Wenn man also über den europäischen Nihilismus im Verständnis Nietzsches reden will, so ist es unumgänglich, kurz auch auf die Situation des Spätnachlasses einzugehen und die Konzepte daraufhin durchzugehen, inwiefern der „europäische Nihilismus" in den vom späten Nietzsche geplanten Veröffentlichungen einen zentralen Stellenwert hatte. Ein paar Monate vor der Aufzeichnung in der Lenzer Heide, am 17. März 1887, hat Nietzsche eine Inhaltsangabe des höchstwahrscheinlich unter dem Titel Wille zur Macht geplanten Werkes gegeben. Übrigens bezogen sich die ersten Herausgeber der gleichnamigen Text-Kompilation, P. Gast und E. Förster-Nietzsche, auf diesen Titelentwurf und Plan vom 17.März 1887.1 Nach Mitteilung von M. Montinari ist jedoch der vollständige Titel - „allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit" - nur zu vermuten, da das betreffende Blatt am oberen Rand abgeschnitten ist.2 Die Gliederung in vier Teile ist aber zur Gänze ersichtlich. Es waren vorgesehen: „Erstes Buch. Der europäische Nihilismus. Zweites Buch. Kritik der höchsten Werthe. Drittes Buch. Princip einer neuen Werthsetzung. Viertes Buch. Zucht und Züchtung."
(VIII 7 [64], KSA 12.318) Im Grunde dieselbe Gliederung und derselbe Untertitel sind schon ein Jahr früher, in einem mit „Sils-Maria, Sommer 1886" datierten Plan
1 Vgl. E. Förster-Nietzsche, Vorwort, in: Der Wille zur Macht (Nietzsches Werke, Bd. XV), Leipzig 1901, XII. 2 M. Montinari, Nietzsches Nachlaß, in: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 46.
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anzutreffen (VIII 2 [100], KSA 12.109). Aus den beiden Plänen ist zu ersehen, daß der Nihilismus im ersten Buch behandelt werden sollte. In beiden Entwürfen ist die These näher erläutert, die in den Plänen von 1886 und 1887 kurz skizziert wird, nämlich daß der Nihilismus eine notwendige Konsequenz der bisherigen Wertschätzungen ist, oder anders formuliert: „Jede rein moralische Werthsetzung [...] endet mit Nihilismus" (VTII 7 [64], KSA 12.318). Die nihilistische Situation schildert Nietzsche in Entsprechung zu diesem Sachverhalt als das Fehlen einer neuen Form der Auslegung, wie aus dem Fragment, das dem Entwurf über den „europäischen Nihilismus" vorangeht, zu ersehen ist: „Nihilismus: Untergang einer Gesammtwerthung (nämlich der moralischen) es fehlen die neuen interpretativen Kräfte." (VIII 5 [70], KSA 12.210) Das Nihilismus-Motiv ist in dieser Phase von Nietzsches Schaffen zum thematisch bestimmenden Leitgedanken geworden, in der er sein auf vier Teile angelegtes Werk mit dem Titel Der Wille zur Macht geplant hatte. Auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich die Heraufkunft, die Notwendigkeit und wohl auch die Selbstüberwindung (als Umformung der überkommenen „interpretativen Kräfte" des Nihilismus) als Prozeß des Zuendegehens und der Überwindung einer (nämlich der moralischen) Auslegung verstehen. Soweit ein erstes Resultat, vorwiegend auf Titelentwürfe und Inhalt begründet.
1.2. Nihilismus als psychologisch-existentielle Erfahrung Die genannten Aufzeichnungen zum Nihilismus sind besonders in den Jahren 1886/87 entstanden. Bevor ich auf ihre Interpretation eingehe, erlaube ich mir eine Schilderung wiederzugeben, wie Deussen im September 1887 seinen Besuch bei Nietzsche erlebte. „An einem wunderschönen Herbstmorgen stieg ich mit meiner Frau, von Chiavenna kommend, über den Malojapaß, und bald lag Sils-Maria vor uns, wo ich mit klopfendem Herzen dem Freund entgegentrat und ihn nach vierzehnjähriger Trennung tief bewegt umarmte. Aber welche Veränderungen waren in dieser Zeit mit ihm vorgegangen! Das war nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. Nur mühsam, und etwas nach der Seite hängend, schien er sich zu schleppen, und seine Rede wurde öfters schwerfällig und stockend. Vielleicht hatte er auch nicht seinen guten Tag. ,Lieber Freund', sagte er wehmütig, indem er auf einige vorüberziehende Wolken deutete, ,ich muß blauen Himmel über mir haben, wenn ich meine Gedanken sammeln soll.' Er führte uns dann zu
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seinen Lieblingsplätzen. Besonders in Erinnerung ist mir noch ein Rasenlager dicht am Abgrund, hoch über einem in der Tiefe hinbrausenden Gebirgsbach. ,Hier', sagte er, ,liege ich am liebsten und habe meine besten Gedanken.' [...] Am nächsten Morgen führte er mich in seine Wohnung, oder wie er sagte, in seine Höhle. [...] Alles deutete auf eine nachlässige Bedienung und auf einen geduldigen, sich in alles ergebenden Herrn. Nachmittags brachen wir auf, und Nietzsche gab uns das Geleite bis zum nächsten Dorfe, eine Stunde talabwärts. Hier sprach er nochmals die düstern Ahnungen aus, welche sich leider so bald erfüllen sollten. Als wir Abschied nahmen, standen ihm die Tränen in den Augen, was ich früher nie an ihm gesehen hatte."3
Dies ist der - für Freunde sehr veränderte - Mensch, der die Überlegungen zum europäischen Nihilismus angestellt hat. Zwei Monate vorher hat er das Stück mit diesem Titel in der Lenzer Heide verfaßt. Im Mai 1887 überlegte er, wo er den Sommer verbringen würde und daß es ungewiß sei, ob er wieder in Sils-Maria sein werde: „vielleicht Celerina, noch vielleichter die Lenzer Haide (wo es tiefen Wald giebt)".4 „Vielleicht" und „noch vielleichter" - ein Meister der Sprache und der Ausnützung ihrer Nuancen auch mit neuen Formulierungen war Nietzsche immer. Er hat also einige Tag in der Lenzer Heide in der Schweiz verbracht, von Chur kommend und dann wieder ab Mitte Juni in SilsMaria. In meiner Interpretation möchte ich von diesem Text ausgehen, den Heidegger praktisch nicht in der authentischen Gestalt zur Kenntnis genommen hat, obwohl es - wie schon erwähnt - theoretisch möglich gewesen wäre. Dies führt hin zu jenen Texten, die Heidegger schwerpunktmäßig interpretiert hat, darunter ein Text mit der Überschrift Kritik des Nihilismus. Im Willen zur Macht, der Heidegger vorlag, hatte er den Titel Hinfall der kosmologischen Werte, obwohl es um den Nihilismus als psychologischen Zustand geht; er entstand in den Monaten nach dem Besuch von Deussen (zwischen November 1887 und März 1888). Ich werde auswahlweise auch einige andere Fragmente heranziehen, jedoch mich schwerpunktmäßig auf diese beiden Texte konzentrieren, um das wiederzugeben, was Nietzsche unter europäischem Nihilismus verstanden hat.
Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Ivo Frenzel, hg. von K. Kusenberg, Reinbek bei Hamburg 1966, 116-118. Brief an Heinrich Köselitz vom 20.5.1887; vgl. auch Brief an denselben vom S.Juni 1887: Kritische Gesamtausgabe der Briefe (Studienausgabe), Berlin 1987, 8.79, vgl. 8.86.
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1.3. Interpretation des Textes »Der europäische Nihilismus« (Lenzer Heide, 10. Juni 1887)5 Ein zentraler Gedanke des vorliegenden Textes ist jener des „Umsonst". Wenn man diesen Gedanken verstanden hat, dann, glaube ich, kann man alles weitere zutreffender interpretieren. Die Einsicht in die Sinnlosigkeit erlaubt dem Menschen natürlich noch nicht, tatsächlich auch unter diesen Bedingungen zu leben, sondern vielmehr fühlt er sich in einem Konflikt, in einem Antagonismus. Er kommt sich vor, als wäre er in einem Theater; er fragt jetzt nicht, wie in einem psychischen Prozeß, dies und jenes war für mich eine große Enttäuschung und ich habe mich geirrt, ich muß eine neue Perspektive suchen, sondern er stellt die Frage: „Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage ,sind nicht alle >Werthe< Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?'" (Nr. 5) Nietzsche überlegt explizit, daß diese widersprüchliche Erfahrung eine durch das Christentum bewirkte, also eine kulturgeschichtlich anerzogene ist. Es ist wie die Einsicht am Ende einer Faszination: „Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen: - ergiebt einen Auflösungsprozeß." (Nr. 2); oder wieder anders formuliert: „man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht , sich nicht foppen zu lassen." (Nr. 5) Der Mensch, gewissermaßen ein unrettbar sinnbedürftiges Wesen auf der einen Seite und andererseits durch Einsicht so weit gekommen, daß er weiß, es gibt keine Sinnerfüllung - ein schwer zu ertragender Gedanke. Es ist in den Augen Nietzsches der „lähmendste Gedanke", und zwar besonders im Hinblick auf die Zeitdimension: „die Dauer, mit einem ,Umsonsts, ohne Ziel und Zweck" zu sein, ist die furchtbarste Form dieses Gedankens. Wenn wir die europäische Konstruktion der Sinnfrage bzw. des Nihilismus erörtern, dann ist es nützlich, und auch Nietzsche tat dies, sie mit der buddhistischen ,Nihilismus'-Erfahrung zu vergleichen. - Nebenbei bemerkt, hat hier Nietzsche einerseits noch Schopenhauerianische Vorstellungen vom Buddhismus, andererseits aber, wie sich zeigen wird, eine gewisse zentrale Einsicht in diese Religion, die aber unterschieden ist vom europäischen Nihilismus. Denn die europäische Nihilismuserfahrung,
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KGW 5 [71], KSA 12.211-217; vgl. zur Zerstückelung dieses Textes: Kritische Studienausgabe (KSA), Kommentar, 14.391.
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diese extremste Form des Nihilismus: „das Nichts (das ,Sinnlose') ewig!", unterscheidet sich von dem Buddhismus eben dadurch, daß sie kein „Finale ins Nichts" hat. Nietzsches Formel für diese Grundeinsicht ist bekanntlich „,die ewige Wiederkehr'" (Nr. 6). Nach Nietzsche gibt es keinen Ausstieg aus dem Kreislauf der ewigen Wiederkehr. Dies ist eine elementare Differenz zur buddhistischen Erlösungsperspektive. Und nach Nietzsche ist diese „ewige Wiederkehr" auch ein Fluch - dies ist eine Differenz zur neobuddhistischen Rezeption und neohinduistischen Auslegung der Lehre von der Wiedergeburt in Europa am Ende des 20.Jahrhunderts! Nietzsche sagt: „Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein." (Nr.6) Möglicherweise hat aber Nietzsche selbst nicht realisiert, daß der Buddhismus ein solches Schlußziel im Sinne des Heraustretens aus dem Kreislauf der Wiedergeburten und das Eintreten in das Nirvana gekannt hat. In diesem Sinn ist auch die Wiederkehr eben nicht das Letzte, jedenfalls nicht eine ewige; für den Erlösungsuchenden ist sie eben eine, die beendet werden kann. Vergleichbar ist die „europäische Form des Buddhismus", die zu einem solchen Glauben zwingt, mit der indischen darin, daß sie „die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" ist (Nr. 6), daß „die Lehre der ewigen Wiederkunft [...] gelehrte Voraussetzungen haben" würde, ähnlich wie die Lehre Buddhas solche hatte (vgl. Nr. 13). Nietzsche versteht seine Sicht der ewigen Wiederkehr als einen Gegensatz zum Pantheismus, obwohl auch dieser einen Glauben an die ewige Wiederkunft erzwingt. Es wäre der Glaube, daß alles vollkommen göttlich, ewig ist, wie es Spinoza ausgedrückt hat, der hier ausdrücklich erwähnt wird (Nr. 7), und wie es die hinduistische Alleinheitslehre zum Ausdruck bringt. Nietzsche erwägt diese Möglichkeit, daß nach dem Tode des moralischen Gottes es vielleicht einen Sinn hat, einen „Gott ,jenseits von Gut und Böse' zu denken", und daß vielleicht „ein Pantheismus in diesem Sinn möglich" wäre. Es wäre eine bejahende Stellung, es würde bedeuten, daß man jeden Augenblick des allgemeinen Daseins aus der individuellen Erfahrung heraus bejaht, als gut, wertvoll und mit Lust empfindet, wie es Spinoza tat; doch in den Augen Nietzsches wäre sein Fall nur ein „Einzel-Fall" (vgl. Nr. 8). Nebenbei bemerkt, ist es sicherlich von Interesse, diesen Gedanken eines Gottes, der vereinbar ist mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr, weiterzudenken; doch kann das nicht hier geschehen. Was hat die christliche Moral, der christliche Gottesgedanke in den Augen Nietzsches bewirkt? Um es kurz zu sagen, er hat benachteiligten Menschen, Menschen, welche „ vergewaltthätigt und niedergedrückt wurden", vor der Verzweiflung und vor dem Sprung in das Nichts gerettet,
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beschützt. Es waren Menschen, die aufgrund ihrer psychosozialen Situation verbittert waren. Nietzsche erkennt hier treffend, daß es nicht die Ohnmacht gegen die Natur ist, die die „desperateste Verbitterung gegen das Dasein" erzeugt, sondern die Ohnmacht gegen Menschen (vgl. Nr. 9); also zwischenmenschliche Verhältnisse sollen durch die religiöse Interpretation kaschiert werden. Darüber hinaus soll dem Einzelnen ein absoluter Wert verliehen werden, der sich in der Zufälligkeit des ewigen Wechsels, im Strom des Werdens und des Vergehens, in seiner Kleinheit erlebt; alles Übel kann so als sinnvoll (um)interpretiert werden. - „In summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus", wie Nietzsche in der ersten Nummer unserer Abhandlung sagt. Diese Moral gab „Jedem einen unendlichen Werth", indem sie ihn „Ergebung, Demuth usw. [lehrte]" (Nr. 10). Die Haltung der Unterwürfigkeit, der Anpassung hat nach dem Zuendegehen der Moral keinen Sinn. Ebenso ist es dann nicht mehr vertretbar, daß man jene, die sich als mächtig und stark und autonom empfinden, verachtet. Vielmehr folgt die Erkenntnis, daß ein ähnlicher Wille zum Überleben, ein „Wille zur Macht", sowohl in dem Selbstverständnis der Unterwürfigkeit als auch in jenem des „Herrschens" gegeben war, so daß kein Grund mehr besteht, sich als den Leidenden besser zu schätzen als jenen, der ein „Herr" ist, dem es gut geht. Es gibt hier keinen Vorrang, kein Vorrecht des Unterdrückten gegenüber dem Unterdrücker. Eine solche Einsicht muß einhergehen mit der Anerkennung, daß die bisherigen Wertschätzungen sinnlos waren, und die Folge muß „das Stadium der hoffnungslosen Desperation" (Nr. 9) sein, wie Nietzsche sagt. Aus dieser Einsicht, die in eine Verzweiflung mündet, meint Nietzsche, würde eine ungeheure Lust der Zerstörung resultieren, die letztlich eine Selbstzerstörung ist, so daß die Schlechtweggekommenen zugrunde gehen. In der darin entstehenden Krise gibt es aber auch eine andere Perspektive, die offensichtlich Nietzsche anzielt. Es ist die Perspektive der Psychisch-Stärkeren angesichts des Sinnverlustes, angesichts des Zuendegehens der Religion. Es sind die Menschen, die sich in ihrem Sinnbedürfnis mäßigen, die „keine extremen Glaubenssätze nöthig haben", sondern durchaus die Zufälligkeit, auch die Unsinnigkeit im Geschehen des Daseins zu akzeptieren verstehen, die sich von den Unglücksfällen, den Malheurs nicht mehr so fürchten, sondern ihnen gewachsen sind, wie er sagt. Es sind „Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren" (Nr. 15). Und daran anschließend fragt er in der letzten Nummer dieser Abhandlung: „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? -" (Nr. 16). Sie wäre ihm gewiß nicht ein Fluch, er würde sie
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gewiß nicht als einen Fluch empfinden, wie jene, die enttäuscht bleiben. Diese abschließende Frage steht genau in Kontraposition zur einleitenden Frage dieses Stückes: „Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?" (Nr. 1). Das ganze Stück, das hier interpretiert wurde, zeigt den Weg, den Umwandlungsprozeß von einer - auch psychisch erlebten - Situation der Abhängigkeit, der Unterwürfigkeit, der Verachtung des Selbstseins, der Unterwerfung angesichts übergeordneter Kräfte, zu einer eher autonomen Sicht des Menschen, der in einer der Relativitität des Daseins sich bewußten Weise mit den Wechselfällen des Lebens umzugehen weiß.
l A. Kritische Anfragen zu und Weiterbedenken von Nietzsches Ideen im Zusammenhang der Nihilismus-Diagnose Ein zentrales Problem besteht darin, wie Nietzsche die Kräfte der Decadence bezeichnet und welche Folgerungen er aus seiner Bewertung christlich-moralischer Tendenzen zieht. Spätere Ausführungen werden hier immer radikaler, wie z.B. die vom Frühjahr 1888, wo er den Nihilismus der Tat im Selbstmord erblickt. Der große Vorwurf an das Christentum lautet: „Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw.". Der Vorwurf richtet sich nicht nur gegen das Christentum im allgemeinen, sondern deutlicher noch gegen die Kirche, die „statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermuthigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht". Nietzsche sieht das Problem darin, eine solche Form des Nihilismus zu erzielen, „welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetiren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz -)" (VIII 14 [9], KSA 13.222).6 Das genannte Problem läßt sich möglicherweise lösen, wenn man auf Nietzsches Anthropologie Bezug nimmt: nämlich die Einsicht, daß die Kräfte der Schwäche und jene der Stärke nicht voneinander zu trennen sind, entgegen dem ersten Anschein. Bei Nietzsche ist das Negative und zu Eliminierende auf das Christentum projiziert und das Positive auf ein künftiges, neues, ja-sagendes Menschenbild. Seine große Einsicht war, daß die in seinen Augen resignativen Kräfte der Unterlegenen an demselben
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Vgl. ferner: VIII 22 [23], KSA 13.594; 14 [10], KSA 13.222.
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Willen zur Macht teilhaben wie die sogenannten Herrschenden. Wenn man hierin Nietzsches Konzeption zur Kenntnis nimmt - und es ist kein Grund, warum man nicht von einem solchen dynamischen Gefüge ausgehen sollte -, dann läßt sich die Zäsur zwischen Systemen der Schwachheit und jenen der Stärke zwar im theoretischen Konzept aufrechterhalten, aber nicht in der Realität so klar trennen, wie Nietzsche es tut. Vielmehr ist von einem Kontinuum auszugehen, von einem möglichen Übergang der einen Einstellung zur anderen. Kann man nicht Nietzsches spätes Programm auch so lesen, daß es darum geht, diesen bejahenden Kräften, die die Freiheit und die Schönheit des Lebens herausstellen, zum Überwiegen, zum Durchbruch zu verhelfen, gegenüber den neinsagenden und lebensverleumdenden, den selbst- und fremddestruktiven Kräften? Es gehört zur Weitsicht der Diagnose dieses Philosophen, daß er die gefährliche Destruktivität gesehen hat, die zeigt, wie eine solche „Dialektik der Gewalt" entsteht,7 wenngleich er auch nicht die angemessene Therapie aufgewiesen hat. So gesehen ist zusammenfassend zu sagen, daß Nietzsche ein großer Diagnostiker der europäischen Kultur bzw. der Psyche von Menschen in dieser Kultur war. Insgesamt könnte seine Spätphilosophie als emanzipatorisches Programm gelesen werden, und sie steht so im Kontext der europäischen philosophischen Befreiungsansätze, in der Linie der Aufklärung. Freilich einer Aufklärung, die sich auch der vorrationalen Bedingungen bewußt ist, und nicht allein in der Rationalität und der vernunftgemäßen Entscheidung, der Vernunftdimension, die Organisation des Lebens erblickt. 2. Heideggers Synthese - die epochenübergreifende abendländische Seinsgeschichte als Versuch zur Überwindung des europäischen Nihilismus
2.1. Zeitgeschichtlicher Kontext der Auseinandersetzung mit Nietzsches Nihilismus Wie bei Nietzsche soll auch hier zu Beginn ein Bild vor Augen gestellt werden, nämlich der Zeitpunkt, an dem Heidegger in einem wesentlichen Zusammenhang Friedrich Nietzsches Wort „Gott ist tot" aufnimmt, nämlich in der Rektoratsrede von 1933 über die Selbstbehauptung der deutschen Universität: „Und wenn gar unser eigenstes Dasein selbst vor einer großen Wandlung steht, wenn es wahr ist, was der leidenschaftlich 7
Vgl. generell dazu J. Figl, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984.
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den Gott suchende letzte deutsche Philosoph, Friedrich Nietzsche, sagt: ,Gott ist tot' -, wenn wir Ernst machen müssen mit dieser Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden ...".8 Heidegger „führt seine Auseinandersetzung mit Nietzsche in jenen Jahren," wie Otto Pöggeler schreibt, „da man Nietzsche zeit- und teilweise für die nationalsozialistische Weltanschauung in Anspruch nimmt und den gröbsten Mißbrauch mit Nietzsches Denken treibt. Aus diesem Mißbrauch, ja aus jeder bloßen Nutzung von Nietzsches Denken" suche Heidegger herauszuführen, „indem er fragt, wie es denn überhaupt zum Kampf der Weltanschauungen gekommen ist, zum Kampf um die Erdherrschaft im Namen philosophischer Grundlehren, wie Nietzsche sagt."9 Es mag sein, daß Heideggers Nietzsche-Bild dem nationalsozialistischen Mißbrauch entgegengestellt werden kann. Doch das Problematische dieser Rektoratsrede ist, daß sich der Philosoph selbst in den Kontext einer Ideologie einbinden läßt, deren Grundstrukturen, deren destruktive Grunddynamik m.E. mit Nietzsches Inventar der ,Nihilismus'-Analyse hätte durchschaut werden können. Schwerpunktmäßig hat sich Heidegger mit Nietzsche unter dem Titel Der europäische Nihilismus im Jahre 1940 befaßt. Zusammen mit anderen Nietzsche-Abhandlungen und -Vorlesungen ist diese Darstellung in dem zweibändigen Nietzsche-Werk 1961 erstmals nach dem Krieg erschienen. Seinen eigenen Weg findet Heidegger sicher auch in der Auseinandersetzung mit Nietzsche, unter anderem auch in der Abhandlung Der europäische Nihilismus, auf die ich nun eingehe. 2.2. Nihilismus als europäisches Schicksal Heidegger interpretiert in dieser Abhandlung das erste Buch des Willens zur Macht mit dem Titel Der europäische Nihilismus, das, wie oben erwähnt, die Nummern l bis 134 umfaßt. Er ist sich bewußt, daß die Herausgeber - wie er sagt - „nach einem nicht durchsichtigen und auch nicht stichhaltigen eigenen Plan" vorgegangen sind (II 43).10 Auf editorische Fragen legt Heidegger als solche keinen besonderen Wert, obwohl er damals dem Herausgebergremium der Historisch-Kritischen Ausgabe eine gewisse Zeit angehörte, dann aber ausschied.11 Ihm geht es um die Sache des Denkens und nicht um zeithistorische, biographische Zusam8 Zit. nach O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, 105. 9 Ebd., 106. 10 Im Text wird (unter Angabe von Band und Seitenzahl) zitiert: M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. 11 Vgl. Pöggeler, a.a.O., 108.
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menhänge.12 Heidegger wäre aber gut beraten gewesen, wenigstens die Kommentare dieser Wille-zur-Macht-Ausgabe genau zu lesen bzw. auch die erste Edition heranzuziehen, wo der zitierte Text Nietzsches über den europäischen Nihilismus im ganzen, nicht aufgeteilt wiedergegeben ist. Er beruft sich in seiner Interpretation überwiegend auf Stücke, die nicht in diesem Text enthalten sind, nämlich auf die Aphorismen Nr. 12, 14 und 15 sowie eine Reihe weiterer (vgl. II 45). Von diesen schwierigen späten Nachlaßtexten von 1887/88 meint er, daß sie „aus der Zeit der hellsten Helle und der schärfsten Einsicht stammen" (ebd.). Auch hegt er die Vermutung, daß das Innerste der Metaphysik Nietzsches im Nachlaß „noch verborgen liegt" (II 44). Heidegger versucht diese Metaphysik ans Licht zu bringen, doch mit der zu diskutierenden Grundthese, nach der Nietzsches Denken in die Seingeschichte eingebettet wird - „die Gedanken eines Denkers vom Range Nietzsches [...] der Widerklang der noch nicht erkannten Geschichte des Seins in dem Wort [sind], das der geschichtliche Mensch als seine ,Sprache' spricht" (II 43 f.). Für Heidegger steht es zunächst einmal fest, daß hier vom Nihilismus in der abendländischen Geschichte die Rede ist. „Europäisch" meint „abendländisch" (vgl. II 80): „Der Nihilismus ist Geschichte." Im Sinne Nietzsches mache er das Wesen der abendländischen Metaphysik seit Platon aus. Nietzsche interpretiere die Logik der Entwertung der obersten Werte anhand eines Leitbegriffs, nämlich der Auslegung des Seienden im Ganzen als Willen zur Macht, also wesentlich vom Wertgedanken her (vgl. II 90 f.). Von diesem hermeneutischen Grundansatz aus ist es legitim und konsequent, gewisse Aussagen Nietzsches unter Rückgang auf die klassische Metaphysik zu interpretieren, z.B. unter Berufung auf die Kategorienlehre des Aristoteles (vgl. II 70 f.). Im Gegensatz zum oberflächlichen Fremdwort „Kategorie" in der gegenwärtigen deutschen Sprache entspreche der erwähnte aristotelische Sprachgebrauch „vielmehr ganz dem griechischen Sprachgeist, der allerdings ein unausgesprochen philosophisch-metaphysischer ist und daher die griechische Sprache zusammen mit dem Sanskrit und der gutverwahrten deutschen Sprache vor allen anderen Sprachen auszeichnet" (II 73). Schwerpunktmäßig konzentriert sich Heidegger auf die Nummer 12 des Willens zur Macht,,13 auf ein Stück, das in dieser Ausgabe Hinfall der kosmologischen Werte überschrieben ist. Inhaltlich beziehen sich diese Ausführungen jedoch auf den Nihilismus als psychologischen Zustand; 12 Vgl. Heidegger, Nietzsche, I 9. 13 Der "Wille zur Macht, a.a.O., 148-151.
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in der Historisch-Kritischen Ausgabe lautet die Überschrift zu diesem Fragment Kritik des Nihilismus.14 Heidegger gelingt es, den Zusammenhang zwischen Kosmologie und Psychologie überzeugend herzustellen, und zwar mit einem Ausgriff auf die abendländische Philosophiegeschichte: „Die Titel Kosmologie, Psychologie und Theologie - oder die Dreiheit Natur, Mensch, Gott - umschreiben den Bereich, darin alles abendländische Vorstellen sich bewegt, wenn es das Seiende im Ganzen nach der Weise der Metaphysik denkt." (II 59) Heidegger geht auch auf die Tatsache ein, daß alle drei Absätze des Abschnitts gleichlautend beginnen mit der Aussage „der Nihilismus als psychologischer Zustand", und stellt auf dieser Basis den Zusammenhang her mit der Kosmologie oder Metaphysik. Seine These lautet, daß man Nietzsches Begriff der Psychologie im Sinne einer Anthropologie deuten könnte, d.h. als „philosophisches Fragen nach dem Wesen des Menschen aus dem Hinblick auf die wesentlichen Bezüge des Menschen zum Seienden im Ganzen. ,Anthropologie' ist dann die ,Metaphysik' des Menschen." (II 61) Nietzsches Begriff beschränkt sich deswegen nicht auf den der Psychologie und des Psychologischen, auch nicht auf den Menschen allein, sondern erstreckt sich auf alles Lebendige im Sinne des vom Willen zur Macht Bestimmten. Wenn aber der Wille zur Macht, folgert Heidegger, den Grundcharakter alles Seienden ausmacht, so „ist Nietzsches .Psychologie' gleichbedeutend mit Metaphysik schlechthin." (II 61) Wenn Heidegger fortfährt, daß der Weg der Metaphysik zu einer Psychologie, in der die Psychologie des Menschen einen ausgezeichneten Vorrang hat, im Wesen der neuzeitlichen Metaphysik begründet ist, und dabei auf Descartes Bezug nimmt, so ist überzeugend die anthropozentrische Linie herausgestellt (vgl. 61 f.). Darin erblicke ich eine der genialen interpretatorischen Zugangsweisen Heideggers, der trotz eines unvollständigen Textes den offensichtlich zentralen Denkanliegen Nietzsches nahekommt, freilich in eigentümlicher Weise. Auf die allgemeinere These Heideggers, daß in Nietzsches Wille-zurMacht-Philosophie und dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen sich die abendländische Metaphysik vollende, indem sie in ihr extremes Gegenteil gelange und so noch immer in sich verhaftet bleibe, kann ich hier nicht eingehen. Es sei hier nur auf den weiteren Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus hingewiesen, der von 1944 bis 1946 entstand (II 335 ff.). Heidegger kommt dort zu einer radikalisierten Deutung Nietzsches, daß nämlich dessen Metaphysik kei-
14 KGW l VIII 11 [99], KSA 13.46 ff.
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ne Überwindung des Nihilismus sei und der vollendete Nihilismus sich selbst endgültig von der Möglichkeit aussperre, jeweils das Wesen des Nihilismus denken und wissen zu können (II 340 f.). Und schließlich wird unter Einbeziehung der Metaphysik Platons gesagt, daß auch diese „nicht weniger nihilistisch als die Metaphysik Nietzsches" sei, und die These vertreten: „Die Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus." (II 343) Zu Kriegsende und danach haben viele deutsche Intellektuelle dazu geneigt, die Schuld an der Katastrophe des Krieges einer neuzeitlichen Verengung des Denkens oder anderen verallgemeinernden geistesgeschichtlichen Gründen zu geben. Auch an Heideggers generelle These einer Seinsgeschichte als „Seinsgeschick" muß die Frage gestellt werden, ob nicht auch die konkrete Geschichte betrachtet werden müßte. Und zu dieser Geschichte gehört eben auch das, was in den Konzentrationslagern passiert ist, und die Tatsache eines brutalen Angriffskrieges, der Millionen von Toten zur Folge hatte. Es ist wenig nützlich, über große philosophische Perspektiven zu reden und dabei zu übersehen, welche Greueltaten geschahen, so daß die weitere Frage ist, was wirklich und wo konkret der Nihilismus ist. Und damit komme ich zu meinen Schlußüberlegungen. Schlußüberlegungen: Relativierung absoluter Antithesen (Nietzsches) und verallgemeinernder Synthesen (Heideggers) Nihilismus wäre auch in einer philosophischen Analyse zugleich als konkrete geschichtliche, politische und moralische Erscheinung ernst zu nehmen, wie es der Historiker William Sheridan Allen in seinem Buch Das haben wir nicht gewollt! Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930-1935 (1965) tut. Er sagt im Vorwort, ihm gehe es darum, eines der entscheidenden politischen und moralischen Probleme des 20. Jahrhunderts zu verstehen, „wie eine zivilisierte Demokratie in eine nihilistische Diktatur getrieben werden kann". Ich glaube, wenn man von Nihilismus spricht, muß diese Dimension stets mitbedacht werden.15 15 Vgl. auch den neuen Artikel von W.S. Allen, The History of the Holocaust and the Efficacy of Moral Thought, 1998. Es ist für ihn immer noch die größte moralische Herausforderung unseres Jahrhunderts, vielleicht der gesamten Menschheitsgeschichte, daß das organisierte Christentum, sowohl von katholischer als auch protestanti-
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Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen nach dem Nihilismus neu, und man wertet dann auch Nietzsches Analyse anders. Wie stellt sich vor diesen konkreten, geschichtlich und lebensgeschichtlich nicht übergehbaren Erfahrungen die Frage des Nihilismus? Und da ist zu sagen, daß Nietzsche ein hellsichtiger Diagnostiker war, der die Möglichkeiten der Zerstörung in dieser Kultur erkannt hat. Und er hat richtig gesehen, daß die Religion, wie sie weithin praktiziert wird, die Moral und die Wissenschaft und auch die großenteils nationalistischen politischen Postulate im Grunde zerstörerische Potenzen hatten. Er war Diagnostiker, aber wohl kein angemessener Therapeut. Doch sein Spätwerk ist Nachlaß geblieben und soll als solches betrachtet werden. Zusammenfassend muß jedoch gesagt werden, daß es ein Problem ist, sich im diametralen Gegensatz zur moralischen, insbesondere auch zur christlichen Tradition und geistigen Wertüberlieferung Europas stellen zu wollen. Dieser Abbruch, diese Antiposition radikaler Art hat offensichtlich noch nicht jene vorurteilsfreie Sicht erreicht, die einen „freien Geist" auszeichnen würde. Doch der Versuch, das jeweils Vorhergehende zu zerstören, scheint die europäische Geschichte und ihre großen kulturgeschichtlichen Umbrüche zu kennzeichnen. Auch das Christentum hat wesentlich beigetragen zu dieser Radikalisierung von Gegenpositionen durch einen vordergründig verstandenen Absolutheitsanspruch, der in die politische Sphäre hineingetragen wurde und zur Zurückdrängung, ja sogar Vernichtung anderer Positionen geführt hat. Diese Antithese, die auch noch Nietzsches Verhältnis zur Kultur- und Religionsgeschichte weithin kennzeichnet, ist einseitig. Doch auch voreilige Synthesen sind wenig hilfreich. Und damit komme ich zu Heidegger. Der Versuch, eine einheitliche Geistesgeschichte Europas zu konzipieren, ist wohl ernst zu nehmen, weil von den frühen griechischen Denkern an gemeinsame Anliegen die gesamte europäische Kulturgeschichte mitgeprägt und mitgeformt haben. Aber es ist bedenklich, wenn man trotz der noch zu suchenden Einheitlichkeit, die nicht so ohne weiteres klar vor Augen steht, die Gegensätze und Differenzen bis zu einem Grad relativiert, daß man das Christentum und Nietzsches Antiposition in einem einzigen Zusammenhang sieht oder Platon und Nietzsche in einem Atemzug als Vertreter des Nihilismus nennt. Es bedarf einer Anerkennung der unterschiedlichen Positionen und der differenzierteren Bemühung, sie scher Seite, fast vollkommen versagt hat angesichts des Dritten Reiches. Es ist auch unleugbar, daß die Philosophen und Wissenschaftler großenteils unfähig waren, gegen das NS-Regime einzutreten. Namentlich wird hier Martin Heidegger als das erste Beispiel genannt.
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aufeinander zu beziehen. Das gilt generell für die Denkgeschichte und besonders auch im Hinblick auf die religionsphilosophische Thematik. Angesichts einer einseitig antithetischen wie einer übergreifenden „synthetischen" Position ist eher ein Weg zu beschreiten, in dem primär die Zusammengehörigkeit und die Übergänge sichtbar gemacht werden, die trotz aller äußerlich abrupten Umbrüche sichtbar werden können. An die philosophische Reflexion ist gewissermaßen die Forderung gestellt, Gegensätze zwischen und innerhalb der verschiedenen Epochen im Hinblick auf die zentralen philosophischen Themen in ihrer Relation aufeinander zu sehen. Es sollten dabei Alternativen aufeinander bezogen werden und die jeweils andere Position als Aspekt der konträren mitbedacht werden, so daß es sich letztlich nicht um einander diametral ausschließende Perspektiven handelt, sondern um Versuche, Fragen zu lösen, die im Prinzip keine thetische Antwort absolutistischer Art zulassen. In Richtung der Auflösung extremer Gegensätze finden sich auch bei Nietzsche wichtige Ansätze. So ist z.B. bei ihm offensichtlich ein Zusammenhang gegeben, wenn er die Ablehnung der christlichen Werte auf die moralische Erziehung durch das Christentum zurückführt, wenn aus dem Appell zur Moral schließlich die in seinen Augen „über-moralische" Einstellung sich ableitet. Dies zeigt, daß eine Transformation stattgefunden und nicht nur ein Gegensatz sich herausgebildet hat, eine in seinen Augen andere Perspektive, eine neue Interpretation. Daher kann ein Zusammenhang mit der vorausgehenden Interpretation nicht geleugnet werden. Dieses Grundpostulat gilt sowohl für den Zusammenhang zwischen dem Nihilismus und dem Anspruch, ihn überwunden zu haben, wie für das Ineinanderwirken von philosophisch-theoretischem Nihilismus-Verständnis und praktisch realisierten Zuständen der Entwertung und Zerstörung.
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Die Heimat der Verschiedenheit. Über die plurale Identität Europas „ Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht."'
l.Das nicht-europäische Europa: ein alter und neuer Mythos Europa - so erzählt der Mythos - ist nicht europäisch, weder von Geburt noch dem Namen nach.2 Auf eine schon damals rätselhafte Weise erhielt Europa seinen Namen von einer Tochter des Königs von Phönizien, die Zeus, in Gestalt eines zahmen weißen Stiers, geraubt hatte. Die geraubte und rasch verlassene Königstochter war eine Fremde in einem fremden Land.3 Dem alten Mythos ähnelt ein neuer von der fremden, „exzentrischen Identität" Europas.4 Je rätselhafter die Herkunft Europas erscheint, um so mehr fragt man - philosophisch, politisch - nach seiner Identität. Europa: ein singulärer Eigenname birgt in sich eine komplexe Pluralität. 2. Europa: der Name eines Ändern Schon eine geographische Definition Europas bereitet Schwierigkeiten. Mit Valery - und Derrida - kann man sagen: Europa ist „ein Kap", „gleichsam ein Kap der alten Welt, ein westlicher Ausläufer Asiens".5 1 J.W. v. Goethe, Noten über „Rameaus Neffe", in: J.W. v. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 7, München 1991, 666. 2 Vgl. das Vorwort des Herausgebers. 3 Vgl. etwa Herod., 4, 45, 4/5; Moschos 2, 77 ff.; Diod. 5, 78, 1; Apollod. Bibl. 3, l, 1; Ovid, Met. 2, 836 ff. 4 Vgl. R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/New York/Paris 1993. 5 P. Valery, La crise de l'esprit, Note (ou L'Europeen), in: P. Valery, Essais quasipolitiques, Oeuvres I, Paris 1957, 1004; J. Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a./M 1992, 20. Vgl. dazu schon K. Löwith, Der europäische Nihilismus, in: K. Löwith, Sämtliche Schriften, Stuttgart 1983, Bd. II, 475.
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Und dann ist die Frage: „Wer sollte die Grenzen dessen, was den Namen Europa trägt, umreißen?"6 Der Name „Europa" bezeichnet ursprünglich weder einen Ort noch ein Land, sondern eine Himmelsrichtung, die Richtung der untergehenden Sonne. Europa ist das Abend-Land, das Land des Abends - wahrscheinlich nach einem phönizischen Ausdruck, der aus der gemeinsemitischen Wurzel für „Abend", „Dunkel" stammt. „Europa" würde also das abendliche Dunkel bezeichnen, das westliche Ufer des Ägäischen Meers, hinter dem die Sonne untergeht. Erst im 9. Jahrhundert n. Chr. wurde „Europa" der Name für eine Gegend, für das neugegründete westliche Reich. Allmählich bezog er schließlich das ganze lateinische Abend-Land ein. Sowohl für die Europäer selbst als auch für ihre Nachbarn wurde „Europa" so der Name für die eine Hälfte der Christenheit, die mit der ändern, Byzanz, dem Land des Morgens, wetteiferte. Es war der Name eines Ändern. Die Griechen hatten nie das Gefühl, Europäer zu sein. So sagt Aristoteles in der Politik, die Europäer seien zu tollkühn, die Asiaten dagegen zu feige, als dass sie die echte Freiheit genießen könnten. Diese sei dem Volke der Mitte beschert, das heißt - den Griechen.7 3. Athen und Jerusalem: die verlorenen Quellen Europas Man sollte das geläufige Bild korrigieren, Europa sei Erbin Griechenlands und Roms, als gäbe es eine einzige gerade Linie, die von Homer bis zur Gegenwart führt. Man spricht dann von „griechisch-römisch" oder „griechisch-germanisch" oder „griechisch-europäisch", so Husserl in seinem Wiener Vortrag von 1935.8 Der Bindestrich ist höchst fragwürdig. Denn Europa besteht aus verschiedenen Elementen. Man nennt meistens das griechische, das jüdische, das römische. Man müßte das arabische und das byzantinische hinzufügen und später auch das indische, das afrikanische, das ostasiatische, das amerikanische. Europa läßt sich mit keinem dieser Elemente identifizieren; es teilt seine Elemente mit anderen Kulturen. Was im Profanen gilt, gilt ebenso und noch mehr vom Religiösen: das Christliche beschränkt sich nicht auf Europa. 6 7 8
Derrida, a.a.O., 9. Aristoteles, Politik, VII, 7, 1327 b 20-33, bes. 24. E. Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, in: E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962, 329.
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Athen und Jerusalem gelten als Quellen der europäischen Kultur. Europas Ästhetik und Ethik, Wissenschaft und Religion haben dort ihren Ursprung. Aber Athen liegt an der Grenze, Jerusalem sogar außerhalb der Grenzen Europas. Das ist nicht nur eine geographische Tatsache. Wo das Zentrum, die Quelle, an oder außerhalb der Grenzen liegt, ist die Identität exzentrisch. Remi Brague schlägt darum vor, Europa nicht als Vaterland, sondern als „Sohnland" zu bezeichnen, das Land eines Sohnes, das seinen Vater erst suchen muß: „Europas Kulturgeschichte ist sozusagen diejenige einer rückwärts laufenden Adoption, in der Söhne sich Eltern aneignen."9 Sicherlich ist jeder ein Erbe, auch ein Chinese oder ein Muslim; die Aneignung, das Vertraut-Werden mit den Inhalten der eigenen Welt, macht die Kulturgeschichte aus. Der Europäer erfährt sein Erbe jedoch als Fremdes, von außen Kommendes, das er zu einem Ändern macht, wenn er es aneignet. Europa erlebte immer neue „Renaissancen" Chartres, Toledo, Florenz, Weimar- des verlorenen Griechischen. Es vergaß dabei - wie Levinas und nicht nur Levinas hervorgehoben hat10 das verlorene Jüdische. Athen und Jerusalem bleiben für uns aktuelle Aufgaben - vor allem Jerusalem. Sie sind Quellen, auf die wir immer wieder zurückkommen müssen. 4. Die Bejahung des Nihilismus als Schicksal Europas: Nietzsche Nietzsche hat von einem „europäischen Nihilismus" gesprochen.11 Er versteht darunter die seit Jahrtausenden eingetretene Trennung zwischen der Sinnerfüllung und der theoretischen Erklärung des Lebens. Er selbst sieht sich als „den erste [n] vollkommene [n] Nihilismen] Europas".12 Und er verbindet damit den Anspruch, ein „guter Europäer"13 zu sein. 9 10 11
12 13
R. Brague, Sohnland Europa, in: P. Koslowski/R. Brague, Vaterland Europa. Europäische und nationale Identität im Konflikt, Wien 1997, 38. Vgl. E. Levinas, Europa tra pensiero greco e Bibbia, in: A. Krali (Hg.), L'identitä culturale dell'Europa tra germanesimo e latinita, Milano 1987, 55-62, und schon L. Chestov, Athenes et Jerusalem. Un essai de philosophic religieuse [1937], Paris 1967. Vgl. Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA), 12, 211. Heidegger erklärt: .„europäisch' hat hier geschichtliche Bedeutung und sagt soviel wie .abendländisch' im Sinne der abendländischen Geschichte" (Nietzsche: Der europäische Nihilismus, in: GA, Bd. 48, hg. von P. Jaeger, Frankfurt a./M. 1986, 2; vgl. ders., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, in: GA, Bd. 43, hg. von B. Heimbüchel, Frankfurt a./M. 1985). Nietzsche, KSA 13, 190. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377 (KSA 3, 631).
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Den Europäer als solchen erkennt Nietzsche in dem Griechen, der als Zuschauer auf der Bank des Theaters sitzt und das Leben in einer theorta betrachtet, als Vorführung eines Dramas. Der europäische Archetyp ist für ihn der theoretische Mensch, dem sein Schicksal zum Objekt wird. Sich selbst denkt er als „frei" von diesem Schicksal. Aus der „Fiktion" eines schicksals-freien Standpunkts kann eine wissenschaftliche Theorie der Welt überhaupt entstehen, die nicht nur Interpretation, sondern definitive Erklärung der „Wahrheit" der Welt sein will. „Wahrheit" meint hier „Allgemeinheit". Platon hat die Möglichkeit und Notwendigkeit eines philosophischen Zugangs zu allgemeinen Wahrheiten gezeigt. Er bringt eine Distanz zum unmittelbaren Leben mit sich, in dem die Dinge in ihren sinnlichen, wechselnden Gestalten immer wieder anders erscheinen. Hier gleitet das „Auge nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht .Formen'".14 Der europäische Platonismus - als ursprüngliche Figur des Nihilismus - fordert dagegen das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen".15 Ein fiktiver „wahrer" Begriff ist dann etwas, das „zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss".16 Ihm gegenüber sind „ungleiche Fälle" dann nur mehr oder weniger korrekte, mehr oder weniger zuverlässige Abbilder. Das Weglassen des Ungleichen, das Vergessen des Individuellen und Wirklichen, das Fallenlassen der individuellen Verschiedenheiten - hierin liegt nach Nietzsche die Quintessenz des europäischen Nihilismus. Soweit das europäische Denken durch den Nihilismus affiziert ist, stellt es sich als vereinfachendes Denken heraus.17 Dieses vergessende, vereinfachende Denken verbirgt in sich - als moralisches Denken - einen dennoch leicht zu erkennenden Willen zur Macht. Das heißt: sobald die Fiktion zum Vorschein kommt, verliert sie ihre Kraft und zeigt sich als nihilistisch. Das aus der Fiktion entstandene Denken kann dann nicht mehr die anderen Perspektiven für nichtig erklären und sich selbst verabsolutieren. Nietzsche spricht von einer „moralische[n] Ontologie",18 die die Individualität in der Wirklichkeit negiert. Das dominierende Schema der moralischen Ontologie könne aber „genealogisch" überwunden werden. Daraus würde sich freilich wieder ein theoretisches „Bild" ergeben,
14 15 16 17
Nietzsche, KSA l, 876. Nietzsche, KSA l, 880. Ebd., 879 f. „Er ist ein Denker: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind." (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 189, KSA 3, 504). 18 Nietzsche, KSA 12, 265.
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das fiktiv, also wiederum absolut europäisch wäre. Die Überwindung kann nur innerhalb des dominierenden Schemas erfolgen, es muß sich selbst überwinden. Darin sieht Nietzsche die Aufgabe seines Philosophierens. Der vollkommene Nihilismus ist der zu Ende gebrachte europäische Nihilismus, der sich selbst als Schicksal erträgt und - wenn auch in einem tragischen Verhältnis - das Leben bejaht. Vollkommener europäischer Nihilismus heißt also nichts anderes als Bejahung des Nihilismus. Die Bejahung - als Liebe zum eigenen individuellen Schicksal - ist letztlich die einzige Bejahung überhaupt in Nietzsches Philosophie.19 Die Bejahung des „amor fati" wird individuell und somit faktisch vollzogen. Durch Begriffe und Schemata - moralisch - kann sie nicht erlangt werden. Die Überwindung geschieht also nur dann, wenn jedes einzelne Individuum sein Schicksal - selbst in dessen Unüberwindbarkeit - duldet und bejaht. Das individuelle Dulden, das letztlich individuelles Verstehen ist, eröffnet den einzigen Weg zur Überwindung. Mit dem bejahenden Nihilismus wird also zugleich auch das Individuelle als solches neu bewertet, bejaht. Die Bejahung, die die zukünftige europäische Kultur auszeichnen soll, faßt Nietzsche im Begriff der „Gerechtigkeit" zusammen. Als „Gegnerin der Ueberzeugungen" will diese Gerechtigkeit jedem individuellen Ding der pluralen Wirklichkeit gerecht werden; „sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum." Sie geht sogar so weit, dass sie „ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen ,Ueberzeugung'" das Ihre läßt.20 Mit sorgsamen Auge umherzugehen, scheint danach die unentbehrliche Eigenschaft eines „guten" Europäers zu sein. In diesem Sinn sagt Nietzsche von sich selbst: „ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das ,zweite' Gesicht noch ausser dem ersten. Und vielleicht auch noch das dritte ... Schon meiner Abkunft nach ist mir ein Blick erlaubt jenseits aller bloss lokal, bloss national bedingten Perspectiven, es kostet mich keine Mühe, ein ,guter Europäer' zu sein."21 Eine Außenperspektive, von der aus sich Europa betrachten läßt, ist das eigentliche Ziel der von Nietzsche gewünschten „Seefahrt". Nach dem Aufbruch zu neuen Ufern verliert der Seefahrer auf offenem Meer die rechte Orientierung, gewinnt aber dafür einen fremden, verfremdenden
19 Vgl. dazu J. Simon, Nietzsche und das Problem des europäischen Nihilismus, in: Ist Gott tot? - Herrenalber Texte 41 (1982), 22-42, insb. 41. 20 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 636 (KSA 2, 361 f.). 21 Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so weise bin, 3 (Text der Zwischenstufe, vgl. KSA 14, 465f. u. 472).
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Blick. Mit der „Seefahrt" ist also eine kritische Selbstentfremdung Europas gemeint. Denn der Seefahrer verläßt die europäische Küste, um sie aus der Ferne zu sehen und so „besser im ganzen zu verstehen als die, welche sie nie verlassen haben."22 In der fremden Ferne des offenen Meers - der erreichten „Freiheit von allem ,Europa'"23 - haben „werdende Europäer"24 endlich das Recht, „sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen".25 Will der Seefahrer zum „Halbinselchen" Asiens26 zurückkommen? Die Rückkehr auf festen Boden wird ernsthaft in Zweifel gestellt. Wenn „Europa" die „Summe von kommandirenden Werthurtheilen" ist,27 dann kann der „gute Europäer" als „vollkommener Nihilist" in seiner Selbstüberwindung nur nach der Freiheit des offenen Meers streben, auch wenn er dort für lange Zeit keine Orientierung mehr finden wird. Das zurückgelassene Ufer Europas bleibt für immer zurück, und der „gute Europäer" richtet sich auf dem Meer, auf dem Ocean ein. Dahin strebt der „Luft-Schifffahrer des Geistes": „wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist!"28 Ist dies aber nicht der europäische Columbus-Traum, der Traum von einem Indien (bzw. Amerika), der immer wieder an der Unendlichkeit, an der unendlichen Freiheit scheitert? Weg vom alten Kontinent: ist das nicht das eigentliche Ziel der Seefahrt? Am 10. Februar 1883 schreibt Nietzsche aus Rapallo an Franz Overbeck: „Ich will es Dir nicht verhehlen, es steht schlecht mit mir. [...]. Vielleicht, daß mich Jemand aus Europa wegschleppte-".29 5. Das Schicksal Europas und das Schicksal Deutschlands: Heidegger Europa und die deutsche Philosophie lautet der Titel einer Rede, die Heidegger im Anschluß an seinen Hölderlin-Vortrag im Frühjahr 1936 in der Bibliotheca Hertziana in Rom hielt.30 Die Rede war als Antwort an
22 23 24 25 26 27 28 29 30
Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 616 (KSA 2, 349). Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 380 (KSA 3, 633). Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 242 (KSA 5, 182). Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 377 (KSA 3, 628) [Hervorhebung D.D.C.]. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 52 (KSA 5, 72). Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 380 (KSA 3, 633). Nietzsche, Morgenröthe Nr. 575 (KSA 3, 331). Nietzsche, Kritische Studienausgabe der Briefe (KSB), 6, 325. Heidegger, Europa und die deutsche Philosophie, in: Hans-Helmuth Gander, Europa und die Philosophie, Frankfurt am Main 1993 (Schriftenreihe der Martin-HeideggerGesellschaft, Bd. 2), 31-41.
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Benedetto Croce konzipiert, der deutlich Bedenken über Heideggers philosophisch fundierte Option für Hitler ausgedrückt hatte; man konnte nach Croce den Eindruck gewinnen, als sei für Heidegger die Philosophie nichts weiter als eine deutsche Angelegenheit zum Wohle des deutschen Volkes.31 Croces Kritik bezog sich auf Heideggers Rektoratsrede über Die Selbstbehauptung der deutschen Universität von 1933. Dort richtete Heidegger einerseits den Blick zurück auf den „Anfang unseres geistiggeschichtlichen Daseins", d.h. auf den Anfang Europas in jenem Augenblick, in dem der erste griechische Philosoph nach der Wahrheit des Seins und damit nach dem Wesen des Seins fragte. Andererseits aber verhielt sein Dasein sich ganz ungriechisch und übernahm den „geistigen Auftrag", der das „Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt".32 Von der Vertiefung der Seinsfrage durch die Frage nach dem Wesen der Wahrheit hänge die Rettung des „europäischen Wesens" ab, wie es gemäß dem „innersten, sich selbst verborgenen Zug der deutschen Philosophie" von Leibniz bis hin zu Nietzsche im Rückgang auf die Griechen gedacht worden sei.33 Schon sehr früh in den Vorlesungen über Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929-1930),34 in denen Heidegger sich Nietzsche zuwendet, kommt für ihn das Schicksal Europas dem nackten Entweder-Oder einer Rettung oder einer Zerstörung gleich. In dieser Zeit diagnostiziert auch Husserl die „Krisis" Europas. Wenn auch mit anderen Akzenten, so hält Heidegger in den Interpretationen von Hölderins Hymnen Germanien und Der Rhein (1934-1935) doch an der Alternative fest.35 Die Selbstzerstörungskraft der europäischen Technik, die grenzenlos in Rußland und Amerika herrsche, sei metaphysisch nichts anderes als die nihilistische Vergessenheit des eigenen Anfangs. Die Frage: Was wird aus Europa werden? soll demnach als die Frage: Was wird aus dem Geist werden? gestellt werden. Die Antwort weist zur möglichen Rettung auf „die 31 Vgl. B. Croce, La Critica. Rivista di letteratura, storia e filosofia (1933), 69. 32 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933. Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, Frankfurt am Main 1983. 33 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, in: GA, Bd. 9, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, 85. Hierin zeigt sich übrigens Heideggers Werk der 30er Jahre als eine Wiederaufnahme und Verwandlung von Nietzsches „unzeitgemäßen" Betrachtungen. Vgl. M. Riedel, Heideggers europäische Wendung, in: M. Buhr (Hg.), Das geistige Erbe Europas, Napoli 1994, 411-423. 34 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, in: GA, Bd. 29/30, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main 1983. 35 Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein", in: GA, Bd. 39, hg. von S. Ziegler, Frankfurt am Main 1980.
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Entfaltung neuer geschichtlich geistiger Kräfte aus der Mitte"36 hin, und zwar aus der deutschen geistigen Mitte.37 Die Bewahrung der europäischen Völker und ihrer gemeinsamen - griechisch-germanischen - Herkunft vor der Entwurzelung und Aufsplitterung und vor der kommenden „Barbarei", die Europa als „eingeklemmte Mitte"38 zwischen „Bolschewismus" und „Amerika" bedroht, ist Heideggers Leitgedanke auch im Brief über den Humanismus.^ Es ist verdächtig, wenn man nicht oder nicht genug die eigene Barbarei sieht und die Barbarei auf andere projiziert. Im Namen der Verteidigung gegen die Barbarei eines anderen ist die schlimmste Gewalt entfesselt worden. Dennoch ist richtig, dass das heutige Europa des wissenschaftlich-technischen Fortschritts von allen Dingen den Preis, von nichts aber den Wert kennt und so ein - im Sinne Heideggers - nihilistisches Land geworden ist und vielleicht immer noch wird. Es hat sein geistiges Erbe nahezu vergessen, wenn nicht verloren. In diesem Sinn gilt immer noch, was Heidegger über die Seinsvergessenheit und (in seinem Spätwerk) über die Seinsverlassenheit geschrieben hat. Offen bleibt dann die Frage, ob und wie der abend-ländische - europäische - Geist der Geist der Oikumene sein, also über das Abend-Land hinaus auf das Land eines neuen Morgens verweisen kann.
6. Was heißt „europäisch"? „Europäisch-sein" hat weder eine positive noch eine negative Bedeutung. Als „europäisch" zu gelten, ist weder ein Lob noch ein Tadel. Denn „Europa" heißt nicht schon „Kultur". Europa ist kleiner als die europäisierte Welt. Europäisches gibt es überall auf der Welt, auch außerhalb Europas. Japan kann als europäischer empfunden werden als manche Teile Europas, etwa als Süditalien, das Land gegenüber der griechischen Küste, die alte Magna Graecia. Denn in Japan findet man leichter als in Süditalien all das, was - meistens ohne Rücksicht auf die Tradition - als echt „europäisch" importiert bzw. exportiert worden ist: die mathematische Naturwissenschaft, die Tech36 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, in: GA, Bd. 40, hg. von P. Jäger, Frankfurt am Main 1983, 42. 37 Vgl. dazu Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt am Main 1988, 84. 38 Vgl. Derrida, Das andere Kap, a.a.O., 28. 39 Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Wegmarken, in: GA, Bd. 9, hg. von F.W. von Herrmann, Frankfurt am Main 1976. Der Gedanke war damals gängig; vgl. etwa H. Keyserling, Das Spektrum Europas, Berlin/Leipzig 1928, 483.
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nik, den Rechtsstaat, die Marktwirtschaft. Stellt nicht Tokyos Börse die Beschämung Europas dar, von früheren „Barbaren" die Europäisierung lernen zu müssen? Es bleibt offen, ob die Europäer, alle Europäer, sich in der europäisierten Welt wiedererkennen würden. „Europäisch" ist nicht mit „europäisiert" zu verwechseln. Europa hat die „westliche Zivilisation" hervorgebracht, die „westliche Zivilisation" ist aber nicht nur europäisch und auch nicht mehr „westlich", sobald sie überall auf der Erde zur dominierenden Zivilisation wird. Dabei scheint sie immer weniger „europäisch" zu sein. Europäer könnten sich in der europäisierten Welt, in der sie ihre humanistische Tradition, ihre Sprache, Kunst, Religion, Geschichte, Philosophie, Dichtung nicht mehr wiederfinden, bald am meisten fremd fühlen.
7. Das Fremde als das Eigene: die exzentrische Identität Europas Es gelingt also nicht, das Eigentümliche Europas zu fassen, indem man seine Quellen identifiziert und aufzählt. Denn die Identität Europas rührt nicht von solchen - äußer-europäischen - Quellen her, sondern von daher, wie Europa daraus geschöpft hat. Man muß seine Identität darum dynamisch fassen, das heißt, seine Eigenart nicht so sehr im Erbe, sondern in der Art des Erbens erkennen. Für Europa ist das Eigene die eigenartige Bewegung vom Selbst zum Ändern, eine Bewegung, die nur reduktiv als Bewegung der bloßen Aneignung gelten kann. Ein Beispiel oder Vorbild dafür kann das Römische sein - nicht der römische Imperialismus, der übrigens im Vergleich zu vielen heutigen nicht der schlimmste war. Entscheidend ist hier das, was in der römischen Geschichte seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. geschah, als die Römer mit der griechischen Kultur in Berührung kamen. Den raffinierten Griechen gegenüber waren die Römer ungehobelte Bauern und Soldaten. Sie fühlten sich als solche unterlegen. Doch sie verurteilten die kulturelle Überlegenheit der Griechen nicht als „Dekadenz", sondern hatten den Mut, sie anzuerkennen.40 Ähnliches läßt sich auch für das europäische Abendland gegenüber dem raffinierten Byzanz sagen. Das Gefühl der Unterlegenheit und Illegimität hat Europa immer wieder angespornt, sich selbst zu bilden und herauszubilden, und so, wenn man will, gerettet. Dagegen sah sich Byzanz in bruchloser Kontinuität mit dem klassischen Griechen-
40 Vgl. R. Brague, Die „Romanität" als Modell, in: ders., Europa. Eine exzentrische Identität, a.a.O., 26-41.
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turn. Deshalb brauchte man nicht auf die Quelle zurückzukommen, deshalb gab es in Byzanz keine Renaissance. Noch stärker gilt dieses Modell der Aneignung, so Brague, für das islamische Verhältnis zu den Quellen. Die Aneignung ist hier eher eine Einverleibung. Europa existiert danach überall da, wo man sich als nicht überlegen, sondern dem Ändern gegenüber als barbarisch fühlt. „Barbarisch" ist dann nicht das Andere, sondern das Eigene - aus dem Unterlegenheitsgefühl entsteht ein schöpferisches Erlebnis des Fremden.41 Dieses schöpferische Erlebnis des Fremden ist das Eigene der exzentrischen Identität Europas. Anders gesagt: Europäer können sich höchstens gegen die Amerikaner als „Europäer" fühlen. Nach Repräsentativumfragen gelingt das eher, wenn man - in dieser Reihenfolge - aus England, Deutschland, Frankreich, Spanien, Rußland, Polen, Italien und Irland kommt. Es gelingt kaum, wenn man aus Sarajevo, Rostock, Belfast, Palermo kommt, aus Gegenden der gescheiterten Moderne, in denen nur die Technik angekommen ist. Und dennoch gehören diese Gegenden zu Europa, sie sind zugleich Chance und Verhängnis Europas. 8. Eine andere Seefahrt zwischen Ozean und Mittelmeer: Derrida Die Frage nach der Identität Europas wird von Derrida aufgrund von zwei Axiomen gestellt, dem „Axiom der Endlichkeit" und dem Axiom der Differenz.42 Mit dem ersten Axiom spricht er das Paradox an, dass aus dem alten, unzeitgemäßen Europa etwas Neues, ein neues Land Europa - entstehen soll, das es noch nicht gegeben hat. Sollen die jungen Alteuropäer zu einem neuen, noch nicht existierenden Europa oder zu einem alten, ursprünglichen, wiederzufindenden und wiederzugestaltenden Europa aufbrechen? 43 Mit dem Axiom der Differenz zielt Derrida auf das Widersprüchliche der Identität einer Kultur überhaupt. Es lautet: „Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie [...] mit sich differiert. Es gibt Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst."44 Die Kultur des Selbst ist als solche eine Kultur des Anderen. Und das Andere kann immer vieles sein. 41 Der Ausdruck „schöpferisches Fremdheitserlebnis" stammt aus dem Aufsatz von O. Demus, Die Rolle der byzantinischen Kunst in Europa, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft, 14 (1965), 139-155, hier 141. 42 Derrida, Das andere Kap, a.a.O.,11-13. 43 Ebd., 11 f.
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Derrida deutet Europa - mit Valery - als Kap. Auf französisch sagt man faire cap und changer de cap, das heißt „ansteuern", „Kurs nehmen" bzw. „den Kurs ändern". Das französische Wort cap, lateinisch caput, capitis, das Derrida sich zunutze macht, meint „Kopf", „Haupt", das äußerste, extreme Ende, das Ziel, das eschaton im allgemeinen. So kann er fragen: Was ist hier das Kap, das Ziel, der Pol der Seefahrt? Und wer ist der Kapitän? Die Wendung „das andere Kap" gibt zu verstehen, dass eine andere Richtung angekündigt, für ein anderes Ziel entschieden, ein anderer Kapitän - anderen Alters und anderen Geschlechts? - gewählt worden ist. Das andere Kap ist dann schon das Kap eines Ändern. Und wenn die Frage „im Femininum" gestellt wird: Wo ist die „Kapitale"? Gibt es in Europa noch einen Ort für sie? Gibt es noch ein symbolisches Zentrum der Hegemonie, vor allem der kulturellen und der politischen Hegemonie? Und warum nicht die Kapitalen vermehren, Athen, Rom, Paris, und das schon „entzweite und zerrissene Jerusalem" weiter aufteilen?45 Das klingt um so überzeugender, als die kulturelle Kapitale künftig, in der Zeit der neuen Medien, der technisch-wissenschaftlichen Machtinstanzen, der „kapillaren" Kommunikationsnetze, sich nicht mehr mit der polis, mit dem überlieferten Begriff der politeta und der res publica verbinden läßt.46 Und was ist mit dem „Kapital"? Und mit seiner Konzentration? Der „kapitale Punkt" wird zum Punkt des Kapitals: „ein Maximum an Bedürfnissen, ein Maximum an Arbeit, Kapital, Ertrag, Ehrgeiz, Macht und ein Maximum an Veränderung der äußeren Natur, ein Maximum an Wechselbeziehungen und Austausch". Derrida zitiert hier wiederum Valery und schließt mit ihm: „Das Gesamt dieser Maxima ist Europa oder Europas Abbild."47 Zwischen dem Kap, dem Kapitän, der Kapitale und dem Kapital entfaltet sich die Metapher des Titels - des Kaps -, die sich um Europa als Grenze dreht, als Grenze des Festlands im Westen und im Süden, als vorgelagerte Spitze des Finisterre, Kap Finisterre, um das Europa am Ufer des Mittelmeers als griechisch-lateinisch-iberischer Widerstandsraum gegen Einfalle und Einwanderungen, um das Europa des Atlantiks als Ausgangspunkt für Entdeckungsreisen, Erfindungen, neue Ansiedlungen. „Europa ist nicht allein ein geographisches Kap, das stets sich selbst die
44 45 46 47
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
12 f. 47 f. 30-32. 62.
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Gestalt eines geistigen Kaps verliehen hat [...]. Europa hat ebenfalls sein Abbild, sein Gesicht, seine Gestalt und sogar seine Stätte, sein StattHaben mit dem Bild einer vorgeschobenen Spitze konfundiert, mit der Darstellung eines Phallus [...], also wiederum mit einem Kap der weltumspannenden Zivilisation oder der menschlichen Kultur im allgemeinen. Die Idee einer vorgeschobenen Spitze der Beispielhaftigkeit ist die Idee der europäischen Idee, sie ist deren eidos, sei es in der Form einer arche [...], sei es in der Form eines telos [...]. Die vorgeschobene Spitze ist Anfang und Ende zugleich, als Anfang und Ende teilt sie sich, sie teilt sich in Anfang und Ende."48 Die Europäer müssen danach zu Hütern der „Differenz Europas" werden, sie müssen verhüten, dass Europa sich in seiner eigenen Identität verschließt, und dafür sorgen, dass es sich auf jenes zubewegt, was es nicht selber ist, auf das andere des Kaps, auf eine andere Struktur des Randes, auf ein anderes Ufer.49 Damit wird auch eine andere Seefahrt vorgeschlagen, die die Herausforderung des Widerspruchs, des doppelten, widersprüchlichen Imperativs annimmt. Das bedeutet, so Derrida, Europa von dem Kap aus, dessen Ufer sich teilt, auf jenes hin zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und nie europäisch sein wird, sich zum Fremden aufzumachen, der nicht allein aufzunehmen und einzugliedern, sondern vor allem in seiner Andersheit hinzunehmen ist. Das bedeutet, den totalitären Dogmatismus zu kritisieren, zugleich aber auch die Tradition der Kritik selber zu dekonstruieren. Das bedeutet, die Demokratie als Erbe Europas zu pflegen und zu bewahren, jedoch als Idee, die erst noch gedacht werden muß und im Kommen bleibt. Das bedeutet schließlich, nach dem doppelten, widersprüchlichen Imperativ des Allgemeinen und des Besonderen zu handeln, soweit er nicht als transzendentaler Schein' im Kantischen Sinn, sondern als doppelte Pflicht, geradezu als double bind verstanden wird, in dem jede Identität wieder Differenz schafft. Die Identität Europas - und das heißt in erster Linie: die Identität eines Europäers - ist für Derrida also nicht „ä part entiere", sie ist, will und muß nicht durch und durch europäisch sein. Ein Europäer ist nicht nur und nicht allein ein Europäer, sondern unter anderem ein Europäer. 50 Ein Europäer ist Europäer „nur mit einer Hand"; die andere hat er frei, „um etwas anderes zu schreiben und zu suchen, vielleicht außerhalb Europas."51 Die neue, die andere Seefahrt läßt die Skylla des Eurozentrismus und die Charybdis des Anti-Eurozentrismus hinter sich;52 sie 48 Ebd., 22. 49 Vgl. ebd., 25-26. 50 Vgl. ebd., a.a.O., 60.
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scheint auf die atlantischen Eroberungen zu verzichten und den Kurs auf das Mittelmeer zu nehmen, auf den alten Ort der Auseinandersetzung und der Integration. Mehr Ufer als Haupt, hat Europa hier auch Augen; es dreht sich zur Seite, „weithin blickend" - so eine griechische Etymologie -, und sucht mit ihnen den Horizont ab.
9. Das Land der Grenze: Europa als Horizont Die Europäer sahen sich zumeist in ihren Nationalkulturen verwurzelt. Oft gegen ihren Willen sind sie, vom horror loci gedrängt, schon in der Moderne postmoderne Kosmopoliten, kulturelle Zigeuner, ewige Juden geworden. Von ihren nächststehenden Anderen, den Juden, die sie nur duldeten, wenn nicht vernichteten, haben die Europäer, ob sie wollten oder nicht, früh gelernt. Denn Europa ist schon immer das Land der Grenze gewesen. Von dieser Grenze her läßt sich - mit Kant zu reden sein weltbürgerlicher Standpunkt verstehen.53 Europa war immer in einer Randlage. Es hat sich als „Grenze" erkannt und deshalb als Ausgangspunkt für Entdeckungen und Erfindungen. Es anerkennt sich als Horizont- „Horizont" meint auf griechisch „Grenze". Die Erfahrung des Horizonts bzw. der Grenze wurde aus einer geographischen zu einer philosophischen und politischen, zu einer Erfahrung des Denkens.
10. Das Besondere und das Allgemeine: Europa als Ziel Allgemeinheit gehört zu Europa auf eine sehr besondere Weise. Abstrakte Universalität hat im exzentrischen Europa keinen Platz. Europa hat sich als einen besonderen Erdteil, die Europäer haben sich als einen besonderen Teil der Menschheit gesehen. Sie haben nicht gedacht und noch weniger denken sie heute, sie seien die Menschheit schlechthin. In diesem Sinn haben sie nicht geglaubt und noch weniger glauben sie heute, sich zur Universalität zu erheben - was sich auch bei anderen Kontinenten bzw. Halbkontinenten feststellen läßt. Das naive Gefühl der Selbst51 Ebd., 51. 52 Vgl. dazu E. Dussel, Europa, Moderne und Eurozentrismus. Semantische „Verfehlung" des „Europa"-Begriffs, in: M. Buhr (Hg.), Das geistige Erbe Europas, Napoli 1994, 855-867, inbes. 862. 53 Über die Möglichkeit einer Renaissance der Kosmopolis in Europa als Gegenmittel zu den verschiedenen Arten des Nationalismus vgl. A. Heller, Europa braucht eine zweite Renassaince, in: M. Buhr (Hg.), Das geistige Erbe Europas, a.a.O., 69-78.
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Identifikation mit dem Universalen, mit einem abstrakten Universalen, sucht man in Europa vergeblich. Denn Europa ist in seinem geschichtlichen Dasein immer gezwungen worden, das menschliche Allgemeine in der besonderen, konkreten Vielfalt seiner unendlich individuellen Formen zu erfahren. Das Allgemeine, das Europa als solches präsentiert, ist ein in seine Geschichte eingeprägtes und sich weiter einprägendes Allgemeines, also ein konkretes Allgemeines, das sich nur als besonderes Allgemeines erfassen läßt. Den Ändern und das Andere achten: das ist es, was Europa durch seine Geschichte hat lernen können und lernen müssen. Mit dem Ändern leben, als der Andere des Ändern leben, selbst wenn die Ändern ganz anders sind - durch die verschiedenen Totalitarismen hindurch - war der Vorzug Europas.54 Und es bleibt immer noch sein Vorzug. So gesehen, sind es nicht so sehr Lehren und Techniken, was Europa bedeutsam gemacht hat, sondern die Schule des Miteinanderlebens verschiedener Völker und verschiedener Kulturen, wie es sich in der Vielsprachigkeit Europas widerspiegelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist Europa das lebendige Vorbild einer Einheit, die sich in Differenzen artikuliert, einer Allgemeinheit, die in sich Besonderheiten erträgt. Geschichtlich und philosophisch spricht Europa gegen das Modell einer Einheitswissenschaft und Einheitssprache. Von Anfang an als das Andere angesehen, mußte Europa - als Heimat der Verschiedenheit - zwischen verschiedenen Kultursprachen und verschiedenen sprachlichen Kulturen vermitteln. Platz zu schaffen für die Andersheit des Ändern auf engem Raum, für die Nachbarschaft des Ändern auf engerem Raum, für die Ebenbürtigkeit des Anderen auf noch engerem Raum, war und ist seine schwere, selten gelungene, oft mißlungene Aufgabe, eine Aufgabe, die es nun auf die ganze Welt projiziert.
54 Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Die Vielfalt Europas - Erbe und Zukunft, in: H.G. Gadamer, Das Erbe Europas. Beiträge, Frankfurt am Main 19953, 30.
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Krise der europäischen Wissenschaften als Krise der Kultur: Husserls Europa-Gedanke in seinem Spätwerk Drei gewichtige Begriffe prägen das Thema dieses Beitrags - Begriffe, welche die Phänomenologie Husserls über viele Jahre bestimmt haben, die jedoch erst in Husserls Spätwerk zu genauerer Ausarbeitung gelangt und vor allem in einen denkwürdigen Zusammenhang gebracht worden sind: der Begriff der europäischen Wissenschaften, der Begriff der Kultur sowie der eines Europa, den Husserl auf eigentümliche Weise mit jenen beiden ersten eng verflochten gesehen hat. Hinzu kam die Fokussierung auf Krisenphänomene, wie sie nach seinen phänomenologischen Analysen der Wissenschaften schon früh wahrzunehmen gewesen waren und die schließlich sich als Krise der europäischen Kultur im ganzen zeigten. Die phänomenologische Reflexion auf diesen Zusammenhang war bei Husserl einzigartig und ist es bis heute geblieben. Wie der Titel seines letzten Werkes Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie von 1936 zeigte, ging es Husserl zuerst und zuletzt um eine neuartige philosophische Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaft und dahingehend, daß sie auch höchsten selbstkritischen Ansprüchen an Begründungsarbeit sollte standhalten können. Im Rahmen dieser Zielsetzung konnte die Krisenthematik bei Husserl besonders aufmerken lassen. Das Problem der Kulturkrise Europas, wie sie Nietzsche bereits hatte heraufkommen sehen, beherrschte in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts viele Diskussionen von Gelehrten und Wissenschaftlern. Insbesondere seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der nicht bloß die alteuropäische Staatenordnung zerstört und überkommene Gesellschaftsordnungen zerbrochen, sondern auch überlieferte Wertvorstellungen und grundlegende Normen sozialen Miteinanders der Menschen ins Wanken gebracht hatte, waren Krisenbewußtsein und Kulturängste ständig gewachsen. Düstere Visionen vom Vergehen und Absterben Europas hatten auch nicht zufällig das 1918 erstmalig erschienene Werk von Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes zu einem der meistgelesenen kulturtheoretischen Nachkriegsbücher werden lassen. Von allen damaligen Kulturkritikern und Kulturpessimisten hob sich jedoch Husserl in zweierlei Hinsicht ab. Ohne die Krisensymptome und Krisenbefunde jener Zeit im mindesten zu verharmlosen, war er jedoch
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von der Überlebensfähigkeit, ja der Lebensmacht der europäischen Kultur unerschütterlich überzeugt. Um sie zu garantieren, bedurfte es aber für ihn nicht nur genauer Analyse der gegenwärtigen Krisenerscheinungen, sondern auch des Eindringens in ihre Ursachen und der Freilegung ihrer Entstehungsgründe. Husserl hat dazu im zweiten seiner beiden Vorträge vor dem Wiener Kulturbund am 10. Mai 1935 unter dem Titel Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit ausgeführt: „Die heute so viel beredete, sich in unzähligen Symptomen des Lebenszerfalls dokumentierende ,Krise des europäischen Daseins' ist kein dunkles Schicksal, kein undurchdringliches Verhängnis, sondern wird durchschaubar auf dem Hintergrund der philosophisch aufdeckbaren Teleologie der europäischen Geschichte. Voraussetzung dieses Verständnisses ist aber, daß zuvor das Phänomen ,Europa' in seinem zentralen Wesenskern erfaßt wird." (VI, 337).! Um zu sehen, wie Husserl diesen von ihm so bezeichneten Wesenskern Europas begriffen und wie er ihn aus der historischen Vielfalt europäischer Kulturerscheinungen herauszuarbeiten versucht hat, mögen die folgenden Ausführungen nach drei Hauptpunkten gegliedert werden: 1. Husserls Konzept der europäischen Kultur als ein bestimmter Formtypus von Kultur im allgemeinen; 2. europäische Wissenschaft als eine spezifisch rationale Kultur und ihre Krise in der Moderne; 3. Vielheit der Kulturen in einer wissenschaftsbestimmten Welt und die Bedeutung Europas. 1. Husserls Konzept der europäischen Kultur als ein bestimmter Formtypus von Kultur im allgemeinen Für Husserls Bestimmung der europäischen Kultur ist entscheidend gewesen, daß ihre ersten Ansätze schon in den Anfang der zwanziger Jahre fielen und zu einer Zeit, da für ihn die Krisis-Thematik der Wissenschaften noch gar nicht im Vordergrund stand. Vielmehr waren weitergreifende Betrachtungen zunächst auf eine Begriffsbestimmung von Kultur im allgemeinen gerichtet. Dabei hat Husserl, gemäß seinem phänomeno1
Ziffern im fortlaufenden Text beziehen sich auf Band- und Seitenzahl der Gesammelten Werke Edmund Husserls Husserliana. Benutzt wurden Band VI, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag, 954, 21962, Nachdruck 1976, sowie Band XXVII, Aufsätze und Vorträge 19221937, Dordrecht 1989, ferner Band V, das Dritte Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Zu den Fundamenten der Wissenschaften, Den Haag 1952.
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logischen Grundpostulat methodisch streng geordneten Vorgehens, für „vortastende Anfänge", wie er betonte, sein Verfahren eidetischer Variation angewandt. Hier in gebotener Kürze erläutert, besagt dieses Verfahren, daß ein vorgegebenes Wirkliches auf alle ihm zuzudenkenden Möglichkeiten hin zu befragen ist, und zwar unter Ausschöpfung aller seiner phantasiemäßigen Abwandlungen bis an die Grenzen des Unmöglichen. Auf diese Weise ist zu ermitteln, was in allen dergleichen erprobten Modifikationen eines faktisch Gegebenen als invariant verbleibt und ihm insofern als sein Wesensbestand zuzusprechen ist. Bezeichnenderweise hat Husserl das Prozedere eidetischer Variation als erstes dazu gedient, das damals vielerörterte, aber weitgehend abstrakt gewordene Verständnis von Humanität zu konkretisieren. Darum sollte die Anwendung des eidetischen Verfahrens als erstes auf alle nur denkbaren Züge des Menschen als eines Individual- und Sozialwesens gerichtet sein. Es führte zu eidetischen Spezifizierungen, welche sich als eine vielfältige Typik von „Menschheiten" darstellten.2 Jeder einzelne Typus ergab sich dann als eine letzte ,eidetische Singularität' des Humanums überhaupt, und einen jeden dieser Menschheitstypen fand Husserl realisiert jeweils durch geschichtliche Konkretisierung in der „Einheit einer Kultur" (XXVII, 13 ff.; XX f.). Daraus ist hier für das Folgende vor allem zweierlei festzuhalten. Zum einen bestimmen sich für Husserl Menschheit und Kultur gegenseitig. Das besagt nicht nur die Trivialität, daß zu jeder Menschheit de facto auch eine Kultur gehört und umgekehrt, sondern vielmehr, daß das Humanum, das jede konkrete Menschheit in sich trägt, wesentlich in ihrer spezifischen Kultur zur Erscheinung kommt. „In einer Kultur", schrieb Husserl 1924, „objektiviert sich eben eine Einheit tätigen Lebens, dessen Gesamtsubjekt die betreffende Menschheit ist. Unter Kultur verstehen wir ja nichts anderes als den Inbegriff der Leistungen, die in den fortlaufenden Tätigkeiten vergemeinschafteter Menschen zustande kommen, und die in der Einheit des Gemeinschafts be wußtseins und seiner forterhaltenden Tradition ihr bleibendes geistiges Dasein haben" (XXVII, 21). Zum anderen haben sich für Husserl auf die eben skizzierte Weise Typen von Kultur ergeben. In formaler Allgemeinheit zeichnen sie sich nach invarianten Merkmalen aller Kulturgegebenheiten ab, wogegen die kulturalen Inhalte eines derartigen Typus sich jeweils geschichtlich konDieser heute vielfach befremdlich anmutende Plural versteht sich aus dem spezifischen Gebrauch des Singulars bei Husserl: .Menschheit' ist nicht extensional im Sinne von ,alle Menschen' gemeint, sondern Husserl macht sich hier die Suffixbildung ,-heit' zunutze für den Ausdruck spezifischer Eigentümlichkeiten, insbesondere eidetischer Species.
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kretisieren und somit nach kontingenten Bedingungen bestimmen. Zu solchen Invarianzen in allen Kulturen gehören etwa Brauchtum und Sitte, die menschliches Miteinander regulieren und stabilisieren, Regelungen für Freiheit und Bindung innerhalb von sozialen und politischen Gemeinschaften, ferner bestimmte Formen und Riten der Religion, Gestaltungen der Kunst, sowie letztlich alle Ausprägungen tätigen Lebens. Vor dem Hintergrund dieser sehr allgemeinen kulturtheoretischen Betrachtungen ist nun die Frage zu stellen, worin für Husserl das Spezifische europäischer Kultur lag und insbesondere, worin er die Einzigartigkeit ihres Typus begründet fand. Für die Beantwortung dieser Frage war bis auf die griechische Antike zurückzugehen. Daß Husserl in ihr die „Urstätte" oder „Urstiftung" der europäischen Philosophie und Wissenschaft fand, ist nichts Bemerkenswertes und philosophiegeschichtlich eher banal. Daß er in ihr näherhin denjenigen Formtypus fand, der für die Kultur Europas und der ganzen westlichen Welt bis in die unmittelbare Gegenwart hinein schlechthin prägend und irreversibel bestimmend geworden ist, kann ebenfalls nicht befremden, wenn man sich Husserls Begriff von Europa vergegenwärtigt. Denn daß dieses Europa „nicht geographisch, landkartenmäßig" zu verstehen ist, „als ob danach der Umkreis hier territorial zusammenlebender Menschen als europäisches Menschentum umgrenzt werden sollte", hat Husserl unmißverständlich genug hervorgehoben. Vielmehr war „die geistige Gestalt Europas" gemeint als eine bestimmte „Einheit eines geistigen Lebens, Wirkens und Schaffens", mit all den „Zweckgebilden, Anstalten, Organisationen", zu denen allerdings die Wissenschaft in einmaliger Besonderheit zählte; und es hätte im Grunde der ausdrücklichen Hervorhebung nicht bedurft, daß auch die Vereinigten Staaten von Amerika zu diesem Europa gehören (VI, 318). Doch ist nun genauer zu fragen, was nach Husserl diese geistige Gestalt Europas ausmacht, worin die in ihr sich ausprägende Einheit gelegen sein soll, durch welche die europäische gegen andere Kultureinheiten abgegrenzt erscheint, und schließlich, worin sie in der von Husserl reklamierten Einzigartigkeit hervortritt. Nicht nur in dem zitierten Wiener Vortrag hat Husserl von der „philosophisch aufdeckbaren Teleologie der europäischen Geschichte" gesprochen. Mehrfach ist in seinen späten Arbeiten die Rede von einem „Telos" des europäischen Menschentums und gelegentlich gar von einer ihm eingeborenen „Entelechie". Die geradezu auffällige Selbstverständlichkeit, in der Husserl solche Wendungen ohne weitere Erläuterungen benutzt hat, barg natürlich auch die Gefahr der Mißdeutungen. Kaum ließ sie den Eindruck vermeiden, daß hier doch wohl einige nebulöse
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Geschichtsmetaphysik im Spiel sei, wenn nicht gar eine eurozentristische Mentalität, die indes in eine kulturphilosophische Analyse unter Husserls strengem phänomenologischem Anspruch keinesfalls gehören durfte. Husserl ist auf dergleichen Bedenken wiederholt gestoßen, und er hat sie vor allem bei denen nicht auszuräumen vermocht, die auch sonst in seinem mehr oder weniger umstandslosen Gebrauch traditionsbeladener Begriffe die veränderten Konnotationen nicht wahrnehmen, die sich für sie jeweils erst aus dem weiteren Kontext ergeben. Jedoch wollte Husserl aus dem hier verwendeten Begriff der Entelechie alle Bedeutungsmomente und Bezüge ausgeschlossen sehen, die seinem herkömmlichen Verständnis anhaften: „Nicht, als ob es sich hier um eine der bekannten Zielstrebigkeiten handelte, die dem physischen Reich der organischen Wesen ihren Charakter geben, also um so etwas wie biologische Entwicklung in Stufen bis zur Reife mit nachfolgendem Alter und Absterben. Es gibt wesensmäßig keine Zoologie der Völker. Sie sind geistige Einheiten, sie haben, und insbesondere die Übernationalität Europas hat keine je erreichte und erreichbare reife Gestalt als Gestalt einer geregelten Wiederholung. Seelisches Menschentum ist nie fertig gewesen und wird es nie werden und kann sich nicht wiederholen. Das geistige Telos des europäischen Menschentums [...] liegt im Unendlichen, es ist eine unendliche Idee [...]" (VI, 320 f.). Was aber meint nun ein solches „Telos" des europäischen Menschentums, das nach Husserl im Unendlichen liegen soll, oder, weniger mißverständlich, eine regulative Idee, unter der die Gestalt Europas eine übernationale geistige Einheit gewonnen hat und zudem als einzigartig hervortreten soll? Der wohl erste Hinweis dafür findet sich bei Husserl schon 1922, indem er davon sprach, daß durch die Griechen im alten Hellas mit ihrer Schöpfung der von ihren Nachfahren später so bezeichneten klassischen Philosophie der europäischen Kultur eine „allgemeine neuartige Formidee eingepflanzt" worden sei. Husserl hat diese Idee näherhin als Idee einer „rationalen Kultur aus wissenschaftlicher Rationalität" bezeichnet (XXVII, 84). Ihre nähere Charakterisierung führt zum zweiten Hauptpunkt dieser Darlegung. 2. Europäische Wissenschaft als eine spezifisch rationale Kultur und ihre Krise in der Moderne Rationale Kultur der Griechen, mit dem ihr eigenen Spezifikum wissenschaftlicher Rationalität: genau darin hat Husserl jenen Wesenskern Europas gesehen, den freizulegen für ihn unabdingbar war, um die neu-
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zeitliche Wissenschaft begreifbar zu machen, wie auch ihre Krise, die als eine Krise der Kultur Europas im ganzen sich ausgewirkt hat. Nun mögen sich hier Bedenken regen. Hat Husserl, indem er die Krisis der europäischen Wissenschaften als Krise der europäischen Kultur schlechthin begriff, nicht in allzu einseitiger Ausrichtung auf die Wissenschaft und ihre Durchsetzung von Rationalität andersartige Kulturleistungen gerade auch in der Geistesgeschichte Europas soweit ausgeblendet, daß ihm die ganze Fülle seiner Gestaltungen letztlich gar nicht mehr im Blickfeld stand? Hätte er damit dann nicht auch das, was er als die geistige Einheit Europas begriff, nur in allzu verkürzter Perspektive gesehen? Folgen wir zunächst Husserls Exposition der klassisch-griechischen Ratio, wie sie erstmalig durch Platon zur Geltung kam, und wie sie ihre Fortwirkung als wissenschaftliche Rationalität in der europäischen Neuzeit gefunden hat. Sie läßt sich knapp nach drei Gesichtspunkten skizzieren. Zum einen begann mit Sokrates und Platon ein philosophisches Fragen, das zwar aus der alltäglichen Lebenspraxis der Menschen gewonnen wurde, jedoch nicht in ihr verblieb, sondern über sie hinaus wies. Mit der scheinbar einfachen Grundfrage nach dem, was ist und wie es als solches zu erkennen ist, brachte sich die Vernunft auf den Weg eines Suchens nach Antworten, die nicht länger aus überlieferten Vormeinungen unbedacht übernommen werden konnten. Vielmehr waren jetzt alle Meinungen, Behauptungen, Thesen für derartige Problemlösungen in das Licht bewußter Rechenschaftsablage zu rücken und durch Herleitung aus präzis angebbaren Voraussetzungen zu begründen. Derartige Vernunfttätigkeit, motiviert aus einem rein theoretischen Interesse an Erkenntnis, die als diese rational begründungspflichtig wurde, war ersichtlich den Bereichen alltäglichen Wissens sehr ferngerückt - und doch war sie dazu gedacht, gerade die Lebenspraxis der Menschen aus der Kraft vernünftiger Einsicht zu leiten. Das bedeutete auch, daß die klassisch-griechische Philosophie nicht auf ein Lehrsystem oder Lehrgebäude angelegt war, das lediglich als Doktrin weiter zu vermitteln sein würde. Vielmehr war sie, indem sie aus selbstgesetzter Distanz kritischer Besinnung und Überlegung das handelnde Leben zu einem vernunftgeleiteten Leben führen sollte, berufen und geschaffen, eine Funktion der Lebenspraxis selber zu werden. Mit Recht hat Husserl darin die tragende Bedeutung der griechischen Philosophie nicht nur für deren eigene Entfaltung, sondern insbesondere auch für ihr Weiterwirken in die spätere Wissenschaft hinein gesehen (XXVII, 86 f.). Welche Art von Erkenntnis war aber dazu nötig, welche grundlegenden Normen hatte die Vernunft sich selbst zu geben, wenn sie sich in
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ihren Fragen Ziele höchster theoretischer Einsicht setzte und doch zugleich auch richtungweisend für die Praxis des Lebens sein wollte? Diese Frage führt zum zweiten, was Husserl in der Philosophie der Griechen als Besonderheit ihrer rationalen Kultur hervorgehoben hat. Ihr zugehörig und schon in der Art und Weise ihres Fragens angelegt war eine eigentümliche und höchst spezifische Idee von Wahrheit. Platon hat sie in seinen kunstvoll geführten Frühdialogen erstmalig thematisch werden lassen. Indem er seinen Lehrer Sokrates immer wieder auf begrifflich genauer Rede und Gegenrede beharren ließ, erhielt mit dem Unterschied von doxa und episteme, Meinung und Erkenntnis als begründetem Wissen, zugleich der schrittweise geordnete Weg zur Erkenntnisgewinnung oder die ,Methode' sogar Vorrang gegenüber den Erkenntnisinhalten. Insbesondere trat in einem dergestalt methodisch geregelten Erkenntniserwerb die griechische Ratio als eine spezifisch wissenschaftliche Ratio hervor. Ferner war mit ihm das Streben nach einer Wahrheit verbunden, welche als unbedingte, absolute Wahrheit zum Maßstab allen beweisenden Denkens werden sollte. Mit einer solchen Wahrheitsidee war jedoch unabweisbar auch die Problematik letzter Gründe oder Ursprünge aufgebrochen, auf die alles verläßliche Wissen zurückzuführen oder aus denen es herzuleiten war. Worin immer aber diese gesehen und gefunden werden mochten - sei es in Platons ,Ideen', sei es in den ,Prinzipien' des Aristoteles oder den euklidischen ,Axiomen' - allemal hat sich mit ihrer Suche eine Idee von Wahrheit durchgesetzt, die gegen tradiertes, nach Brauch und Sitte übernommenes Wahrheitsverständnis der alltäglichen Lebenspraxis radikal abgesetzt war. An die Stelle realer Praxis trat somit für den Erwerb wissenschaftlichen Wissens eine „ideale Praxis eines reinen Denkens" (VI, 23) - so jedoch, daß die in ihr erworbenen Einsichten auch für die Praxis des alltäglichen Lebens verbindlich werden konnten. Ein derartiges reines Denken, das sich an der Idee absoluter Wahrheit orientierte, zeigte indes noch ein weiteres Charakteristikum, welches das antike Rationalitätsverständnis ausgezeichnet hat. So hat Husserl als drittes Hauptmoment der griechischen Philosophie- und Wissenschaftsauffassung die Unendlichkeit herausgestellt. Die Entdeckung des Unendlichen ist als herausragende Leistung der griechischen Mathematik vielfach hervorgehoben worden. Ihre bleibende Fortwirkung hat sie in der späteren Analysis gefunden und damit die neuzeitliche Wissenschaft allererst als exakte Wissenschaft möglich gemacht. Husserls Verdienst ist es gewesen, daß er erstmalig auch den Zusammenhang zwischen Wahrheitsbegriff und Unendlichkeitsproblem scharf gesehen und herausgestellt hat, daß in der antiken Wahrheitsidee von Anfang an eine Unend-
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lichkeit beschlossen lag, deren Problematik sich nicht nur in einem mathematisch zu verstehenden Infinitesimalen erschöpfte, sondern daß sie bereits im platonischen Konzept der Ideen angelegt war. Was in der griechischen Mathematik, zunächst in der Geometrie, durch Konstruktion und Idealisierung geschah, hat auch die antike Philosophie als „Ideenwissenschaft" auf ihren besonderen Weg gebracht. Denn wie in der Mathematik fortlaufend Ideen erzeugt werden und geprüft wird, wieweit ihnen durch Messen und Berechnen die Wirklichkeit entspricht, so sah auch die Philosophie die Konzeption von Ideen als ihre wesentliche Aufgabe an - so etwa die Ideen des Wahren, des Gerechten, des Guten, des Schönen - und nahm sie zu Maßstäben für ihre Verwirklichung in der Praxis vernunftgeleiteten Lebens. Hier wie dort aber sieht sich alles ideengeleitete Erkennen und Handeln in seinem Streben nach Vervollkommnung stets nur an „Limesgestalten" verwiesen (VI, 23). Denn alle Bemühungen, in der Wirklichkeit derartigen Ideen nachzukommen, bleiben stets nur Annäherungen auf dem Wege intendierter, doch niemals zu erreichender Endgültigkeit. Für ein derartiges Erkennen, das unaufhebbar in Approximationen verbleibt, in ihnen jedoch auch den Sinn seines Fortschreitens findet, kann also absolute Wahrheit niemals anderes sein als eine regulative Idee oder eben jenes ,Telos', welches Husserl mit ihr meinte. Mit der Mathematisierung der Natur war es erstmals in der Galilei-Newtonschen Physik auch für die wissenschaftliche Erkenntnis der Realität leitend geworden. Durch sie und die mit ihr nicht bloß äußerlich, sondern aus innerer Notwendigkeit einhergehenden Experimentalisierung von Beobachtung und Erfahrung ist das methodologische Grundgerüst geschaffen worden, welches fortan die europäischen Wissenschaften tragen sollte. Mathematik und Experiment haben insofern eine Auffassung von wissenschaftlicher Rationalität geprägt, die in dem Maße, wie die neuzeitliche Physik methodologische Leitfunktion auch für andere Wissenschaften gewann, das Verständnis von Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit allenthalben determiniert hat. Zudem hat diese Naturwissenschaft von Beginn an in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis mit der Technik gestanden, und beide haben miteinander eine tiefgreifende und fortwährend umgestaltete lebensweltliche Praxis hervorgebracht. In den zahlreichen Wandlungen und ständigen Veränderungen, denen die Lebenswelt heute durch Wissenschaft und Technik bis in die kleinsten Bezirke menschlichen Miteinanders unterworfen ist, liegt in der Tat ein denkwürdiger Richtungssinn. Anscheinend zwar eher zielblind als orientiert auf einen vorgegebenen oder gesetzten Endzweck, ist allem modernen Fortschrittsdenken gleichwohl ein eigentümlicher approximativer
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Zug eigen. Vordergründig als technischer Komparativ des „Immer mehr" erscheinend, und zwar sowohl im extensiven Sinne eines ,Mehr von ...' als auch im intensiven eines ,Mehr an ...', liegt ihm letztlich in der Tat die Konstruktion solcher Ideen zugrunde, wie Husserl sie als Regulative in der griechischen Philosophie und Wissenschaft angelegt gesehen hat. Wie tiefgreifend damit aber nicht nur die durch Wissenschaft bestimmte Naturwelt, sondern auch das Weltverständnis des Menschen im ganzen verändert worden ist, zeigte sich für Husserl ferner darin, daß mit der Entfaltung der europäischen Wissenschaften auch eine neuartige Zeitstruktur in die Welt gekommen ist, die für ihre Menschheit nichts Geringeres als eine neue Form von Geschichtlichkeit bedeutet. Zwar hat Husserl nicht mehr im einzelnen aufzeigen können, wieweit auch insofern die Wissenschaft Europas für seine Kultur von Grund auf prägend geworden ist. Doch dürften seine wenigen, wenn auch eher andeutenden als ausführenden Bemerkungen dazu bisher die einzigen sein, die auch unter diesem Aspekt die Spezifität und Singularität des Kulturtypus Europa ins Licht gerückt haben. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit gehören als solche auch anderen Kulturen zu. Und auch in ihnen, wie auch bereits in vor- und außerwissenschaftlichen Kulturen, werden vielfältige dauerhafte Erzeugnisse geschaffen, nicht nur spontan und planlos, sondern auch nach erprobten Verfahren für ihr Gelingen, die an spätere Generationen weitergegeben werden und tradierbar sind. Aber ihre Zweckgebilde und Wertschöpfungen, beispielsweise in der Bodenkultur und im Handwerk, in den Künsten und Gebrauchstechniken für die Herstellung von Nützlichem und Schönem, dienen dem Leben unmittelbar in seiner gegebenen Umwelt und für ein vorübergehendes Dasein. Die Zweckgebilde der neuzeitlichen Wissenschaft dagegen, ihre Ideen, Theorien, Erkenntnisse, verbrauchen sich nicht wie andere. Nach einmal entwickelten Methoden erworben und in vielfältigen Prüfverfahren empirisch bewährt, sind sie in eigentümlicher Weise zwar nicht überzeitlich, jedoch „allzeitlich", dem Wandel geschichtlicher Zeit enthoben. Wann und wo immer sie erzeugt und wiedererzeugt werden, was prinzipiell durch jedermann geschehen kann, da entsteht unter den gleichen gegebenen oder hergestellten Bedingungen auch nicht bloß Ähnliches oder Vergleichbares, geschweige denn Einmaliges wie in der Produktion sonstiger Kulturgüter, sondern ideell Identisches. Wie es so aber einerseits alles geschichtliche, menschliche Dasein in seinem Wandel und Vergehen überdauert, so gilt es andererseits doch auch nur mehr als Material für weitere Neukonstruktion, und so, daß diese zu permanenter Erzeugung dergestalt führt, daß sie Altes, Vormaliges überholt.
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In diesem Phänomen der Überholung wird ein eigentümlich linearer Zug des Wissenschaftswandels greifbar. Das insofern wörtlich zu nehmende .Fortschreiten' der Wissenschaften hat in anderen Bereichen kulturellen Schaffens - selbst dort, wo es auch in ihnen fortwährend' zu Veränderungen kommt - kein Analogon. Darin deutet sich an, daß die exakte Wissenschaft Wiederholung als Wiederholung und Vergegenwärtigung im Sinne historischer Erinnerung nicht kennt, ja sie für die Verfolgung ihrer eigenen Ziele nicht einmal zuläßt. Ihr Fortschritt ist selbst dort noch, wo es zu Rückschlägen kommt und Umwege eingeschlagen werden müssen, um voranzukommen, von eigener Rigorosität, indem sie Vergangenes vergangen sein und hinter sich läßt. Selbst dauerhaft Bewährtes wird in ihr nicht eigentlich als dieses bewahrt, sondern ständig durch neue Problemstellungen und bessere, will sagen, genauere, differenziertere oder umfassendere Lösungsversuche abgelöst. Somit ist die der Wissenschaft wesentliche Zeitdimension die Zukunft geworden. Sowohl für theoretische Blickrichtungen als auch für praktisch-technische Handlungsabläufe, seien diese bedingend für oder bedingt durch wissenschaftliche Ideenkonstruktion, zählt allein die Zukunft. Durch die Wissenschaft vorausberechenbar und planbar geworden, meint sie hier vor allem Fortschreiten in einen offen-endlosen Forschungshorizont. Zukunft hier also nicht mehr bloß als ein Kommendes, auf den Menschen Zukommendes, Unverfügbares, sondern beherrschbar durch wissenschaftliche Ratio. In dieser denkwürdigen Veränderung des Zeitbewußtseins mit seinen Auswirkungen auch auf das geschichtliche Leben der Menschen in Europa hat Husserl eine weitere Besonderheit der europäischen Kultur insgesamt gesehen. Nicht zuletzt war es die Einbeziehung der zeitlichen Dimension mit ihrer Neugewichtung der Zukunft, die ihn die Geschichte des geistigen Europa als Geschichte eines „neuen Menschentums" ansehen ließ: Bei aller nicht aufhebbaren Endlichkeit seiner Einzelwesen hatte es sich mit der Philosophie und Wissenschaft, die es einmal geschaffen hatte, ein für allemal vor unendliche und nie endende Aufgaben für seine Welterkenntnis und Weltgestaltung gestellt. Das führt nun zu der weiteren Frage, worin Husserl die Krise der europäischen Wissenschaften und mit ihr die durch sie bestimmte Krise der europäischen Kultur gesehen hat. Gemeint waren selbstverständlich keine Erschütterungen innerhalb der Wissenschaften, wie etwa die Grundlagenkrisen, an denen die jüngste Entwicklung der Mathematik und Physik gezeigt hatte, daß die Wissenschaften sie abzufangen wußten. Genau genommen zeigten die von Husserl wahrgenommenen Krisensymptome sich auch gar nicht innerhalb der Wissenschaften selber, sondern in dem, was er als drohenden Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit registriert hat.
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Schon 1912 hatte Husserl bemerkt, daß uns die Welt durch die Wissenschaft bloß immer nützlicher, nicht aber im mindesten verständlicher werde, und er hatte darin seinerzeit schon nichts Geringeres als einen „unerträglich gewordenen Notstand der Vernunft" gesehen (V, 96 f.). Seine späteren Analysen hatten ihm diesen Notstand als ein scheinbar unauflösliches Paradox vor Augen geführt: Je weiter und tiefer die Wissenschaften mit ihren praktischen Folgen in die Lebenswelt hineinwirken, um so mehr entziehen sie sich dem Sinnverstehen ihrer Menschen. Je undeutlicher sich ihre alltägliche Welt noch als Sinnesfundament für die Wissenschaften zu erkennen gibt und vielmehr diese, in denkwürdiger Umkehr der Fundierungsverhältnisse, ihrerseits zum Konstitutivum unserer Lebenswelt geworden sind, um so mehr haben sie die Menschen dieser Welt entfremdet. Der ständige Zugewinn, den die Wissenschaften an lebensdienlichen und lebenssteigernden Gütern bescheren, führt zwangsläufig auch zu einem nicht mehr einholbaren Verlust an Erfahrung und Vertrautheit mit lebensweltlichen Dingen und Verhältnissen, da deren beschleunigter Wandel traditional zu festigende Erfahrung nicht mehr gestattet, aus der nicht zuletzt uns Menschen Weltkenntnis und Sinnverstehen zuwächst. Eine derartige Krise hatte nun für Husserl in der neuzeitlichen Wissenschaft die wesentlichen Bedingungen ihrer Entstehung, jedoch nicht auch ihre wesentlichen Ursachen. Wie hatte es dann zu ihr kommen können? Wenn Husserl diese Krise mehrfach auch als ein Versagen der „rationalen Kultur" Europas gekennzeichnet hat, dann sah er sie für eben jenen Kulturtypus klassisch-griechischer Herkunft, der sich jedoch nicht gemäß seiner einstmals leitenden Vernunftidee weiterentwickelt hatte. Die für diese Idee bestimmend gewesene Funktion, aus theoretischer Einsicht praktisches Leben zu leiten, war weitgehend erloschen. Die griechische Ratio hatte ihren weiteren Weg zu einer wissenschaftlichen Rationalität genommen, die mehr und mehr auf ein Ensemble methodologischer Vorkehrungen verengt worden war, einzig dazu gedacht, wissenschaftliche Objektivität für die Welt außerhalb des Menschen zu sichern. Zwar rechtfertigte sich eine derartige Restriktion im Rahmen der wissenschaftlichen Zielsetzungen vollauf. Doch hatte sich in ihrem Gefolge ein Verständnis von Wahrheit, Objektivität und Wirklichkeit auch für die Lebenswelt durchgesetzt, welches gänzlich hatte vergessen lassen, daß sich dieses Verständnis einer ganz bestimmten Methode der Weltzuwendung, einer wissenschaftlichen „Ideenverkleidung" der Wirklichkeit verdankte und nicht für ihr „wahres Sein" genommen werden durfte (VI, 52). Damit war jedoch nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Philosophie verloren gegangen, daß diese Methode für den Objekti-
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vierungsprozeß der Welt nichts von der Welt selbst Vorgegebenes war. Vielmehr entstammte sie einem Leistungsgefüge von Menschen, in dem die Natur in bestimmter Weise konstituiert wird, um sie menschlichen Zwecken dienstbar zu machen. Das gab Husserl erneut Anlaß, nach der Subjektivität des Subjekts zu fragen, das sich in seinen eigenen sinnstiftenden Aktivitäten bei der Konstitution wissenschaftlicher Gebilde abhanden gekommen war. Daß es und wie es vor allem aber die Philosophie versäumt hatte, die Wissenschaften als objektivierende Leistung der Subjektivität zu reflektieren, hat Husserl unter den Stichworten „Objektivismus" und „Naturalismus" dargelegt. Damit waren nicht Einstellung und Forscherhaltung der Wissenschaftler gemeint, sondern Fehlformen wissenschaftsphilosophischer Reflexion, in denen das Subjekt des Forschens, seinerseits versachlicht und zu einem Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen geworden, sich seiner als Subjekt nicht mehr gewiß geblieben war. Insbesondere in der Aufklärungsphilosophie sah Husserl einen „sich verwirrenden Rationalismus" (VI, 339 f.), in dem er die eigentlichen Ursachen der europäischen Kulturkrise erkannte. Damit war für Husserl eine Aufgabe der Philosophie gegeben, diese allzu lange beiseite gelassene Problemlast zu übernehmen und aufzuarbeiten. Daß er sie insbesondere der Phänomenologie zugewiesen hat, kann um so weniger befremden, als er die methodischen Mittel dafür seit langem vorbereitet und erprobt hatte. Denn für die Überwindung der Krise hatte es ihm als allererstes darum zu gehen, das Unbegriffene und weitgehend auch undurchdringlich Gewordene in der wissenschaftlichen Umgestaltung der Welt verstehbar zu machen, und zwar durch systematische Analyse ihrer Herkunftsbedingungen. Darum galt es, die Wissenschaft sinngenetisch zu rekonstruieren, sich zurückzuarbeiten durch die vielfachen Sinnschichten der wissenschaftlichen Begriffe, Gesetze und Theorien bis hinein in die Aktivitäten ihrer urtümlichen Konstitution aus einstigen lebensweltlichen Vorgegebenheiten. Die dafür in Gang gesetzte konstitutiv-genetische Analyse, zu der Husserl die Methode seiner Phänomenologie schon in den 20er Jahren fortgebildet hatte, sollte insbesondere dazu führen, die undurchschaubar gewordene Objektivität der Wissenschaft „zurückzuverstehen" in die Sphäre der Subjektivität. Denn aus ihr und ihren Konstitutionen stammte letzthin alle Sinnschöpfung und Sinnwandlung (VI, 193). Eine derartige Sinngeschichte, in der zum einen durch Reaktivierung sedimentierter Sinnschichten „nachverstanden" werden soll, wie die wissenschaftliche Gegenständlichkeit aus früherer aktueller Erzeugung zu derjenigen hat werden können, die sie geworden ist, in der zum anderen aber auch das Subjekt sich seiner konstitutiven Funktion neu zu verge-
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wissern vermag, sah Husserl als unabdingbare Notwendigkeit an, das wachsende Sinndefizit in der modernen westlichen Welt auszugleichen. Gesetzt nun, daß auf diese Weise der Krise der europäischen Kultur wirksam begegnet werden könnte, nämlich durch Einsicht in die Bedingungen ihrer Entstehung - vermöchte denn aber dergleichen Erkenntnis auch für die von Husserl in den Blick genommene Einheit eines geistigen Europa ein neues Gemeinschaftsbewußtsein zu stabilisieren, von dem für ihn doch letztlich alle Kultur getragen war? Mit dieser Frage wird der dritte und letzte Punkt unserer Betrachtungen hier erreicht. 3, Vielheit der Kulturen in einer wissenschaftsbestimmten Welt und die Bedeutung Europas Hat sich bisher gezeigt, daß Husserl als das entscheidende einheitsstiftende Moment Europas die europäischen Wissenschaften begriff und in ihm gar ein besonderes Telos des europäischen Menschentums ausgemacht hatte, so bleibt nun abschließend zu fragen, wie sich angesichts dessen für ihn die kulturellen Unterschiede darstellen, die doch auch unter den europäischen Völkern und Nationen besonders augenfällig sind. Husserl hat sie keineswegs übersehen, und daß die kulturelle Vielfalt Europas - dieser Begriff nun im engeren kontinentalen Sinne genommen - durch eine gemeinsame Wissenschaft nicht einzuebnen sei, war ihm in einer Weise gegenwärtig, wie es ihm seine Zeitgenossenschaft in zwei zeitgeschichtlichen Krisen auch als Erfahrung eigenen Lebensschicksals nur allzu deutlich zu verstehen gegeben hat. Schon der erste Weltkrieg, der den Niedergang des deutschen Kaiserreiches herbeiführte, hatte Husserl während der ihm folgenden, nicht minder krisengeschüttelten Weimarer Republik die damaligen äußeren Zeichen der Verwüstung als Folgen eines „völlig entarteten Nationalismus" erkennen lassen. Der kurz darauf beginnende nazideutsche Zerstörungswahn an Europas Völkern und Kulturen traf Husserl zudem als rassisch Verfemten auch unmittelbar persönlich so tief und schmerzlich, daß sein Europa-Gedanke, wie er ihn 1935 in den Wiener Vorträgen eben noch öffentlich hatte vorbringen können, fast einem Vermächtnis für Spätere gleichkam, die nach ihm an seinem Konzept von Europa weiterarbeiten sollten.3 Vgl. dazu besonders aus Husserls Korrespondenz schon von 1933 seine Bemerkungen über „die Aufrichtung eines geistigen Ghetto", in das er sich und seine Familie hineingestoßen findet. Wie sehr er in den „tiefsten Wurzeln" seines Daseins getroffen, aber darin als Philosoph nicht zerbrechen wird, zeigt wohl am deutlichsten die
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Unabhängig davon aber hatten Husserls phänomenologische Ergebnisse aus seinen Untersuchungen zur Kulturtypik der zwanziger Jahre bereits auf Unterschiede verwiesen, die allem geschichtlich-konkreten Gemeinschaftsleben wesensmäßig eigen sind. Gemäß seinem eidetischen Verfahren zeigen sich an jedem kulturellen Gesamtsubjekt auch bestimmte Grenzphänomene, die für das Verstehen und Sich-Verstehen ihrer jeweils kulturalen Identität typisch sind. Derartige Grenzen sind ebenfalls von sehr eigener Art, und ihre phänomenologische Beschreibung verlangte zunächst die Hinwendung zu solchen Gegebenheiten wie Umgebung und Horizont der Dinge, an denen auch allererst so etwas wie Welt phänomenologisch zum Thema werden konnte.4 Bezeichnenderweise hat Husserl das Charakteristische kulturaler Grenzphänomene in Gegensatzpaaren gefunden: Nähe und Ferne, Heimatlichkeit und Fremdheit, Eigenes und Anderes bezeichnen demnach Verhältnisse, die näherhin noch zwei weitere Wesensmerkmale aufweisen. Zum einen handelt es sich um Oppositionen mit reziproker Bedeutung: was Nahes und Eigenes ist für uns, ist Fernes und Anderes für andere außer uns; Fremdes für uns ist Eigenes und Vertrautes für andere, die wiederum uns und unsere Kultur als fremd erfahren. Derartiger Reziprozität ist aber ferner eigen, daß ihr Verhältnis nicht starr ist. Die durch sie charakterisierten Grenzen sind, bei prinzipieller Unaufhebbarkeit, bedingt beweglich; mögliche Verschiebbarkeit und Ausweitung macht ein Sich-Einleben als Nacherleben, sei es einseitig oder gegenseitig, jedenfalls soweit möglich, daß Fremdes als fremdes Eigenes anerkannt werden kann. Im Hinblick auf derartige Grenz- und Differenzphänomene zwischen kulturalen Gemeinschaften mußte Husserls Überzeugung von der einheitsstiftenden Funktion der europäischen Wissenschaften noch einen beson-
Äußerung des Fünfundsiebzigjährigen über die schwere Aufgabe, sich abfinden zu müssen „mit dieser letzten Vereinsamung meinem deutschen Volk gegenüber [...], das mich in seiner unvergleichlichen Majorität ausgeschieden, weggeworfen hat." Doch ist Husserl sich dessen gewiß, daß erst die Zukunft das Urteil über die Echtheit der deutschen Gegenwart sprechen wird. „Ich werde nicht schwach werden; ich hatte ja schon die Gnade der inneren Sicherheit, der tiefsten, absolute Quellen menschheitlicher Selbstverständigung und Welterkenntnis freigelegt und von da aus die systematischen Wege [...] geebnet zu haben, welche der historischen Menschheit in diesen Jahrzehnten [...] vor allem not tut." Diese und weitere ähnlich lautende Mitteilungen Husserls in E. Husserl, Briefwechsel, hg. von K. Schuhmann in Verbindung mit E. Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1993, hier Bd. III, 491 ff. Husserls erweitertes Konzept von Intentionalität zur .Horizontintentionalität' hat sich auch für kulturale Grenzphänomene als fruchtbar erwiesen. Dazu E. Ströker, Welt in ihren Horizonten. Grundzüge ihrer Konstitutionsproblematik in Husserls Phänomenologie, Studia Culturologica 8 (1998), 7-33.
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deren Akzent erhalten. Daß diese Wissenschaften auch unterschiedliche Kulturnationen in Europa verbinden, war ihm nicht fraglich: „Die europäischen Nationen mögen noch so sehr verfeindet sein, sie haben doch eine besondere innere Verwandtschaft im Geiste, durch sie alle hindurchgehend, die nationalen Differenzen übergreifend." Und Husserl scheute sich nicht, noch hinzuzufügen: „Es ist so etwas wie eine Geschwisterlichkeit, die uns in diesem Kreise das Bewußtsein einer Heimatlichkeit gibt" (VI, 320). Das war noch 1937 geschrieben- von einem, dem der generell als kulturschädigend wahrgenommene Nationalismus im eigenen Land längst rigoros verwehrt hatte, Heimat noch als Eigenes, Zugehörigkeit zur eigenen Kultur, gewohnte Nähe zu anderen seinesgleichen zu erfahren. Um so mehr gibt Husserl uns zu bedenken, wenn er in den europäischen Wissenschaften denjenigen entscheidenden Kulturfaktor gesehen hat, der einerseits wirkungsmächtig genug ist, um allenthalben das Bewußtsein zu stärken, trotz kultureller Differenzen in einer gemeinsamen Welt zu leben, andererseits jedoch auch maßgeblich genug, um in einer Kulturkrise durch wissenschaftsphilosophische Neubesinnung verlorengegangenen Lebenssinn restituieren zu können. Zum ersteren hat die Fortentwicklung von Wissenschaft und Technik Husserl recht gegeben bis auf unsere Tage, da auch »Globalisierung' kaum mehr ein lebensweltliches Fremdwort ist. Ferner hatte Husserl vor mehr als sechzig Jahren bereits bemerkt, daß auch in anderen Menschheiten, etwa den asiatischen Hochkulturen, eine bestimmte Tendenz wahrzunehmen sei, „sich zu europäisieren", während wir, unserem Selbstverständnis nach, uns zum Beispiel nie „indianisieren" würden (VI, 320). Auch das konnte nach Husserls Philosophie vor zwei Generationen nicht einmal mehr als kühne Vorwegnahme einer Entwicklung erscheinen, wie sie sich in den Dezennien nach Husserl ebenso unabweisbar wie unaufhaltsam mit der Aneignung und Übernahme der europäischen Wissenschaft vollzogen hat - geschweige denn als Ausdruck eines Husserlschen Eurozentrismus, der ihm zuweilen immer noch vorgehalten wird, wo sein Konzept von Europa und europäischer Kultur nicht genau genug begriffen wird, bevor es angegriffen wird. Vielmehr war die von Husserl registrierte Europäisierung nur die mehr oder weniger beiläufige Konsequenz dessen, was sich für ihn aus der Prägekraft der europäischen Wissenschaften in ihrer schon zu seiner Zeit erwiesenen „Übernationalität" und „Allsozialität" für eine einheitliche Welt ergab, die ein Prozeß der Umgestaltung zu unser aller Lebenswelt ist. Doch ist angesichts dieser Entwicklung erst recht zu fragen, ob Husserl von der europäischen Menschheit in dem von ihm dargelegten Sinn auch
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schon mit gutem Recht von einem neuen Menschentypus und gar dem Typus eines „neuen Werdens" sprechen konnte. Hatte er ihn charakterisiert durch jenes Telos im Sinne approximativen Fortschreitens auf ein nie zu erreichendes Endziel vollständiger, endgültiger und allumfassender Wahrheit und - wie in seinem Sinne hinzuzufügen ist - auch des Fortschreitens der Technik nach dem ihm eigenen Komparativ fortschreitender Machbarkeit, der ebenfalls ein Ende nicht vorsieht, so scheint doch heute mehr denn zu Husserls Zeiten fragwürdig, ob sich darin ein Menschheitstypus realisiert, der mehr ist als ein „bloß anthropologischer" Typus. Und worin hätte sich dann mittlerweile dieses Mehr, dieses neue Werden der westlichen Kulturwelt zu erkennen gegeben? Sollte es sich am Ende darin manifestieren, daß mit den durch ihn - und in der Tat einzig durch ihn - auf den Weg gebrachten Wissenschaften mit ihren unendlichen Aufgaben, bei unverändertem Richtungssinn ihrer Verfolgung, die westliche Kulturmenschheit sich auch das Potential zu einer Auslöschung und Vernichtung der Erde und damit gleich aller Kulturen erworben hat? Dann hätte Husserls Epitheton von einem neuen Werden in der europäischen Kultur nur mehr einen makabren Sinn. Husserl, der 1938 gestorben ist, hat diese Fragen, die sich in voller Schärfe erst mit der wissenschaftlich-technischen Veränderung der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg gestellt haben, nicht mehr aufnehmen müssen. Und es ist müßig zu fragen, wie er ihnen heute begegnen würde. Mehr als dies aber dürfte der Philosophie indes gerade auch heute noch Husserls unerschüttert gebliebene Überzeugung zu denken geben, daß sich durch Philosophie in der Welt etwas ausrichten läßt- nicht durch Thesen, Doktrinen und Lehren, sondern durch Handeln und Tun. Daß die „ideale Praxis des reinen Denkens" die höchste Form der Praxis sei, als diese jedoch auch nur gerechtfertigt, wenn es durch sie gelinge, aller reflexionslos gewordenen Praxis alltäglichen Lebens eine Dimension des Nachdenkens - oder wörtlich, der „Besinnlichkeit" - zurückzugeben, hat Husserl bis zuletzt in geradezu beschwörenden Formulierungen niedergelegt. Auch würde damit mehr zu erreichen sein als nur eine theoretische Absage an den Untergang des Abendlandes und fatumsergebene Schicksalsmythen es vermöchten.5 Freilich nur durch systematisch klärende und verdeutlichende Reflexionsarbeit an den Wissenschaften würGegen „einen schwächlichen Pessimismus", aber auch einen „ideallosen .Realismus'" unbeirrt, hatte es schon 1923 geheißen: „Sollen wir den ,Untergang des Abendlandes' als ein Fatum über uns ergehen lassen? Dieses Fatum ist nur, wenn wir passiv zusehen, zusehen könnten. Aber das können auch die nicht, die uns dieses Fatum verkünden" (XXVII, 4).
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de deren einstiges Leitbild von Vernunft und Rationalität aus ihren methodologischen Verengungen zu befreien sein, in die es mit der europäischen Wissenschaft der Neuzeit geraten ist, und ihr diejenige Funktion zurückgegeben werden können, die ihr einst in der klassischen Antike zugedacht gewesen war: auch unter den grundlegend veränderten Bedingungen der modernen Welt Richtschnur des Denkens und Handelns für umfassende Lebenspraxis zu werden, wie sie die Kultur der Menschengemeinschaft allenthalben als rationale Kultur fordert, damit das Leben aller ihrer Glieder zu einem gelingenden Leben werden kann.
GABRIELLA BAPTIST
Krisis als Eröffnung von Möglichkeiten oder als Herausforderung des Unmöglichen? Die „Vermöglichkeiten" Europas in der Sicht des späten Husserl* Die Krisis-Schrift muß gewiß in erster Linie im Rahmen von Husserls Wissenschaftsanalyse und -theorie und auf dem Hintergrund von Problemkomplexen wie Lebenswelt und Geschichte, Rationalität der Welt und menschliche Vernunft, Wissenschaftserfolg und Bankrott der Philosophie, beständigem Risiko der Barbarei und Unendlichkeit der theoretischen und praktischen Aufgaben gedeutet werden.1 Ich werde hier lediglich zu zeigen versuchen, welche Rolle das Problem des Möglichen und der Möglichkeit in Husserls letzter Schrift spielt, eine scheinbar zunächst beschränkte Frage, die jedoch, so hoffe ich, zum Zentrum seiner Argumentation hinleitet und dabei seine philosophische Idee von Europa am deutlichsten erhellen wird. Die Möglichkeit der Krisis also oder die Krise der Möglichkeit, das Krisenhafte am Möglichen, das Mögliche in der Krise und ferner: die Möglichkeiten Europas oder Europa als Möglichkeit, die Ermöglichung Europas und die Europäisierung des Möglichen, ist in erster Annäherung das Vorhaben meiner Lektüre.2 Zunächst werde ich zu zeigen versuchen, wie beim Problem der Möglichkeit das Zentrum der philosophischen
Diese Arbeit ist im Rahmen eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützten Forschungsprojekts über „,Die stille Kraft des Möglichen' - ,Die Möglichkeit der Unmöglichkeit'" entstanden. Für wertvolle Anregungen und Kritik möchte ich mich hier bei Herrn Professor Bernhard Waldenfels und Frau Professor Elisabeth Ströker herzlich bedanken. Vgl. dazu etwa B. Waldenfels, Einführung, in: E. Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, Weinheim 1995, 7-18, E. Ströker, Husserls Konzept der europäischen Kultur und sein Weg zur Überwindung der Krise, in: Reports on Philosophy 15 (1995), 13-25, und dies., Krise der europäischen Kultur ein Problemerbe der husserlschen Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 309-322. Es wird zitiert aus E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hua 6, hg. v. W. Biemel, Den Haag 21962 (im Folgenden abgekürzt als: Krisis, mit Hinweis auf den Paragraphen oder die Beilagennummerierung).
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Aufgabe berührt wird; denn es geht dabei hauptsächlich um die Möglichkeit der Philosophie und der Phänomenologie selbst. In einem zweiten Schritt wird nach den Möglichkeiten der exakten Wissenschaften zu fragen sein und wie es dazu kam, dass, nach Husserls Deutung, der wissenschaftliche Objektivismus durch sein Vergessen der Subjektivität zu einer Verdeckung der unendlichen Aufgaben der Vernunft beitrug, obwohl er gerade von jenen reinen Wesenswissenschaften geleitet wurde, die im Unendlichen ihren Leitstern haben und an die sich auch die Phänomenologie in ihrer Erkundung von idealen Möglichkeiten orientiert. Schließlich wird der von Husserl vorgeschlagene Rückgang auf das Ich zu problematisieren sein. Dabei wird sich herausstellen, wie ,Vermöglichkeiten' - ein seltsamer Ausdruck, dem eingehendere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß - ein neues Konzept auch hinsichtlich einer Phänomenologie der Idee Europas bieten können und inwiefern die schöpferischen Quellen des Wissens schließlich im Umfeld eines Könnens und in der Herausforderung einer Verantwortung ihren Ursprung haben. 1. Die Möglichkeit der Philosophie Gleich zu Anfang, als Husserl noch sein Vorhaben kurz skizziert und den Blendungseffekt bloßer Tatsachen bezüglich der entscheidenden Fragen nach dem Sinn des Menschen anvisiert, gilt ihm die Besinnung auf die Möglichkeiten der freien Entscheidung und der vernünftigen Gestaltung seiner selbst und der Umwelt als ausschlaggebend: „Sie [die brennenden Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins, G.B.] betreffen schließlich den Menschen als in seinem Verhalten zur menschlichen und außermenschlichen Umwelt frei sich entscheidenden, als frei in seinen Möglichkeiten, sich und seine Umwelt vernünftig zu gestalten."3
Die Möglichkeit, von der hier die Rede ist, ist keine Sache der Beliebigkeit, da sie auf freie Entscheidung gerichtet und in der Vernunft bewußt verankert sein soll. Die Freiheit, die angesprochen wird, ist jene Daseinsform, die besonders der Renaissancemensch in seiner Orientierung an der Antike und in seiner Suche nach Erneuerung angestrebt hatte: „das frei sich selbst, seinem ganzen Leben, seine Regel aus reiner Vernunft, aus der Philosophie Geben."4 Man kann sagen, dass der ganze erste Teil der jKmz's-Schrift ein Plädoyer für die Möglichkeiten der Vernuft und der 3 4
Husserl, Krisis, 4 ($ 2). Husserl, Krisis, 5 (§ 3).
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Philosophie enthält.5 Es geht um die Möglichkeit der Philosophie selbst als Aufgabe einer universalen Erkenntnis, wie Husserl wiederholt und emphatisch betont: „Den Glauben an die Möglichkeit der Philosophie als Aufgabe, also an die Möglichkeit einer universalen Erkenntnis, können wir nicht fahren lassen. In dieser Aufgabe wissen wir uns als ernstliche Philosophen berufen."6
Auf dem Hintergrund einer solchen Aufgabenstellung soll besonders die Besinnung auf die Wege der modernen Philosophiegeschichte „Möglichkeiten für völlig neue Blickwendungen, verweisend in neue Dimensionen" freigeben.7 Schließlich ging es auch im neuzeitlichen Denken um Möglichkeiten, an denen sich allerdings die Geister schieden, um Möglichkeiten, die einerseits in skeptischen und für Husserl deswegen unphilosophischen Perspektiven bagatellisiert wurden, andererseits um Möglichkeiten, die in den metaphysischen Versuchen errungen wurden, die universale Philosophie als wahre Möglichkeit zu verwirklichen und den Sinn eines echten Menschentums zu fassen.8 Gerade dieser Aspekt wird oft als Leitfaden der Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie bei den zur Diskussion herangezogenen und ausgewählten Autoren hervorgehoben, so bei Descartes das Problem einer Ermöglichung der Philosophie als rationaler Universalwissenschaft, bei Kant das Grundproblem der Möglichkeit der Philosophie selbst und sogar der Wissenschaft.9 Eigentlich versteht sich auch die Phänomenologie, insofern sie Wesensanalyse ist und Wesensforschung betreibt, hauptsächlich als eine Erkundung von Möglichkeiten,10 so wie etwa die programmatische Vorlesung über Die Idee der Phänomenologie betont: „sie [die Phänomenologie, G.B.] will ja Wissenschaft und Methode sein, um Möglichkeiten, Möglichkeiten der Erkenntnis, Möglichkeiten der Wertung 5
Vgl. etwa Husserl, Krisis, 13 (§ 6): „Die latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen und damit einsichtig zu machen die Möglichkeit einer Metaphysik als einer wahren Möglichkeit - das ist der einzige Weg, um eine Metaphysik bzw. universale Philosophie in den arbeitsvollen Gang der Verwirklichung zu bringen." Mit ,Metaphysik' meint Husserl eine Wissenschaft vom Seienden, vgl. etwa ders., Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hua 2, hg. v. W. Biemel, Den Haag 21973, 23. 6 Husserl, Krisis, 15 (§ 7). 7 Husserl, Krisis, 16 (§ 7). 8 Vgl. Husserl, Krisis, 12-14 (§ 6). Vgl. auch das Zitat in Anmerkung 5. 9 Vgl. Husserl, Krisis, 420 ff. (Beilage X, zu § 21 ff., Juli 1936). 10 Zur Methode der Wesenserkenntnis in der eidetischen Variation, woran Wesensund Möglichkeitsbegriff sich als korreliert erweisen, vgl. E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1987, 80 ff., bes. 84 f.
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aufzuklären, aufzuklären aus ihrem Wesensgrunde; es sind allgemein fragliche Möglichkeiten und ihre Forschungen somit allgemeine Wesensforschungen."11 Hat aber nicht gerade auch die exakte Wissenschaft, die in der Neuzeit maßgeblich für Wissenschaftlichkeit wurde, mit Möglichkeiten und zwar sogar mit reinen und idealen Möglichkeiten zu tun? Zum Beispiel mit den „möglichen Gegenständen überhaupt als durch Ideen bestimmten" der reinen Mathematik als der in der griechischen Antike entsprungenen reinen Ideenwissenschaft?12 Ist nicht auch die Geometrisierung, auf der die Objektivität der neuzeitlichen Naturwissenschaften beruht, im Grunde eine Idealisierung, welche wiederum mit idealen Möglichkeiten zu tun hat, da sie „alle Möglichkeiten der Erfahrung als Erfahrung von in infinitum Identischem durch ihre Idealisierung theoretisch zu umspannen vermag"?13 Diese Fragen scheinen um so dringender zu sein, weil es dabei nicht bloß um eine deskriptive Beobachtung oder um eine beurteilende Kulturdiagnose geht, sondern auch und hauptsächlich um die Aufgaben (und die Möglichkeiten, könnte man hinzufügen) der zeitgenössischen Philosophie und der Phänomenologie selbst, welche ihrerseits sich auch als ein Ringen um Wesensmöglichkeiten versteht, das von Anfang an gerade Wissenschaften wie die Mathematik und die Geometrie für musterhaft und richtungweisend gehalten hat. Man denke etwa an die am 3. Mai 1917 vorgetragene Freiburger Antrittsrede, in der Husserl programmatisch sagte: „Ganz so, wie nun die reine Analysis nicht von wirklichen Dingen und ihren faktischen Größen handelt, sondern die zum Wesen möglichen Größen überhaupt gehörigen Wesensgesetze erforscht, oder so, wie die reine Geome11 Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Hua 2, a.a.O., 51. Zu einer Präzedenz der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit vgl. auch ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Hua 3/1, hg. v. K. Schuhmann, Den Haag 1976 (im Folgenden zitiert als: Ideen I), 178 (§ 79), sowie ders., Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua l, hg. v. S. Strasser, Dordrecht/Boston/London 21963, 103-106 (S 34). 12 Vgl. Husserl, Krisis, 279 (Abhandlung über: Realitätswissenschaft und Idealisierung. - Die Mathematisierung der Natur, vor 1928). S. auch 292: „Das rein mathematische Denken ist bezogen auf mögliche Gegenstände, die durch ideal-,exakte' mathematische (Limes-) Begriffe bestimmt gedacht sind". 13 Husserl, Krisis, 301, Anm. l (Abhandlung über: Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Einstellung. Naturalismus, Dualismus und psychophysische Psychologie, vor 1930). Vgl. auch 315 (Abhandlung über: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, Wiener Vortrag, Mai 1935): „Die mathematisch-exakte Naturwissenschaft aber umspannt mit ihrer Methode die Unendlichkeiten in ihren Wirklichkeiten und realen Möglichkeiten."
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trie sich nicht an die in wirklicher Erfahrung beobachteten Gestalten bindet, sondern in frei konstruierender geometrischer Phantasie den möglichen Gestalten und Gestaltwandlungen nachgeht und ihre Wesensgesetze feststellt: genau so will die reine Phänomenologie das Reich des reinen Bewußtseins und seiner Phänomene nicht nach faktischem Dasein, sondern nach reinen Möglichkeiten und Gesetzen erforschen."14
Das Problem, warum es der neuzeitlichen Wissenschaft nicht mehr gelingt, angesichts der erstrebten Freiheit des Möglichen und des Vernünftigen Orientierung zu bieten, wird dann um so beunruhigender, da schließlich eine tiefe Verwandschaft zwischen den exakten Wissenschaften wie Mathematik oder Geometrie und der Phänomenologie gerade hinsichtlich der idealen Möglichkeit besteht.15 Für Husserl hat bekanntlich die Konzentration auf Tatsachen und die Spezialisierung des Wissenschaftlers zum Fachmann das Denken jeden Schwungs und jeder Offenheit für das ideal Mögliche und für das reine Wesensallgemeine beraubt, bis zur prinzipiellen Leugnung jeglicher Begründung einer Wesenslehre und Wissenschaft des Geistes und bis zu den verhängnisvollen Konsequenzen in der philosophischen Reflexion selbst, wo die ganze Vernunftproblematik nach ihrem Sinn und ihrer Möglichkeit in Frage stand, sogar als Bezweiflung selbst der Möglichkeit einer Wissenschaft des Wahren. Diese Hauptfragen leiten Husserls Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Gegensatz zwischen physikalistischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus, dem der zweite Teil der Krisis gewidmet ist und dem hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, besonders was die Deutung Galileis als Urstifter der neuen Naturwissenschaft betrifft.
2. Die Möglichkeiten der exakten Wissenschaften. Der wissenschaftliche Objektivismus als eine ,Verunmöglichung' der unendlichen Aufgaben der Vernunft Gegenüber der antiken Wissenschaft, die nach Husserl vom Ideal eines endlich geschlossenen Apriori geleitet war, wie z.B. im Fall der Euklidischen Geometrie, entdeckte die Neuzeit die Möglichkeit der unendlichen 14 Husserl, Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Hua 25, hg. v. Th. Nenon u. H.R. Sepp, Dordrecht/Boston/Lancaster 1987, 79. 15 Auch in den Ideen I hatte Husserl auf die Verwandtschaft zwischen dem Phänomenologen und dem Geometer hingewiesen, sofern dieser letztere sich mit idealen Möglichkeiten und Wesenheiten und sicherlich nicht mit bloßen Tatsachen beschäftigt, vgl. Husserl, Ideen I, Hua 3/1, a.a.O., 21 (§ 7).
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Aufgabe, eine unendliche Welt von Idealitäten, die unendlichen mathematischen Horizonte, die allerdings einer einheitlichen systematischen und in sich geschlossenen Theorie nicht widersprachen, wohl aber das Ideal der Vollkommenheit in dem offenen Horizont immer weiter zu treibender Verbesserungen hinausschoben.16 Nach Husserls Analyse ist die neuzeitliche mathematisierte Wissenschaft als Stiftung der Unendlichkeit auch eine Erfahrung des Möglichen in dem unendlichen Hinaussein des idealen Poles (möglich in dem emphatischen Sinn des Idealen) und in der faktisch unbegrenzten Annäherung an ihn (prinzipiell möglich im Sinne des wissenschaftlichen Gebotes eines stets darauf hinzielenden Approximations weges).17 Aus der Auseinandersetzung mit Galileis Mathematisierung der Natur als erstem gewaltigen Schritt der modernen Wissenschaftlichkeit erhellt, dass die neue ideale Praxis des reinen Denkens eigentlich auch keine empirischen und realen Möglichkeiten bedenkt, sondern sich mit idealen Möglichkeiten beschäftigt und deswegen weiterhin philosophisch' und idealisierend verfährt. Diese idealen Möglichkeiten sind a priori und systematisch konstruierbar und können eine neue Art der Exaktheit erreichen, wie keine noch eher empirisch bedingte Meßkunst sie vorher gekannt hatte. Doch gelten die idealen Möglichkeiten der mathematisierten Naturwissenschaft dem Empirischen, wenn auch von dessen sinnlichen und qualitativen Füllen, d.h. von dessen realen Möglichkeiten, völlig abstrahiert wird. Hier entsteht aber gerade das Risiko der Sinnentleerung: Die „ungeheuere Erweiterung der Möglichkeiten"18 des antiken mathematischen Denkens, die von der anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelöste Arithmetisierung der Welt und die dadurch frei gewordenen Variationen der logischen Möglichkeiten für immer neue Hypothesen und weitere hypothetische Möglichkeiten machen in der Tat eine direkte Mathe16 Vgl. Husserl, Krisis, 19, 22-23 (§§ 8 und 9a). Bekanntlich widerspricht dieser Deutung der Euklidischen Geometrie der Wortlaut der Wiener Konferenz, nach der schon die griechische Philosophie und Wissenschaft als eine Theorie des Unendlichen präsentiert wurde. Darauf macht aufmerksam P. Ricceur, Husserl et le sens de l'histoire, in: Revue de Metaphysique et de Morale 54 (1949), 280-316, bes. 300, Anm. 1. Vgl. dazu auch J. Derrida, Introduction, in: Husserl, L'origine de la geometric, Paris 21974,139 ff.; Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis", aus dem Franz, v. R. Hentschel u. A. Knop, München 1987, 171 ff. 17 Vgl. dazu H.R. Sepp, Verendlichung als Tiefenstruktur der Krisis, in: H. Vetter (Hg.): Krise der Wissenschaften - Wissenschaft der Krisis? Wiener Tagungen zur Phänomenologie. Im Gedenken an Husserls Krisis-Abhandlung, Frankfurt a.M./Berlin/ Bern/New York/Paris/Wien 1998, 59-73. 18 Husserl, Krisis, 43 ($ 9f).
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matisierung der spezifisch sinnlichen Qualitäten der Körper „prinzipiell unmöglich''19 und entleeren dadurch ihren Sinn und ihre Bedeutung. Die Eröffnung der Möglichkeiten von universalisierbaren Gestaltenregelungen bedeutet auf diese Weise gleichzeitig die Verunmöglichung einer Wissenschaft der anschaulichen Füllen, wenn sie nicht auf mathematisierbare und also meßbare Indikatoren reduzierbar sind. Die Verunmöglichung einer andersgearteten Auffassung der Qualitäten wurde, nach Husserls Deutung, das Ergebnis des mathematisch-quantitativen und quantifizierbaren Exaktheitsideals. Die Blindheit für die Fülle und deren Idealisierung im Sinne einer Mitmathematisierung und Formalisierung war die Kehrseite jener Technisierung der unendlichen Möglichkeiten der mathematisierten Naturwissenschaft, die die Natur und die konkrete Körperwelt zum bloßen Spielraum von Messungen machte, wobei die Unendlichkeiten und idealen Möglichkeiten der Wissenschaft bloß zu formalistischen und mechanisch anwendbaren Spielregeln sowie zu hypothetischen Möglichkeiten eines technischen Denkens wurden. Eine idealisierte Natur der gesteigerten, aber leeren Möglichkeiten nahm die Stelle der anschaulichen, wirklich erfahrenen und erfahrbaren Welt ein: „In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt - der in unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt - in der offenen Unendlichkeit möglicher Erfahrungen ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektivwissenschaftlichen Wahrheiten, d.i. wir konstruieren in einer (wie wir hoffen) wirklich und bis ins Einzelne durchzuführenden und sich ständig bewährenden Methode zunächst bestimmte Zahlen-Induzierungen für die wirklichen und möglichen sinnlichen Füllen der konkret-anschaulichen Gestalten der Lebenswelt, und eben damit gewinnen wir Möglichkeiten einer Voraussicht der konkreten, noch nicht oder nicht mehr als wirklich gegebenen, und zwar der lebensweltlich-anschaulichen Weltgeschehnisse: einer Voraussicht, welche die Leistungen der alltäglichen Voraussicht unendlich übersteigt."20
Das Ideenkleid eines leeren Möglichen als methodische und operative Regel der wissenschaftlichen Aufgabe und als Apparatur eines technischen Eingriffes und mechanisch verlaufenden Progresses wird für das Sein der Welt selbst gehalten, welches in wissenschaftlichen Formeln gleichzeitig entdeckt und verdeckt wird in einer doppelten Geste, die einerseits das Idealmögliche der Wissenschaft steigert, andererseits das Realwirkliche der Lebenswelt als unmöglich faßbar erklärt. Eine Konse19 Husserl, Krisis, 32 ($ 9c). 20 Husserl, Krisis, 51 {$ 9h).
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quenz davon ist die absolute Entwertung der konkreten Phänomene der sinnlichen und anschaulichen Natur, der jede Objektivität abgesprochen wird.21 Aber auch die Zweifel am Wahrheitsgehalt der angewandten Mathematik, die gerade jene anschauliche Natur wissenschaftlich zu erklären hat, obwohl bloß auf induktive Weise und a posteriori, finden hier ihre verhängnisvolle Grundlage.22 Darüber hinaus wird jede Wissenschaft des Lebens, der Praxis, der Subjektivität, der Seele, der Vernunft, der Kultur, des Geistigen als prinzipiell bloß subjektiv herabgestuft und deswegen zu einer ,Naturalisierung' gezwungen, d.h. auf die Körperwelt reduziert oder zumindest in einem exakten Argumentationsverfahren ,ordine geometrico' oder ,more mathematico' nach dem Vorbild der Naturwissenschaft gefaßt und idealisiert, dadurch aber auch jeder Spezifizität beraubt. Trotz aller Bewunderung für die großen Denkleistungen der modernen Naturwissenschaften stellt Husserl hier die Aufgabe, gerade jene von ihnen sanktionierte Unmöglichkeit wieder aufzugreifen und die Lebenswelt der Füllen in genauso stringenter und universaler Weise zu denken, welche ihren endlos offenen Horizonten und ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit gerecht würde.
3. Der Rückgang auf das Ich. Verm öglich k eiten Es gibt aber noch eine zweite Unmöglichkeit, der die moderne Wissenschaft mit ihrem Objektivismus nicht gerecht werden kann und die selbst für die Heroen der Vernunfttheorie wie Descartes oder Kant ein Rätsel geblieben ist. Das ist der Archimedische Punkt des Subjekts, um den herum ein neues Zeitalter der Philosophie entstehen sollte, aber das gleichzeitig auch unerforscht bleiben mußte: „Descartes macht sich nicht klar, daß das ego, sein durch die Epoche entweltlichtes Ich, in dessen funktionierenden cogitationes die Welt allen Seinssinn hat, den sie je für ihn haben kann, unmöglich in der Welt als Thema auftreten kann, da alles Weltliche eben aus diesen Punktionen seinen Sinn schöpft, also auch das eigene seelische Sein, das Ich im gewöhnlichen Sinne."23 21 Vgl. etwa Husserl, Krisis, 54 (§ 9i): „Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet. Nur insofern sind sie nicht bedeutungslos, als sie, obschon falsch, ein hinter dieser Welt möglicher Erfahrung liegendes, ein ihr transzendentes An-sich vage bekunden." 22 Vgl. dazu insbesondere Husserl, Krisis, 54-56 (§ 9i). 23 Husserl, Krisis, 83-84 ($ 19).
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Wie bei Galilei scheint hier auch eine Entdeckung und Verdeckung gleichzeitig stattgefunden zu haben: die von der Epoche thematisch gemachte Entweltlichung des Ichs als ein transmundanes steht in schroffem Gegensatz zu dessen Vergegenständlichung sogar zu einer res im Rahmen eines Dualismus, der paradoxerweise nicht nur die Herabsetzung der Natur auf eine bloße objektivierbare Körperwelt befestigte, sondern auch das entdeckte Primat des Subjekts bedrohte. Bei Kant wurde erstmals statuiert, dass apriorische Formen überhaupt eine Mathematik oder eine Logik der Natur erlauben und dass erst das transzendentale Subjekt jene Eröffnung von idealen Möglichkeiten der Wissenschaften ermöglicht und sich als deren Grundmöglichkeit oder Urmöglichkeit erweist. Das schon von Aristoteles aufgearbeitete Problem des menschlichen »Vermögens' wurde mit Kant zum Schlüsselwort: Die reine Anschauung einerseits und die reine Vernunft andererseits (oder die Sinnlichkeit und der Verstand) - beide für Kant bekanntlich nicht objektiv erkennbar - weisen den vermeinten Rationalismus der Annahme einer Natur an sich als bloße Naivität aus, indem sie selber als Möglichkeiten einer objektiven Erkenntnis angesetzt wurden.24 Gleichzeitig trat auch die doppelte Funktionsweise der Vernunft zutage: nicht nur die Spaltung zwischen Rezeptivität und Spontaneität, sondern auch die systematische Selbstauslegung und Selbstoffenbarung des Vernünftigen im reinen Mathematisieren einerseits und die Rationalisierung von sinnlichen Daten im naturwissenschaftlichen Denken andererseits. Vermutlich hatte Husserl gerade diese Doppelheit der menschlichen Vermögen und diese von ihnen geleistete doppelte Begründung sowohl der reinen eidetischen Wissenschaften (die reine Mathematik oder Geometrie) als auch der eher empirisch verfahrenden Naturwissenschaften im Blick, als er die eigenartige Wortbildung ,Vermöglichkeit' (und entsprechend das Adjektiv ,vermöglich') prägte,25 eine Wendung die sonst beim 24 Vgl. Husserl, Krisis, 98 (§ 25): „Hatte die Naturwissenschaft sich als Zweig der Philosophie, der letzten Wissenschaft vom Seienden, ausgegeben und mit ihrer Rationalität geglaubt, über die Subjektivität der Erkenntnisvermögen hinaus das an sich Seiende erkennen zu können, so scheidet sich nun für Kant objektive Wissenschaft, als in der Subjektivität verbleibende Leistung: von seiner philosophischen Theorie, welche als Theorie der in der Subjektivität sich notwendig vollziehenden Leistung und damit als Theorie der Möglichkeit und Tragweite objektiver Erkenntnis die Naivität der vermeinten rationalen Philosophie der Natur-an-sich enthüllt." 25 Der Terminus .Vermöglichkeit' ist offensichtlich eine Husserlsche Wortprägung und bedeutet eine Möglichkeit als Ich, eine Möglichkeit durch ein Vermögen. Im Deutschen bezeichnet das Präfix ,ver' meistens die Durchführung und Vollendung einer Handlung (z.B. verabreden, verabschieden, veranlassen, veranstalten, verarbeiten, verfassen, verfahren, sich verhalten, verhandeln, verlegen, vermitteln, veröffentli-
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früheren Husserl noch ganz unbekannt war und erst bei der Auseinandersetzung mit der Problematik einer Wissenschaft von der Subjektivität entstand.26 In der Krisis-Schrift ist wiederholt die Rede von Vermöglichkeiten zu verzeichnen, womit immer betont wird, dass das Ich als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen, als deren transzendentale Ermöglichung, auch immer eine wirkliche Verankerung in seinem Leib hat und ein Ort der freien Entscheidung und des praktischen Eingreifens bleibt.27 Gleich am Anfang des zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen dritten Teils der Krisis, wo es um die Klärung des transzendentalen Problems im Anschluß an Kant geht und die Rückfrage nach der vorgegebenen und unthematisch gebliebenen Lebenswelt gestellt werden soll, präsentiert Husserl in folgender Weise den einzigartigen Seinssinn des Leibes als Organ: chen, versammeln, verschreiben, verrücken, verschieben, vertreten, verursachen, vervollständigen, verwandeln, verwirklichen, verzehren), zeigt eine Steigerung an (z.B. verantworten, verbessern, verdanken, verdeutlichen, verdienen, verehren, verenden, vergeben, verhungern, verlassen, vermehren, vernichten, versichern, versprechen, verstehen, versuchen, vertiefen), kann aber auch eine negative Konnotation aufnehmen (z.B. verdrehen, verführen, sich verlaufen, verlieren, verplanen, sich verrechnen, versagen, verstellen, verstimmen, verurteilen, verwechseln, verwirren, verwöhnen, verzweifeln) und sogar das Umkehren ins Gegenteil ausdrücken (z.B. verachten, verbieten, verblühen, vergessen, verkaufen, verkennen, verlernen, verraten, verwünschen, verzeihen). Abgesehen von Begriffsregistern, die sich direkt auf Husserls Werke beziehen, weisen philosophische Wörterbücher den Terminus ,Vermöglichkeit' meistens nicht aus. 26 In den Logischen Untersuchungen kommen der Terminus .Vermöglichkeit' und das Adjektiv ,vermöglich' z.B. gar nicht vor. Im ersten Teil der Vorlesungen über Erste Philosophie, welcher einer kritischen Ideengeschichte in der Auseinandersetzung mit Plato, Aristoteles, Descartes, Locke und Kant gewidmet ist, ist einmal von der „Vermöglichkeit" der Rationalität die Rede, dabei wird das „Wesen [...] ihrer Leistung" gemeint, vgl. Husserl, Erste Philosophie (1923/24). I: Kritische Ideengeschichte, Hua 7, hg. v. R. Boehm, Den Haag 1956, 69 (10. Vorlesung: ). Vgl. auch die computergestützte Husserl-Data-Base und die folgenden Internetseiten (bezüglich des Textes der Logischen Untersuchungen und der Vorlesungen über Erste Philosophie): http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/~jssharna/dat/hua_18/list-t.htm http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/~jsshama/dat/hua_19-l/list-t.htm http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/~jsshama/dat/hua_19-2/list-t.htm http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/~jsshama/dat/hua_07/list-t.htm http://www.ipc.shizuoka.ac.Jp/~jsshama/dat/h ua_08/list-t.htm. 27 Vgl. dazu auch die folgenden Internetseiten aus den schon erwähnten Husserl-DataBase bezüglich der Termini .Vermöglichkeit' (12 items) und ,vermöglich' (27 items, darunter werden aber auch die 12 Vorkommnisse des Terminus .Vermöglichkeit' mitgezählt): http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/~jsshama/dat/hua_06/vermo~gk.htm http://www.ipc.shizuoka.ac.jp/-jsshama/dat/hua_06/vermo~gh.htm.
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„das, wobei ich als Ich der Affektion und Aktionen in ganz einziger Weise und ganz unmittelbar bin, als worin ich ganz unmittelbar kinästhetisch walte, gegliedert in Sonderorgane, in denen ich in ihnen entsprechenden Sonderkinästhesen walte bzw. vermöglich walten kann."28
Das Vermögen auch im Sinne der Kraft (z.B. etwas zu tun oder zu bewegen) ist eine fakultative (in dem doppelten Sinn des: ,einer facultas, z.B. bezüglich der Anschauung oder des Verstandes'; und des: freiwilligen') Potentialität von noch zu verwirklichenden Verläufen, an der Husserl die Paradoxie der Subjektivität neu zu denken versucht, nach der der Mensch gleichzeitig Subjekt für die Welt, als die Welt konstituierendes Bewußtsein, und aber auch leibliches Objekt in ihr ist, d.h. in ihr objektiv weltlich ist.29 Gerade als Welt-konstituierend (d.h. als Welt transzendental in ihrem Sinn ermöglichend) und doch in die Welt selbst eingeordnet, aber dank Vermöglichkeiten, ist das transzendentale Subjekt jene zweite Unmöglichkeit, die dem Objektivismus entgangen war und die gerade zu denken ist. Es ist interessant, darauf zu verweisen, dass in der berühmten Beilage III zur Krisis, von Eugen Fink als „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem" betitelt, wo Husserl auf die entscheidende Funktion des schriftlichen Ausdrucks als virtuelle Mitteilung aufmerksam macht, welche ständig in der Möglichkeit bleibt, erfahrbar zu sein, gerade auf die Vermöglichkeit ihrer Reaktivierung verwiesen wird, welche ihrerseits eine unendlich offene Endlichkeit anzeigt.30 Sogar die emphatisch heraufbeschworenen Möglichkeiten der Philosophie als menschlicher Selbstbesinnung und als Selbstverwirklichung der Vernunft werden als ,Vermöglichkeiten' dem Grundwesen des Menschen selbst zugesprochen.31 28 Husserl, Krisis, 109 (§ 28). 29 Vgl. Husserl, Krisis, 184 (§ 53): „Aber können wir uns damit beruhigen, uns mit der bloßen Tatsächlichkeit begnügen, daß die Menschen Subjekte für die Welt sind (der Welt, die bewußtseinsmäßig für sie ihre Welt ist) und zugleich Objekte in dieser Welt? Können wir uns als Wissenschaftler damit beruhigen, daß Gott die Welt und in ihr Menschen geschaffen hat, daß er sie mit Bewußtsein, mit Vernunft begabt hat, d.i. mit der Vermöglichkeit der Erkenntnis, zuhöchst einer wissenschaftlichen?" Vgl. auch Husserl, Krisis, 265-266 (§ 72), sowie 415 (Beilage VIII, zu § 18, Mai 1937). 30 Derridas Übersetzung dieser Seiten bemerkt nicht die wichtige und völlig neue Bedeutung des Begriffes .Vermöglichkeit' und übersetzt ihn einfach mit „faculte". Vgl. Husserl, L'origine de la geometric, a.a.O., 186, 189 Anm., 213. ,Vermöglich' wird durch eine Umschreibung mit „pouvoir" wiedergegeben, vgl. 208. Bekanntlich betont Derridas Lektüre gerade die Funktion der schriftlichen Registrierung der idealen geometrischen Wissenschaft als reine und höchste Möglichkeit einer Freigabe des prinzipiell außerzeitlichen Idealen und der ideologisch wesenhaft zukünftigen Wahrheit und als Sedimentierung dieses Idealen selber in dem Durchgang durch die Faktizität einer Geschichte. 31 Vgl. Husserl, Krisis, 485 (Beilage XXIV, zu § 73, September 1934).
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Die Freiheit, um deren Sinn es in der Krisis geht und die in eine Reihe mit den höchsten Problemen gestellt wird - mit der Frage nach einer absoluten Vernunft als Grundlage des Sinnes der Welt, mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte und des Menschentums -, die Freiheit, mit der wir angefangen haben und deren Besinnung zur Kontur der Möglichkeit der Philosophie diente, ist selbst als „Vermöglichkeit des Menschen" definiert, „seinem individuellen und allgemeinen menschlichen Dasein vernünftigen Sinn zu verschaffen."32 Eine eingehendere Klärung des Begriffes ,Vermöglichkeit' (oder besser im Plural: ,Vermöglichkeiten') und des entsprechenden Adjektivs ^ermöglich' ist meines Wissens noch ein Desiderat der Forschung, auch wenn diese Problematik immer wieder gestreift wird.33 Wohl ist das Thema von zentraler Bedeutung und leitet geradewegs ins Zentrum von Husserls Gedanken. In den sogenannten Ideen II z.B., wo es um die Probleme der Erfahrung und der Konstitution einer materiellen Natur ging, um Leibproblematik und Wahrnehmungsabläufe mit ihrer Zweigliederung von motivierenden kinästhetischen Empfindungen einerseits und motivierten Merkmalsempfindungen andererseits, von zugleich aktivem und passivem, leidendem und tätigem Ich, hatte Husserl schon das Thema des Ich als Subjekt der Vermögen umrissen.34 Der Terminus ,Vermöglichkeit' bzw. das Adjektiv ,vermöglich' wurden zwar noch nicht angewendet, jedoch war das Problem schon klar skizziert: „Das Ich als Einheit ist ein System des ,Ich kann'"; „Vermögen ist kein leeres Können, sondern eine positive Potentialität" ,35 In einem Mitte August 1931 verfaßten Text zur Phänomenologie der Intersubjektivität steht: „Mein Leben ist durchaus Leben in Vermöglichkeiten, durchaus ein Leben intentionaler Synthesis, einer passiven Synthesis, die vielfältige Fortgangsrichtungen hat, in jeder Richtung, die verwirklicht wird, urzeitigend ist im urphänomenalen Strom. Diese passive Verlaufstruktur aber vom wachen Ich, dem der Aktivitäten bzw. Vermögen, aktiv dirigiert, wobei aber alle Aktion ihren Horizont der Vermöglichkeit hat."36 32 Husserl, Krisis, 11 ($ 5). 33 Besonders in den Arbeiten von Ludwig Landgrebe. Vgl. kürzlich z.B. K. Held, Horizont und Gewohnheit. Husserls Wissenschaft von der Lebenswelt, in: H. Vetter (Hg.), Krise der Wissenschaft- Wissenschaft der Krisis?, a.a.O., 12. 34 Vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. II: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Hua 4, hg. v. M. Biemel, Den Haag 1952, 253-257 (§ 59). 35 Ebd., 253 und 255 ($ 59). Vgl. auch ebd., 259 ($ 60): „All mein Können in der physischen Sphäre ist vermittelt durch meine ,Leibesbetätigung', durch mein leibliches Können, Vermögen." 36 Husserl, Die vorgegebene Welt in anschaulicher Enthüllung — die Systematik der
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Die positive Potentialität, die dispositionale Kapazität oder dispositionsfähige Fertigkeit der ,Vermöglichkeiten' bzw. des ,Vermöglichen' als gleichzeitig rezeptiv und spontan scheinen in sich die antike dynamisund die moderne poss/6/7/tas-Problematik zusammenzufassen, das Thema der Welt (oder Umwelt oder Lebenswelt) und die Frage nach dem Subjekt, d.h. factum und eidos zusammenzuhalten.37 Was haben diese Möglichkeiten, etwa die reine Möglichkeit der Vernunft und der Philosophie (bzw. die eidetische Möglichkeit der Wesenswissenschaften und der Phänomenologie), die realen Möglichkeiten der Naturwissenschaften und der Technik (mit ihren beiden Unmöglichkeiten, die Lebenswelt der Fülle oder das Subjekt zu denken) oder die transzendentalen Möglichkeiten des Ich als Ermöglichung, miteinander zu tun und was vor allem haben sie mit der philosophischen Idee Europas zu tun? Die Problematik der ,Vermöglichkeit' bzw. des ,Vermöglichen' beim späteren Husserl regt an, einerseits die Entzweitheit alles Seienden (in essential existentia, Aufgabe und Faktizität, Exemplarität und Gattung, Sinn und Sein) und andererseits die Aporien des transzendentalphänomenologischen Problems im gleichzeitig konstituierten und konstituierenden leiblichen Subjekt, sinnlich anschauenden und eidetisch denkenden Ich zu denken:38 in den Beschränkungen und Unmöglichkeiten des Vermögens und in den unendlichen Eröffnungen des Möglichen, welche beide in der ,Vermöglichkeit' in eins gedacht werden, ist sowohl der ontologisch-transzendentale Zwitterbegriff der Lebenswelt als konkrete Universalität als auch die Doppelheit der Konstitution zwischen Erweiterung (Mitte August 1931), in: ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. III: 1929-1935, Hua 15, hg. v. I. Kern, Den Haag 1973, 203. 37 Vgl. Husserl, Teleologie. , in: ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. III: 1929-1935, Hua 15, a.a.O., 385: „Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das Sein eidetischer Möglichkeiten und des Universums dieser Möglichkeiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung solcher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, nämlich entsprechender. Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches." 38 Vgl. dazu L. Landgrebe, Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, in: B. Waldenfels, J.M. Broekman, A. Pazanin (Hg.), Phänomenologie und Marxismus, Bd. 2: Praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 1977, 13-58, bes. 30 ff.; ders., Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte, in: L. Landgrebe et al., Phänomenologie und Praxis, Freiburg/München 1976 (Phänomenologische Forschungen, 3), 17-47, bes. 22 f.
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aktiver Sinnbildung und passiver Synthesis zu sehen, ein theoretischer Vorschlag, der weiterhin auch die zeitgenössische Differenzdiskussion bereichern kann. In dem Konzept der Vermöglichkeit bzw. des Vermöglichen erweist sich die Möglichkeitsproblematik als wahrhaftes (und wortwörtliches, könnte man hinzufügen) Organon der Phänomenologie, da hier die Herausforderungen des Logischen, des Ontologischen, des Erkenntnistheoretischen und des Praktischen ineinanderfließen. Es geht tatsächlich nicht nur um die Vermöglichkeiten der Kinästhese, sondern auch um die Vermöglichkeiten der Erkenntnis und der Wissenschaft, der Freiheit und der Verantwortung. Dabei steht die Grundspaltung des Vermögens in Sinnlichkeit und Vernunft exemplarisch für weitere Grundfragen wie Lebenswelt und Geschichte einerseits, Spontaneität und Konstitution andererseits. Nicht nur die Erfahrung, sondern auch die Wissenschaft selbst und sogar die philosophische und phänomenologische Forschung sind ein ,vermöglicher' Gang, getrieben von immer unvollkommenen, aber auch immer zu vervollkommnenden Annäherungen an das Telos des Wahren. Das Faktum der Leiblichkeit, des anschaulichen Vermögens, der Erfahrung, der Geschichte der Wissenschaften oder der Philosophie stößt zwar immer wieder auf die Grenzen eines , plus ultra' der individuellen und gemeinschaftlichen Erfüllbarkeit; dennoch bleibt das Gebot der idealisierenden Leistung auf ein jmmer wieder' der unendlichen Möglichkeiten gerichtet, was zu einer Entschränkung und Verunendlichung unseres Vermögens führt.39 Doch weisen die Vermöglichkeiten (des Sub39 Vgl. Husserl, Krisis, 359 (Beilage II, zu § 9a, 1936?): „Das Vermögen, wie die Erfahrungen (am Faktum), so die anschauliche Fiktion, die Reihe der Steigerung fortzuführen, ist beschränkt, sie brechen als wirkliche Anschauungen des exemplarischen Dinges, das man erfahrend immer vollkommener kennenlernen würde, bald ab, obschon eine leere Antizipation eines ,vollkommener' notwendig mitgegeben ist, aber ohne daß die praktische Intention auf das plus ultra erfüllbar wäre, so wenig als die schon sich leer vorzeichnende Fortsetzung der Vollkommenheitsreihe als fortsetzender Reihe. Hier setzt die idealisierende Leistung ein: Die Konzeption des ,immer wieder' - in Richtung auf den leeren Vorentwurf der Reihe, der leere Gedanke ihrer als möglich gedachten Erfüllung, mit der eine neue Reihe zum Vorentwurf kommen würde, abermals gedacht mit der möglichen Erfüllung, und so immer wieder und immer wieder - in infinitum." Vgl. auch die von E. Fink 1939 mit dem Titel: Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem versehene Beilage, 375 (Beilage III, zu § 9a, 1936): „bedenken wir die offenbare Endlichkeit des individuellen wie gemeinschaftlichen Vermögens, die logischen Ketten von Jahrhunderten wirklich in der Einheit eines Vollzuges in ursprungsechte Evidenzketten zu verwandeln, so merken wir, daß das Gesetz eine Idealisierung in sich birgt: nämlich die Entschränkung, und in gewisser Weise die Verunendlichung unseres Vermögens."
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jekts, aber auch der Wissenschaften, der Geschichte und der Phänomenologie selbst) auf eine Endlichkeit hin, welche allerdings die erhabenen Aufgaben der theoretischen Leistung nicht scheut und gerade deswegen zur Verantwortung verpflichtet. Nach Eugen Fink ist Husserls Spätphilosophie „keine eingebrachte Ernte, kein festes Besitztum des kulturellen Geistes, kein Haus, in welchem man sich wohnlich einrichten kann. Alles ist offen, alle Wege führen ins Freie."40 Nicht nur dadurch, dass die Krisis -Schrift, wie übrigens viele anderen Schriften Husserls auch, sich bloß als eine Einleitung, ein vorbereitender Gedankengang, eine Wegweisung, ein Prolegomenon präsentiert, zwingt sie zur Verantwortung des Denkens gegenüber weiteren bevorstehenden Aufgaben,41 sondern auch und hauptsächlich, weil sie eine Welt im Werden, ein Subjekt zwischen Impotenz des Unvermögens und inauguraler Freiheit der Ideation, eine Geschichte im Strömen des , plus ultra' und des ,immer wieder', eine Wahrheit „auf dem Marsch" entwirft und umreißt.42 Diese sind gerade die von Husserl vorgeschlagenen Züge einer exemplarischen europäischen Identität, welche auch aufgrund von solchen ,Vermöglichkeiten' im Potentialis, teleologisch und sich zukünftig in ihrer sich selbst nie gleichen unendlichen Endlichkeit bleibt. Vielleicht hätten wir mit einer solchen Lektüre Husserls eine Auffassung der europäischen Aufgabe und von Europa selbst als ,Vermöglichkeit' gewonnen, die als Entwurf und Projekt weiterhin auf
40 E. Fink, Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit, in: Edmund Husserl 1859-1959. Recueil commemoratif public a l'occasion du centenaire de la naissance du philosophe, La Haye 1959, 114. 41 Bekanntlich sollte die iCns/s-Schrift gemäß des von Fink entworfenen Plans zur Fortsetzung mit einem fünften Teil über: Die unverlierbare Aufgabe der Philosophie und Die Selbstverantwortung des Menschentums abgeschlossen werden, vgl. Husserl, Krisis, 516 (Beilage XXIX, Finks Entwurf zur Fortsetzung der Krisis). Für Ludwig Landgrebe liegt gerade in der Zweideutigkeit von Husserls Konstitutionsbegriff „die Grundlage einer Philosophie absoluter Verantwortung", L. Landgrebe, Reflexionen zu Husserls Konstitutionslehre, in: Tijdschrift voor Filosofie 36 (1974) 466-482, bes. 482. 42 Das schöne Bild einer Wahrheit auf dem Marsch (mit Bezug auf die Erkenntnis der Welt als wahren) ist in Husserl, Erste Philosophie (1923/24). II: Theorie der phänomenologischen Reduktion, Hua 8, hg. v. R. Boehm, Den Haag 1959, 47; dazu Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, a.a.O., 124. Vgl. auch den folgenden Text aus einer Manuskriptseite: „Alles Seiende ist auf dem Marsch, ist in konstitutiver Entwicklung in einem endlosen konstitutiven Zusammenhang, und das betrifft auch das Sein der absoluten Werte, das Sein der Absolutheitsideen (Ideen echten Menschentums) als Ideen für ihre historische Zeit", Ms. E III 4, 18, zitiert aus P. Janssen, Geschichte und Lebenswelt. Ein Beitrag zur Diskussion von Husserls Spätwerk, Den Haag 1970, 75, Anm. 65.
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eine Vielfalt der Offenheit hinweist, ohne jedoch vor dem unvermeidlichen Entzug und der zur Verantwortung aufrufenden Ohnmacht die Augen zu schließen. Die ,Vermöglichkeiten' Europas zu denken, verweist ja auf ein unausschöpfliches und auf Unvollendbarkeit angelegtes Kulturethos, das in der kritischen Orientierung an den unendlichen Aufgaben der Vernunft und im Bewußtsein der faktischen und geschichtlichen Beschränkungen die Möglichkeiten der Vollendung aus dem Unendlichen schöpft und im Endlichen sucht und verwirklicht. Ein Europa im Werden und im Können, im Strömen und auf dem Weg, potentiell und sich zukünftig, aber auch faktisch, endlich und geschichtlich verankert, das ist die Herausforderung, die sich in der letzten Philosophie Husserls ausspricht.
BORIS MARKOV Das andere Europa - aus der Perspektive Rußlands Unter Intellektuellen im Westen ist gegenwärtig eine Bewegung im Gange, die Idee Europas zu dekonstruieren und ein neues Projekt dieser Idee zu formulieren. Es geht ihnen dabei nicht um so etwas wie Kritik im traditionellen Sinne, um das Verwerfen einer veralteten spekulativen Idee, der man eine neue entgegenzusetzen versucht, sondern um eine Bilanz zwischen Altem und Neuem, um eine Bestimmung des Neuen nicht aus seinem „seienden Wesen", nicht aus der vergessenen Frage nach dem Sinn Europas, sondern aus dessen heutigem Zustand. Dieser Diskurs erscheint auch in bezug auf jene russischen Intellektuellen von Nutzen zu sein, die sich von Europa distanzieren und die die Eigenart der von ihnen verteidigten nationalen Kultur in einem Anti-Europa sehen. Denn nicht selten erscheint bei unseren Slawophilen Rußland nur als das umgekehrte Europa. Tatsächlich liegt darin die totale, vielleicht sogar „totalitäre" Bedeutung Europas: sogar wenn es der Kritik unterzogen wird, bleibt es noch der Maßstab der Bewertung. Das Verstehen des Anderen, als eines äußeren Feinds, als eines Fremden in allen Bedeutungen dieses Wortes, beschränkt das Verstehen des Eigenen. Es wirkt beschränkend im Sinne des Orts: „russisch" ist das, was hier ist, in Rußland, es wird bestimmt durch das Territorium, die Landschaft. Man kann sich vom Geographismus, Rassismus und auch Nationalismus freimachen und dabei doch die Bestimmung seiner Identität in einer Beschränkung suchen, z.B. darin, eine Trennungslinie zwischen russischer und europäischer Kultur finden zu wollen. An sich bringt die Absage an den Nationalismus noch nichts Bestimmtes im Hinblick auf die kulturelle Identität. Werden Kulturen in Analogie zu physikalischen Körpern mit ihren festen Grenzen, Umrissen, Örtern usw. definiert, so führt das zum Rückfall in politische und militärische Konfrontation. Umgekehrt könnte und sollte man den rationalen Kern der geographischen und sogar rassischen und nationalen Theorien bewahren, ohne dabei die Wiederholung ihrer zerstörerischen Folgen zu fürchten, allerdings unter der Bedingung, daß sich das mechanische Verständnis des Anderen als etwas Äußerem und Feindlichem verändert. Darin könnte das wichtigste Problem bestehen, von dessen Lösung überhaupt abhängt,
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ob man sich - ohne negative Folgen - mit der Selbstbestimmung und Selbstidentifikation beschäftigen sollte, denn nicht selten sahen sich ja Politiker als Folge solcher Beschäftigungen gezwungen, entschiedene und auch militärische Aktionen zur Bestätigung der Identität zu planen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand Europa sich eingezwängt zwischen Rußland und Amerika, und so stellte sich das dringliche Problem der Erhaltung seiner Selbständigkeit. Es mußte sein „Kap"* 1 (Kapital, Basis, Grundlage), wie es Jacques Derrida pointiert, gegenüber den Supermächten erhalten. Weder die eine noch die andere konnte von Europa assimiliert werden. Es konnte sie nicht in sich aufnehmen, wenn es sich nicht auflösen wollte, es konnte sie aber auch nicht ökonomisch, politisch oder auf eine andere Weise besiegen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Blocks der europäischen Staaten, die sich in ihrer Einflußsphäre befanden, stellte sich so die Frage nach einem neuen Europa; besonders deutlich wurde dies in Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer erlebt. Dabei wurden in verschiedenen Ländern fast gleichartige Ausdrücke zur Beschreibung dieses Prozesses verwendet: „Wiedergeburt" in Rußland, „Wiedervereinigung"* in Deutschland und „retrouvailles" in Frankreich. Sprach man früher bei der Beschreibung von Kulturen von Entwicklung und von Niedergang, so stellte sich nun, unter dem Einfluß der politischen Ereignisse und im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der früheren Grenzen, die Frage nach einer neuen Form der Identität und der kulturellen Einheit. Gleichzeitig aber begann der Prozeß der Perestroika und der Demokratisierung Rußlands, der die Wiederherstellung Europas in seinen früheren Grenzen begleitete, bei den Europäern selbst eine gewisse Unsicherheit und sogar Angst hervorzurufen. Der Fall der Mauer erwies sich als Bedrohung der europäischen Identität. Als die ideologischen Barrieren fielen und die Kriegsgefahr sich verringerte, stellte sich das Problem anderer Ordnungsbeziehungen. Für seine neue Selbstbestimmung braucht Europa eine andere Ordnung und zur Erhaltung der Balance vor allem ein selbständiges und starkes Rußland. Man kann Identität nicht in Beziehung allein auf sich selbst herstellen, und deshalb muß Europa - um so mehr, da es sein Selbstverständnis verändert, - auf neue Weise auch das Andere reproduzieren, auf dessen Hintergrund es sich seiner Einheit und Ganzheit bewußt wird und sich als ein Ganzes identifiziert. Auf diesen Umstand hatte schon Anfang des 20. Jahrhunderts der russische Historiker Danilevskij aufmerksam gemacht. Obwohl das Herangehen
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Mit * gekennzeichnete Worte sind im Original deutsch geschrieben.
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ganz undiplomatisch und sogar grob erscheinen könnte, mit dem er die „römische Wahrheit" (im Sinne des „frag, wem es nützt") der Beziehungen zwischen Rußland und Europa entlarvte, eine so schreckliche Wahrheit, daß selbst der Krieg nicht der schlechteste Ausweg zu sein schien, so behauptete er doch, daß Rußland und Europa einander nicht bekämpfen, besiegen und kolonialisieren könnten. Eins existiere nicht ohne das andere, und nur im Prozeß des Wechselspiels der Kräfte, der Konkurrenz und des Wettbewerbs erlangten beide „dynamische Energie". Und nur diese verhindere, daß die Staaten in eine leblose Stagnation verfallen, vor welcher sie die Anhäufung weder von Geld noch von Waffen bewahren würde.2 Nach Danilevskijs Auffassung ist das wirkliche Kapital eines Staates der „Vorrat an geschichtlichen Kräften", der allmählich durch den Ethnos akkumuliert wird und dann seine Früchte trägt, ähnlich wie Perikles vom „Geist Athens" sprach. Der wohl wichtigste Gedanke bei Danilevskij ist die Idee der Balance, mit deren Herbeiführung sich auch Derrida beschäftigt. Rußland und Europa sind Gegner, die beide ihre Interessen haben. Dennoch kann man nicht leugnen, daß sie einander die Existenz ermöglichen, indem sie eine gegenseitige Schwächung nicht zulassen. Sie sind zur Suche nach dem Gleichgewicht verurteilt, das kein statisches, sondern ein dynamisches sein muß. Rußland kann nicht Europa werden, erst recht nicht Europa Rußland. Dennoch können sie sich, wie Danilevskij schrieb, nicht voneinander durch eine „chinesische Mauer" abgrenzen. Nichts war ihm so fremd wie die Idee des „eisernen Vorhangs", nichts hielt er für so unmöglich wie den Versuch Rußlands, einen Teil Europas zu vereinnahmen oder umgekehrt. Danilevskij war ein eifriger Verfechter des Panslawismus mit Konstantinopel als Hauptstadt, aber in die Interessensphäre Rußlands bezog er noch nicht einmal Polen ein. Das die Intellektuellen im 20. Jahrhundert an den früheren Diskursen über Europa und Rußland wohl am meisten Irritierende dürfte die Akzeptanz von Gedanken sein, die vom Standpunkt der „Menschenrechte" als negativ und unzulässig gewertet werden müssen. Zugleich muß die Wiedergeburt der „Blumen des Bösen", wo immer sie sich im modernen Europa und im demokratischen Rußland zeigen, aufhorchen lassen. Man sollte sie nicht vorschnell abwerten. Denn werden von der moralisierenden „Prophylaxe" in den sozialen, juristischen und philosophischen Diskursen das Aufblühen des Bösen und die Aggressionen in der modernen Gesellschaft nicht allzu leicht verdeckt und sogar erst hervorgerufen?
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Vgl. N.J. Danilevskij, Rossija i Evropa, Moskva 1991, 435.
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Das Projekt Europas bei Jacques Derrida Derridas Essay Das andere Kap3 zeichnet sich dadurch aus, daß er eine Idee Europas entwickelt, die nicht als etwas Erstarrtes verstanden werden kann, etwa im Sinne einer von Griechenland und Rom ausgehenden Tradition. Nähme man z.B. Winckelmanns Darstellung der Antike zum Vorbild, so müßte die Gegenwart wohl als ein Niedergang dieser Tradition gewertet werden. Eine andere in methodologischer Hinsicht wichtige Idee besteht in der Suche nach neuen Orientierungen für Europa. Was soll man als das Wichtigste ansehen: Wissenschaft, Kunst, Geistigkeit, Kultur oder vielleicht das Empfinden des Geheimnisses und die Entgegennahme des Todes als einer Gabe, wie sie von denen bewahrt wird, die man nicht für Europäer hält? Derrida weist auf die jüdischen Wurzeln der europäischen Kultur hin und fordert dazu auf, sich nicht nur an Athen, sondern auch an Jerusalem zu orientieren. Das Eigentümliche der Position Derridas besteht darin, daß er die Frage nach anderen Orientierungsmaßstäben stellt, und das heißt zunächst: nach den Orientierungsmaßstäben der anderen. Er kritisiert das Axiom der „Rückkehr Europas zu sich selbst", das alte politische und ökonomische Ambitionen mit der Fassade der Suche nach einer „kulturellen Identität" maskiert. Er vertritt stattdessen die These, wonach eine Kultur gerade dann echt ist, wenn sie nicht mit sich selbst identisch ist, und leitet daraus die Folgerungen ab, daß man die Identität mit sich suchen müsse, indem man den Unterschied von sich selbst kultiviert. Man müsse den alten Namen „Europa" in Anführungszeichen setzen und aufhören, über Europa in Begriffen des Eurozentrismus oder auch AntiEurozentrismus zu sprechen. Wenn Europa im Zuge der jüngsten Erschütterung seiner Grundlagen, die durch den Zerfall der UdSSR hervorgerufen wurde, nach seiner Wiederherstellung strebt, so müsse diese Chance auf neue Weise genutzt werden. Das Projekt der Wiederherstellung setze das Gedächtnis und die Treue zur Tradition voraus und die Verantwortung gegenüber der Vergangenheit. Jedoch enthalte das Gedächtnis auch viel Schlechtes. Deshalb könne die Vergangenheit auch als etwas „Furchtbares" wahrgenommen werden und Abscheu hervorrufen. Das neue Projekt müsse daher etwas Unerwartetes, Unvorhergesehenes und sogar Gedächtnisloses sein; es dürfe nicht der Linie der Tradition blind folgen, sondern müsse einen neuen Kurs steuern. Die Wahrneh-
Vgl. J. Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Frz. von A.G. Düttmann, Frankfurt am Main 1992.
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mung Europas als einer Spitze, eines Vorsprungs, einer Avantgarde, eines Kurses, eines Kapitals („Kap"*) sei charakteristisch für den Verlauf seiner ganzen Geschichte. Worin aber besteht das Kapital Europas: in der Geistigkeit oder in der politischen und geographischen Geschlossenheit? Derrida schlägt vor, das zentrierende, auf einen „Kern" gerichtete Verständnis des Orientierungsmaßstabs aufzugeben, das gleichzeitig ja als „telos" der Kultur auftrat. Er sieht eine Verbindung zwischen dem Entwurf Husserls, der den Geist für die eigentliche Sache des europäischen Westens hielt, und dem bekannten Artikel Fukuyamas über das „Ende der Geschichte", in welchem diese Sache für vollendet erklärt wird. Das neue Europa solle man nicht als etwas Gegebenes denken. Es befinde sich weiter auf der Suche nach sich selbst, und darum solle man den Diskurs über Europa nicht als Narration, sondern als Versprechen auffassen. Das Verständnis Europas als „Kap"* führt auf die Frage nach dem Zentrum, nach der Hauptstadt. Der alte Kampf um die Hegemonie findet heute in Form der Zirkulation des Finanz- und des symbolischen Kapitals (der Massenmedien) statt und zerstört frühere nationale Grenzen. So kommt es zu der Empfindung, Europa als Ort verschwinde, und die Versuche des offiziellen Paris erscheinen naiv, Frankreich zum Bewahrer des Prototyps der Kultur und der Demokratie zu erklären. Man könne an den offiziellen Beschreibungen der stattfindenden Ereignisse zweifeln, die in Termini wie „Perestroika", „Demokratisierung", „Liberalisierung", „freie Marktwirtschaft" usw. gegeben werden, und kann sie für Gespenster einer vergangenen Ideologie halten, die unbehelligt in den neuen Diskursen weiterlebt. So sind der „Ort" Europas heute nicht die untereinander konkurrierenden Hauptstädte, sondern die großen Medienkonzerne und Verlage, die die neuen Standards der Kultur bestimmen, ausgehend von den Interessen ihrer Leserschaft. Auf dieser Grundlage bilden sich neue Formen der Zensur, die die Verbreitung des komplizierten und schwer verständlichen kritisch-philosophischen Diskurses in den Massenpublikationen verhindern. Das Problem der Sprache, für deren Reinheit die Intellektuellen kämpfen, wird so nun ganz anders gelöst: Durch die Massenmedien wird die Sprache immer universaler und homogener, und das führt zur Unterdrückung lokaler Idiome, auch des intellektuellen. Unter Verwendung der dekonstruktiven Technik spürt Derrida sorgfältig den Resten eines kämpferischen, chauvinistischen, kolonialistischen eurozentristischen Diskurses in den modernen Entwürfen der Metaphysiker und der Politiker nach. Das beeindruckendste und durchdachteste dieser Projekte dürfte wohl das von Habermas sein. Es wurde schon lange vor dem Vereinigungsprozeß Europas formuliert, stellt aber auch
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eine Antwort auf das Problem der Einheit der heutigen europäischen Gesellschaft dar. Als Schlüsselbegriffe liegen diesem Projekt die klassischen Begriffe der Demokratie, der Vernunft und der Sittlichkeit zugrunde. Das klassische Projekt erwies sich aber als unvollendet, untergraben durch ökonomische und politische Institutionen, die immer stärker autonom wurden und mit Hilfe von Wissenschaft, Technik und Ideologie die Gesellschaft nach ihren eigenen Interessen zu leiten suchten. Im heutigen Europa, dessen Kern eine im weiten Sinne als politische und soziale Unabhängigkeit und geistige Freiheit verstandene Demokratie ist, sieht Derrida einen heftigen Kampf um neue Einflußsphären: Kommunikations- und Telefonnetze, Fernseh- und Videoproduktion, Internet, Massenmedien aller Art: Zeitungen und Zeitschriften, Reklame, Belletristik, wissenschaftliche Schulen usw. Dadurch wird deutlich, daß heute Universitäten und Verlage, Besitzer von Zeitungen und Fernsehkanälen, die Produzenten von Videos, Reklameagenturen, Monopolisten bei der Erstellung von Computerprogrammen, Unternehmen, die über das Kapillarnetz verfügen, durch welches die Information und das geistige Erbe verbreitet wird, sich als der wichtigste Teil der Gesellschaft herausstellen, der die Verantwortung für ihre Selbsterhaltung trägt. Jedoch sowohl diese Netze selbst als auch ihre Besitzer und Benutzer schaffen eine widersprüchliche Situation. Einerseits fördern sie die Überwindung des Totalitarismus, dem die Kontrolle über die Information durch die Beschränkung des Zugangs zu ihr eigen ist. Andererseits bringen sie neue, häufig nichtstaatliche Formen der Kontrolle über die öffentliche Meinung und das geistige Erbe hervor. Diese Aporie, dieser Widerspruch müsse gelöst werden durch die Öffnung zum Unmöglichen. Europa müsse und könne anders möglich werden, wenn es sich erhalten wolle. Der Aufruf zur Anerkennung des Anderen ist bei Derrida keine moralisch-metaphysische These, die auf die Anerkennung eines beliebigen Anderen, Fremden gerichtet ist. Das ergibt sich aus der Aporetik des Universalismus, die die Dekonstruktion aufzeigt. Es gibt ein Anderes, das Angst und Unsicherheit hervorruft. Auch wenn man berücksichtigt, daß der Andere von Derrida unter dem Gesichtspunkt der unerwarteten Gabe gesehen wird, die, wie das „Pharmakon", die Gefahr der Vergiftung enthalten kann. Das heißt man sollte durchaus vorsichtig sein gegenüber dem Anderen. Gefährliche Weisen der Annäherung und Trennung sind religiöse, rassische, ethnische oder ideologische Fanatismen, deren Folge der Krieg ist. In der Geschichte Europas hat dies alles stattgefunden, und wegen seiner vielleicht sogar „intensiven Anstrengungen" zur Einheit auf der Grundlage des Glaubens, des Ethnos, des Territoriums (des Bluts und des Bodens), durch die es zugleich zu einem Ganzen wurde. Diese Formen
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der Annäherung stellt Derrida jenen gegenüber, die auf Philosophie, Vernunft und Moral gegründet sind. Sie werden allenthalben als wirkliche Grundlagen der Annäherung gewertet, als die einzigen Prinzipien und Forderungen, deren Erfüllung den anderen die Aufnahme in die Familie der europäischen Völker garantiert. Aber stellt dieses modernistische Projekt der Einheit nicht bloß eine Fortsetzung des Eurozentrismus mit anderen Mitteln dar, eine Übertragung des Kolonialismus auf die kulturelle Ebene? Gerade wegen seiner Unzulänglichkeiten wird ein neues Projekt Europas vorgeschlagen, das auf der Anerkennung des Anderen gegründet ist. Derrida versucht das Projekt Europas unter den neuen Bedingungen zu durchdenken, die sich Anfang der 90er Jahre ergeben hatten. Einerseits war das eine für Diskussionen günstige Zeit, denn Europa war in Bewegung gekommen und es ergab sich die Notwendigkeit, die Idee seiner Einheit erneut zu durchdenken. Andererseits ist ein solcher aktualisierender und Engagement fordernder politischer Kontext für eine philosophische Untersuchung nicht besonders günstig. In ihm erscheint die Gefahr groß, in Euphorie zu verfallen und politischen Interessen dienen zu wollen. Aber gerade diese bedürfen selbst einer unabhängigen Überprüfung und Bewertung. Und so wird die dekonstruktivistische Strategie aktuell. Sie ist auf die Analyse der vorliegenden philosophischen Entwürfe gerichtet, auf das Studium der Ursachen und Folgen der Krise, die in der Periode zwischen den Weltkriegen fühlbar wurde. 1939 kämpften Projekte, die auf „Blut und Boden" gegründet waren und dies mit Politik und Krieg verbanden, mit metaphysischen kosmopolitischen Projekten, die eine Einheit auf der Grundlage der geistigen Kultur anstrebten. Husserl sah die Ursache der Krise in der äußeren Determination des Bewußtseins, in der Kompromißbereitschaft der Philosophen, die in die Falle des Objektivismus gegangen waren, der den eigenständigen Charakter der Geisteswissenschaften leugnete und zeitgemäß ihren Inhalt den bestehenden sozial-ökonomischen Systemen unterordnete. Husserl rief zur Befreiung des Geistes auf, der aus einem Diener zum Herrn über die Welt werden und auf diese Weise die Menschen auf einer neuen Grundlage vereinigen sollte. Die Vereinigung der Menschheit auf der Grundlage der Idee Europas wurde als Akt der Anerkennung der transzendentalen Phänomenologie als einer universalen Einstellung gedacht. Derrida ist sehr sensibel gegenüber dem Universalismus, in dem er die Mängel des Eurozentrismus sieht, und betrachtet auch das metaphysische Projekt Husserls als repressiv. Der Mangel liege jedoch nicht in der Metaphysik selbst, sondern darin, daß sie bruchlos in den politischen und praktischen Diskurs übergegangen sei. Sie habe sich überall hin ausgebreitet und
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vervielfältigt, ohne die besonderen Bedingungen dafür hinreichend zu bedenken. Unter den zahlreichen Arbeiten aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, die die Frage nach dem Schicksal Europas stellen, wählt Derrida P. Valerys Essays zur Krise des europäischen Geistes aus. Nach Valery ist der Geburtsort der europäischen Kultur der Mittelmeerraum - diese „Zivilisationsmaschine", wo verschiedene Ethnien Waren, Ideen, Wissen und andere Errungenschaften austauschten. Europa wurde von Valery definiert als Vereinigung der Banken, Märkte, Unternehmen, Universitäten, als ein Kapital, das erhalten und vermehrt wird, das zirkuliert und Gewinn bringt. Die Krise Europas wird ihm bewußt als die Gefahr, die die universalste Form des Kapitals bedroht - den Geist. Der Geist als „ideelles Kapital" hebt den Marx'schen Widerspruch zwischen allgemeiner Produktion und privater Aneignung auf (denn es nimmt nicht ab, sondern vergrößert sich mit seinem „Gebrauch"), es hat jedoch andere „Gebrechen". Nach Valery besteht die Krise des ideellen und Ideenkapitals darin, daß die Menschen verschwinden, die fähig wären zu hören, zu lesen und zu verstehen. Das Kapital ist das, was im Ergebnis der Wiederholung existiert und sich vermehrt, wenn jedes verantwortliche Individuum auf seine Weise die allgemeinen Werte realisiert und verteidigt. So löst sich das Paradox des Privaten und Universalen. Jedes Individuum und eine Nation im Ganzen können beanspruchen, Träger des allgemeinen Kapitals zu sein und so ihre Abgeschlossenheit zu überwinden. Derrida schreibt in diese These von Valery seinen eigenen Gedanken ein: dank des Strebens zum Universalen entsteht ein Unbefriedigtsein mit sich selbst, das dazu nötigt, das Andere anzuerkennen. Man beginnt sein „Kap"* vom „anderen Ufer" aus zu sehen. Das andere Ufer Europas, so Derrida, ist Jerusalem. Tatsächlich ist es ja auch der Wucher-Jude Shylock, der zum Symbol des Markts wurde, der das Christentum bedrohte, in die Seele des europäischen Menschen eindrang, sie durch den Durst nach Gewinn entzündete, das Kapital Europas vergrößerte und dafür in Shakespeares Stück von einem Christen beschämt wird. Derrida versucht die Bedeutung der jüdischen Religion auf eine andere Weise zu bedenken, die auf dem „Opfer", dem „Geheimnis" und der „Gabe" basiert. Europa habe das Alte Testament vergessen. Die Hellenisierung des Christentums, die Wiederherstellung der Priorität der Vernunft gegenüber dem Glauben (die am deutlichsten in den Versuchen zum Ausdruck kommt, das Dasein Gottes zu beweisen) und schließlich die rationale Kritik der Religion führten zum Verfall der geistigen Formen der Einheit, die auf dem Mitleiden gegründet sind. Darauf hatte schon der russische jüdische Philosoph L. Schestov hingewiesen, der der
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hellenischen Weisheit den christlichen Glauben entgegenstellte, dessen Kern das Wunder und das Geheimnis ausmachten. Dostojevskij jedoch sah die Ursache von Europas Niedergang umgekehrt darin, daß die katholische Kirche zu ihrem Aufbau das Wunder, das Geheimnis und die Autorität genutzt hatte, d.h. die drei Versuchungen des Teufels, die von Christus zurückgewiesen worden waren. Dieses Thema wird erneut in dem bekannten Essay von J. Patocka behandelt, auf den sich Derrida stützt. Heute lassen sich ethische, moralische und juristische Akte nicht mehr durch eine formale Pflicht beschränken. Sie sind zu Recht auf Schöpfertum und produktive Erfindung ausgerichtet. Sie wollen keine konservativen Formen mehr sein, aber auch keine spontanen Handlungen wie die Raskolnikows in Dostojevskijs Schuld und Sühne, die sich zwar als schöpferisch-produktiv, jedoch nicht als moralisch und schon gar nicht als gesetzlich erweisen. Ließe man gleichwohl die Möglichkeit einer der Form nach „moralischen" oder „juristischen" Veränderung zu, so müßte sie sich zunächst dennoch als äußerst paradox erweisen. Das gilt auch für die europäische Identität überhaupt. Sie ändert sich, und dennoch sind wir auf ihre klassische Form verpflichtet. Das Paradox besteht darin, daß wir diese Form nur erhalten können, wenn wir sie unter den gegebenen Bedingungen aktualisieren, daß ihr Allgemeines aber zu einem Singulären wird, wenn es gegegebenen Bedingungen angepaßt wird. Deshalb kann die europäische kulturelle Identität, wie auch die Höflichkeit und die Gerechtigkeit (Begriffe, denen Derrida viel Aufmerksamkeit widmet), nicht einfach als eine formale bestimmt und verstanden werden. Das führt zu einer unendlichen Aufgabe, für die es keine allgemeine und letzte Lösung gibt, sondern die jede Zeit auf ihre Weise lösen muß - durch Öffnung gegenüber dem jeweils Anderen. Die Frage nach der Identität setzt die Fähigkeit voraus, das Andere zu sehen und zu hören und zwar nicht nur von außen, sondern auch in sich. Bei der Untersuchung der Identifikationsweisen findet man ein und dasselbe Verfahren, das sich bei Wissenschaftlern wie bei Laien wiederholt, unabhängig von ihrer rassischen, nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit. Es besteht in der Identifizierung des Eigenen auf dem Hintergrund oder an der Grenze des Fremden. Das Fremde wird ontologisch dargestellt als etwas Äußeres und Feindliches, von dem Gefahr ausgeht, weshalb man sich gegen es vereinigen müsse, sich als „wir" konsolidieren und darüber die inneren Probleme vernachlässigen müsse. Aber tatsächlich existiert ein Fremdes nicht schon, es wird als solches zumeist erst geschaffen im Zuge der Identifikation des Eigenen. Wir schaffen das Bild des Anderen, um uns selbst zu bestimmen. Diese alte, in die Tiefe der
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Jahrhunderte zurückgehende Weise der Festigung der nationalen oder ändern, z.B. kulturellen, Identität bedarf einer besonderen Untersuchung. Europa, das sich von Anfang an vor allem als Träger der Kultur, der Zivilisation, des Christentums begriff, war genötigt, sich zu verteidigen und anzugreifen, zu erobern und zu kolonialisieren. Für Europa war der Andere der Barbar oder der Nichtchrist. Aber die Europäer trafen nicht nur auf Andere, die sie assimilieren konnten, sondern auch auf solche, die sich weder dem ökonomischen Tausch noch der kulturellen Aneignung ergaben. Deshalb konnte der Eroberer zusammen mit dem Missionar zum Symbol Europas werden. Unter dieser Selbstbestimmung hat Europa auch selbst gelitten. Vielleicht waren die Weltkriege der Preis, jener hohe Preis, den es für die Selbstbestimmung auf der Grundlage der Berufung zur Hegemonie, zur Macht und zur Führung bezahlte. Eine Wiederholung dessen sollte man zu vermeiden suchen. Besonders Europa, das sich nach dem Krieg von zwei Supermächten aufgeteilt fand und das heute mühsam seine Selbständigkeit zwischen ihnen erlangen will, sollte, wenn es die Idee Europas realisieren will, neue Wege dazu versuchen. Europa und Rußland Das Wort „Rußland" stammt vom griechischen „ros" ab, das, wie P. Miljukov bemerkt, eine falsche Übersetzung des althebräischen Worts „Kopf" im Alten Testament war. Auf diese Weise kam die Selbstbezeichnung der Russen, wie auch die der Europäer, durch eine Konstituierung von „Vorrang", „Kapitalität" und „Führung" zustande. „Russe" wie auch „Europäer" bezeichnet keine Nationalität. Unter den verschiedenen Vorstellungen der Slawophilen über die Eigenart Rußlands ist eine der interessanten seine Beschreibung als „Rhizom". Die Verwendung dieses modernen biologischen Terminus ist keineswegs abwegig. Tatsächlich geht es dabei um Kräfte, die allmählich in der Tiefe heranwachsen und plötzlich zur Oberfläche durchbrechen. Würde man auf die Oberfläche Rußlands europäische Schminke auftragen, so bliebe die Tiefe doch eigenständig, und wenn sie an die Oberfläche durchbräche, so würde sie die Maske abfallen lassen. Das Bild des vergangenen Europas, das Derrida zeichnet, stimmt im allgemeinen mit dem überein, das die Slawophilen und Danilevskij vorstellten. Sie hatten schon lange die Orientierung Europas auf solche Ideen bemerkt, die die Köpfe erobern und zu Stützpunkten (Kaps) in Theorie und Praxis werden sollten. Der kühne, entschiedene, unternehmende, den Kurs haltende „Kapitän" ist das Vorbild des Europäers. In allen Sphären
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der Kultur stellten solche Leute sich der Konkurrenz und waren erfolgreich. Auch die Bewertung dieser Einstellung stimmt bei den Slawophilen und Derrida überein. Sie schauen auf den Sieger - den zum Herrschen und zur Freiheit geborenen, etwas riskierenden und dabei gewinnenden, seine Kräfte konzentrierenden und unermüdlich tätig seienden Europäer - mit den Augen des Anderen, dessen, der an sich die Einwirkung des „Kaps"* erfährt. Vom Standpunkt des Anderen aus erweist sich die Geschichte Europas als Geschichte der Eroberungen und der Repression, der Unduldsamkeit und der Feindseligkeit, der Gewalt und der Kolonisation. Derrida, als Europäer, spricht von der Verantwortung für diese „schreckliche" Vergangenheit und sucht einen Weg, der Tradition treu zu bleiben. Er sieht als ein Denker, der nicht wenige Anstrengungen dem Kampf gegen den Totalitarismus und seiner Entlarvung gewidmet hat, in der Gegenwart neue Formen der Verwirklichung des „Kaps"* in Gestalt des symbolischen Kapitals und versucht die Grenzen dieser Entwicklung Europas aufzuzeigen, in der sich die aktive Grundeinstellung nicht verändert hat, sondern nur auf andere Sphären übertragen wird. Nach diesem Schema beschrieb auch Danilevskij die Geschichte Europas und zeigte, ausgehend vom Postulat der Gewalt (das nicht einfach eine spekulative Annahme darstellt, sondern für Rußland ein gewisses „historisches Apriori" ist), daß diese Aggressivität an den Hauptpunkten der europäischen Geschichte zum Vorschein kommt. Sie durchdringt die Geschichte der katholischen Religion, der Politik und der Kriege, der Kolonisation und der Revolution, der Produktion und des Handels. Jedoch bemerkte Danilevskij jene Veränderungen nicht, die dabei stattfinden. Umgekehrt zeigt Derrida, der die Frage nach der Verantwortlichkeit für eine der wichtigsten hält, die Veränderungen, die die Entfaltung aller dieser „Kampagnen" begleiteten. Als Reaktion auf den kriegerischen Geist der katholischen Kirche, die zur Staatsreligion geworden war, entstand der Protestantismus; die internationalen Kriege führten zur Festigung grundlegender Rechte und Freiheiten; die Kolonisation rief eine Reaktion in Form des Kampfes gegen die Sklaverei hervor usw. Außerdem könnte man die Aufmerksamkeit auf den Preis richten, den Europa für seine „erobernde" Einstellung bezahlte. Um sich zu erhalten, muß Europa führen. Kein europäischer Denker, der über die europäische Identität schreibt, sieht einen anderen Weg als das Finden neuer, noch nicht angeeigneter Einflußsphären. Heute wird der Kampf auf die kulturelle Ebene übertragen. Europa möchte führen mittels Wissenschaft und Philosophie, durch Sinnbildung. Aber nicht nur das Intelligibele (das „Kapitale", Hauptsächliche) und Diskursive, sondern auch das Figurative (Visuelle) und Körperliche (die Wünsche) haben
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für die europäische Kultur Priorität. Die Sinnstiftungen der europäischen Kultur auf die Waren „aufkleben", die durch die europäische Industrie produzierten werden, und diese in alle Länder der Welt exportieren - das bedeutet den ewigen Kampf mit dem Anderen gewinnen, d.h. sich ihn als das Eigene aneignen. Es entstehen neue Orientierungsmaßstäbe, neue Bereiche des Kampfes. Heute ist es der Kampf um die Produktion und die Kontrolle über die Zirkulationsnetze des symbolischen Kapitals, d.h. der Massenmedien. Aber werden nicht die Europäer selbst zu anderen im Zuge der Verwirklichung ihrer Pläne der Aneignung des Anderen, werden sie nicht von ihm infiziert? Das russische Rhizom ist dem europäischen nicht ähnlich. Erstens kann es nicht wie die „Lebenswelt" bei Husserl als eine vorprädikative Sinnerfahrung gewertet werden. Diese ist in die europäische Tiefe eingedrungen, in ihre Körperlichkeit und Alltäglichkeit als eine Teleologie, durch die das Leben selbst den Menschen im Rahmen der europäischen Kultur zu so etwas wie einen Philosophen und Theoretiker macht, sie führt ihn zur Metaphysik. In Rußland ist der „erste Autor" - das Volk - keineswegs irgendeine vorläufige Form des Geistes, die noch nicht das Stadium des Begriffs erreicht hat, sondern die vom ihm bedroht wird. Wie auch immer das russische alltägliche Leben evolutionieren wird, es wird nie etwas der europäischen Metaphysik Ähnliches hervorbringen. Europa infiziert den Geist Rußlands, und seine „weißen Blutkörperchen" wollen den „Stachel des Fremden" neutralisieren. Aber ist nicht heute das russische Rhizom, das von Kireevskij (das Volk als „Gottesträger") bis Bachtin (das Volk als „erster Autor") beschrieben wurde, ein Mythos? Wie es auch darum stehen sollte, wir können es nicht abwerfen. Es lebt, und nicht nur im Gedächtnis der Intellektuellen, denn es ist weder ein Wesen, noch ein Sinn, noch ein theoretischer Begriff, der am Schreibtisch ausgearbeitet wurde. Das Volk mit seinen spezifischen Einstellungen, Erlebnissen, Wertungen, mit seiner Arbeit und seinem alltäglichen Leben ist eine Art von objektiver Realität, von der man natürlich auch absehen kann, die aber unabhängig davon, wie der Intellektuelle sich zu ihr verhält, ihn vor allem darin determiniert, bestimmt und beschränkt, was er in seiner Muttersprache denkt und schreibt, in der die eigenartige Erfahrung der Wahrnehmung und Aneignung der Welt, als einer Lebensweise, eingeprägt ist. Wahrscheinlich deshalb, weil das Selbstverständnis der Intelligenz auf der Idee der Dienstbarkeit gründet, traut sie sich selbst wenig zu und hält Diskussionen und Konsens in ihrem Milieu für nicht wesentlich. Und obwohl es seltsam erscheinen mag, traut sie gerade der Vernunft wenig zu. Als Beispiel kann man die Positionen von E. Husserl und A. Blök vergleichen, die radikal verschieden auf gleiche Ereignisse reagierten. Der
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europäische Denker sah die Ursache der Krise Europas darin, daß die Vernunft sich auf ihren eigenen Wegen verirrt hatte und zum Spielzeug in den Händen der Techniker und Politiker geworden war. Die Verantwortung der Intellektuellen sah er in der Wiederbelebung des Begriffs der „Theorie", wie er in der griechischen Philosophie verstanden wurde und zur Praxis und sogar zur Moral in Distanz gehalten wurde, um das Leben vom Standpunkt der reinen Wahrheit beurteilen zu können. Er empörte sich darüber, daß ungebildete Leute unter Verweis auf ihr „Gefühl" sich erkühnten, darüber Entscheidungen zu treffen, wer mit welchem Recht was in der Universität sagen dürfe. Der russische Poet dagegen schrieb in dem Artikel Die Intelligenz und die Revolution über die Verantwortung vor dem Volk. Obwohl er verwirrende Gefühle gegenüber dem Hochmut betrunkener Matrosen empfand (einer von diesen war in seiner Wohnung einquartiert) und der Bibliothek nachtrauerte, die von Bauern verbrannt worden war, nahm er ihr Urteil an, denn er hielt die Wahrheit nicht für ein Produkt der Spekulation, sondern des Bodens, der Tradition und des Lebens. Offensichtlich konnte das schreckliche „Shdanovtum" auf seine Weise die Idee der Verantwortung der Intelligenz vor dem Volk ausnutzen. Folgt man Heideggers „Hermeneutik der Faktizität", so müßte die Erfahrung des Alltagslebens und die natürliche Sprache für russische Philosophen zu jener Grundlage werden, die das Fundament jeder Metaphysik bildet. Dennoch übernehmen Russen die Grundbegriffe ihrer Metaphysik aus den Werken der westlichen Metaphysiker, mit der Rechtfertigung, daß wissenschaftliche und philosophische Theorien keinen national beschränkten Charakter haben. Wenn Wissenschaft und Metaphysik Grundlage und Wesen der europäischen Kultur ausmachen, bedeutet das dann, daß jeder Versuch des Theoretisierens - und solche Versuche sind ja unumgänglich - einen „Kniefall vor dem Westen" darstellen, wie man zu Zeiten Stalins meinte? Wenn wir ein Bildungssystem einführen, in dem Wissenschaft, Kunst, Philosophie gelehrt werden, führt das dann nicht - selbst wenn wir versuchten, so etwas wie eine „Volksbiologie" oder einen „sozialistischen Realismus" zu schaffen - zu einer Verwestlichung? Eine solche Fragestellung könnte dazu führen, zu äußersten Maßnahmen zu greifen. Doch tatsächlich können sie längst nicht mehr veranlaßt werden, denn der Verzicht auf Bildung würde inzwischen eine völlige Degradierung des Lebens bedeuten. Deshalb ist die Realisierung der eigenen Eigenart, wenn denn eine solche Aufgabe überhaupt gestellt würde, nur im Rahmen der grundlegenden Einstellungen und Errungenschaften der europäischen Zivilisation möglich. Und deshalb erweist sich im Zuge des historischen Prozesses die These der Slawophilen
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und Danilevskijs über die Existenz eines russischen oder slawischen kultur-historischen Typus als ein Mythologem. Es bleibt nur ein Ausweg, nämlich die Initiative zu ergreifen und selbst als bevollmächtigter Vertreter und produktiver Schöpfer in der europäischen Kultur zu wirken. Deshalb haben Russen ein so großes Interesse an der Frage nach Europa. Sie ist tatsächlich eine weltumspannende Frage. Niemand kann heute Europa vergessen oder die Augen von ihm abwenden, der es einmal gesehen und die Vorzüge seiner Zivilisation in Anspruch genommen hat. Zum natürlichen, primitiven Leben kann nur der schon verfeinerte Europäer streben, der dabei aber, wie Robinson, schon mit dem notwendigen Wissen und Können ausgestattet ist, und, was das Wichtigste ist, mit den Einstellungen der Zivilisation. Wenn Europa seinerseits an der Existenz des Anderen interessiert ist und sogar dessen raison d' etre berücksichtigt, so doch nur als Weg zu dessen Aneignung. Die Anderen dagegen müssen bei der Frage nach Europa nicht nur dessen Erbe sich aneignen, sondern ihm zugleich auch einen neuen Weg bahnen. Das europäische Kulturkapital unterscheidet sich vom Finanzkapital dadurch, daß es, obwohl es Europa gehört, von jedem anderen in beliebigem Umfang genutzt werden kann. Darin liegt eine Gefahr. Die Gabe Europas kann immer auch zum Schaden verwendet werden, sowohl des Gebenden wie des Empfangenden. Der Nehmende kann sich selbst verlieren, zum Sklaven und Tagelöhner auf dem europäischen Arbeitsmarkt werden. Für Rußland ist der Eintritt nach Europa noch mit der wenig angenehmen Perspektive verbunden, Rohstofflieferant und Verbraucher minderqualitativer Produkte zu sein und selbst, wie ein Land der Dritten Welt, nur Imitate der Waren europäischer Firmen herzustellen. Imitate stellen eine besondere Form der Gabe dar, die ihre Vorzüge und Mängel hat und die ein besonderes Thema wäre: Zuerst waren es japanische, dann koreanische und jetzt sind es chinesische Imitate, die auf den westlichen Markt drängen; was aber vielleicht am erstaunlichsten ist, ist der Umstand, daß einige dieser Imitate sich als so gekonnt erwiesen, daß sie zu Gesetzgebern von Qualität wurden. Vielleicht ist das ein Beispiel für die Realisierung von „Eigenart": Wird Europa heute in Hongkong geschaffen? Das andere Rußland Viele patriotisch eingestellte Intellektuelle wollen die Schwächen jener fundamentalistischen Position nicht wahrhaben, die uns in unserem schwierigen „Heute" tröstet. Aber das ist für eine objektive Analyse nicht
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zulässig. Auch wenn der Objektivismus vielleicht selbst keine unangreifbare Position darstellt, so ist doch offensichtlich, daß die Unzulänglichkeiten der nationalen Idee nicht wahrnehmen zu wollen bedeutet, auch ihre wirklich starken Seiten nicht zu sehen. Und so muß man noch einmal auf das Problem der Verantwortung zurückkommen, das genauso wenig offensichtlich ist wie das der Objektivität. Was heißt „verantworten": vor wem und wofür? Ist Verantwortung eine Pflicht, eine Verpflichtung, ist sie verbunden mit einem Versprechen? An wen? Sind wir verantwortlich gegenüber Ideen, die angeblich zeitlos und absolut sind, oder gegenüber dem heutigen Tag mit seinen drängenden Problemen? Es ist klar, daß die Erinnerung des Vergangenen, die Verpflichtung des Gegenwärtigen und die Pflicht gegenüber dem Zukünftigen die Sorge des Menschen ausmachen. Solche „existenzialen" Überlegungen sind wichtig für die theoretische Analyse; sie sind Voraussetzungen ihrer „Objektivität", die sich nicht in der Beschreibung dessen erschöpft, „wie es wirklich war". Um sich mit der fundamentalistischen Position auseinanderzusetzen, ist es nützlich, auch die Meinungen jener zu hören, die einen anderen Standpunkt beziehen. Zu den vernünftigsten in dieser Hinsicht gehören die Äußerungen von Miljukov, der versuchte, „objektivistische" und „subjektivistische" Herangehensweise zu verbinden und den „ökonomischen Monismus" mit der Annahme der Selbständigkeit der Kultur zu vereinbaren. Vor allem machte er auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die mit der Hypothese von der Priorität des nationalen Charakters verbunden sind. Rußland ist ein multiethnisches, aus vielen Nationalitäten bestehendes Land; Russen können sich leicht auf eine andere Nation einstellen. Miljukov schrieb: „Erinnern wir daran, daß solche Beobachter und Beurteiler wie Belinskij und Dostojevskij schließlich als grundlegendsten Zug des russischen Nationalcharakters die Fähigkeit anerkannten, alle Züge eines beliebigen nationalen Typs zu erwerben."4 Rousseau hatte seinerzeit gemeint, Peter hätte Rußland besser russisch gelassen. Das ist die Hauptfrage. Denn ebenso wie das europäische ist auch das russische Kapital wichtig für die Welt. Sogar wenn man die übliche Vorstellung der Slawophilen über den Unterschied zwischen Europa und Rußland mittels der Gegenüberstellung von Geistigem und Materiellem nähme, würde man doch leicht bemerken, daß sich die Kapitale ergänzen. Jedoch das Problem liegt tiefer. Rußland kann sehr wohl die materiellen, technischen und ökonomischen Errungenschaften effektiv nutzen, aber die Versuche, europäische Modelle auf die Organisa-
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P.N. Miljukov, Ocerki po istorii russkoj kul'tury, Bd.2, T.I, Moskva 1994, 14.
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tion des russischen gesellschaftlichen Lebens anzuwenden, führen unweigerlich zu Fehlschlägen. Die materielle Kultur erfordert auch einen spezifischen Geist. Wenn die Europäer nun zu verstehen lernen, welchen Preis sie für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bezahlt haben, so haben Russen vorerst nur eine schwache Vorstellung von diesen Verlusten. Es erscheint paradox, doch es ist eben der Westen, der die Rehabilitierung und Rekultivierung jener traditionellen geistigen Werte in Angriff genommen hat, von denen unsere neuen Intellektuellen so viel sprechen. Heute verdecken solche Gespräche nur die gröbsten Formen der Ungerechtigkeit, und deshalb müssen sie dekonstruiert werden. Es ist klar, daß die Verwirklichung der Programme sowohl des Isolationismus wie der Öffnung zu negativen Folgen sowohl für Rußland wie auch für Europa führen. Natürlich darf man nicht die Unzulänglichkeiten des Isolationismus zu Vorzügen machen. Dennoch hat der Isolationismus nicht nur die Selbsterhaltung Rußlands gefördert, die sogar in Gestalt der UdSSR ein geordnetes Leben auf einem sehr großen Territorium sichern konnte, er garantierte auch den komplizierten Prozeß der Wechselwirkung zwischen dem Osten und Westen Rußlands. Und entsprechend verkehrte sich die Verwestlichung Rußlands, die auf einen Eintritt nach Europa gerichtet ist, in eine Steigerung seiner Immunität. So treffen sich die Extreme des Isolationismus und der Öffnung. Deshalb treten viele Forscher für ein „eurasisches" Verständnis der Eigenart Rußlands ein: „Nötig ist eine allgemeine Ideologie der Entwicklung, die die Westler durch die Übernahme der westlichen Erfahrung und eine aktive Modernisierung befriedigen würde und die Isolationisten (die man schon nicht mehr Slawophilen nennen kann) durch die Erhaltung und Vermehrung der nationalen Traditionen und des nationalen Gewichts."5 Jetzt, nachdem sich die Grenzen der „freien Marktwirtschaft" zeigen und wir vor der Notwendigkeit stehen, die Rolle des Staats zu stärken, bestätigt sich die alte Weisheit über die Rückkehr der Geschichte. Versuche, Rußland zu reformieren, wurden ständig unternommen, und seit dem 17. Jahrhundert werden sie bestimmt durch die Auseinandersetzung mit dem Westen. Man könnte sogar einige Axiome formulieren, deren erstes das Paradox der Strategie von Reformierung und Gegenreformierung wäre. Schon Peter I. hatte verstanden, daß sich Rußland nicht entwickeln kann, wenn es sich in seiner Eigenart abschließt. Aber indem es auf die Herausforderung des Anderen antwortet, darf es sich diesem
V.N. Kozlovskij, A.I. Utkin, V.G. Fedotova, Modernizacija: ot ravenstva k svobode, St. Petersburg 1995, 171.
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nicht ähnlich machen; um sich zu erhalten, muß es sich wohl von sich lösen, zugleich aber das Andere, das es aufnimmt, in sein Eigenes verwandeln. Das zweite Axiom betrifft das ebenso paradoxe Spiel von individueller Freiheit und staatlicher Macht. Beide extremen Ansichten - daß Rußland ein Land von Sklaven wäre oder aber die Russen das freiheitsliebendste Volk in der Welt wären - treffen natürlich nicht zu. Eher könnte Berdajev mit der paradoxen Behauptung Recht haben, daß die Russen, weil sie die Macht nicht lieben, den mächtigsten Staat in der Welt geschaffen haben. Und das ist nicht ein Staat von Nomaden, der nur einfach ein Territorium ist, auf dem man Abgaben einsammelt. Obwohl man in unserem Land heute fast eben solche Steuern erhebt wie zu Zeiten der Goldenen Horde, so ist dennoch der russische Staat nicht nur eine Gesamtheit nach europäischem Vorbild errichteter, aber schlecht funktionierender Institutionen, sondern auch und vor allem eine Form der sittlichen Solidarität der Menschen. Dieses Paradox hat auch auf der Ebene des Rechts und der Ökonomie Bestand. Zu den Gesetzen hatten die Russen schon immer ein schwieriges Verhältnis, und Herzen bemerkte, daß die Russen sie immer dort und dann verletzen, wo sie es ungestraft tun können. Nichtachtung der Gesetze, Diebstahl und Versäumen der Arbeit werden fast für dem russischen Menschen angeborene Züge gehalten, obwohl es natürlich sozial-historische Faktoren gibt, die für die Produktion und Reproduktion solcher Züge der russischen Mentalität verantwortlich sind. Sie müssen jeweils konkret bewertet werden, d.h. nicht nur von oben, vom Standpunkt absoluter moralischer Normen, etwa der Art: „Du sollst nicht stehlen" (mit dieser Formel sind alle einverstanden, auch die Russen, deren Rechtsnihilismus sich keineswegs als metaphysischer Protest gegen die allgemeine Moral äußert), sondern auch von innen heraus, d.h. von der Position der Teilnehmer an diesen alltäglichen Vorkommnissen, die solche vom juristischen Standpunkt aus gesehen üblen Handlungen durchaus aus moralischen Erwägungen begehen: wenn sie den Staat oder den reichen Nachbarn bestehlen, so stellen sie die Gerechtigkeit wieder her, die sie als Gleichheit verstehen. Nicht weniger kompliziert ist das Verhältnis von Macht und Freiheit. Paradox aus der Sicht des Modells der freien Marktwirtschaft ist der Umstand, daß in Rußland infolge der Schwächung des Staats auch die ökonomischen Indikatoren sich merklich absenkten und das Land eine militärische Niederlage erlitt. Für die Einführung der Freiheiten gibt es, streng gesprochen, keine anderen Argumente als liberal-demokratische. Aber die Verordnung solcher Freiheiten von oben befriedigte das Volk
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nicht. Das Problem besteht darin, daß die Schwächung der staatlichen Regulierung das ökonomische und militärische Potential verringert, ihre Stärkung aber Freiheit und Verantwortung unterdrückt. Deshalb muß man ein stabiles Gleichgewicht zwischen ihnen finden, und nur dann wird man eine positive Balance erreichen. Aber wie soll man das machen, wenn von dem Beamten, als dem Funktionär des Systems, nicht eine schöpferische, selbständige Persönlichkeit erwartet wird, sondern ein seelenloser Automat, der ein vorgegebenes Programm ausführt. Leitende und Ausführende müssen Grenzen überschreiten können, und das muß nicht nur ein revolutionärer, sondern ein ethischer Akt sein, der nicht nur mit der Verneinung des alten und der Hinwendung zu einem neuen Glauben verbunden sein wird, sondern auch mit einer gewissen Freundschaftlichkeit oder zumindest Höflichkeit. Inzwischen verkehrt sich der Egoismus der Reichen, die den Armen nicht helfen wollen, der Egoismus der Privatunternehmer, die keine Steuern zahlen, schon in eine Bedrohung ihrer eigenen Existenz. Ein weiteres paradoxes Axiom besteht darin, daß Rußland Besonderes und Universales vereint. Bei den Slawophilen und bei V. Solov'ev werden zwei entgegengesetzte Momente vereinigt: obwohl Rußland sich seiner eigentümlichen Kulturform bewußt ist, beansprucht es die führende Rolle unter den anderen Völkern. Insofern jedes Land und sogar jeder seiner Bewohner den Anspruch erhebt, Träger des Allgemeinen zu sein, führt dieses Paradox zu Konflikten, vor allem mit Fundamentalisten. Man sollte sich hier an der Erfahrung der europäischen Intellektuellen orientieren, die in der Lage waren, die Kritik des Eurozentrismus zu entfalten und zur Achtung des Anderen und anderen Formen seiner Anerkennung aufzurufen, einer Anerkennung, die so weit ging, daß sie das Andere in sich selbst zu finden suchte. Slawophilen meinten, daß koloniale Politik für Rußland nicht charakteristisch ist und sich seine Expansion von der europäischen unterscheidet, die in der Vergangenheit mit der gewaltsamen Ausrichtung auf den Weg der Zivilisation verbunden war. Aber auch die russische Geschichte kennt Beispiele gewaltsamer Eroberungen anderer Territorien. Der Eurozentrismus bestand darin, daß - explizit oder implizit - nur die Kulturen anerkannt wurden, die sich auf dem Wege der Zivilisation befanden und europäisches Niveau erreichten. Heidegger jedoch, der mit Erschrecken die unifizierende Wirkung solcher Supermächte wie Rußland und Amerika beobachtete, die der ganzen Welt den technischen Fortschritt diktierten, neigte zu der Auffassung, daß das zwischen den Supermächten eingezwängte Europa so etwas wie ein Land der dritten Welt bleiben, d.h. seine Eigenart bewahren sollte. Und tatsächlich wäre
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es nicht schwer, sich die Folgen vorzustellen, die die Anerkennung der russischen Sprache (was allerdings heute nicht mehr aktuell ist) oder der englischen (was wahrscheinlicher ist) als Weltsprache hätte. Die Nationalsprache und mit ihr die nationale Kultur würden dabei weniger gewinnen als verlieren. In jedem Falle wäre eine solche Weltsprache, zu der heute offensichtlich die englische Sprache wird, nicht mehr die Sprache von Joyce und Faulkner. Auch in Rußland führte die Verbreitung der russischen Sprache als Staatssprache auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR zu ihrer Verarmung, denn so unterlag sie dem Diktat der Massenmedien. Und diese Gefahr bleibt erhalten. Zeitungen, Radio und Fernsehen unifizieren die Sprache - unabhängig davon ob sie die Information in der jeweiligen nationalen oder einer ausländischen Sprache verbreiten - allein schon deshalb, damit sie für alle zugänglich und verständlich werden. Die Sprache der Zeitungsmitteilungen wird notwendig farbloser, durchdrungen von den Interessen der Politik und Ökonomie, und die Reklame eignet sich die Mythen des Volkes an und nutzt sie zu kommerziellen Zwecken. Deshalb wird in dieser Sphäre die ethische Forderung nach Duldsamkeit, Achtung und Höflichkeit zu einer methodologischen und politischen Forderung. Die Moral soll in Wissenschaft und Politik nicht als äußere Bewertung und noch weniger als Anklage und Verurteilung auftreten, sondern als Ethik des Diskurses und des praktischen Handelns. Zum Abschluß soll ein reflexiv-ethisches Prinzip formuliert werden, das sich im Verlaufe der Gespräche über die kulturelle Identität Europas und Rußland herausgebildet hat. Es könnte formal erscheinen und hinter die Ideale der Völkerfreundschaft zurücktreten, von der die Humanisten träumten. Ein jeder Vertreter dieses oder jenes Landes oder der einen oder anderen Kultur hat das Recht, auf den Vorzügen seiner Werte zu bestehen. Aber wenn wir uns auf eine Debatte einlassen und gezwungen sind, Argumente zur Verteidigung der eigenen Position anzuführen, so kommen wir damit zwangsläufig auch zu einem allgemeinen Einverständnis darüber, daß jeder das Recht hat, seine Position auszusprechen und rationale Argumente zu ihrer Bestätigung vorzubringen. Zu diesem Prinzip gibt es keine Alternative. Und weil es formal ist, könnte es auch das einzige sein, was Menschen verbinden kann, die unter unterschiedlichen sozial-ökonomischen Bedingungen leben und in bestimmten nationalen und ethnischen Traditionen erzogen wurden. Zur Freundschaft wird man auf diese Weise noch nicht kommen, aber man wird friedlich zusammen leben können. Sogar wenn ein Volk in Gestalt dieser oder jener extremistischen Gruppe einem anderen ein Ultimatum stellt, so wird das eine nicht weniger scharfe Antwort hervorrufen. Und dennoch
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wird es im Rahmen einer diplomatischen Diskussion bleiben können, vielleicht als äußerste Maßnahme, die noch dem Frieden gilt und nicht schon dem Krieg. Und solange unsere Handlungen von Argumentationen begleitet werden, solange werden wir fähig sein, formale Regeln, Freiheiten und die Rechte anderer als Bedingungen für Gespräche und als ethische Normen, die das Tun regulieren, anzuerkennen.
Ins Deutsche übersetzt von Hartwig Frank
BYUNG-CHUL HAN Zu Derridas Gedanken über Europa in Das andere Kap Freunde haben, die aus fernen Gegenden kommen Ist das nicht auch Grund zur Freude? Konfuzius
Gleich am Anfang seiner Rede zu Europa spricht Derrida vom „Herannahenden" und „Bevorstehenden",1 vom neuen Beginn und Aufbruch zu einem Europa, „das es noch nicht gibt" (11), zum „ursprünglichen Europa" (12). Von der „Zukunft des Kommenden", vom „Ereignis", von „Hoffnung" und „Versprechen" ist die Rede. Derridas Rede von einem kommenden Europa wird beherrscht von einer Rhetorik des Messianismus. In Europa kündige sich ein „noch nie Dagewesenes" an, das „sich sowohl der Analogisierung als auch der Antizipation verweigert" (9). Derrida geht es offensichtlich nicht bloß darum, zu Europa Philosopheme oder Theoreme aufzustellen: „Ich möchte nicht nur mit den Mitteln der Forschung, der Analyse, des Wissens und der Philosophie jenes suchen, was sich bereits außerhalb Europas befindet; es geht mir vor allem darum, nicht im voraus der Zu-kunft des Ereignisses einen Riegel vorzuschieben: der Zukunft des Kommenden, der Zukunft dessen, was vielleicht kommt und was vielleicht von einem ganz anderen Ufer aus kommt." (51) Derrida konstatiert „Hoffnung, Furcht und Zittern" (10). Auch seine Rede wirkt eher emotiv als argumentativ: „Erlauben Sie mir, Ihnen zu Beginn etwas anzuvertrauen, was ich empfinde." (10) Derrida bekennt, daß er „auf heimlich-erschlichene Weise von einem Gefühl zu einem Axiom" übergehen wird (11). So verleiht er seinem Gefühl die Allgemeinheit des Wir: „Heute werden wir von dem gleichen Gefühl bestimmt, von dem Gefühl, daß etwas herannaht, von Gefühlen der Hoffnung und des Bedrohtseins" (47). Mit Emphase spricht Derrida wiederholt von „Heute". Gibt es überhaupt ein Anzeichen der Veränderung, das Derridas emphatischen Gebrauch von „Heute", vom „völlig neuen Heute" glaub-
J. Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Frz. von A. G. Düttman, Frankfurt am Main 1992, 9. (Zahlen im Text beziehen sich auf diese Schrift.)
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haft machen würde, ein Anzeichen des Wandels, das sein Gefühl tatsächlich zu einem Axiom werden ließe? Ereignet sich im Europa von heute etwas, was hoffen ließe? Was wird man erahnen können - mitten im Golf- und Kosovo-Krieg? Es gehört auch zum Europa von heute, daß es damit begonnen hat, nach Süden und Osten hin neue Grenzen, neue Grenzposten zu errichten, und zwar nach den Gesetzen von Ökonomie und Monetarismus. Was unterscheidet das Heute vom Gestern? Was gibt dem Heute den Nimbus des völlig Neuen? Was ereignet sich mitten im „Verbrechen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fanatismus" (10)? Was tun? Derridas Antworten wirken oft sehr hilflos. Derrida wendet sich über weite Strecken der geo-kulturellen Physiognomie Europas zu: „In seiner natürlichen Geographie und in dem, was man häufig als seine geistige Geographie bezeichnet hat [...], hat sich Europa stets als Kap wiedererkannt, sei es im Sinne des im Westen und im Süden vorgeschobenen Teils eines Kontinents [...], als dem Ausgangspunkt für Entdeckungsreisen, Erfindungen und Ansiedlungen, sei es im Sinne des Mittelpunkts einer Zunge oder einer Sprache, die selber die Gestalt eines Kaps hat" (19). In seiner geo-kulturellen Analyse des Kaps verweist Derrida auf eine Stelle von Heideggers Unterwegs zur Sprache: „Ursprünglich bedeutet der Name >Ort< die Spitze des Speers. In ihr läuft alles zusammen. Der Ort versammelt zu sich ins Höchste und Äußerste. Das Versammelnde durchdringt und durchwest alles. Der Ort, das Versammelnde, holt zu sich ein, verwahrt das Eingeholte, aber nicht wie eine abschließende Kapsel, sondern so, daß er das Versammelte durchscheint und durchleuchtet und dadurch erst in sein Wesen entläßt."2 Derrida bemerkt dazu nur: „alle Kräfte treffen in der Spitze zusammen, weil sie das Ende, die Grenze ist, an der sich die Kräfte sammeln." (23) Er fragt nicht, worauf bzw. wogegen sich die in der Spitze des Speers gebündelten Kräfte richten. Weder Heidegger noch Derrida scheint die „Spitze des Speers" Probleme zu bereiten. Der Ort bedeutet ursprünglich die Spitze einer Waffe. Wozu dient aber diese Spitze? Heidegger ist gewiß nicht entgangen, daß der Ort auf ein sanskritisches Wort zurückverweist, das „töten" bedeutet. Die „Spitze des Speers" dient also primär nicht dazu, Frieden zu stiften, sondern den Anderen zu töten, sich den Anderen oder den anderen Ort zu unterwerfen. Dem Ort ist die Aneignungslogik eingeschrieben. Derrida weist darauf hin, daß das Kap eine „vorgeschobene Spitze" sei. Wie der Speer hat das Kap die Gestalt einer Spitze, die tödlich sein 2
M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 37.
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könnte. Weder Heidegger noch Derrida thematisiert die Dimension der Macht, die die Logik des Kaps bzw. des Ortes organisiert. Derrida unterläßt es, darauf hinzuweisen, daß der Ausdruck „Kap" auf das Verb „capere" zurückgeht. „Capere" bedeutet u. a. ergreifen, einnehmen, fesseln und überlisten. So verbindet die Dimension der Gewalt oder der Macht das Kap mit dem Ort. Nachdem er auf die Heideggersche Definition des Ortes hingewiesen hat, kommt Derrida noch einmal auf Heidegger zurück: „Und wenn Heidegger von der Frage sagt, daß sie die Frömmigkeit des Denkens sei, weist er darauf hin, daß fromm und Frömmigkeit sich von promos herleiten: von dem, was an erster Stelle kommt, was die Vorhut, die Spitze beim Kampf anführt oder leitet." (23) Heidegger vermeidet es aber, vom Kampf oder von der Vorhut zu sprechen. Er schreibt nur: „Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschickes zum Leuchten. Und die Kunst hieß nur techne. Sie war ein einziges, vielfältiges Entbergen. Sie war fromm, promos, d.h. fügsam dem Walten und Verwahren der Wahrheit."3 Derrida macht auf Heideggers Übersetzungsstrategie nicht aufmerksam. Heidegger siedelt nämlich den promos außerhalb der Bedeutungsebene von Vorhut und Kampf an. Der Ort ist unmittelbar an das Phänomen der Grenze gebunden. So schreibt Heidegger zum Tempel, der einen Ort als einen heiligen stiftet: „Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen."4 Interessanterweise spricht Heidegger hier von der Ausgrenzung, nämlich von der „Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen". Das Wort „Ausgrenzung" ist ambivalent wie das Phänomen der Grenze selbst. Heidegger gebraucht hier das Wort nicht im Sinne der Ausklammerung, sondern im Sinne einer herausnehmenden Hervorhebung. Aber das so Ausgegrenzte wirkt nach Außen hin ausgrenzend bzw. ausklammernd. So macht der Ort, der sich totalisiert, den anderen Ort zu einem Ab-Ort, zu einem Quast-Abwesenden. Orte erzeugen Ab-Orte. Die Ökonomie der Macht zieht notwendig Ausschlußmechanismen nach sich. In Bauen Wohnen Denken findet sich eine Stelle, wo Heidegger die Grenze vom Griechischen her zu denken versucht: „Ein Raum ist etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch peras. Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen 3 4
M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 42. M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, 31.
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es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff: horismos, d.h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene. Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d.h. versammelt durch einen Ort".5 Die Grenze ist wohl auch „jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt". Aber an derselben Grenze findet eine Abgrenzung des Eigenen vom Anderen statt. Der Grenze ist wohl ein Begehren der Aneignung eingeschrieben. Horismos geht auf das Verb horizein zurück. Horizein hat u. a. die Bedeutung von abtrennen, für sich in Besitz nehmen oder sich zueignen. So ist bei der Errichtung oder Erweiterung einer Grenze die Ökonomie der Aneignung, der Abgrenzung und der Ausgrenzung am Werk. Demnach scheinen weder der Ort noch das Kap noch die Grenze einen Frieden zu versprechen. Auch die langue, d. h. die Zunge oder die Sprache hat die Gestalt eines Kaps. Sie kann gewiß genauso tödlich sein wie die Spitze eines Speers. Vielleicht ist der Sprache oder der Zunge dieselbe Ökonomie der Macht und Aneignung eingeschrieben, die das Kap oder den Ort beherrscht. Schon die Etymologie zeigt, daß das Phänomen des Ortes und der Grenze mit der Ökonomie der Macht, der Selbsterhaltung, des Überlebens und der Aneignung verbunden ist, die nicht bloß auf das europäische Kap beschränkt bleibt, sondern universell zu sein scheint. Jedes Kap, vielleicht jedes Haupt (cap) wacht über den Tod, über den eigenen und den des anderen. Es gehört zur Machtökonomie des Ortes, daß dieser dazu neigt, es begehrt, sich zu erhalten, sich zu erweitern und zu totalisieren. Die Logik des Kaps beherrscht auch die Kultur. Derrida zitiert Valery: „wir (halten) uns für Träger des Allgemeinen und Universellen. Wir haben das Gefühl, Universal- oder Weltmenschen zu sein." (55) Dazu schreibt Derrida: „Es ist keineswegs den Franzosen - ja nicht einmal den Europäern- vorbehalten, sich für >Weltmenschen< zu halten." (55) Von der Logik des Kaps her gesehen, neigt jedes Kap zu einer Totalisierung des Eigenen, zu einem Monopol des Herzens. Es errichtet um sich den Schein einer Universalität. Es ist nicht nur den Europäern vorbehalten, sich fürs Herz der Welt zu halten. Bekanntlich nennt sich China das „Reich der Mitte". Im Jahre der Kapitulation Deutschlands hat Heidegger das fiktive Gespräch Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager verfaßt. In einer Beilage zu diesem Gespräch schreibt Heidegger: „Die Entscheidung beginnt jetzt erst sich vorzubereiten - auch und zumal allem vorauf die, ob die Deutschen als die Herzmitte des Abendlandes
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M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a.a.O., 155.
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vor ihrer geschichtlichen Bestimmung versagen und das Opfer fremder Gedanken werden."6 Die Konzentrierung von Macht und Kapital ist für die Identität eines Ortes konstitutiv, die sich nach außen wiederum als eine Spitze des Speers äußert. Derrida vergleicht die vorgeschobene Spitze des Kaps mit dem „Phallus", mit diesem Symbol der Macht und des Kapitals: „Europa hat ebenfalls sein Abbild, sein Gesicht, seine Gestalt und sogar seine Stätte, sein Statt-Haben mit dem Bild einer vorgeschobenen Spitze konfundiert, mit der Darstellung eines Phallus" (22). Derrida weiß zu gut, daß die Logik des Kaps sich leicht mit Ökonomie und Polemologie, d.h. mit Kapital und Arsenal verbündet. So verweist er auf Valery, der die Kultur mit dem Kapital, mit dem „Arsenal von Dokumenten und Instrumenten" in Analogie setzt (50). Wie dieser Logik des Kaps, die sich als eine Polemologie äußert, entgehen? Wie dem Kap eine Gastlichkeit beibringen? Was kann das Kap dazu bewegen, „den Fremden [...] aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen" (56)? Derrida sagt, daß er, „aus Zeitmangel und weil dies nicht der geeignete Ort dafür ist", „auf eine etwas dogmatische Art" „eine Notwendigkeit formulieren" würde. Diese auf dogmatische Art formulierte Notwendigkeit, nämlich sein „zweites Axiom", wie Derrida sagt, lautet: „Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selbst identisch ist." (12) Damit meint Derrida, daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat, daß die Monogenealogie sich immer als eine Mystifikation in der Geschichte der Kultur darstellt. Kann diese genealogische Erkenntnis, daß eine Kultur mit sich nicht identisch ist, allein die Spitze des Speers abbrechen? Kann eine genealogische Entdeckung einen Ort zur Gastlichkeit bewegen? Setzt die absolute Gastlichkeit nicht gerade die Überwindung der Genealogie voraus? Wäre das genealogische Wissen oder die genealogische Großmut dazu fähig, gastlich zu sein gegenüber dem ganz Anderen mit seinen fremden Gerüchen'} Die absolute Gastlichkeit wäre nicht von der Genealogie, sondern eher von einer Thanatologie zu erwarten.7 Die Identität eines Ortes ist ferner nicht rein kulturell. Nach einer Ökonomie der Macht und Aneignung organisieren sich ökonomische und politische Interessen zu einem Kap, versammeln sich um die Spitze des Speers. Die genealogische Einsicht allein, daß es „keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber [...] ohne eine Kultur des Selbst als 6
M. Heidegger, Feldweggespräche, hrsg. v. Ingeborg Schüßler, Gesamtausgabe Bd. 77, Frankfurt am Main 1995, 244. 7 Zum Verhältnis zwischen Tod und Gastlichkeit vgl. B.-Ch. Han, Todesarten. Philosophische Untersuchungen zum Tod, München 1998.
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Kultur des anderen" gibt, (13), wäre dazu wohl nicht imstande, die machtökonomische Starre oder Stabilität eines phallisch organisierten Kaps zu durchbrechen. Scheut sich Derrida etwa davor, von der „Güte", von der Politik der Liebe zu sprechen? Die Dekonstruktion wird die „Liebe" nur zitieren oder adoptieren können. Diese wäre eine re-figurierende, re-konstruktive Schwerkraft. Die phallische Logik des Kaps, des Kapitals, des Kapitels und der Kapitale führt zu Aneignung, Akkumulierung und Zentrierung. Der phallischen Logik will Derrida eine andere Logik entgegensetzen, die er aber von der „Logik des Anti-Kaps oder der Dekapitation" abgrenzt. Gesucht wird ein „Verhältnis zum anderen, das nicht länger der Form, dem Zeichen oder der Logik des Kaps folgt, nicht einmal der Form, dem Zeichen oder der Logik des Anti-Kaps oder der Dekapitation." (16) Wie sähe diese andere Logik des Kaps aus, die doch keine Logik des AntiKaps oder der Dekapitation sein soll? Wäre nicht eine radikal andere Logik allein dazu fähig, jene phallische Spitze des Speers abzubrechen? Derrida schlägt eine Differenz-Logik vor, die auf einer aporetischen Mitte zwischen Zentrierung bzw. Monopol und Zerstreuung insistiert: „Weder Monopol noch Zerstreuung oder Zersplitterung [...]. Es handelt sich dabei natürlich um eine Aporie, ein Umstand, den wir uns nicht verheimlichen dürfen. Ich wage es, Sie zu dem Gedanken anzuregen, daß die Moral, die Politik, die Verantwortung - wenn es sie denn gibt - erst mit dieser Erfahrung der Aporie anheben." (33) Die aporetische Spannung läßt sich bei Derrida durch keine dialektische Technik beenden. Die Dialektik dagegen baut die aporetische Spannung ab, stellt eine schöne Harmonie, ein „ruhiges Gleichgewicht" her.8 Derrida will „keiner dialektischen Lösung" „nachgeben".9 Er würde sagen, daß die dialektische Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952 (Phil. Bibl., Bd. 114), 329: „Das Ganze ist ein ruhiges Geichgewicht aller Teile, und jeder Teil ein einheimischer Geist, der seine Befriedigung nicht jenseits seiner sucht, sondern sie in sich darum hat, weil er selbst in diesem Gleichgewichte mit dem Ganzen ist. - Dies Gleichgewicht kann zwar nur dadurch lebendig sein, daß Ungleichheit in ihm entsteht und von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird. Die Gerechtigkeit ist aber weder ein fremdes, jenseits sich befindendes Wesen, noch die seiner unwürdige Wirklichkeit einer gegenseitigen Tücke, Verrats, Undanks usf., die in der Weise des gedankenlosen Zufalls als ein unbegriffner Zusammenhang und bewußtloses Tun und Unterlassen das Gericht vollbrächte; sondern als Gerechtigkeit des menschlichen Rechts, welche das aus dem Gleichgewichte tretende Fürsichsein, die Selbständigkeit der Stände und Individuen in das Allgemeine zurückbringt". J. Derrida, Aporien. Sterben - Auf die „Grenzen der Wahrheit" gefaßt sein, aus dem Frz. v. Michael Wetzel, München 1998, 34.
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Versöhnung, dieses schöne, friedenstiftende Gleichgewicht zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen bzw. zwischen „Monopol" und „Zerstreuung" nicht möglich oder ein Schein, ein unmögliches Objekt des „logozentrischen" Begehrens ist, ein Schein, der nur kraft einer Gewalt, kraft einer vereinheitlichenden Hegemonie aufrechtzuerhalten ist. Derridas Dekonstruktion hat verschiedene Formen dieses Scheins aufgespürt, die durch ein Begehren nach dem Unmöglichen produziert werden. So ist in der »Grammatologie« oft von der „Unmöglichkeit" die Rede. Hegel will also das Unmögliche, wobei er dies in den schönen Schein des Möglichen kleidet. Derrida will seinerseits das Unmögliche, allerdings mit dem Unterschied, daß er die Unmöglichkeit eingesteht: „Muß man wachsam darauf achten, daß keine vereinheitlichende Hegemonie [...] wieder entsteht, so darf man doch auch umgekehrt die Grenzen, das heißt die Ränder und die Randgebiete, nicht vervielfachen; dann dürfen die Unterschiede zwischen den Minderheiten, die unübersetzbaren Idiolekte, die nationalen Antagonismen, der Chauvinismus idiomatischer Wendungen nicht um ihrer selbst willen kultiviert werden. Die Verantwortung scheint heute darauf hinauszulaufen, daß man auf keinen der beiden widersprüchlichen Imperative verzichtet. Man muß demnach versuchen, politisch-institutionelle Gesten, Diskurse und Praktiken zu erfinden, die das Bündnis zwischen diesen beiden Imperativen, zwischen diesen beiden Versprechen, zwischen diesen beiden Verträgen markieren: das Bündnis zwischen der Kapitale und der -Kapitale, dem anderen der Hauptstadt. Dies erweist sich als schwierig. Es ist sogar unmöglich, eine Verantwortung zu konzipieren, die darin besteht, sich gegenüber zwei Gesetzen oder zwei widersprüchlichen Anweisungen verantwortungsvoll zu verhalten. Gewiß - doch gibt es andererseits keine Verantwortung, die nicht eine Erfahrung des Unmöglichen ist." (35) Derridas Denken wird zu einem Denken des Unmöglichen. Gibt es eine Philosophie, die sich nur im Möglichen gefiele? Vielleicht wird jede Philosophie durch ein Begehren nach dem Unmöglichen initiiert und innerviert. Die Geschichte der Philosophie wäre vielleicht eine Geschichte des Versprechens des Unmöglichen bzw. der Möglichkeit des Unmöglichen. Es gilt also, die Aporie auszuhalten, damit die Veranrwortung möglich wird. Es gibt keine einfache dialektische Vermittlung, keinen schönen, dialektischen Ausgleich. Die Dekonstruktion wird zu einer doppelten Kritik, die sich jedoch nicht in einem Hin-und-her zerstreut, sondern sich wieder sammelt in einer negativen Dialektik, nämlich in einer Dialektik ohne Mitte. Notwendig ist die Vermittlung oder das „Bündnis". Aber die aporetische Erfahrung verbietet es, sich in einem einfachen
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Ausgleich, im Schein zu gefallen. Aus dem Willen zum Unmöglichen schöpft aber die negative Dialektik die Kraft. Die doppelte Kritik äußert sich in „auf der einen Seite - auf der anderen Seite": „Auf der einen Seite kann sich die kulturelle Identität Europas nicht zersplittern und zerstreuen [...]. Sie kann und sie darf sich nicht einer Zerstreuung überantworten, die eine Unzahl nichtiger Provinzen hervorbringt, eine Vielzahl fest verorteter Idiome und eine Reihe kleinlicher Nationalismen, die, von Eifersucht erfüllt, sich nicht ineinander überführen, wechselseitig übersetzen lassen. Sie kann und sie darf nicht auf die Schauplätze des großen Verkehrs, auf die breiten Bahnen der Übertragung und der Kommunikation, auf die Durchdringung durch die Medien verzichten. Auf der anderen Seite indes kann und darf sie nicht die Kapitale einer vereinheitlichenden Autorität hinnehmen, die durch transeuropäische Kulturapparate, durch Zusammenschlüsse im Verlags-, Presse- und Universitätswesen gleichviel ob auf staatlicher Ebene oder nicht - Kontrolle ausübt und Gleichförmigkeit herstellt" (31 f.). Derrida bezieht seine Worte zwar auf angeblich innereuropäische Probleme. Sie bringen aber kaum zur Sprache, was spezifisch für Europa gälte. Er erläutert Probleme wie Kapitale, Kommunikation und Presse, wobei er jene aporetische Logik anwendet, die lautet: Man darf weder die „vereinheitlichende Hegemonie" noch die Partikularisierung zulassen. Die Verantwortung besteht darin, die aporetische Spannung zwischen zwei entgegengesetzten Imperativen auszuhalten. Wie ist es aber mit der Verantwortung Europas bestellt gegenüber dem Anderen, das nie europäisch gewesen ist? Inwiefern hat die Erfahrung der Aporie mit der von Derrida geforderten Gastfreundschaft zu tun? Neben der Botschaft, die nicht nur Europa beträfe, äußert sich Derrida allgemein zu Europa als solchem. Hier färbt sich seine Rede wieder kerygmatisch. Derrida weist auf ein „Ereignis" hin, das „sich unter dem Namen Europa als Versprechen" ankündigt (56). Derrida verkündet: „Das Kap hat begonnen, sich dem anderen Ufer eines anderen Kaps zu öffnen - mag dieses andere Kap auch ein entgegengesetztes Kap sein, mag das Sich-Öffnen auch im Krieg geschehen [...]. Doch gerade deshalb hat es zugleich begonnen, das andere des Kaps im allgemeinen zu erahnen, das Kommen dieses anderen zu sehen und zu hören. Radikal und ernst (Ernsthaftigkeit einer leichtfüßigen und kaum wahrnehmbaren Chance, die nichts ist als die Erfahrung des anderen) nimmt sich die Konsequenz aus, die man so zum Ausdruck bringen kann: Das Kap hat begonnen, sich zu öffnen oder vielmehr sich öffnen zu lassen, besser noch: es ist geöffnet worden, ohne daß es sich selber von sich aus einem anderen geöffnet hätte; dabei kann das Kap dieses andere nicht einmal mehr auf sich
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beziehen, wie man sein anderes auf sich bezieht (das andere ist dann ein anderes bei oder mit sich}." (55 f.) Derrida sagt: Das Kap „ist geöffnet worden". Man hat es hier mit einem „Ereignis" zu tun, das sich jeder thematisierenden, antizipierenden Aneignung entzieht. Es ist geboten, sich hörend und erahnend diesem „Ereignis" zu öffnen. Derrida ist Heidegger viel näher, als man denkt. „Ereignis", „Zukunft" und „Versprechen" gehören in den Grundwortschatz der Heideggerschen Philosophie. Auch bei Heidegger entzieht sich die Geschichte als ein „Ereignis" jeder Berechnung und Antizipation. Heidegger distanziert sich seinerseits von der dialektischen Aneignung der Geschichte. Die Geschichte ist ferner als Geschichte des Seins eine Geschichte des Versprechens, genauer gesagt, die „Geschichte des Geheimnisses des Versprechens des Seins selbst".10 Sie ist eine versprochene „Zu-kunft". Heideggers kerygmatische Stimme mischt sich in die Stimme Derridas. Europa soll, um mit Heidegger zu sprechen, „fromm" sein, d.h. „fügsam dem Walten und Verwahren" des „Herannahenden", dessen, „was noch im Kommen bleibt" (57), nämlich der „Zu-kunft des Ereignisses". Man muß auf jenes „Ereignis" hören, das „sich unter dem Namen Europa als Versprechen" ankündigt. Europa soll „beispielhaft" sein: „Man soll oder man muß zu Hütern einer bestimmten Vorstellung von Europa werden, einer Differenz Europas, doch eines Europas, das gerade darin besteht, daß es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und daß es sich beispielhaft auf jenes zubewegt, was nicht es selbst ist, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps - vielleicht ist das andere des Kaps etwas ganz anderes, das Jenseits der modernen Tradition, eine andere Struktur des Randes, ein anderes Ufer." {25 f.) Derrida verweist auf die Gefahr von Heute. „Furcht und Zittern" verbinden sich aber mit der „Hoffnung". Vielleicht beginnt jede Philosophie mit der Witterung einer Gefahr. Mit dieser geht aber - dies gehört mit zum Gestus der Philosophie - die Hoffnung auf das Rettende einher. Hegel sprach vom „Bedürfnis der Philosophie", das seinerseits aus dem Gefühl einer Gefahr entstand. Das „Bedürfnis der Philosophie" erwache, so Hegel, wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben des Menschen verschwindet. Es erwacht das Bedürfnis nach einer Wiederherstellung der Totalität.]l Diese ist nun selbst zur Gefahr geworden. Mitten in der „Furcht, die die Möglichkeit weiterer, in ihrer Gestalt noch unbekannter Kriege 10 M. Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, Bd. 2, 370. 11 Vgl. Hegel, Werke in 20 Bänden, hg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. 2, 20 ff.
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weckt", mitten in der „Furcht vor der Rückkehr zu alten Formen des religiösen Fanatismus, des Nationalismus und des Rassismus" erwachen „Gefühle der Hoffnung" (47). Es kündigt sich an ein „ganz anderer Rand", ein „ganz anderes Ufer". Es gilt, „das andere des Kaps im allgemeinen zu erahnen". Die „leichtfüßige und kaum wahrnehmbare Chance" ist nichts anderes als die „Erfahrung des Anderen". Es handele sich, so Derrida, nicht um eine „Hypothese", nicht um einen bloßen „Aufruf": „Ichglaube vielmehr, daß sich das, was damit gemeint ist, jetzt ereignet" (26).12 Für Derrida ist es eine „Pflicht", Europa „auf jenes hin zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein wird" (56). Wie diese „Pflicht" begründen? Verweist er nur auf das nicht antizipierbare „Ereignis"? Wird sich Derrida wieder auf jene genealogische Logik berufen, daß es keine Monogenealogie, „keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selbst [...] ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen" gibt? Wie aber ein Kap gegenüber einem ganz Anderen über den genealogischen Bruch, über eine totale genealogische Diskontinuität hinaus zu einer Gastlichkeit bewegen, nämlich zur Gastlichkeit gegenüber dem Dritten? Was verpflichtet oder bewegt zu einer vor-genealogischen, vor-gebürtlichen, vor-ursprünglichen Gastlichkeit gegenüber dem Fremden? Kann die dekonstruktive Diagnose, daß einer mit sich nicht identisch ist, eine absolute Gastlichkeit erzeugen? Wie sähe das „andere Kap" bzw. das „andere des Kaps" genauer aus, das es zu „erahnen" gilt? Wie dem Kap die tödliche, phallische Spitze nehmen? Wird es sich etwa in ein weibliches Kap verwandelt haben, das kein Kap mehr, sondern ein Gasthaus wäre? In Das andere Kap spricht Derrida beiläufig vom anderen Geschlecht: „Das Wort >cap< (caput, capitis) meint [...] den Kopf, das Haupt, [...] es meint das Ziel [...]; im Bereich der Schiffahrt weist es (dem Fahrenden) den Pol, das Ende, das Ziel, das Telos einer gerichteten, berechneten, gewollten, beschlossenen, ausgemachten, angeordneten Bewegung zu. Dieses Zuweisen geschieht meistens durch jemanden, der keine Frau ist: Im allgemeinen - und vor allem in Kriegszeiten - ist es ein Mann, der über das Ziel, über die vorgeschobene Spitze entscheidet, die er selber ist, er, der Bug, als Haupt dem Schiff oder Flugzeug vorstehend, das er steuert. [...] Die Richtung ändern: das kann bedeuten, daß man das Ziel ändert und für ein anderes 12 Damit begibt sich Derrida zumindest in die philosophische Ahnengalerie. Im Phaidon läßt Platon Sokrates sagen: „Nun freilich starren Sinnes zu behaupten, daß das, was ich gesprochen habe, auch unbedingte Wahrheit sei, das schickt sich nicht für einen, der zu denken pflegt, [...] es ist wert, daß man den Glauben daran wage. Es ist ein wundervolles Wagnis und dies und ähnliches, das sollte man sich wie ein Zauberlied vorsingen" (114 d).
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Kap sich entscheidet oder daß man den Kapitän auswechselt, daß man einen anderen Kapitän wählt und - weshalb eigentlich nicht - einen Kapitän anderen Alters und anderen Geschlechts" (15 f.). Gibt es einen Kapitän ohne Phallus, einen weiblichen Kapitän? Ist das Weibliche mehr zur Gastlichkeit fähig als der Kapitän mit seiner phallischen Spitze? Will Derrida nun wie Levinas dem Geschlechtsunterschied Rechnung tragen? In Adieu schreibt Derrida zu Levinas: „Der Empfang schlechthin, das Empfangen bzw. die Empfängnis einer absoluten, absolut ursprünglichen, ja vorursprünglichen Gastfreundschaft [...] werden von der Weiblichkeit aus definiert. Damit käme dieser Geste eine Tiefe an wesentlicher und metaempirischer Radikalität zu, welche dem Geschlechtsunterschied [...] Rechnung tragen würde."13 Soll Europa, das ein beispielhaftes Kap gewesen ist,14 das beispielhafte männliche Kapitäne hervorgebracht hat, zu seinem ursprünglichen Geschlecht zurückfinden oder sich beispielhaft einer Geschlechtsumwandlung unterziehen? Es gilt, eine „andere Geste zu erfinden, eine lange Handlung", „gerade um die Identität von der Alterität her zu bestimmen" (26). Die andere, vielleicht weibliche Logik des Kaps darf aber keine „Logik des Anti-Kaps oder der Dekapitation" sein. Schwebt Derrida etwa eine androgyne Logik des Kaps vor? Setzt nicht jene absolute, absolut ursprüngliche, vorursprüngliche, vor-genealogiscbe Gastfreundschaft eine „Dekapitation", eine gewisse Kopflosigkeit - Levinas würde sagen aus „Besessenheit" voraus?15 In Adieu zitiert Derrida Levinas, nachdem er auf ein Heute16 13 J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, aus dem Frz. v. Reinold Werner, München 1999, 64. 14 Vgl. Derrida, Das andere Kap, 22: „Die Idee einer vorgeschobenen Spitze der Beispielhaftigkeit ist die Idee der europäischen Idee". 15 In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (aus dem Frz. v. Thomas Wiemer, Freiburg/München 1992) schreibt Levinas: „Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit." (248) 16 Derrida, Adieu, a.a.O., 96: „Mit diskreten, aber durchschaubaren Anspielungen hat Levinas unser Augenmerk auf etwas gelenkt, was sich heute sowohl in Israel als auch in Europa und Frankreich abspielt, in Afrika so gut wie in Amerika und Asien, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, seit dem, was Hannah Arendt als Der Untergang des Nationalstaats bezeichnet hat: überall da, wo Flüchtlinge aller Art, Einwohner mit oder ohne Staatsbürgerschaft, Exilanten oder Vertriebene, mit Papieren oder ohne, von der Mitte Nazi-Europas bis nach Ex-Jugoslawien, vom Mittleren Osten bis nach Ruanda, von Zaire bis Kalifonien, aus der Kirche Saint-Bernard im XIII. Pariser Arrondissement - überall da, wo Kambodschaner, Armenier, Palästiner, Algerier und viele, so viele andere den Ruf nach einer Veränderung des gesellschafts- und geopolitischen Raums laut werden lassen - nach einer rechtspolitischen Veränderung, doch in allererster Linie, sofern diese Scheide noch von Bedeutung ist, nach einem ethischen Schwenk."
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aufmerksam gemacht hat: „Daß ein Volk diejenigen anerkennt, die sich bei ihm niederlassen, so fremd sie auch seien, mit ihren Sitten und Trachten, mit ihrer Mundart und ihren Gerüchen; daß es ihnen eine Achsania (sc. Herberge od. Gaststätte), gleichsam einen Platz in der Herberge und etwas zu atmen und zu leben gibt - ist ein Lied zum Preis des Gottes Israels."17 Dazu bemerkt Derrida: „Daß ein Volk als Volk ^diejenigen anerkennt, die sich bei ihm niederlassen, darin liegt der Nachweis eines volksmäßigen und öffentlichen Engagements, eine politische res publica, die sich nicht auf >Duldung< beschränkt, es sei denn daß diese Duldung von sich aus die Bekräftigung einer maßlosen >Liebe< fordert."18 Diese von Derrida zitierte „maßlose >Liebe