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German, French Pages 226 [234] Year 2013
Bénédict Winiger / Paolo Becchi / Philippe Avramov / Mike Bacher (Hg.) Ethik und Recht in der Bioethik Ethique et Droit en matière de Bioéthique
archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 138
Bénédict Winiger / Paolo Becchi / Philippe Avramov / Mike Bacher (Hg.)
Ethik und Recht in der Bioethik Ethique et Droit en matière de Bioéthique Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 11.–12. Mai 2012, Universität Luzern / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 11–12 mai 2012, Université de Lucerne
Franz Steiner Verlag
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INHALT/SOMMAIRE Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Préface des éditeurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kurt Seelmann Bioethik – Irritationen und Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ERSTER TEIL: VORTRÄGE PREMIÈRE PARTIE: CONFÉRENCES 1. BIOETHISCHE PROBLEME AM LEBENSANFANG/PROBLÈMES BIOÉTHIQUES EN LIEN AVEC LE COMMENCEMENT DE LA VIE
Olivier Guillod Le diagnostic préimplantatoire : quelques questions juridiques et éthiques . . .
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Giovanni Maio Das ausgesuchte Kind. Eine ethische Kritik der Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dominique Manaï Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bernhard Rütsche Reproduktionsmedizin und Embryonenforschung: Legitimität der geltenden Forschungsverbote? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. BIOETHISCHE PROBLEME WÄHREND DES LEBENS/PROBLÈMES BIOÉTHIQUES EN COURS DE VIE
Bernice Elger Forschung mit inhaftierten Personen – ethische und rechtliche Fragen . . . . . . 101 Paolo Becchi Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Alberto Bondolfi Die Frage der Organtransplantation und das Aufleben der Hirntod-Debatten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhalt/Sommaire
3. BIOETHISCHE PROBLEME AM LEBENSENDE/PROBLÈMES BIOÉTHIQUES EN LIEN AVEC LA FIN DE VIE
Roberto Andorno Überlegungen zum Unterschied zwischen verbindlichen und nicht-verbindlichen Patientenverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Markus Zimmermann-Acklin Sterben als Aufgabe? Ethische Überlegungen zu schwierigen Entscheidungen am Lebensende. . . . . 159 ZWEITER TEIL: DISKUSSIONSVOTEN DEUXIÈME PARTIE: DÉLIBÉRATIONS Daniela Demko Humanforschung und Neuroenhancement im Kontext von Ethik, Anthropologie und Recht – Ein Beitrag zur Entwicklung eines menschenwürdebegründeten Menschenbildes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Hirokazu Kawaguchi Kommentar zu Paolo Becchis Beitrag aus japanischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . 201 Mike Bacher „Von den ersten und den letzten Dingen“ – Der Übergang vom Leben in den Tod in den Vorstellungen der Innerschweizer Bevölkerung. . . . . . . . . . 205 Philippe Avramov La « chirurgie des gènes »: une thérapie ouvrant la voie à l’eugénisme libéral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Autorenverzeichnis / Liste des Auteurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
VORWORT
DER
HERAUSGEBER
Die Rechtsphilosophie gehört innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen nicht zu denjenigen Bereichen, welche normalerweise medialer Aufmerksamkeit gewohnt sind. Vielmehr stellen die Grundlagenfächer Orchideen dar, welche oft nur im Verborgenen blühen und von einem Grossteil der anderen, positiven Fächer nur wenig wahrgenommen werden. Umso bemerkenswerter ist es, wenn eine Tagung Themen aufgreift, die sich mit Fragestellungen im rechtsphilosophischen „Graubereich“ bewegen, welche in der Medienlandschaft breit rezipiert werden. Dies führte dazu, dass die Tagung „Ethik und Recht in der Bioethik“, die am 11./12. Mai 2012 als Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (SVRSP) an der Universität Luzern abgehalten wurde, noch vor ihrer Durchführung eine Resonanz in diversen regionalen und nationalen Medien erfuhr. Nicht zuletzt führte dies dazu, dass wir eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Teilnehmenden an der Tagung hatten und so eindrücklich aufgezeigt wurde, dass rechtsphilosophische Fragestellungen mitnichten bloss eine Randerscheinung des wissenschaftlichen Lebens darstellen, sondern sich im Fokus der gesellschaftlichen Diskussionen bewegen. Über den aktuellen Stand der Forschungen in den Bereichen der Bioethik gab zu Beginn der Tagung Kurt Seelmann (Basel) einen wertvollen Überblick. Für die gesamte Tagung war vorgesehen, dass jedes Themen aus zwei verschiedenen Perspektiven behandelt wurde. Bereits die erste Sektion, welche die Diskussion um die Eugenik thematisierte, griff ein kontroverses Thema auf, welches durch Olivier Guillod (Neuenburg) und Giovanni Maio (Freiburg i. Br.) in zwei kontradiktorischen Referaten in zahlreichen Facetten beleuchtet und breit diskutiert wurde. Dem schloss sich die nicht weniger aktuelle Frage um die Reproduktionsmedizin an, namentlich in Bezug auf Embryonen und Stammzellen. Dominique Manaï (Genf) und Bernhard Rütsche (Luzern) zeigten anschaulich die Überlegungen und Fragestellungen in diesen sensiblen Bereichen auf. Die zweite Sektion begann zunächst mit einem Referat von Bernice Elger über die Forschung am Menschen, wobei sie als Schwerpunkt die Forschung an Gefängnisinsassen thematisierte. Zur weiteren Erforschung dieses Themas ist im Tagungsband auch ein Beitrag von Daniela Demko aufgenommen, welcher sich dem Thema der Forschung am Menschen aus Sicht von Ethik und Recht widmet. Als besonders kontrovers erwies sich daran anschliessend die Fragen der Organtransplantation und das Aufleben der Hirntod-Debatte. Ein Bereich, der auch während des ganzen Jahres in der nationalen Presse diskutiert wurde. Mit den lebhaften Referaten von Paolo Becchi (Luzern/Genua) und Alberto Bondolfi (Genf) wurde hier eine anregende Diskussion entfacht. Im vorliegenden Band wird dabei neben den Aufsätzen der beiden Autoren auch ein Beitrag des Tagungsteilnehmers Hirokazu Kawaguchi (Osaka) aufgenommen, der die Diskussion zu diesem Thema in Europa mit derjenigen in Japan vergleicht. Die seit einigen Jahren in der Schweiz intensiv geführte Debatte um die Sterbehilfe, um derentwillen die Tagung besondere mediale Aufmerksamkeit erfahren hatte, läutete die dritte Sektion, und damit den zweiten Tagungstag, ein. Zunächst zeigte Brigitte Tag (Zürich) die aktuelle Rechtslage und Fragekreise in Bezug auf die
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Vorwort der Herausgeber
Sterbehilfe und die Suizidhilfeorganisationen auf. Daran anknüpfend legte Markus Zimmermann-Acklin (Fribourg/Göttingen) ethische Überlegungen zu schwierigen Entscheidungen am Lebensende dar. Die anschliessende Diskussion zeigte, welche Bedeutung und Sprengkraft dieses Thema auch in der Gesellschaft besass. Etwas ruhiger wurde es schliesslich mit dem letzten Themenbereich der Tagung – den Patientenverfügungen. Roberto Andorno (Zürich) und Samia Hurst (Genf) diskutierten hier den schwierigen Grat zwischen Patientenwillen, seinem Umfeld, den ärztlichen Überlegungen und den medizinischen Möglichkeiten. Daran knüpft ein Beitrag von Mike Bacher (Luzern) an. Dass diese Tagung durchgeführt und die Referate in Form des vorliegenden Tagungsbandes in Druck erscheinen konnten, ist zahlreichen Personen und Institutionen zu verdanken. Neben den Teilnehmern möchten wir es nicht unterlassen, speziell den Moderatoren – Michele Luminati, Simone Zurbuchen und Ulfrid Neumann – ihre umsichtige Führung durch die Sektionen zu verdanken. Für die finanzielle Unterstützung möchten wir speziell der Forschungskommission (FoKo) der Universität Luzern und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) danken. Schliesslich gebührt ein Dankeswort auch dem Franz Steiner Verlag, der auch den vorliegenden Tagungsband wieder in seine Obhut genommen hat. Besonders möchten wir an dieser Stelle Kurt Seelmann danken, der im Umfeld der Tagung seinen 65. Geburtstag feierte. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten prägte er, nachdem er in Saarbrücken und Hamburg gewirkt hatte, als Professor in Basel die Rechtsphilosophie in der Schweiz. Die SVRSP hat ihm für dieses Wirken viel zu verdanken. Aus diesem Grund widmen wir ihm diesen Tagungsband speziell zu seinem Geburtstag. Genf/Luzern, im März 2013 Paolo Becchi Bénédict Winiger Philippe Avramov Mike Bacher
PRÉFACE
DES ÉDITEURS
La philosophie du droit ne fait pas partie des disciplines scientifiques suscitant un intérêt particulièrement médiatique. Au contraire, elle est à l’image des disciplines fondamentales qui ressemblent à des orchidées fleurissant souvent en secret, et qui ne revêtent qu’un côté marginal aux yeux de la majorité des autres disciplines positives. Il est très remarquable lorsque, pour un congrès, les organisateurs n’hésitent pas à aborder des thèmes soulevant des questions philosophiques qui contiennent des « zones d’ombres » – largement répandues dans le paysage médiatique actuel. C’est dans ce contexte que le congrès ayant eu pour titre « Droit et éthique en matière de bioéthique » du 11 au 12 mai 2012, organisé par l’Association suisse de philosophie du droit et de philosophie sociale (ASPDS) à l’Université de Lucerne a – même avant d’avoir eu lieu – trouvé un écho dans plusieurs médias régionaux et nationaux. En conséquence, le nombre de participants fut particulièrement élevé , témoignant ainsi que les questions soulevées par la philosophie du droit ne se trouvent pas en marge, mais au centre des discussions menées par la société moderne. Kurt Seelmann (Bâle) a ouvert le congrès en donnant un précieux aperçu des derniers avancements dans la recherche en matière de bioéthique. Le déroulement du congrès était construit autour d’un débat contradictoire. Chaque thématique abordée était examinée sous deux angles différents et opposés. La première partie du colloque se focalisa sur la discussion actuelle autour de l’eugénisme. Cette question bioéthique controversée fut débattue par Olivier Guillod (Neuchâtel) et Giovanni Maio (Fribourg) à travers des arguments contradictoires mettant en lumière les nombreux points clés problématiques. Leurs présentations ont été suivies par la thématique tout aussi actuelle de la médecine de reproduction, s’attardant en particulier sur les questions d’embryons et de cellules souches. Dominique Manaï (Genève) et Bernhard Rütsche (Lucerne) se sont penchés sur les considérations et les controverses autour de ce sujet sensible. La seconde partie du congrès commença par une présentation de Bernice Elger relative à la recherche sur l’être humain. L’oratrice focalisa son exposé sur les expériences scientifiques prenant comme sujets d’analyse des détenus de prison. La recherche sur l’être humain fait également l’objet d’une large contribution proposée par Daniela Demko et figurant dans ce même mélange. Puis, toujours durant cette seconde partie du congrès, les questions abordées autour de la transplantation d’organes et de la mort cérébrale mirent en exergue un certain nombre de controverses. Ces sujets ont déjà été abordés par la presse nationale et ont déjà fait couler beaucoup d’encre tout au long de l’année. Les présentations vivantes de Paolo Becchi (Lucerne/Gêne) et Alberto Bondolfi (Genève) ont provoqué une discussion animée. Le présent volume contient également la contribution de Hirokazu Kawaguchi (Osaka) qui met en parallèle les arguments japonais et européens autour de ces mêmes thèmes. Ces dernières années, l’on a assisté en Suisse à un intense débat sur l’euthanasie qui n’a pas manqué d’attirer également l’attention des médias. C’est par le biais de cette thématique que se fit l’ouverture de la troisième partie du congrès correspondant à la seconde journée de conférences. Tout d’abord, Brigitte Tag (Zurich) a fait
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Préface des éditeurs
un tour d’horizon de la situation juridique suisse en ce domaine, tout en présentant les organismes d’aide au suicide. Ensuite Markus Zimmermann-Acklin (Fribourg/ Göttingen) présenta des réflexions éthiques concernant des décisions difficiles à la fin de la vie. La discussion animée qui a suivi les conférences a révélé l’emprise importante de cette thématique sur la société actuelle. Le dernier sujet du congrès qui permit le retour vers une discussion plus calme, eut pour thème les directives anticipées. Roberto Andorno (Zurich) et Samia Hurst (Genève) ont débattu sur la frontière très mince existant entre d’une part, la volonté du patient et son environnement, et d’autre part, les conseils ainsi que les perspectives médicales s’offrant à lui. Ce thème a également été abordé dans la contribution écrite de Mike Bacher (Lucerne). Ce congrès et les contributions académiques n’auraient pas pu être réalisés sans un investissement conséquent d’un grand nombre d’individus et de diverses institutions. Nous les en remercions. De même, les présidents de séance que furent Michele Luminati, Simone Zurbuchen et Ulfried Neumann, ont largement contribué à la bonne organisation et gestion des différents thèmes du congrès. Puis, nos sincères remerciements vont également vers la Commission de recherche de l’Université de Lucerne (Forschungskommission – FoKo) et le Fonds national suisse (FNS) pour leur soutien financier. Enfin, nos remerciements s’adressent au Franz Steiner Verlag – maison d’édition qui a accepté à nouveau de publier ces actes. Nous voudrions remercier tout particulièrement Kurt Seelmann qui a choisi notre congrès pour célébrer son 65e anniversaire. Durant deux décennies, il a académiquement œuvré à Bâle en tant que professeur de philosophie du droit, après être passé par Sarrebruck et Hambourg. L’ASPDS souhaite le remercier pour l’ensemble de son travail accompli et lui dédie les actes du congrès 2012 en guise de présent pour son anniversaire. Genève/Lucerne, Mars 2013 Paolo Becchi Bénédict Winiger Philippe Avramov Mike Bacher
KURT SEELMANN, BASEL BIOETHIK – IRRITATIONEN
UND
REAKTIONEN
Bioethische Fragen, man sieht es am Programm der in diesem Band dokumentierten Tagung, gibt es am Anfang des Lebens, während des Lebens und am Ende des Lebens, also das ganze Leben hindurch. Wenn wir heute über Fachkreise hinaus davon überzeugt sind, dass dies so ist, dann liegt es nicht nur an einer geschärften Wahrnehmung für bioethische Probleme. Es liegt vielmehr auch an der realen Entwicklung. Was hat sich verändert? Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung und Stammzellenforschung waren noch vor wenigen Jahrzehnten kein Thema. Forschung am Menschen und Organtransplantation haben in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte gemacht. Und am Ende des Lebens können wir den vordem als natürlich erachteten Todeszeitpunkt sehr weit hinausschieben. Ein erster Blick auf diese Entwicklung lässt sie als Fortschritt erscheinen. Dem Menschen stehen nunmehr Möglichkeiten eines besseren Verständnisses von Lebensabläufen in den verschiedenen Forschungsbereichen zur Verfügung. Diese Forschung ermöglicht uns bessere Diagnostik und erfolgreichere Therapie von Leiden, und auch die Organtransplantation schenkt zusätzliche Lebensjahre. Wenn die Bioethik gleichwohl immer mehr an Bedeutung gewinnt und sich auch zunehmend deutlicher ein Biorecht entwickelt1, so scheint mit all dem Positiven doch zumindest die Gefahr der Verletzung Anderer verbunden zu sein. Denn die normativen Ordnungen der Ethik und des Rechts regeln bestehende oder potentielle Konflikte, regeln auch den Schutz der Menschen voreinander. Die rasante Entwicklung der Biotechnologie, so können wir allein schon aus der Existenz einer Bioethik und eines Biorechts entnehmen, scheint also auch eine Kehrseite zu haben. Am offenkundigsten begegnet uns diese Kehrseite der Entwicklung am Ende des Lebens. Dort nämlich umschreiben bereits die Stichworte Sterbehilfe und Patientenverfügung eine verbreitete Auflehnung gegen eine ausschliesslich positive Sicht der Entwicklung. Viele Menschen leben in der Sorge, dass man in schwierigen oder gar aussichtslosen gesundheitlichen Situationen ihren Willen nicht respektiert. Oder sie fürchten, dass man der aus ihrer Sicht natürlichen Entwicklung nicht ihren Lauf nehmen lässt. Viele möchten eine künstliche Lebensverlängerung ausschliessen und dazu etwa festhalten, dass sie in bestimmten Situationen nicht reanimiert oder einer Intensivbehandlung unterzogen werden wollen. Denn sie machen sich Sorgen darüber, ob nicht der Gewinn an Jahren teuer erkauft sein könnte, ob dieser Zeitgewinn nicht manchmal nur Leiden verlängert. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich aber nicht nur am Ende des Lebens, sondern auch in seinen anderen Stadien bei vielen Menschen eine oft tiefverwurzelte Skepsis und Verunsicherung. Weist, wie manche meinen, die PID den Weg zur Eugenik von unten? Rühren Embryonenforschung und Stammzellenforschung, sofern damit Embryonen verbraucht werden, bereits diesseits des Schwangerschaftskonflikts an das Tötungstabu, werden hier Menschen in einem frühen Stadium ihrer Entwicklung zum Wohl anderer instrumentalisiert? Letzteres Problem stellt sich 1
Dazu Kurt Seelmann, Dalla bioetica al biodiritto, a cura di Paolo Becchi, Napoli: Bibliopolis 2007.
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Kurt Seelmann
auch generell bei der Forschung am Menschen, soweit sie ohne eine wirksame Einwilligung des Betroffenen erfolgt. Weiter weckt die Organtransplantation bei manchen Menschen den Verdacht, sie würden im Einzelfall um einer guten Sache willen vielleicht doch etwas zu früh für tot erklärt, und auch die generelle Festlegung auf den Hirntod könnte, so auch inzwischen wieder viele Fachleute, als Todeskriterium zu sehr durch Transplantationsinteressen geleitet sein. In dieser Einführung kann nicht auf all diese kontrovers diskutierten Fragen eingegangen werden, denn Ihnen gelten die folgenden Beiträge. Die dieser Einführung freundlicher Weise zugedachte Funktion ist eine andere: Es soll versucht werden, einige rote Fäden zwischen den Themen zu knüpfen und zugleich eine kleine Zwischenbilanz aus rechtsphilosophischer Sicht zu ziehen. Zu diesem Zweck gilt es, vier Elemente der Debatte nachzuzeichnen und ihren Zusammenhang explizit zumachen: Zunächst wird in einem ersten Teil versucht, das viele Menschen Irritierende an der Entwicklung der Biotechnologie zu skizzieren und zu interpretieren. Die These wird sein, dass der Grund der Irritationen in einer Objektivierung der menschlichen Leiblichkeit liegt. Etwas genauer: Es ist zu fragen, wie wir damit umgehen, dass der cartesianische Leib/Seele-Dualismus in der modernen Biotechnologie seine letzte Konsequenz erfährt und dass er sich eben dadurch, wie wir sehen werden, möglicher Weise selbst aufzuheben beginnt. Im zweiten Teil geht es um ein zentrales Prinzip, das oft gegen solche Tendenzen der Objektivierung in Stellung gebracht wird. Es ist das Prinzip des Schutzes der Autonomie, ein Prinzip, dem wir in seinen nicht immer klaren begrifflichen Konturen bei vielen bioethischen Fragen begegnen2, ob es nun um die Rechtfertigung für therapeutische Eingriffe oder von Forschung geht, um die Festlegung des HirntodKriteriums oder um die Spende von Organen. Schnell bemerkt man dann allerdings auch, dass das Prinzip der Autonomie gerade ausserhalb seines von freien Willensentscheidungen geprägten Kernbereichs grossen Herausforderungen begegnet: dann nämlich, wenn es um den Schutz von Urteilsunfähigen und damit um Einwilligungssurrogate geht. Aber selbst bei Urteilsfähigen besteht in Moral und Recht auch eine Begrenzung des Autonomieprinzips. Denn offenbar gibt es Formen der Verfügung über sich selbst, die in Recht und Moral als unerwünscht gelten, obwohl für sie Autonomie von denen beansprucht wird, die über sich verfügen möchten. Man kann seine Organe, seinen Körper und sein Leben nur eingeschränkt zum Objekt des eigenen Handelns machen. Wollen Recht und Moral einerseits Urteilunfähige schützen und andererseits auch Fälle von frei verantworteter Verfügung über sich beschneiden, so sind sie doch um die Begründung nicht selten verlegen. Häufig wird dabei – und darum geht es im dritten Teil dieser Einführung – mit einem Körpertabu, dem Hinweis auf den menschlichen Leib als eine res extra commercium oder mit der Heiligkeit des Lebens argumentiert. Angesichts solcher offenbar in unseren Intuitionen tief verankerten Vorstellungen werden im vierten Teil Argumente betrachtet, mit deren Hilfe man solche Kör2
Dazu jetzt Daniela Demko, „Autonomie in den Life Sciences und Hegels Institutionenlehre“, Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. Kurt Seelmann/Benno Zabel, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, vor dem Erscheinen.
Bioethik – Irritationen und Reaktionen
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pertabus wieder mit einem normativen Individualismus zu versöhnen sucht oder m. a. W. die Tabus subjektivieren möchte. Das geschieht etwa, wenn Moral und Recht gegenüber dem Individuum in Konzeptionen der Menschenwürde oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Respektierungsgebot aufstellen, das auch Urteilsunfähige schützt Es geht im Folgenden also um die Biotechnologie unter dem Gesichtspunkt einer irritierenden Objektivierung des menschlichen Körpers und um die Reaktionen darauf, die sich auf Autonomie, Körpertabus und Menschenwürde berufen. 1. OBJEKTIVIERUNG Wird eine Objektivierung des Menschen als Effekt der modernen Biotechnologie behauptet, so ist vorweg zu fragen: Hat diese Biotechnologie der Objektivierung des menschlichen Leibes wirklich etwas hinzugefügt? Hat nicht die Medizin in ihren Therapien schon spätestens dann den Menschen objektiviert, als sie, gestützt auf Descartes radikale Trennung von Ich und Körper3 als zwei selbständigen Substanzen, mit empirischen Forschungen begann? Hat sie nicht schon lange den menschlichen Körper ganz selbstverständlich als einen den Naturgesetzen wie jede andere Sache unterliegenden Gegenstand behandelt – einen Gegenstand, der nach Descartes nicht einmal, wie die denkende Instanz, beseelt ist, sondern eben reines von aussen bewegtes Objekt? Das trifft im Prinzip zu und zeigt gerade dadurch zunächst einmal, dass wir schon seit einigen Jahrhunderten in einem Prozess der Objektivierung nicht nur der Welt insgesamt, sondern auch unseres eigenen Körpers begriffen sind. Mag sein, dass schon die voluntaristische Theologie des Spätmittelalters mit ihrer Trennung des göttlichen Willens von der Objektivität der Schöpfung das Ihre zum Beginn dieser Entwicklung und damit zur Entstehung von Naturwissenschaften beigetragen hat. In dem Masse, wie so auf der einen Seite die Objektwelt, frei von immanenter Teleologie, zum Gegenstand der Forschung wird, entsteht auf der anderen Seite im Ausgang von unserer unhintergehbaren Subjektempfindung eine Philosophie des (Selbst-)Bewusstseins, eine Subjektphilosophie.4 So gesehen ist die Veränderung auf Grund der Biotechnologie in den letzten Jahrzehnten auf den ersten Blick nur eine graduelle. Dennoch fordert aber die Biotechnologie bei genauer Betrachtung unsere Erfahrungswelt und unsere Emotionen auf neue Weise heraus. Was ist es, was im Hinblick auf die Objektivierung bei aller Kontinuität neu erscheint? Neu ist zum einen, dass klinische Forschung generell durch die Methoden moderner Studien den Einzelnen nunmehr erkennbar zu einer – anders als bei der Therapie – auswechselbaren Grösse gemacht hat. Die Forschung hat darüber hinaus in Gestalt der Stammzellen- und Embryonenforschung und durch die moderne Fortpflanzungsmedizin die Entstehung des Menschen ein Stück weit dem Zufall entrissen. Sie hat seine Kontingenz einge-
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Zusammenfassend Andreas Brenner, Leben. Eine philosophische Untersuchung, Bern: BBL, 2007, 38 ff. Dieter Henrich, Bewusstes Leben, Stuttgart: Reclam, 1999, 30.
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Kurt Seelmann
schränkt und ihn am Beginn des Lebens zum Gegenstand technischer Planungen gemacht. Weiter hat die Aufdeckung von Missbrauchsfällen bei der Forschung am Menschen Ende des vergangenen Jahrhunderts5 vielen Menschen die Augen geöffnet für nicht akzeptable Kosten des bis dahin entwickelten medizinischen Fortschritts. Es verbreiteten sich nämlich Nachrichten über unfreiwillige Menschenversuche, insbesondere von den 1930er bis in die 1960er Jahre, begangen keineswegs nur von den Terror-Regimen in Deutschland und Japan. In den berichteten Fällen fand noch mehr als die bisher besprochene methodische Objektivierung cartesianischer Art statt. Die in der Forschung mit nicht aufgeklärten Einwilligungsfähigen oder gar mit Einwilligungsunfähigen liegende Objektivierung reicht in ihrem Ausmass noch deutlich weiter als es die Verselbständigung von Körper und Denken erfordert. Die Objektivierung wird nun zur Instrumentalisierung von Menschen ohne Einbezug ihrer subjektiven Verfügungsmacht über den eigenen Körper. Der Verfassungsrechtler Günter Dürig hat dies schon in den 50er Jahren mit seiner inzwischen berühmten Objektformel – der Mensch werde hier zum blossen Objekt erniedrigt – zu erfassen versucht. Die Verwerflichkeit eines solchen Vorgehens wurde der Mehrheit der Menschen offenbar trotz mancher früherer Vorüberlegungen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich und führte, zunächst in den USA, zur Begründung von sog. Ethikkommissionen für die klinische Forschung und zu jener Hochachtung der Autonomie, von der gleich noch die Rede sein wird. Ein Einschnitt in Sachen Objektivierung schien für viele Menschen auch der Beginn der Organtransplantation zu sein. Menschliche Organe, die eben organisch in einem Menschen eine Einheit bildeten, wurden auf einmal auswechselbar, erhielten den Charakter von vertretbaren Ersatzteilen. Rückblickende Beobachter in späteren Zeiten werden vielleicht gerade darin einen zentralen Paradigmenwechsel für die Körperwahrnehmung in unserer Epoche sehen. Schien es das Besondere am lebenden Körper zu sein, dass er anders als unbelebte Körper nicht nur Resultat aus einer Zusammensetzung von Teilen war, so konnten nun gerade zugeführte Teile ihn als ganzen erhalten. Aber auch die Verlegung des Todeszeitpunkts auf den Ausfall der Gehirnfunktionen bei Aufrechterhaltung von Kreislauf und Atmung, und dies zeitgleich mit dem Entstehen eines Bedarfs an gut durchbluteten Organen für die Transplantation, kann von Skeptikern als objektivierende Verwertung menschlichen Lebens gedeutet werden.6 Gibt es doch nunmehr am Ende des Lebens von Organspendern eine Phase, in der das Ganze des Körpers nur noch der Erhaltung einzelner unter seinen Teilen dient. Es verwundert nicht, dass gerade neuerdings in den USA, wo das Hirntodkriterium seinen Anfang nahm, dieses Kriterium offenbar in eine Krise geraten ist.7 5
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Zu diesen Fällen vgl. die Beiträge in: Twentieth century ethics of human subjects research – historical perspectives on values, practices, and regulations, hg. v. Volker Roelcke/Giovanni Maio, Stuttgart: Franz Steiner-Verlag, 2004. Adam Geremek, Wachkoma – Medizinische, rechtliche und ethische Aspekte, Köln: Deutsche Ärzteverlag, 2009, 12–13. President’s Council on Bioethics, Controversies in the determination of death. A White Paper, Washington D. C., 2008; zusammenfassend Sabine Müller, „Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik“, Ethik in der Medizin (2010), 5–17.
Bioethik – Irritationen und Reaktionen
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Am meisten Furcht aber scheinen sehr viele Menschen vor jener Objektivierung zu haben, die in einer Über-Behandlung besteht, einem befürchteten Absolutsetzen ihrer leiblichen Kontinuität ohne Rücksicht auf den mentalen Zustand. Gerade in der Reaktion darauf, bei der Therapieverweigerung, kam in den letzten Jahrzehnten die besondere Bedeutung der persönlichen Autonomie für das Medizinwesen ins Spiel. Die Objektivierung wurde durch eine zunächst jedenfalls in einer ersten Phase von vielen Medizinern mit Skepsis betrachtete Subjektivierung ergänzt. Voluntas sollte nun auf einmal salus ersetzen, der Wille des Menschen seinem Wohl vorgehen. Dagegen regten sich zwar auch Zweifel: Konnte es sein, so fragten sich manche Ärzte, dass man den Patienten sehenden Auges sich selbst durch Behandlungsverweigerung töten lassen musste? Sollte man verpflichtet sein, einen Suizid durch Behandlungsverweigerung zuzulassen? Nunmehr ist aber auch in der Medizin der Vorrang des aufgeklärten Patientenwillens weitgehend unbestritten.
2. PRINZIP
DER
AUTONOMIE
Die erste Reaktion auf die Wahrnehmung einer zunehmenden Objektivierung des menschlichen Körpers war also eine Besinnung auf das Prinzip der Autonomie im schlichten Sinne von Selbstbestimmung. Nur mit informierter Einwilligung des Patienten darf seither therapiert werden, nur mit informierter Einwilligung des Probanden geforscht. Auch Transplantationen erfordern im Prinzip die Einwilligung der Betroffenen oder ihrer Hinterbliebenen. Aber schnell merkte man auch, dass in den schwierigsten Fällen gerade keine wirksame Einwilligung vorliegt, etwa bei Kleinkindern und anderen zur Einwilligung Unfähigen. Hier einfach auf Nützlichkeit eines Eingriffs abzustellen liegt dann nahe, wenn es Nützlichkeit für den Betroffenen selbst ist, und es für einen gegenteiligen Willen kein Indiz gibt. Stellt man auf Nützlichkeit für andere ab, und sei es auch nur in Extremfällen, so hebelt man im Grunde die prinzipielle Entscheidung für Autonomie wieder aus – denn warum sollte man dann nicht in Extremfällen auch bei Einwilligungsfähigen gegen deren Willen das für andere, vielleicht für die Mehrheit, Nützliche tun? Noch verlangt das soweit ersichtlich niemand. Wenn es aber nicht die Nützlichkeit für andere sein darf, was soll dann bei Einwilligungsunfähigen an die Stelle der Einwilligung treten? Es bedarf dann unvermeidlich bestimmter Surrogate für die Einwilligung, Surrogate, die der Ausübung der aktuellen Selbstbestimmung so nahe wie möglich kommen. Dazu gehören eine sog. Patientenverfügung, eine gesetzliche oder gewillkürte Stellvertretung, eine mutmassliche Einwilligung oder schliesslich eine Entscheidung der Vormundschaftsbehörde. Der Einwilligung sehr nahe kommt unter diesen Surrogaten die Patientenverfügung – und doch muss man sich klar machen, dass es bei ihr bezogen auf den Eingriffszeitpunkt nur um eine einwilligungsähnliche Situation geht. Denn es ist aus dem Prinzip der Autonomie nicht ohne weiteres klar zu deduzieren, was der Wahrung der Selbstbestimmung näher kommt: das Abstellen auf eine früher, vielleicht sogar vor längerer Zeit, gemachte Äusserung oder das Ausgehen von einer heutigen mutmasslichen Willensäusserung, sofern es für sie Indizien gibt. Es geht also, legt man das Prinzip der Autonomie zugrunde, darum, als wie einwilligungsnah und folglich wie verbindlich die frühere Aussage einzuschätzen ist. Das kann
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Kurt Seelmann
von verschiedenen Umständen abhängen. So gesehen ist es kein Wunder, dass auch das neue Erwachsenenschutzrecht insoweit nicht wirklich Klarheit schafft, sondern sich einerseits ausdrücklich zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung bekennt und andererseits doch in den einzelnen Regelungen von dieser Entscheidung wieder abrückt.8 Für die Frage, welche Grenzen der Objektivierung des menschlichen Körpers gezogen werden sollten, lässt sich gegenüber Einwilligungsunfähigen also nur sehr eingeschränkt eine klare Antwort mit dem Autonomie-Prinzip finden. Hinzu kommt nun noch, dass sich selbst in den Fällen, in denen das Prinzip der Autonomie grundsätzlich greift, Schwierigkeiten bei der Grenzziehung auftun. Man kann nämlich unterschiedliche Autonomie-Konzepte zugrunde legen. So hat etwa die Bioethik den Begriff der relationalen Autonomie aufgegriffen, um zu veranschaulichen, dass Autonomie nichts Fertiges ist, sondern etwas über menschliche Relationen, z. B. die Aufklärung des Patienten durch den Arzt, erst noch Herzustellendes. Weiter wurde bald deutlich, dass man an Autonomie im Sinne eines Schutzprinzips innerhalb der Biotechnologie keine objektiv-substanziellen Anforderungen stellen durfte. Für den Bereich der Biotechnologie nicht in Frage kommt nämlich nach herrschender (aber nicht einhelliger) Meinung eine Vernunftorientierung Kantischer Art, die auf die eine oder andere Weise nach der Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaximen fragt.9 Würde man Patienten oder Probanden solche Überlegungen abfordern, um ihre Entscheidungen als autonom anzuerkennen, dann gelangten wohl nur wenige unter den Schutz des Prinzips einer so verstandenen Autonomie. Prozedurale Autonomie-Prinzipien, die eher auf Prozesse der Willenskontrolle abspielten, erhielten hingegen durch die Biotechnologie einen Auftrieb. Doch das Autonomie-Prinzip ist nicht nur bei Einwilligungsunfähigen gar nicht direkt anwendbar und dort, wo es anwendbar ist, nicht immer klar konturiert und einheitlich interpretiert. Nein, es gibt in Moral und Recht auch den Fall, dass Handlungen verboten sind, obwohl die von ihnen Betroffenen sich selbstständig und freiwillig für sie entschieden haben. Beide Normenordnungen, Moral und Recht, kennen Situationen, in denen die Einwilligung der Betroffenen und damit das Prinzip der Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung nicht anerkannt werden, etwa beim Organhandel oder bei der Tötung auf Verlangen. Beide Verhaltensweisen sind rechtlich verboten und werden wohl auch von den meisten Menschen für moralisch verwerflich gehalten. In diesen Fällen ist es gerade die Einschränkung der als Selbstbestimmung verstandenen Autonomie, welche die rechtlichen und moralischen Urteile des Gesetzgebers und einer Mehrheit in der Bevölkerung bestimmen. Mit einem Mal erkennt man, dass Autonomie in der direkten Anwendung des Prinzips nur den Urteilsfähigen schützt. Ist die Objektivierung des cartesianischen Typs das kennzeichnende Merkmal für den Umgang der Biotechnologie mit den Menschen, so taugt das Prinzip der Autonomie zunächst einmal dort als Gegenmittel, wo urteilsfähige Erwachsene die Betroffenen sind. Aber auch diesen wird gesetzlich in bestimmten Lebensbereichen verwehrt, selbstbestimmte Entscheidungen zu tref-
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Christopher Geth/Martino Mona, „Widersprüche bei der Regelung der Patientenverfügung im neuen Erwachsenenschutzrecht – Verbindlichkeit, mutmasslicher Wille oder Objektive Interessen?“, ZSR (2009), 157–180. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zuerst erschienen 1797, hier zitiert nach: Werke Insel-Ausgabe Bd. IV, Wiesbaden: Insel, 1956, 69.
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Bioethik – Irritationen und Reaktionen
fen. Nicht alle Streitfragen bioethischer und biorechtlicher Art lassen sich also als Auseinandersetzung zwischen Objektivierung und Autonomie verstehen. Aber was gilt dann für die Urteilsunfähigen als belastbares Prinzip zur Eindämmung der Objektivierung? Was lässt uns etwa beim Einwilligungsunfähigen nach einer Lösung in seinem Interesse suchen? Und womit kann man weiter das Verbot der Tötung auf Verlangen oder das Verbot des Organhandels legitimieren? Mit der Heiligkeit des Lebens oder des menschlichen Körpers? 3. HEILIGKEIT
DES
LEBENS
ODER DES MENSCHLICHEN
KÖRPERS?
Das Autonomie-Prinzip tritt, wie zu sehen war, auf der Basis einer seit dem 17. Jahrhundert verbreiteten Trennung von res extensa und res cogitans,10 als Ausgleich und Korrektiv für ein Um-sich-Greifen der Objektivierung des menschlichen Körpers auf – dieser soll nur so weit objektiviert werden dürfen, wie die Autonomie es legitimiert. Wo aus den genannten Gründen aber Autonomie als Schutzprinzip nicht greift, sollen uns, so wird vorgeschlagen, Kategorien wie die Heiligkeit des Lebens11 vor intuitiv unerträglichen Eingriffen schützen. Damit greift man allerdings eine Kategorie aus der Lebensphilosophie auf, die sich gegen beide Seiten des frühneuzeitlichen Dualismus zu wenden scheint. Ein Indiz dafür, dass der Dualismus von Objektivierung und Autonomie durch solche Lebensphilosophie in Frage gestellt wird, zeigt sich in Folgendem: Die klare theoretische Trennung zwischen Subjekt und Objekt im Sinne von Person und Sache erscheint gerade im Gegenzug zur praktischen Ausbreitung der Objektivierung in der Biotechnologie, schon seit langem in Ethik und Rechtsphilosophie in Auflösung begriffen. Waren noch bis ins 19. Jahrhundert Gegenstände unserer moralischen Verpflichtungen nur Subjekte, denen ihrerseits moralische Verantwortung oblag, so reicht der Kreis der moral patients heute weit über den der moral agents hinaus.12 Der Tier- und Pflanzenwelt begegnen wir heute unter dem in der Bundesverfassung formulierten Stichwort von der Würde der Kreatur als um ihrer selbst willen geschützt. Aber auch Leben als solches, selbst in seinen sog. primitivsten Formen, wird zum Thema eines Schutzimpulses, der teilweise in fundamentaler Skepsis gegenüber der sog. synthetischen Biologie resultiert13, die sich der Schaffung von Leben letztlich aus anorganischer Materie verschrieben hat. Kein Wunder also, dass auch der menschliche Körper, cartesianisch ja der res extensa zugehörig, selbst dort wieder als Gegenstand des Schutzes erlebt wird, wo ein verletzbares lebendes Subjekt damit gar nicht verbunden ist, bei Verstorbenen oder bei bereits abgetrennten 10 11 12
13
Dazu René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia – Meditationen über die Erste Philosophie, lat.-dt., hg. u. übers.: Gerhart Schmidt, Stuttgart: Reclam, 2010, 6. Meditation, bes. 188. Dazu Helga Kuhse, Die „Heiligkeit des Lebens“ in der Medizin – eine philosophische Kritik, autorisierte Übers. von Thomas Fehige. Erlangen: H. Fischer Verlag, 1994. Dazu Kurt Seelmann, „Menschenwürde – Schutz des ‚moral agent‘ oder des ‚moral patient‘?“ In: Integratives Rechtsdenken. Im Diskurs mit Philippe Mastronardi, hg. v. Rainer J. Schweizer/Florian Windisch, Zürich/St. Gallen: Dike, 2011, 33–47, 35 ff. Dazu Andreas Brenner, „Leben leben und Leben machen“, in: Leben schaffen? – Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, hg. v. Joachim Boldt/Oliver Müller/Giovanni Maio, Paderborn: Mentis, 2012, 150 ff.
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Kurt Seelmann
Körperteilen oder Körpersubstanzen. Kommerzialisierungsverbote werden da aufgestellt, ja in der Tradition der Antike von einer res extra commercium gesprochen. Pietät gegenüber Verstorbenen nimmt neue Dimensionen an – Praktiken wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als man Schiessübungen auf die Leichen Hingerichteter veranstaltete14, wollen uns heute geradezu barbarisch erscheinen. Und Crashtests mit menschlichen Leichen, noch vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich15, rühren heute stark an unser Pietätsgefühl. Was steht dahinter? Wer die res extensa konsequent zum Objekt macht, muss es auch mit der menschlichen res extensa tun – bemerkt aber dann plötzlich, dass er damit dem Subjekt in seiner unvermeidbaren Leib-Einheit näher rückt, als es der Dualismus zulässt. Denn die res cogitans, merken wir auf einmal, lässt sich nicht nur nicht für sich allein schützen, sie ist schon allein für ihre Personalität auf Raum und Zeit und damit auf ihre eigene res extensa, ihren Leib, angewiesen. Ist doch schon die Kommunikation zwischen Subjekten ohne Raum und Zeit und folglich ohne raum-zeitliche Existenz, also ohne Leib, gar nicht denkbar. Die radikale Objektivierung, wo sie den Menschen erreicht, führt zu ihrer eigenen Infragestellung, weil sich das Objekt als ein interagierendes gar nicht für sich genommen begreifen lässt. Aber gelingt die Erfassung dieser Problematik mit dem archaisch anmutenden Begriff der Heiligkeit von Leben oder Körper? Der Appell an ein numinoses Tabu, für unsere in der Tradition stehende Gefühlwelt intuitiv durchaus fassbar, dürfte für die Rechtsordnung nicht wirklich weiterhelfen. In einem weltanschaulich neutralen Staat darf ein numinoses Tabu nicht die Rechtsordnung bestimmen. Es mag sein, dass die Rechtsordnung Tabus ernst nehmen muss, denn sie gehören zur sozialen Realität. Verpflichtend machen für Bürger, die das Tabu nicht teilen, darf sie es dagegen nicht, jedenfalls nicht ohne einen Grund, der sich in das rechtliche Kategoriensystem einordnet. Es scheint nun in der Tat, dass die mit diesem Tabu von der Heiligkeit von Leben und Körper verbundenen inhaltlichen Fragen nicht nur ernst genommen zu werden verdienen, sondern auch in einer anderen, rechtliche Freiheit verbürgenden Konzeption und auch in einer veränderten Terminologie aufgegriffen werden können. 4. MENSCHENWÜRDE
UND
ALLGEMEINES PERSÖNLICHKEITSRECHT
Suchen wir die inhaltlichen Fragen, die sich bisher implizit gestellt haben, explizit zu formulieren. Die erste Frage lautet: Wie lässt sich der nicht autonom handelnde Mensch vor ihn verletzenden Eingriffen an Leib und Leben schützen? Eine zweite Frage schliesst daran an: Sollte es einen Schutz von Leib und Leben und der darauf gerichteten Intuitionen geben, die wir – oder die meisten von uns – als grundlegend erachten, und zwar auch dann, wenn der individuell Betroffene diesen Schutz gar nicht will? Die erste Frage betrifft das – wie wir heute sagen – Instrumentalisierungsverbot und wird seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts erfasst durch den Begriff des Schut14 15
Hinrich Rüping, „Der Schutz der Pietät“, Goltdammer’s Archiv (1977), 299–305. Dazu Albert I. King u. a., Humanitarian Benefits of Cadaver Research on Injury Prevention, The Journal of Trauma: Injury, Infection, and Critical Care (1995), 564–569.
Bioethik – Irritationen und Reaktionen
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zes der Menschenwürde im Verfassungsrecht, dem im Zivilrecht der Begriff des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nahe steht. Die damit verbundene Vorstellung, dass der Mensch gesamthaft zu schützen sei, nicht nur in einzelnen Rechten, sondern in seinem Recht auf Rechte16, ist etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im internationalen Recht und im Recht vieler Staaten verankert. Die Menschenwürde ist jener Begriff, der den Menschen als nackten Menschen, unabhängig von Leistungen und Status erfasst, und damit auch unabhängig von mentalen und kommunikativen Fähigkeiten. Menschenwürde hat nicht nur die interagierende Person, sondern selbst der, der zur Interaktion gänzlich unfähig ist – eben der Mensch als leiblich-seelische Gesamtheit, auch über seine einzelnen Rechte und deren eigenverantwortliche Wahrnehmung und Durchsetzung hinaus. Neben dem Schutz der Autonomie, der ihren Kern bildet, geht es in der Würde nämlich auch um den Schutz Nichtautonomer. Denn Menschenwürde kommt, wenn man sie am cartesianischen Dualismus misst, nicht nur der res cogitans zu, aber ebenso wenig nur der res extensa, Menschenwürde ist der Versuch, beide im leiblichen Menschen zu einer Einheit zu bringen. Die alte und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts kontrovers diskutierte Frage, ob denn jeder Mensch, unabhängig von körperlichen, geistigen oder seelischen Gebrechen eine Person, also ein vom Recht anzuerkennendes Subjekt sei, wird unter dem Stichwort Menschenwürde ausnahmslos bejaht, ja der Schutz der Menschenwürde ist gerade dieses Versprechen, dass jeder Mensch in gleicher Weise als Person behandelt wird. Den Kreis der als moral patients auch im Hinblick auf die Würde Geschützen über das menschliche Leben hinaus auszudehnen, steht zudem theoretisch in Moral und Recht nichts wirklich entgegen – auch wenn die Einzelheiten etwa im Hinblick auf unterschiedliche Würdebegriffe noch viele Fragen aufwerfen. Würde verstanden als moralisches und juridisches Abwehrrecht ist ein nicht auf Autonome beschränktes Abwehrrecht und richtet sich gleichwohl gegen das Zum-Objekt-Machen, wie es die berühmte ObjektFormel der Menschenwürde auch ausdrücklich sprachlich fasst. Worin allerdings genau die Instrumentierung von Urteilsunfähigen besteht, scheint bisher nicht abschliessend geklärt. Aber man wird davon ausgehen können, dass auch ihnen gegenüber der nötige Respekt verweigert und ihnen ihre authentische Darstellung nach aussen beeinträchtigt werden kann. Diese Respektsverweigerung und Darstellungsbeeinträchtigung soll durch das Gebot zu Achtung und Schutz der Menschenwürde verhindert werden. Aber wie steht es – und damit stellt sich die zweite vorhin zum Thema Menschenwürde aufgeworfene Frage – um den Schutz von Leib und Leben gegen die selbstbestimmte Entscheidung des Einzelnen? Dürfen trotz der in unserem Kulturkreis verbreitete Ethik des normativen Individualismus17 und eines daran orientiertes Rechts Leib und Leben auch gegen den erklärten Willen des Betroffenen geschützt werden? Beim Verbot der Tötung auf Verlangen und des Organhandels geht
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In diesem Sinne Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 501–509; vgl. auch schon Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, zuerst erschienen 1951, hier benutzt: 12. Aufl. München: 2008, 614 („Recht, Rechte zu haben“). Dazu Dietmar von der Pfordten, „Normativer Individualismus und das Recht“, JZ (2005), 1069– 1080.
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Kurt Seelmann
das geltende Recht offenbar davon aus, dass es dem Staat erlaubt sei, in dieser Weise in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einzugreifen. Auch für die Beantwortung dieser zweiten Frage wird gelegentlich auf die Menschenwürde verwiesen – Menschenwürde wäre dann zu verstehen als Verpflichtungsgrund für den Einzelnen, der von seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ausgeht. Die Würde der Gattung wäre es dann, aus der sich die Verpflichtung des Einzelnen ergäbe, sich nicht von anderen töten zu lassen und nicht seine Organe zu verkaufen. Würde hätte in diesem Verständnis die Autonomie-einschränkende Wirkung einer Grund-Pflicht. Die Vorstellung von einer das Individuum verpflichtenden Gattungswürde dürfte aber für ein liberales Verfassungsverständnis problematisch erscheinen, könnten auf diese Weise doch alle Grundrechte durch eine sie überwölbende Grundpflicht ausgehebelt werden. Würde man jede Ausübung von Freiheitsrechten durch eine Pflicht, sich dem Menschsein dabei würdig zu erweisen, korrigieren lassen, bliebe von diesen Freiheitsrechten nicht mehr viel übrig. Als Aufgabe eines den Autonomie-Schutz ergänzenden weiteren Aspekts des Würdeschutzes bleibt somit nur das Respektsgebot gegenüber dem zur Ausübung der Autonomie Unfähigen, nicht aber die Einschränkung der Selbstbestimmung um der Gattungswürde willen. 5. ZUSAMMENFASSUNG Ausgangspunkt für eine normative Regelungsbedürftigkeit der Biotechnologie ist die Gefahr der Objektivierung menschlichen Lebens. Daraus ergibt sich die grosse Bedeutung des Autonomiebegriffs als eines möglichen Korrektivs. Dieser Autonomiebegriff bedarf spezieller Ausformungen im Feld der Bio-Wissenschaften, damit nicht durch zu hohe Anforderungen an das Autonom-Sein der Kreis um die geschützten Personen zu eng gezogen wird. Ein auf das Autonomieprinzip gestütztes Recht kann aber selbst dann noch nicht allein den nötigen Schutz von Menschen gegenüber Objektivierungstendenzen bewältigen, da es immer – von Kleinkindern bis zu Demenzkranken – Personen geben wird, deren autonome Lebensgestaltung mangels Urteilsfähigkeit nicht direkt geschützt werden kann. Soweit es um den Schutz nicht autonom handelnder Personen geht, kann der andere Aspekt der Menschenwürde, ein nicht an die Urteilsfähigkeit des Geschützten gebundenes, wohl aber die Urteilsfähigen verpflichtendes Respektsgebot, eine wichtige Aufgabe erfüllen. Für einen staatlichen Schutz von Leib und Leben gegen den Betroffenen selbst dürfte sich jedoch der Gedanke eines Schutzes der Menschenwürde nicht eignen.
ERSTER TEIL: VORTRÄGE PREMIÈRE PARTIE: CONFÉRENCES
1. BIOETHISCHE PROBLEME
AM
LEBENSANFANG/ PROBLÈMES
EN LIEN AVEC LE COMMENCEMENT DE LA VIE
BIOÉTHIQUES
OLIVIER GUILLOD, NEUCHÂTEL LE
DIAGNOSTIC PRÉIMPLANTATOIRE : QUELQUES QUESTIONS JURIDIQUES
ET ÉTHIQUES
1. INTRODUCTION Le diagnostic préimplantatoire (DPI) consiste en une procédure médicale appliquée à un embryon in vitro1 avant son éventuel transfert dans l’utérus maternel, dans le but de déterminer certaines caractéristiques génétiques de l’embryon. Le premier enfant né après un DPI est né en 1989 et la pratique du DPI s’est développée depuis le début des années 1990 dans de nombreux pays européens et extra-européens. A ce jour, plus de 10’000 enfants sont nés dans le monde après avoir été l’objet d’un diagnostic préimplantatoire, apparemment sans séquelles pour leur bon développement et leur santé.2 En revanche, des études récentes semblent indiquer que le processus de fécondation in vitro, inévitablement lié au DPI, augmenterait certains risques pour la santé de l’enfant.3 Le diagnostic préimplantatoire est pour le moment interdit en Suisse par l’article 5 al. 3 de la Loi fédérale sur la procréation médicalement assistée (LPMA),4 du 18 décembre 1998 : « Le prélèvement d’une ou plusieurs cellules sur un embryon in vitro et leur analyse sont interdits » ; « Das Ablösen einer oder mehrerer Zellen von einem Embryo in vitro und deren Untersuchung sind verboten » ; « È vietato dividere una o più cellule di un embrione in vitro, nonché esaminarle in seguito ».
Pour contourner l’interdiction suisse, il est désormais notoire que des couples domiciliés en Suisse se rendent dans des pays voisins, notamment la Belgique et l’Espagne, pour obtenir sur place un diagnostic préimplantatoire. 1
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Soit au premier stade de son développement (environ 3 jours, une dizaine de cellules au maximum), soit au second (au 5e jours environ ; on parle alors de blastocyste, qui « se compose d’une cavité, d’une couche cellulaire externe (trophoblaste) et d’une masse cellulaire interne (embryoblaste) ; il est entouré par la zone pellucide », selon le glossaire se trouvant à la fin de la prise de position N° 14/2007 de la Commission nationale d’éthique pour la médecine humaine (CNE), Diagnostic préimplantatoire II. Questions spécifiques sur la réglementation légale et le typage HLA, Berne, novembre 2007, 23. Voir Joe Leigh Simpson, « Children born after preimplantation genetic diagnosis show no increase in congenital anomalies », Human Reproduction 25 (January 2010), 6 ss ; « Report on a consecutive series of 581 children born after blastomere biopsy for preimplantation genetic diagnosis », Human Reproduction 25 (January 2010), 275 ss. Voir cependant une étude qui vient d’être publiée et qui rapporte une fréquence accrue de prématurité et une valeur inférieure à la moyenne dans le développement des capacités cognitives et motrices chez les enfants nés suite à un DPI : Loretta Thomaidis et al., « Psychomotor development of children born after preimplantation genetic diagnosis and parental stress evaluation », World Journal of Pediatrics 8 (April 2012), 309 ss. Urs Scherrer et al., « Systemic and Pulmonary Vascular Dysfunction in Children Conceived by Assisted Reproductive Technologies », Circulation (March 2012), 1890 ss ; David Celermajer, « Manipulating Nature : Might There be a Cardiovascular Price to Pay for the Miracle of Assisted Conception », Circulation (March 2012), 1832 ss. RS 810.11.
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Olivier Guillod
Le 2 septembre 2004, la Commission de la science, de l’éducation et de la culture du Conseil national avait déposé une motion intitulée « Admission du diagnostic préimplantatoire ».5 Dans un avis du 24 novembre 2004, le Conseil fédéral proposait de l’accepter, ce que firent effectivement le Conseil national le 6 juin 2005 (par 92 voix contre 63) puis le Conseil des Etats le 13 décembre 2005 (par 24 voix contre 18). Les travaux législatifs commencèrent en février 2007 au sein du Département fédéral de l’intérieur et se concrétisèrent par un avant-projet de révision de la LPMA qui fut envoyé en consultation auprès de tous les milieux intéressés en février 2009. Cet avant-projet autorisait le DPI à des conditions très restrictives (en particulier la limitation à trois du nombre d’embryons pouvant être développés par cycle de traitement) qui rendaient quasiment impossible une pratique médicalement raisonnable du DPI. Chaque DPI envisagé devait en outre faire l’objet d’une déclaration obligatoire à l’Office fédéral de la santé publique (OFSP), qui était chargé d’effectuer un contrôle systématique et qui recevait le pouvoir d’interdire le DPI dans un cas individuel.6 Si le principe d’autoriser le DPI fut largement soutenu par les milieux consultés (78 % d’avis favorables), les modalités tatillonnes prévues dans l’avant-projet furent fortement critiquées. Ces critiques incitèrent le Conseil fédéral à décider en juin 2010 de remanier profondément le projet et d’y ajouter une modification de l’article 119 de la Constitution fédérale sur la procréation médicalement assistée et le génie génétique dans le domaine humain. Un nouvel avant-projet fut dès lors mis en consultation auprès des milieux intéressés en juin 2011.7 Il propose d’introduire dans la LPMA un article 5a intitulé « analyse du patrimoine génétique de gamètes ou d’embryons in vitro et sélection des gamètes ou des embryons » dont la teneur serait la suivante : « 1 L’analyse du patrimoine génétique de gamètes et leur sélection dans le but d’influer sur le sexe ou sur d’autres caractéristiques de l’enfant ne sont autorisées que si le risque de transmission d’une prédisposition à une maladie grave ne peut être écarté d’une autre manière. L’art. 22, al. 4, est réservé. « 2 L’analyse du patrimoine génétique d’embryons in vitro et leur sélection en fonction du sexe ou d’autres caractéristiques ne sont autorisées que : a. si le risque de nidation dans l’utérus d’un embryon présentant une prédisposition à une maladie grave ne peut être écarté d’une autre manière ; b. s’il est probable que cette maladie se déclare avant l’âge de 50 ans ; c. s’il n’existe aucune thérapie efficace et appropriée pour lutter contre cette maladie ; et d. si le couple fait valoir par écrit auprès du médecin qu’il ne peut raisonnablement encourir le risque visé à la let. a ».8 5 6
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Motion 04.3439, http ://www.parlament.ch/F/Suche/Pages/geschaefte.aspx ?gesch_id=20043439. Pour une appréciation de cet avant-projet, voir Bianka Dörr/Margot Michel, « Präimplantationsdiagnostik. Analyse des Entwurfs einer neuen Regelung in der Schweiz unter Bezugnahme auf Regelungen in ausgewählten europäischen Ländern », Revue suisse de droit de la santé (2010), 7, 13 ss. Pour une appréciation de ce second avant-projet, voir Bianka Dörr/Margot Michel, « Beschränkte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik : aktuelle Entwicklungen in der Schweiz und in Deutschland », Revue suisse de droit de la santé (2012), 105, 109 ss. En allemand, l’article 5a de l’avant-projet (disponible sur le site internet de l’OFSP, http ://www. bag.admin.ch/themen/medizin/03878/06152/index.html ?lang=de, énonce : « 1 Die Untersuchung des Erbguts von Keimzellen und deren Auswahl zur Beeinflussung des Geschlechts oder anderer Eigenschaften des Kindes sind nur zulässig, wenn die Gefahr, dass
Le diagnostic préimplantatoire : quelques questions juridiques et éthiques
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Soixante-deux prises de position ont été envoyées à l’Office fédéral de la santé publique au sujet de l’article 5a al. 2 relatif aux conditions du diagnostic préimplantatoire, qui se répartissent de la manière suivante : un petit quart des participants (la Conférence des directeurs sanitaires ainsi que sept cantons : AI, BE, GR, SZ, TG, VS, ZG ; trois partis politiques : le parti chrétiensocial suisse, Les Verts et l’Union démocratique du centre ; quatre organisations non gouvernementales : insieme, Pro Infirmis, l’association suisse des infirmières et infirmiers et la Fédération suisse des communautés israélites) ont déclaré approuver la réglementation proposée9, certains précisant qu’ils rejetaient tout élargissement des domaines d’application du DPI. Près des deux tiers des participants (sept cantons : BS, GE, JU, SG, TI, VD, ZH ; deux partis politiques : le parti libéral-radical et le parti socialiste ; trente organisations non gouvernementales de toute nature) ont estimé que la liste des indications permettant un DPI était trop restrictive et ont dès lors demandé que les conditions de l’article 5a al. 2 soient assouplies10. Huit participants (le canton de Lucerne, le parti démocrate-chrétien et six organisations non gouvernementales) ont au contraire jugé que la réglementation des indications était trop libérale et ont réclamé le maintien de l’interdiction du DPI. Les controverses qui accompagnent le diagnostic préimplantatoire depuis ses balbutiements n’ont donc pas cessé, mais elles portent à présent sur une proposition concrète de réglementation du DPI en Suisse. Le moment semble donc bien choisi de débattre de quelques aspects juridiques et éthiques du diagnostic préimplantatoire. 2. DPI
ET DROITS FONDAMENTAUX
Le diagnostic préimplantatoire met évidemment en jeu plusieurs droits fondamentaux. La dignité humaine (art. 7 Cst.) ne sera pas évoquée ici, dans la mesure où d’autres garanties plus spécifiques trouvent à s’appliquer.11 Nous n’entrerons pas
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die Veranlagung für eine schwere Krankheit übertragen wird, anders nicht abgewendet werden kann. Vorbehalten bleibt Artikel 22 Absatz 4. 2 Die Untersuchung des Erbguts von Embryonen in vitro und deren Auswahl nach ihrem Geschlecht oder nach anderen Eigenschaften sind nur zulässig, wenn : a. die Gefahr, dass sich ein Embryo mit einer Veranlagung für eine schwere Krankheit in der Gebärmutter einnistet, anders nicht abgewendet werden kann ; b. es wahrscheinlich ist, dass die schwere Krankheit vor dem 50. Lebensjahr ausbrechen wird ; c. keine wirksame und zweckmässige Therapie zur Bekämpfung der schweren Krankheit zur Verfügung steht ; und d. das Paar gegenüber der Ärztin oder dem Arzt schriftlich geltend macht, dass ihm die Gefahr nach Buchstabe a nicht zumutbar ist ». Voir le document de l’Office fédéral de la santé publique faisant la synthèse de la consultation : Projet relatif à la modification de l’article 119 Cst. et de la loi sur la procréation médicalement assistée (Diagnostic préimplantatoire). Résultats de la procédure de consultation (du 29 juin au 30 septembre 2011), Berne, 27 juin 2012, disponible sur le site internet de l’OFSP : http ://www. bag.admin.ch/themen/medizin/03878/06152/index.html ?lang=fr. Des assouplissements très différents les uns des autres sont demandés dans ces trente-neuf prises de position. La dignité humaine de l’embryon in vitro est en outre controversée : voir notamment Dörr/ Michel (Fn. 6), 12 et leurs références en note 48.
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Olivier Guillod
non plus dans la controverse relative au droit à la vie de l’embryon in vitro.12 En revanche, nous rappellerons quelques éléments liés à la liberté personnelle ainsi qu’à la protection de la vie privée et familiale. 2.1 LA LIBERTÉ PERSONNELLE ET LE DROIT À LA VIE PRIVÉE Depuis longtemps, le Tribunal fédéral a admis que l’accès aux méthodes de procréation médicalement assistée est protégé par la liberté personnelle, à l’époque droit constitutionnel non écrit et aujourd’hui ancrée à l’article 10 al. 2 de la Constitution fédérale.13 La liberté personnelle protège en effet chacun « dans l’exercice de sa faculté d’apprécier une situation de fait déterminée et d’agir selon cette appréciation. Cette garantie n’englobe certes pas la protection de toute possibilité de choix et de détermination de l’homme, si peu importante soit-elle ; elle recouvre cependant toutes les libertés élémentaires dont l’exercice est indispensable à l’épanouissement de la personne humaine »14. Compte tenu de cette définition large, il ne fait aucun doute que la possibilité de recourir au diagnostic préimplantatoire entre dans la sphère de protection de la liberté personnelle. De même, la Cour européenne des droits de l’homme (CourEDH) considère que l’article 8 CEDH (droit à la vie privée et familiale) « englobe, entre autres, le droit, pour l’individu, de nouer et développer des relations avec ses semblables (Niemietz c. Allemagne [références omises]), le droit au « développement personnel » (Bensaïd c. Royaume-Uni [idem]), ou encore le droit à l’autodétermination (Pretty c. Royaume-Uni [idem]). Des facteurs tels que l’identification, l’orientation et la vie sexuelles relèvent également de la sphère personnelle protégée par l’article 8 (voir, par exemple, Dudgeon c. Royaume-Uni [idem] et Laskey, Jaggard et Brown c. Royaume-Uni [idem]), de même que le droit au respect des décisions de devenir ou de ne pas devenir parent (Evans c. Royaume-Uni [idem] et A, B et C c. Irlande [idem]) ».15 La CourEDH en a déduit, tout à fait logiquement, que « le droit des couples à concevoir un enfant et à recourir pour ce faire à la procréation médicalement assistée relève également de la protection de l’article 8, pareil choix constituant une forme d’expression de la vie privée et familiale ».16 De manière encore plus spécifique, la Cour européenne des droits de l’homme a considéré « que le désir des requérants de procréer un enfant qui ne soit pas atteint par la maladie génétique dont ils sont porteurs sains et de recourir pour ce faire à la procréation médicalement assistée et au D. P. I. relève de la protection de l’article 8, pareil choix constituant une forme d’expression de leur vie privée et familiale ».17 Aux yeux de la Cour, une telle conclusion ne revient pas à consacrer un « droit à un 12 13
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Voir Dörr/Michel (Fn. 6), 12 et leurs références en note 49. ATF 115 Ia 234 ; ATF 119 Ia 460. Voir Olivier Guillod, Des cigognes aux éprouvettes : les méthodes changent, l‘amour reste, in : Journées de la Société de législation comparée, vol. 11, Paris : Société de législation comparée, 1989, 644. Par exemple ATF 123 I 112, consid. 4. Arrêt de la CourEDH, Grande Chambre, S. H. et autres c. Autriche, 3 novembre 2011, § 80. Idem, § 82. Arrêt de la CourEDH, deuxième section, Costa et Pavan c. Italie, 28 août 2012, § 57.
Le diagnostic préimplantatoire : quelques questions juridiques et éthiques
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enfant sain », car le diagnostic préimplantatoire « n’est pas de nature à exclure d’autres facteurs pouvant compromettre la santé de l’enfant à naître, tels que, par exemple, l’existence d’autres pathologies génétiques ou de complications dérivant de la grossesse ou de l’accouchement, le test en cause visant le diagnostic d’une ‹ maladie génétique spécifique d’une particulière gravité […] et incurable au moment du diagnostic › ».18 Quand le législateur suisse réglemente le DPI, il doit donc respecter les conditions posées à l’article 36 Cst. et à l’article 8 § 2 CEDH car il restreint de ce fait la liberté personnelle et le droit au respect de la vie privée et familiale. 2.2 L’ÉGALITÉ DE TRAITEMENT Le principe de l’égalité de traitement (art. 8 al. 1 Cst.) oblige le législateur et les organes d’application du droit à tenir compte des similitudes et des différences de fait dans le traitement des personnes. Autrement dit, « deux personnes doivent donc être traitées de la même manière si elles se trouvent dans des situations identiques, et elles doivent être traitées de façon distincte lorsque les situations de fait dans lesquelles elles se trouvent sont différentes »19. Le Tribunal fédéral répète souvent que « des distinctions juridiques qui ne se justifient par aucun motif raisonnable au regard de la situation de fait » violent le principe de l’égalité de traitement, tout comme l’omission de « distinctions qui s’imposent au vu des circonstances ».20 L’appréciation de la pertinence des critères de distinction doit s’effectuer par rapport aux conceptions sociales prévalant actuellement. Ce point est important dans la mesure où les attitudes de la société ont considérablement évolué à l’égard de l’usage des méthodes de procréation médicalement assistée et du recours à des tests génétiques permettant de déceler des maladies héréditaires. Cette évolution des idées est en grande partie due aux formidables développements scientifiques et technologiques des dernières décennies, qui ont donné aux êtres humains de nouveaux pouvoirs et de nouvelles responsabilités, tout en modifiant leur regard sur la procréation. Il suffit de relire les écrits d’il y a une cinquantaine d’années sur l’insémination artificielle pour mesurer le chemin parcouru. A l’époque, l’insémination artificielle avec donneur était considérée comme illicite, car contraire aux mœurs, voire aux devoirs du mariage, et les juristes se demandaient s’il ne fallait pas l’incriminer pénalement.21 De même a-t-on assisté à une acceptation croissante des techniques de diagnostic prénatal, qui confirme le phénomène d’accoutumance sociétale aux nouvelles technologies issues des progrès des sciences biomédicales.22 Le droit, ni l’éthique, ne peuvent ignorer de telles évolutions. 18 19 20 21
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Idem, § 54. Pascal Mahon, Droit constitutionnel II. Droits fondamentaux, 2e éd. , Neuchâtel : Université de Neuchâtel, 2010, n° 152. ATF 124 I 297, 299. Voir par exemple Roberto Bernhard, Die künstliche Besamung beim Menschen im Hinblick auf das schweizerische Recht, Zurich, 1958 ; Hans Felix Pfenninger, « Ist die künstliche Befruchtung strafbar oder wenigstens strafwürdig ? », Revue suisse de jurisprudence 59 (1963), 297 ss. Pour une idée des débats sur le sujet il y a vingt-cinq ans, voir les contributions réunies par Ruth Baumann/Alberto Bondolfi/Hans Ruh (éds), Genetische Testmöglichkeiten. Ethische und rechtliche
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Olivier Guillod
Le principe d’égalité est même renforcé entre femmes et hommes, le sexe étant un critère présumé discriminatoire en vertu de l’article 8 al. 2 Cst. La jurisprudence n’admet en principe aujourd’hui des différences de traitement entre femmes et hommes que si elles sont justifiées par des raisons biologiques. Le Tribunal fédéral affirme en effet que femmes et hommes doivent être traités également dans tous les domaines, sans égard aux représentations et aux relations sociales et ajoute que « [d]ie Verfassung schliesst die Geschlechtszugehörigkeit als taugliches Kriterium für rechtliche Differenzierungen grundsätzlich aus. Eine unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau ist nur noch zulässig, wenn auf dem Geschlecht beruhende biologische oder funktionale Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschliessen ».23 De manière analogue, l’article 14 CEDH prévoit que « [l]a jouissance des droits et libertés reconnus dans la présente Convention doit être assurée, sans distinction aucune, fondée notamment sur le sexe, la race (…) ». On sait que l’article 14 CEDH ne fait que compléter les autres clauses normatives de la Convention et de ses Protocoles, mais que « son application ne présuppose pas nécessairement la violation d’un des droits matériels garantis par la Convention. Il faut, mais il suffit, que les faits de la cause tombent « sous l’empire » de l’un au moins des articles de la Convention ».24 La CourEDH estime « qu’une distinction est discriminatoire au regard de l’article 14 si elle manque de justification objective et raisonnable, c’est-à-dire si elle ne poursuit pas un « but légitime » ou s’il n’y a pas de « rapport raisonnable de proportionnalité entre les moyens employés et le but visé » (…). A cet égard, la Cour observe que la Convention est un instrument vivant, à interpréter à la lumière des conditions actuelles ».25 Ce dernier point mérite d’être souligné. D’ailleurs, dans la récente affaire mettant en cause la législation autrichienne sur la procréation médicalement assistée, la CourEDH semble exiger que les Etats réexaminent périodiquement les règles régissant la procréation médicalement assistée « à la lumière de l’évolution rapide que connaissent la science et la société à cet égard ».26 2.3 L’AFFAIRE COSTA ET PAVAN C. ITALIE27 Mme Rosetta Costa, née en 1977, et M. Walter Pavan, né en 1975, ont appris en 2006, après la naissance de leur première fille atteinte de mucoviscidose,28 qu’ils étaient tous deux porteurs sains de cette maladie héréditaire. Lors d’une seconde
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Fragen, New York/Frankfurt : Campus Verlag 1990. ATF 129 I 265, 269. Arrêt de la CourEDH, 1ère section, S. H. c. Autriche, § 61. Idem, § 64. Arrêt de la CourEDH, Grande Chambre, S. H. c. Autriche, § 117. De même, la Cour constitutionnelle autrichienne avait précédemment précisé que la loi sur la procréation médicalement assistée de 1992 « reflétait l’état de la science médicale de l’époque et le consensus existant dans la société », mais « que ces données n’étaient pas figées et qu’elles pouvaient subir des évolutions dont le législateur devrait tenir compte » (ibidem). Arrêt de la CourEDH, 2e section, Costa et Pavan c. Italie, du 28 août 2012. La mucoviscidose (ou fibrose kystique) est la « deuxième maladie héréditaire autosomique récessive la plus fréquente dans la population blanche avec une fréquence de porteurs hétérozygotes asymptomatiques comprise entre 1/20 et 1/25. Il s’agit d’un trouble du métabolisme fondé sur
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grossesse en 2010, Mme Costa et M. Pavan ont demandé qu’un test prénatal soit effectué, car ils voulaient mettre au monde un enfant qui ne soit pas atteint de la mucoviscidose. Le test révéla que le fœtus était affecté de la maladie, ce qui amena le couple à effectuer une interruption médicale de grossesse (I. M. G.). Le couple a alors souhaité pouvoir accéder aux techniques de la procréation médicalement assistée et à un diagnostic génétique préimplantatoire, en vue de débuter une grossesse avec un embryon qui ne soit pas affecté par la mucoviscidose. Mais la législation italienne n’ouvre les techniques de PMA qu’aux couples stériles et interdit totalement le recours au DPI. Le couple a alors saisi la Cour européenne des droits de l’homme, en invoquant une violation des articles 8 et 14 CEDH, due au fait que « la seule voie qui leur est ouver te pour générer des enfants qui ne soient pas affectés par la maladie dont ils sont porteurs sains est celle d’entamer une grossesse par les voies naturelles et de procéder à une I. M. G. à chaque fois qu’un diagnostic prénatal devait montrer que le fœtus est atteint ».29 Les requérants rappellent que « le droit au respect des décisions de devenir ou de ne pas devenir parent, notamment au sens génétique du terme, rentre dans la notion de droit au respect de la vie privée et familiale »30 et que l’Etat devrait donc « s’abstenir de toute interférence dans le choix de l’individu de devenir ou pas le géniteur d’un enfant ».31 A titre liminaire, la Cour européenne des droits de l’homme note que le diagnostic préimplantatoire dans le but de prévenir la transmission de maladies génétiques est actuellement interdit dans trois Etats membres du Conseil de l’Europe seulement, parmi les trente-deux passés en revue32 : en Autriche, en Italie et en Suisse, ce dernier pays ayant cependant décidé de remplacer l’interdiction par une admission réglementée du DPI.33 Au contraire, dix-sept pays autorisent le diagnostic préimplantatoire à cette fin (Allemagne, Belgique, Danemark, Espagne, Finlande, France, Géorgie, Grèce, Norvège, Pays-Bas, Portugal, République tchèque, RoyaumeUni, Fédération de Russie, Serbie, Slovénie et Suède) et douze pays (Bulgarie, Chypre, Malte, Estonie, Irlande, Lettonie, Luxembourg, Pologne, Roumanie, Slovaquie, Turquie et Ukraine) ne possèdent pas de réglementation spécifique (mais plusieurs d’entre eux admettent le DPI dans les faits).34
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la défaillance d’un canal chlore, qui conduit à un épaississement des sécrétions des glandes exocrines, ce qui porte atteinte à de nombreux organes. Le poumon, le pancréas et l’appareil digestif sont principalement concernés, l’insuffisance respiratoire chronique étant la principale cause de décès des patients » : Commission nationale d’éthique pour la médecine humaine (CNE), Diagnostic préimplantatoire, Prise de position n° 10/2005, Berne 2005, p. 11. L’enfant issu d’un homme et d’une femme porteurs sains de la maladie présente un risque de 25 % d’être atteint de la maladie et un risque de 50 % d’en être lui-même porteur sain. Arrêt de la CourEDH, 2e section, Costa et Pavan c. Italie, § 41. Idem, § 48. Idem, § 49. Voir Comité Directeur pour la Bioéthique (CDBI), Document de base sur le diagnostic préimplantatoire et prénatal, CDBI/INF (2010) 6, Strasbourg (mis à jour périodiquement, la dernière fois le 20 octobre 2011), accessible sur le site : http ://www.coe.int/t/dg3/healthbioethic/ Source/INF_2010_6_dpidpn_fr.pdf. Arrêt de la CourEDH, 2e section, Costa et Pavan c. Italie, § 29 et 70. Idem, § 31 et 32.
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Le gouvernement italien conteste toute violation de la Convention, affirmant que celle-ci ne confère pas un « droit d’avoir un enfant sain »35. Il allègue que l’interdiction du DPI résulte de la loi et que celle-ci poursuit un but légitime et nécessaire dans une société démocratique, à savoir la protection des droits d’autrui et de la morale, la protection de la dignité et de la liberté de conscience des professions médicales, évitant ainsi le risque de dérives eugéniques. Il explique avoir ainsi adéquatement pris en compte la santé de l’enfant et de la femme. Enfin, il revendique une grande marge d’appréciation, en raison de l’absence de consensus européen dans un domaine touchant des questions morales, éthiques et sociales36. La Cour estime d’abord que le droit invoqué par les requérants ne consiste pas à « avoir un enfant sain », comme le prétend le gouvernement italien, mais se limite à accéder à la PMA et au DPI « en vue de procréer un enfant qui ne soit pas affecté par la mucoviscidose, maladie génétique dont ils sont porteurs sains »37. En effet, le DPI ne visera qu’une maladie génétique spécifique, grave et incurable, mais ne permettra pas d’exclure « d’autres facteurs pouvant compromettre la santé de l’enfant à naitre, tels que, par exemple, l’existence d’autres patho-logies génétiques ou de complications dérivant de la grossesse ou de l’accouchement »38. Après avoir confirmé que le souhait des requérants relevait bien de la protection de l’article 8 CEDH, la Cour constate que l’ingérence dans le droit au respect de la vie privée et familiale des requérants est prévue par la loi et poursuit des buts en soi légitimes (protéger la santé de l’enfant et de la femme, la dignité et la liberté de conscience des professions médicales, éviter le risque de dérives eugéniques)39. Mais elle s’interroge ensuite sur la proportionnalité de l’interdiction et sur sa cohérence par rapport à l’admission par le législateur italien de l’interruption médicale de grossesse. A l’unanimité, les juges de la 2e section de la Cour se déclarent non convaincus par les arguments du gouvernement italien. Ils ne voient pas comment ces arguments se concilient « avec la possibilité ouverte aux requérants de procéder à un avortement thérapeutique lorsqu’il s’avère que le fœtus est malade, compte tenu notamment des conséquences que cela comporte tant pour le fœtus, dont le développement est évidemment bien plus avancé que celui d’un embryon, que pour le couple de parents, notamment pour la femme »40. Les juges estiment incohérent d’interdire « l’implantation limitée aux seuls embryons non affectés par la maladie dont les requérants sont porteurs sains », mais d’autoriser « ceux-ci d’avorter un fœtus affecté par cette même pathologie »41. Ce système oblige en effet les requérants à « entamer une grossesse par les voies naturelles et [à] procéder à des I. M. G. lorsqu’un examen prénatal devait montrer que le fœtus est malade »42, comme cela leur est du reste déjà arrivé en 2010.
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Idem, § 44. Idem, § 45 à 47. Idem, § 53. Idem, § 54. Idem, § 57, 59 et 61. Idem, § 62. Voir aussi § 63. Idem, § 64. Idem, § 65.
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Finissant sur une touche plus humaine que juridique, la Cour dit qu’elle « ne saurait négliger, d’une part, l’état d’angoisse de la requérante qui, dans l’impossibilité de procéder à un D. P. I., aurait comme seule perspective de maternité celle liée à la possibilité que l’enfant soit affecté par la maladie litigieuse et, d’autre part, la souffrance dérivant du choix douloureux de procéder, le cas échéant, à un avortement thérapeutique »43. Elle estime en conclusion que l’ingérence dans le droit des requérants a été disproportionnée, « compte tenu de l’incohérence du système législatif italien en matière de D. P. I. ».44 Comme Valérie Junod l’a bien montré dans son commentaire de l’arrêt Costa & Pavan c. Italie45, cette jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme condamne indirectement la Suisse à lever l’interdiction du DPI et à élaborer une réglementation présentant davantage de cohérence entre diagnostic préimplantatoire, diagnostic prénatal et interruption médicale de la grossesse. 3. LE DPI
COMME INSTRUMENT DE DIAGNOSTIC DE GRAVES MALADIES
3.1 UN SOUCI DE COHÉRENCE L’arrêt de la Cour européenne des droits de l’homme qui vient d’être rapporté pose de manière succincte les principaux enjeux éthiques et juridiques du diagnostic préimplantatoire. Le dilemme fondamental inhérent au DPI provient du fait qu’il a pour but de faire un tri entre le embryons46 qu’on laissera se développer et les embryons qu’on éliminera47. Selon les convictions de chacun sur le statut moral de l’embryon humain, cet acte de sélection est présenté soit comme un acte médical préventif justifié, soit comme un intolérable ukase valant permis de vivre ou condamnation à mort. Les premiers accepteront aisément le DPI, en y voyant un bienfait pour le couple voulant procréer et pour la santé du futur enfant. Les seconds le rejetteront, en y voyant l’élimination de futurs êtres humains à un stade extrême de vulnérabilité. Après des siècles de controverses, les positions éthiques relatives au statut moral de l’embryon humain48 restent en effet toujours aussi diverses, mais le plus souvent 43 44 45
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Idem, § 66. Idem, § 71. Valérie Junod, « Un pas supplémentaire vers le diagnostic préimplantatoire. Commentaire de l’arrêt Costa & Pavan de la Cour européenne des droits de l’homme », Jusletter (29 octobre 2012). L’auteure estime que le projet de réforme actuel de la LPMA ne remplit pas entièrement les exigences de cohérence posées par la Cour européenne des droits de l’homme. Il faut rappeler que le DPI est généralement pratiqué sur un embryon de huit à dix cellules, au premier stade de son développement. Pour des détails, voir CNE (Fn. 28), 15. Dans ce sens aussi, CNE (Fn. 28), 23. Voir par exemple Maryam Kohler-Vaudaux, Le début de la personnalité juridique et la situation juridique de l’enfant à naître : étude de droit suisse et aperçu des droits français et allemand, Lausanne : Schulthess, 2006 ; Bernhard Rütsche, Rechte von Ungeborenen auf Leben und Integrität. Die Verfassung zwischen Ethik und Rechtspraxis, Zurich/St. Gall : Dike Verlag, 2009 ; Dominique Manaï, L’embryon face au droit : une entité polymorphe à géométrie variable, Revue suisse de droit de la santé (2010), 105 ss ; Michel Bastit et al. (éds), L’embryon est-il une personne ?, Paris : Lethielleux 2011.
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profondément ancrées dans l’individu. Les uns voient l’embryon humain faisant l’objet du DPI essentiellement comme un conglomérat de cellules, donc une relativement banale entité biologique qui pourrait même entrer dans la notion juridique de « chose ». Les autres voient le même embryon comme un minuscule être humain et voudraient donc le qualifier juridiquement de « personne » et le doter de droits. D’autres encore ne tranchent pas entre chose et personne, mais utilisent des expressions parfois alambiquées (par exemple « personne potentielle ») pour signaler que c’est surtout la capacité de l’embryon de se développer en un futur être humain qui justifie de lui reconnaître une certaine dignité et de lui accorder une protection différenciée selon le stade de développement où il se trouve.49 Il serait vain d’espérer réunir un consensus sur le sujet dans notre société contemporaine pluraliste. De manière pragmatique, l’ordre juridique suisse s’est rallié à la position intermédiaire et accorde donc à l’embryon humain une protection qui diffère selon les circonstances. Comme l’a souligné la Cour européenne des droits de l’homme, un ordre juridique national doit cependant présenter un minimum de cohérence50 pour ne pas devenir suspect de violer les articles 8 et 14 CEDH. Or, le DPI ne constitue qu’un procédé parmi d’autres qui pose le dilemme de la sélection d’embryons humains : le diagnostic génétique prénatal (DPN), par amniocentèse ou choriocentèse, l’ultrasonographie prénatale et l’interruption de grossesse soulèvent une problématique analogue. Il est donc nécessaire d’évaluer de manière globale les normes du droit suisse sur ces sujets, en se rappelant que c’est l’incohérence entre la réglementation du DPI d’un côté et celle du DPN suivi d’une éventuelle interruption médicale de grossesse de l’autre qui a fait condamner l’Italie à Strasbourg. 3.2 DES INDICATIONS SEMBLABLES POUR LE DPI ET LE DPN L’article 11 de la Loi fédérale sur l’analyse génétique humaine51 interdit d’effectuer une analyse prénatale visant « à rechercher des caractéristiques de l’embryon ou du foetus qui n’influencent pas directement sa santé » (lettre a) ou « à déterminer le sexe dans un but autre qu’un diagnostic » (lettre b). La disposition s’applique en principe à tous les examens prénataux, y compris à l’ultrasonographie, sans se limiter aux examens recourant spécifiquement aux techniques de la génétique moléculaire.52 Par ailleurs, l’article 12 LAGH interdit le dépistage53 prénatal (ou après la naissance) de maladies pour lesquelles il n’existe aucune mesure prophylactique ou thérapeu49
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Comme l’écrit la CNE, La recherche sur les embryons et les fœtus humains. Prise de position n° 11/2006, Berne 2006, 16 : « (p)lacer la capacité de développement (au sens de potentiel) au centre de la reconnaissance d’un statut moral et d’une dignité de l’embryon n’oblige pas nécessairement à se référer au postulat métaphysique qui veut qu’un embryon, du simple fait qu’il peut devenir une personne, doit d’ores et déjà être traité comme s’il en était une (…) le développement correspond à un processus au cours duquel la complexité de l’organisme s’accroît en même temps que s’intensifie son droit éthique à la protection ». Pour une perspective analogue, voir Junod (Fn. 45), 4 ss. LAGH, du 8 octobre 2004, RS 810.12. Dans ce sens déjà le Message du Conseil fédéral relatif à la LAGH, FF 2002, 6841, 6889. Défini par l’article 3 lettre i LAGH comme « les analyses génétiques proposées de manière systématique à l’ensemble de la population ou à un groupe déterminé de personnes au sein de
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tique. L’ultrasonographie en cours de grossesse entre cependant mal dans le cadre fixé par la LAGH, parce que l’examen ne recherche pas spécifiquement la présence d’une maladie héréditaire, mais est devenu un examen routinier de contrôle du bon développement du fœtus. Bien qu’elle soit proposée systématiquement aux femmes enceintes, l’ultrasonographie n’est ainsi pas considérée contraire à l’article 12 LAGH.54 Pour évaluer la cohérence d’une réglementation du DPI avec l’ordre juridique suisse, il faut prendre en considération les règles appliquées aux analyses génétiques prénatales et à l’éventuelle interruption de grossesse consécutive. Pour les analyses génétiques prénatales, il ressort de la LAGH deux sortes de limites : d’une part, le diagnostic prénatal ne peut être proposé que sur la base d’indications posées dans chaque cas individuel ; d’autre part, il ne peut servir à rechercher des conditions n’influençant pas de manière directe la santé de l’embryon. La première limite empêche que le diagnostic prénatal soit envisagé comme une « fishing expedition », c’est-à-dire comme une analyse recherchant à l’aveugle toute une série de traits pathologiques chez l’embryon, dont rien chez les futurs parents ne laisse supposer la présence. La seconde limite empêche une sélection des embryons ou des foetus selon le désir des futurs parents (« designer baby »). La LAGH interdit ainsi ce que le Conseil fédéral appelait les « bébés à la carte », c’est-à-dire choisis par les futurs parents en raison de leur sexe ou de caractéristiques morphologiques, psychiques ou sociales qui ne sont pas directement liées à la santé (par exemple potentiel intellectuel ou physique, etc.).55 En résumé, le droit suisse permet un diagnostic génétique prénatal aux fins de détecter n’importe quelle pathologie, sans qu’un seuil de gravité soit requis, et s’en remet pour le surplus à la conscience éthique des futurs parents et des médecins. Quant à l’interruption de grossesse consécutive à un diagnostic prénatal,56 elle est autorisée par le Code pénal « si un avis médical démontre qu’elle est nécessaire pour écarter le danger d’une atteinte grave à l’intégrité physique ou d’un état de détresse profonde de la femme enceinte. Le danger devra être d’autant plus grave que la grossesse est avancée »57 (art. 119 al. 1 CP). Une pathologie affectant le fœtus est, selon la pratique généralement admise dans notre pays,58 susceptible de causer
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celle-ci, sans qu’il existe des raisons de présumer que les caractéristiques recherchées existent chez ces personnes ». En outre, l’ultrasonographie permet au médecin de connaître le sexe de l’enfant, mais, comme l’exposait le Conseil fédéral, « sans vraiment le vouloir. C’est pourquoi l’art. 11 ne s’applique pas dans ce cas. Mais conformément à l’esprit et au but de la disposition, le médecin ne doit pas communiquer le sexe à la femme s’il existe le risque que cette information pourrait inciter celle-ci à avorter ». Dans le même sens, Junod (Fn. 45), p. 5, note 54. Message LAGH, FF 2002, 6841, 6889 ss. Encore faudrait-il connaître les gènes à exclure ou à sélectionner, ce qui reste, pour le moment du moins, de la science-fiction. Le Conseil fédéral entend donc la santé dans un sens plus restreint que la définition de l’OMS, dans le préambule de sa Constitution de 1946, qui inclut le « bien-être physique, mental et social ». Pour laquelle la liberté de la femme enceinte de demander par écrit une IVG en invoquant une situation de détresse (que personne ne doit vérifier) durant les douze semaines suivant le début de ses dernières règles (art. 119 al. 2 CP) n’est pas directement pertinente. Cette formule indique bien que le droit suisse adhère à l’idée de la protection juridique progressive de l’embryon et du fœtus en fonction des stades de son développement. Junod (Fn. 45), p. 5.
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un état de détresse profonde de la femme enceinte qui justifie pleinement la demande d’interruption de grossesse. Globalement, il en ressort que l’ordre juridique de notre pays reconnaît une liberté du couple souhaitant procréer de ne pas mettre au monde un enfant atteint d’une certaine pathologie, surtout quand celle-ci est grave. C’est ce principe fondamental qui devrait guider l’élaboration d’une réglementation sur le diagnostic préimplantatoire, de manière à assurer une cohérence globale de la loi suisse. Il impliquerait que le DPI soit permis pour détecter toute forme d’atteinte à la santé susceptible de causer un état de détresse profonde chez les futurs parents,59 sans distinguer entre le diagnostic des maladies héréditaires et celui des aneuploïdies.60 Dans cette perspective, l’article 5a de l’avant-projet de réforme de la LPMA devrait, à notre avis, être reformulé, de manière à reprendre le contenu matériel de l’actuel article 11 LAGH. Les arguments qui avaient été avancés jadis pour justifier une réglementation plus restrictive du DPI par rapport au DPN (éviter la destruction d’embryons in vitro, prévenir l’eugénisme) n’ont pas résisté à l’examen critique de certains auteurs61 et de la Cour européenne des droits de l’homme dans l’affaire Costa et Pavan. L’argument d’éviter la destruction d’embryons in vitro se désagrège face à l’acceptation de la destruction de fœtus par interruption de grossesse, compte tenu de l’adhésion du droit suisse à la conception d’une protection progressive de l’embryon humain. Protéger davantage une entité biologique de quelques cellules non différenciées qu’une entité biologique de millions de cellules différenciées, dotée d’organes vitaux, ayant pris forme humaine et capable de ressentir semble déraisonnable. L’argument de la prévention de l’eugénisme n’a guère plus de pertinence. D’abord, il ne peut pas s’agir d’eugénisme au sens traditionnel, historique du terme, qui consistait en une politique délibérée imposée par l’Etat pour améliorer l’espèce humaine en éliminant les individus porteurs de certaines tares. L’argument ne pourrait s’en prendre qu’à ce qu’il est convenu aujourd’hui d’appeler l’eugénisme libéral, à savoir une somme de décisions individuelles qui présenteraient une certaine convergence en raison d’une pression sociale diffuse d’avoir un enfant « parfait ». L’argument souligne l’importance de prendre toutes les mesures utiles pour que les décisions des futurs parents soient prises de manière vraiment libre et éclairée. Si ce point est assuré, ou bien le pluralisme éthique existant dans notre société conduira à des décisions hétérogènes réfutant l’argument initial, ou bien on verra une réelle convergence des décisions individuelles, qui reflèteront alors un large consensus sur certaines valeurs désormais largement partagées dans notre société. L’argument de prévenir l’eugénisme est souvent fondé aussi sur le fait que la décision d’éliminer un embryon de quelques cellules serait trop « facile », par rapport au conflit de conscience que pose inévitablement une décision d’interrompre 59
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Junod (Fn. 45), 4 soutient une position très proche, formulée de la manière suivante : le DPI devrait être admis « chaque fois qu’il permet d’éviter des troubles de la santé connus pour diminuer de manière très sensible la qualité de vie de l‘enfant ou de la famille ». La plupart des pays qui admettent le DPI pour des raisons médicales (par exemple la Belgique, le Danemark, les Pays-Bas, le Portugal, le Royaume-Uni) ne font pas de distinction entre le diagnostic de maladies héréditaires et la détection des aneuploïdies. Voir notamment Junod (Fn. 45).
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une grossesse. Ainsi, le risque d’eugénisme s’en trouverait considérablement accru et s’élargirait progressivement à des pathologies de moins en moins graves. Cet argument présente à mes yeux un aspect pervers, relevé aussi par la Cour européenne des droits de l’homme.62 Il revient à forcer délibérément le couple – surtout la femme – à entamer une grossesse dans l’espoir que l’enfant qu’elle porte ne sera pas atteint par la maladie, puis à effectuer un diagnostic prénatal et éventuellement à interrompre la grossesse. Imposer un tel « coût psychologique »63 est tout simplement inacceptable. Enfin, l’argument néglige un élément important qui ressort à la fois de la réalité et du droit suisse relatif à la procréation médicalement assistée. Entamer une fécondation in vitro, préalable évidemment incontournable à un DPI, représente (pour la femme surtout : stimulation ovarienne, ponction des ovules in vivo), un processus à la fois lourd et coûteux qu’aucun couple n’entreprend sans raisons majeures. De toute manière, l’accès à la fécondation in vitro n’est permis qu’aux conditions restrictives de l’article 5 al. 1 LPMA, à savoir si cela « permet de remédier à la stérilité d’un couple et que les autres traitements ont échoué ou sont vains » ou si « le risque de transmission d’une maladie grave et incurable aux descendants ne peut être écarté d’une autre manière ». La solution que nous préconisons consiste donc à adapter le futur article 5a LPMA à l’actuel article 11 LAGH. Une autre solution permettrait toutefois de trouver la cohérence recherchée entre diagnostic prénatal et diagnostic préimplantatoire. Elle consisterait à modifier l’article 11 LAGH pour tenter de définir de manière positive les indications au DPN puis à formuler de manière concordante le nouvel article 5a LPMA sur le DPI.64 Essayer de formuler des indications positives au DPN et au DPI (comme l’avantprojet actuel) me semble toutefois peu opportun, pour les raisons que le Conseil fédéral avait bien exposées dans son Message sur la LAGH. D’une part, « (u)ne formulation générale, comme par exemple un « risque sérieux pour l’enfant », laisse une telle marge d’appréciation que ses contours deviennent indéfinissables » ; d’autre part, « (l)’élaboration d’une liste d’indications suscite, elle, des réticences importantes d’ordre éthique, dans la mesure où cela revient à décréter sur le plan normatif ce qui est suffisamment pathologique pour qu’une interruption de grossesse puisse être envisagée. Au surplus, une telle liste provoquerait des inégalités et des contraintes sociales indésirables et compromettrait la liberté de décision des parents ».65 Au surplus, le simple accès aux méthodes de procréation médicalement assistée supposant déjà le risque de transmettre une maladie grave et incurable à la descendance, il nous paraît inutile de reprendre cette condition spécifiquement pour le DPI. 62 63 64
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Arrêt de la CourEDH, deuxième section, Costa et Pavan c. Italie, 28 août 2012, § 66. Pour reprendre l’expression utilisée par Junod (Fn. 45), p. 5 Le 30 novembre 2011, le Conseil fédéral a proposé d’accepter la motion 11-4037 de la Commission de la science, de l’éducation et de la culture du Conseil national relative à la modification de la LAGH, compte tenu de l’évolution scientifique (nouvelles connaissances génétiques) et technique (tests proposés sur Internet). Le Conseil national (le 8 mars 2012) puis le Conseil des Etats (le 26 septembre 2012) ont tour à tour adopté la motion. Un rapport et des propositions sont attendus en 2013 ou 2014. Message LAGH, FF 2002 6841, 6890.
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3.3 L’ACCEPTABILITÉ D’AUTRES INDICATIONS AU DPI 3.3.1 L’argument de la pente glissante face aux autres indications A côté de l’indication initiale classique du DPI consistant à diagnostiquer de graves maladies héréditaires, d’autres finalités du DPI ont suscité la controverse dès le développement du procédé. Parmi ces autres finalités figurent la détection des aneuploïdies, la détection de simples prédispositions à des maladies (certaines formes de cancer par exemple), la sélection du sexe (« social sexing ») ou d’autres caractéristiques non pathologiques chez l’embryon, la mise au monde d’un « bébé-médicament », la sélection du bébé de ses rêves (« designer baby ») ou encore le dessein général d’« améliorer » l’espèce humaine. Toutes ces autres indications sont utilisées par les opposants au diagnostic préimplantatoire pour soutenir leur argument de la pente glissante (« slippery slope ») : si l’on accepte le DPI pour détecter de grave maladies héréditaires, on ne pourra plus empêcher son utilisation pour d’autres raisons toujours plus triviales, allant finalement jusqu’à la simple convenance personnelle ou la demande sans justification explicite. Utilisé à toutes les sauces par ceux qui s’opposent à l’utilisation de nouvelles technologies controversées, l’argument de la pente glissante est aussi difficile à démontrer qu’à démonter ex ante, en raison de son caractère nécessairement spéculatif. Il présente, à première vue, un vernis de bon sens, nourri par la constatation rappelée tout à l’heure de l’accoutumance sociétale aux procédés rendus possibles par l’avancée des sciences et des techniques. L’Homme ne pourrait s’empêcher d’utiliser ce qui entre dans le champ de ses possibilités.66 S’agissant du DPI, l’argument de la pente glissante prétend que l’élargissement des indications au DPI induira un affaiblissement de la protection de la vie humaine et un renforcement de la discrimination des personnes vivant avec un handicap ou atteintes de diverses pathologies. Nous n’évoquerons ici que la sélection du sexe de l’embryon et la mise au monde d’un bébé-médicament. 3.3.2 La sélection du sexe Tout comme les examens ultrasonographiques durant la grossesse et le diagnostic génétique prénatal, le DPI permet de connaître le sexe du futur enfant et, dès lors, ouvre la possibilité d’opérer une sélection fondée sur ce seul critère. Le DPI pratiqué pour répondre à la demande d’un couple de pouvoir choisir le sexe du futur enfant représenterait environ 15 % de tous les diagnostics préimplantatoires effectués aux Etats-Unis.67 Souvent, la demande des parents est motivée par la volonté d’avoir une famille équilibrée, comprenant des enfants des deux sexes (« family balancing », en particulier à partir du troisième enfant), ce qui signifie que le 66
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L’exemple des armes nucléaires est souvent cité, bien qu’il ne soit pas le meilleur puisque, après l’utilisation de deux bombes atomiques en août 1945 à Hiroshima puis à Nagasaki, l’humanité tout entière s’est abstenue d’utiliser cette arme. Voir notamment Elizabeth Ginsburg et al., « Use of Preimplantation Genetic Diagnosis and Preimplantation Genetic Screening in the United States : a Society for Assisted Reproductive Technology Writing Group Paper », Fertiliy & Sterility 96 (April 2011), 865 ss (se référant à des chiffres de 2007 et 2008). Les auteurs notaient une légère augmentation.
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procédé n’est pas dirigé contre un sexe ou l’autre,68 contrairement aux pratiques de sélection répandues dans certains pays orientaux. L’article 14 de la Convention sur les droits de l’homme et la biomédecine (Convention d’Oviedo)69 prévoit expressément que « (l)’utilisation des techniques d’assistance médicale à la procréation n’est pas admise pour choisir le sexe de l’enfant à naître, sauf en vue d’éviter une maladie héréditaire grave liée au sexe ». Cette position est donc aujourd’hui partagée par les vingt-neuf pays européens, du Portugal à la Turquie et de la Finlande à Chypre, qui ont ratifié cette Convention. Il est intéressant d’ajouter que l’un des pays européens les plus libéraux dans le domaine de l’utilisation des progrès biomédicaux, à savoir le Royaume-Uni (qui n’a pas ratifié la Convention d’Oviedo, jugée globalement trop restrictive), a lui aussi interdit la sélection du sexe dans le cadre de la procréation médicalement assistée, à l’occasion de la réforme du Human Fertilisation and Embryology Act entrée en vigueur en octobre 2009. L’article 14 de la Convention d’Oviedo est repris en droit interne par l’article 11 LAGH qui interdit de pratiquer un diagnostic prénatal dans le but de sélectionner le sexe de l’embryon en dehors de toute raison médicale (maladies liées au chromosome sexuel). Une telle position nous semble entièrement justifiée. D’une part, l’argument du family balancing demeure un argument de convenance personnelle qui ne justifie pas d’utiliser une technologie coûteuse comme le DPI et d’écarter éventuellement des embryons tout aussi sains que celui qui est sélectionné. D’autre part, le principe de l’égalité des sexes ne s’accommode pas de laisser de futurs parents choisir selon leur libre volonté d’écarter un embryon sain uniquement en raison de son sexe. 3.3.3 La sélection d’un bébé médicament Il existe des maladies héréditaires (comme la granulomatose chronique ou la bêta thalassémie) que seule une transplantation de cellules souches hématopoïétiques parvient à soigner. Quand des parents ont un enfant atteint d’une telle maladie et ne trouvent aucun donneur potentiel de moelle osseuse ou de sang de cordon ombilical, ils peuvent songer à faire un autre enfant qui pourrait être un donneur compatible (avec une probabilité d’une chance sur quatre). Plutôt que de s’en remettre au hasard, les parents souhaiteront peut-être effectuer une fécondation in vitro puis un test de compatibilité tissulaire dans le cadre d’un DPI, pour avoir la certitude que l’enfant qu’ils mettront au monde pourra sauver son frère ou sa soeur malade.70 Depuis plusieurs années, quelques pays européens (notamment la Belgique, l’Espagne, la France, la Norvège, le Portugal, le Royaume-Uni ou encore la Suède) ont expressément autorisé l’utilisation du diagnostic préimplantatoire aux fins de sélectionner un embryon immunocompatible pour un frère ou une sœur déjà né et atteint d’une grave maladie héréditaire. En l’absence, à ma connaissance, de lois spécifiques aux Etats-Unis, une telle pratique existe aussi outre-Atlantique. Si en 68
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Selon une enquête, la pratique serait plutôt favorable aux embryons de sexe féminin : voir Sigal Klipstein, « Preimplantation Genetic Diagnosis : Technological Promises and Ethical Perils », Fertility & Sterility 83 (May 2005), 1347 ss. Ratifiée par la Suisse le 24 juillet 2008 et entrée en vigueur le 1er novembre 2008. RS 0.810.2. Paragraphe inspiré de la Position n° 14/2007 de la CNE (Fn. 1), 17.
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France, le premier « bébé-médicament » est né en janvier 2011 (et semble avoir permis de sauver la vie de sa sœur aînée atteinte de bêta-thalassémie, grâce à une transplantation de moelle osseuse), des dizaines d’autres sont nés précédemment dans les autres pays, notamment en Belgique. Il est intéressant de présenter brièvement deux modèles différents de réglementation du DPI visant à sélectionner un embryon immunocompatible : d’une part la loi française, prolixe et restrictive, d’autre part la loi belge, laconique et libérale. La législation française admettait depuis 2004, mais à titre provisoire, le diagnostic préimplantatoire destiné à sélectionner un embryon immunocompatible. Par une révision des lois de bioéthique du 9 juillet 2011,71 la réglementation a été définitivement ancrée dans le Code de la santé publique (CSP). L’article L 2131-4 CSP définit le DPI (« diagnostic biologique réalisé à partir de cellules prélevées sur l’embryon in vitro ») puis prévoit que le DPI n’est autorisé, « à titre exceptionnel », que si un médecin spécialiste atteste « que le couple, du fait de sa situation familiale, a une forte probabilité de donner naissance à un enfant atteint d’une maladie génétique d’une particulière gravité reconnue comme incurable au moment du diagnostic ». Il est nécessaire d’identifier de manière précise au préalable « chez l’un des parents ou l’un de ses ascendants immédiats dans le cas d’une maladie gravement invalidante, à révélation tardive et mettant prématurément en jeu le pronostic vital, l’anomalie ou les anomalies responsables d’une telle maladie ». Le DPI ne peut alors viser qu’à « rechercher cette affection », pour autant que les deux membres du couple y consentent par écrit. Cette réglementation très stricte des indications classiques au DPI (« maladie génétique d’une particulière gravité reconnue comme incurable ») est complétée par un article qui ouvre la voie au DPI pour sélectionner un embryon immunocompatible, mais de manière très restrictive aussi. En effet, l’article L 2131-4-1 CSP prévoit, en dérogation à l’article précédent, que le diagnostic préimplantatoire peut également être autorisé, comme ultima ratio, quand les trois conditions suivantes sont remplies : – – –
premièrement, « le couple a donné naissance à un enfant atteint d’une maladie génétique entraînant la mort dès les premières années de la vie et reconnue comme incurable au moment du diagnostic » ; deuxièmement, « le pronostic vital de cet enfant peut être amélioré, de façon décisive, par l’application sur celui-ci d’une thérapeutique ne portant pas atteinte à l’intégrité du corps de l’enfant né du transfert de l’embryon in utero » ; troisièmement, le DPI « a pour seuls objets de rechercher la maladie génétique (…) et de permettre l’application de la thérapeutique » qui vient d’être mentionnée.
La réglementation française contraste avec la réglementation belge, à la fois plus succincte et plus permissive. L’article 67 de la loi belge du 7 juillet 2007 relative à la procréation médicalement assistée et à la destination des embryons surnuméraires et des gamètes interdit le diagnostic préimplantatoire à caractère eugénique, c’est-àdire « axé sur la sélection ou l’amplification de caractéristiques génétiques non pathologiques de l’espèce humaine », et le DPI visant à sélectionner le sexe. L’article 68 71
Loi n° 2011-814 du 7 juillet 2011.
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ajoute que « le diagnostic génétique préimplantatoire est exceptionnellement autorisé dans l’intérêt thérapeutique d’un enfant déjà né du ou des auteurs du projet parental ». En pareille hypothèse, « (i)l appartient au centre de fécondation consulté d’estimer que (…) le projet parental n’a pas pour seul objectif la réalisation de cet intérêt thérapeutique ».72 En Suisse l’avant-projet de réforme de la LPMA excluait le DPI visant à sélectionner un embryon immunocompatible. Ce type de DPI pose certes des questions éthiques complexes, touchant aux droits et obligations des parents et à la protection des droits des enfants incapables de discernement. Il met en jeu des principes ayant valeur fondamentale dans toute société, tels que l’autonomie individuelle, la solidarité familiale et la non-instrumentalisation d’une personne. Dans sa prise de position publiée en 2007, la Commission nationale d’éthique distingue d’abord selon que l’on recourt à un don de sang du cordon ombilical (qui ne porte aucune atteinte à l’intégrité du nouveau-né) ou à un don de tissus, dont la nature invasive porte atteinte aux droits de l’enfant. Dans le second cas, le DPI « conduit à une double instrumentalisation de l’enfant, d’abord au moment de la conception, puis au moment du prélèvement tissulaire : d’abord, l’enfant est conçu pour donner, et sélectionné au stade de l’embryon à cette fin également ; puis, il est atteint en tant que donneur dans son intégrité physique »73. Dans la mesure où l’on ignore les modalités futures du don au moment de décider du DPI, il faut d’abord se demander si la sélection d’un embryon en fonction de son statut de donneur potentiel est admissible. Dans notre société libérale, les lois n’imposent pas un examen de conscience aux parents qui veulent avoir un enfant, naturellement ou grâce aux méthodes de procréation médicalement assistée. En d’autres termes, les raisons personnelles qui poussent un couple à avoir un enfant ne constituent pas un critère propre à les empêcher de réaliser leur projet. D’ordinaire, de nombreuses motivations, à la fois conscientes et inconscientes, altruistes et égoïstes, se mêlent pour former un « désir d’enfant ». A première vue, la motivation des parents de soigner, voire de sauver la vie d’un autre enfant malade n’est sans doute pas la plus condamnable parmi toutes celles qui conduisent un couple à vouloir un enfant. Le DPI effectué à des fins de typage tissulaire a cette particularité d’obliger les parents à rendre explicite un motif particulier d’avoir un enfant, alors que d’habitude les parents peuvent garder pour eux les ressorts intimes de leur décision. Dès lors, la position du droit belge nous paraît la plus défendable : le DPI à des fins de typage tissulaire doit exceptionnellement être permis dans l’intérêt thérapeutique d’un enfant déjà mis au monde par les mêmes parents si l’on peut raisonnablement estimer que « le projet parental n’a pas pour seul objectif la réalisation de cet intérêt thérapeutique ». Le caractère exceptionnel d’un tel DPI signifie en particulier qu’il n’est envisageable qu’après épuisement des autres solutions, telles que le don par un autre membre de la famille déjà né ou par un tiers enregistré comme donneur de moelle osseuse, ou encore le recours à une banque de sang de cordon ombilical. En outre, le fait que les parents veuillent avoir un autre enfant, « même si c’est la mala-
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Sur cette réglementation, voir aussi Dörr/Michel (Fn. 6), 19 s. CNE (Fn. 1), 18.
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die de son aîné qui est l’élément déclencheur de sa conception »74 empêche de conclure à une instrumentalisation complète de l’enfant qui, selon certains auteurs se référant à Kant, commanderait alors du point de vue éthique de renoncer au projet.75 Face à des questions insolubles,76 face à des parents pour qui « l’argument de l’instrumentalisation paraît à n’en pas douter singulièrement creux et abstrait »77, et en l’absence de toute autre option,78 la loi devrait rester sobre et laisser de la place au sens des responsabilités des personnes directement impliquées. La loi n’est de toute manière que l’un, et probablement pas le plus important (quoi qu’en disent les juristes…), des déterminants des comportements sociaux et moraux. Le phénomène du « tourisme procréatif », conduisant les gens à se rendre vers des pays plus acueillants que le leur envers la réalisation de leur désir d’enfant le rappelle avec suffisamment d’éloquence. 4. CONCLUSIONS Il ressort clairement de l’arrêt de la Cour européenne des droits de l’homme dans l’affaire Costa et Pavan c. Italie que le droit suisse actuel est contraire à la Convention européenne sur les droits de l’homme. La réforme entamée par le Gouvernement helvétique est donc bienvenue. Elle devrait à notre avis faire abstraction des controverses idéologiques stériles sur le statut de l’embryon humain qui ont trop fortement marqué les débats sur la loi sur la procréation médicalement assistée il y a une quinzaine d’années. Il existe des intérêts, individuels et collectifs, plus importants que la protection abstraite d’un embryon de quelques cellules. La loi doit protéger ces autres intérêts de manière cohérente dans les situations de diagnostic prénatal et de diagnostic préimplantatoire. Nous préconisons une approche à la fois libérale et relativement pragmatique du diagnostic préimplantatoire, tenant compte des réalités vécues et de la diversité réglementaire existant en Europe. Dans cette perspective, le diagnostic préimplantatoire doit rester une procédure médicale qui ne se justifie dès lors qu’en présence d’indications de nature thérapeutique, soit pour prévenir des atteintes à la santé de l’enfant à naître, soit pour soigner des atteintes à la santé d’un enfant déjà né.
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Idem, 18. Ibidem. Voir notamment les questions soulevées par la CNE (Fn. 1), 17 et 18, en particulier les deux suivantes : « l‘enfant sauveur souffre-t-il d‘apprendre la raison pour laquelle il a été conçu ? » ; « quelles conséquences l‘expérience a-t-elle sur la famille en général ? ». CNE (Fn. 1), 18. La perspective (à laquelle fait allusion la CNE, Fn. 1, 18) d’un « embryon-sauveur », chez lequel on prélèverait des cellules-souches hématopoïétiques à des fins de transplantation, plutôt que d’un « bébé-sauveur », deviendra sans doute une réalité au cours de ce siècle.
GIOVANNI MAIO, FREIBURG Das ausgesuchte Kind. Eine ethische Kritik der Präimplantationsdiagnostik
DAS AUSGESUCHTE KIND EINE ETHISCHE KRITIK DER PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Wenn heute ein neuer Mensch entsteht, sei es im Mutterleib oder außerhalb desselben im Zuge künstlicher Befruchtung, dann wird dieses ungeborene Kind aus der Sicht der Medizin mit ihren vielen diagnostischen und prognostischen Möglichkeiten, aber auch aus der Sicht der Gesellschaft und damit unweigerlich aus der Sicht der meisten werdenden Eltern in zunehmendem Maße als potentielle Bedrohung betrachtet. Bis das Kind seinen diagnostischen „Freispruch“ erhalten hat, richtet sich fast alle Aufmerksamkeit auf die Gefahr, die für das Lebenskonzept der Eltern von ihm ausgehen könnte. Die Möglichkeit medizinischer Erkenntnis verspricht uns, unsere Sorgen zu lindern, aber zunächst passiert etwas anderes und wichtigeres: Je mehr wir über das ungeborene Kind in Erfahrung bringen können, desto mehr fürchten wir seine vermeintlich problematischen Eigenschaften. Subjektiv haben es die Eltern nur mit ihren berechtigten Sorgen und Wünschen zu tun. Objektiv betrachtet macht sich aber in ihren vermeintlich natürlichen Sorgen eine gesellschaftliche Erwartung, eine vorgegebene Norm bemerkbar, wie Kinder sein sollen. Diese Norm kann so mächtig werden, dass sie zu einem Diktat wird, das alle Abweichungen als minderwertig ausschließt. Die Tatsache, dass der ungeborene Mensch sich nicht einfach von sich aus den an ihn herangetragenen Erwartungen fügt – früher war das die Quelle elterlicher Vorfreude –, wird zunehmend negativ besetzt. Das Kind kann nicht mehr in seinem geheimnishaften Sosein belassen werden, weil diese Geheimnishaftigkeit plötzlich eher ein beunruhigendes als erfreuliches Potential zu besitzen scheint. So zielen viele Bestrebungen der Eltern darauf ab, die möglichen Abweichungen von der Norm oder auch nur von ihren Wünschen und Bedürfnissen zu minimieren und ein „passendes“ Kind zu bekommen. Solange das gentechnisch „designte“ Kind noch nicht zur Verfügung steht, scheint die Lösung darin zu liegen, im Falle eines besorgniserregenden Befundes abzutreiben und einen zweiten Versuch zu starten. Subjektiv mögen viele das als einen Fortschritt empfinden, weil sie glauben, insgesamt das Wohl neugeborener Kinder zu fördern. Tatsächlich aber geschieht etwas anderes. Die soziale Erwartung wird zunehmend von einem Ideal technischer Perfektion geprägt, das wir auf die Natur übertragen, von einem Ideal, dem wir die Natur unterordnen. Sie soziale Erwartung wird zum Maßstab für Wert und Unwert von Leben. Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik kann nicht in ihrer Tiefendimension erfasst werden, wenn man sie nicht vor diesem Hintergrund zu beleuchten versucht.1 So besteht das Grundproblem der Präimplantationsdiagnostik darin, dass ein Embryo zwar gezeugt, aber erst unter der Bedingung, dass er nicht Träger eines Gendefektes ist, am Leben erhalten wird. Der Embryo wird unter einem klaren Vorbehalt gezeugt, und alles Weitere hängt von der genetischen Qualitätsprüfung ab: 1
Giovanni Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Eine Einführung, Stuttgart: Schattauer Verlag, 2012.
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Der Embryo darf nur leben, wenn er die Prüfung besteht. Das Problem ist, dass menschliches Leben auf Probe gezeugt und nicht bedingungslos angenommen wird. Schon im Zuge der Pränataldiagnostik hat sich ein Umgang mit dem vorgeburtlichen Leben etabliert, der diesem Leben seine fraglose Berechtigung genommen und es zu einem kontrollierbaren und zu kontrollierenden „Produkt“ menschlicher Entscheidungen gemacht hat. Die Präimplantationsdiagnostik potenziert dieses Denken. Bislang war man in Deutschland davon ausgegangen, dass die Präimplantationsdiagnostik rechtlich nicht zulässig sei, aber durch das deutsche „Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik“ (Präimplantationsgesetz – PräimpG) vom 21.11.2011 ist sie nunmehr möglich geworden. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen einer hohen Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit oder die Gefahr, dass die Schwangerschaft mit einer Fehl- oder Totgeburt endet. Darüber hinaus bedarf es einer vorherigen Beratung und der Zustimmung einer Ethikkommission. Und so scheint nach der gesetzlichen Ermöglichung der Präimplantationsdiagnostik plötzlich klar zu sein, dass der Gentest am künstlich befruchteten Embryo eine gute Lösung sei – ein prominentes Mitglied des Bundestags bezeichnete sie als Bestärkung einer „Ethik des Helfens“. Viele Abgeordnete sprachen im Kontext der Zulassung von einem „Akt der Humanität“. Ist es wirklich angemessen, in dieser Weise über die Präimplantationsdiagnostik zu sprechen? Können wir vernünftigerweise wollen, dass diese diagnostische Möglichkeit in großem Stil zur Anwendung kommt? Können wir uns widerspruchsfrei ein Gesetz denken, das die bewusste Erzeugung von Embryonen zur Weiterleitung an eine „Prüfbehörde“ erlaubt mit Genehmigung zur Aussortierung der nicht gewünschten Embryonen? Können wir menschliches Leben auf Vorrat zeugen (man wird sieben bis neun Embryonen pro PID brauchen) und nur einen Bruchteil dieser Embryonen für erhaltenswert befinden, ohne in die größten Widersprüche mit unserer Grundeinstellung gegenüber menschlichem Leben zu geraten? Können wir uns überhaupt ein Sittengesetz denken, wonach jeder Mensch unverfügbar ist, und gleichzeitig die Präimplantationsdiagnostik befördern, die dieses unverfügbare Leben der absoluten Verfügbarkeit unterwirft, zumal es keine radikalere Verfügung über Leben geben kann als das bewusste „Herstellen“ von Leben mit der Absicht, den Großteil dieses Lebens danach gleich wieder zu vernichten – aus welchen Gründen auch immer? Können wir gleichzeitig das eine denken und das andere tun? 1. ALLES
IST ERLAUBT, WEIL DER
EMBRYO
NICHTS WERT IST?
Das häufig gebrauchte Argument lautet: Es sei kein Widerspruch, das eine zu denken und das andere zu tun, weil die Unverfügbarkeit des Menschen, die prinzipiell niemand in Frage stellen wolle, nur für Embryonen nicht gelten könne, da diese noch keine Menschen seien. Mit welcher Begründung aber behaupten wir, dass der Embryo kein Mensch sei? Die Aussage „Der Embryo ist ein Mensch“ als eine religiöse Aussage zu klassifizieren, wie dies im Bundestag geschehen ist, ist kein Argument, sondern eine irreführende Behauptung in Unkenntnis der philosophischen Debatten um den Status des Embryos, die mittlerweile ganze Bibliotheken füllen. Es ist irreführend auch angesichts der Tatsache, dass nicht nur das Christentum eine Vernunftreligion ist und ein innerer Widerspruch von Vernunft und Religion hier nicht besteht.
Das ausgesuchte Kind. Eine ethische Kritik der Präimplantationsdiagnostik
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Allein das Wissen, dass jeder von uns einst ein Embryo war und dass jeder von uns sein Leben dem Umstand verdankt, dass am Beginn unserer Existenz niemand uns als Embryonen unter Berufung auf welche Befunde auch immer den Status des Menschseins abgesprochen hat, sollte uns hellhörig machen. Wir waren, wir sind und wir bleiben für immer mit dem Embryo identisch, aus dem heraus wir uns entwickelt haben. Gäbe es diese direkte Identitätslinie nicht, so müssten wir angeben können, ab welcher Entwicklungsstufe wir denn dann „wir selbst“ wären und nicht mehr „etwas anderes“. Ab der Einnistung vielleicht? Aber wenn wir erst ab der Einnistung Menschen wären, wie würde dann bei der Einnistung aus einem NichtMenschen ein Mensch werden können? Was ist an der Einnistung so Besonderes, dass dieser Vorgang aus der einen Wesenheit eine andere Wesenheit machen könnte? Wie könnte jemand, der einen solchen qualitativen Sprung behauptet, vernünftiger argumentieren als derjenige, der den Beginn des Menschseins mit der Befruchtung der Eizelle gleichsetzt? Wer also sagt, der Embryo sei kein Mensch, der muss an irgendeiner Stelle der weiteren Entwicklung des Embryos einen ontologischen Sprung behaupten. Dieser ontologische Sprung von einem Nicht-Menschen zum Menschen stößt aber auf Plausibilitätsdefizite. Warum sollte das Menschsein ausgerechnet an einen physiologischen Vorgang wie die Einnistung gebunden sein oder an das Vorhandensein von Gehirnzellen oder an die Geburt? Stellen wir uns vor, man fotographierte den Embryo und konfrontierte den Menschen, der mittels künstlicher Befruchtung entstanden ist, mit diesem Embryo, so würde dieser Mensch ganz bestimmt sagen, dass er in diesem abgebildeten Embryo den Ursprung seiner Existenz erkenne, weil er aus diesem Embryo weiter hervorgegangen ist. Dieser Mensch wird sich fragen, in welcher Weise die Laboratmosphäre ihn und seine Persönlichkeit geprägt haben könnte. Man wird diesen Menschen kaum davon überzeugen können, dass der Embryo, der er war, nicht er war, sondern irgendeine Sache, die irgendwann später erst zu ihm geworden wäre. Zwar behandeln wir heute in vielen Bereichen den Embryo nicht als Menschen. Wir betrachten ihn in verschiedenen Kontexten tatsächlich eher als ein Reservoir, als ein Mittel zur Steigerung der Schwangerschaftsrate, als Forschungsobjekt, als Ersatzteillager für wertvolle Zellen. Aber allein die Tatsache, dass wir den Embryo in diesen Kontexten so behandeln, kann kein Argument dafür sein, dass er kein Mensch wäre. Und vor allem ist zu bedenken, dass der Embryo aus sich selbst heraus und ohne dass irgend etwas getan werden muss, sich weiterentwickeln würde (Aristoteles sprach hier von „Entelechie“). In ihm ist bereits alles angelegt, er besitzt bereits die Potenz, sich als Mensch weiterzuentwickeln – vorausgesetzt, man lässt ihn dort, wo er entsteht, nämlich im Mutterleib. Insofern beruhen auch die religiösen Überzeugungen für das Menschsein des Embryos auf philosophischen und biologischen Argumenten, so dass eine Trennung von Philosophie und Theologie oder von Naturwissenschaft und Theologie oder gar eine Subsumierung „religiöser Überzeugungen“ unter eine vermeintliche Irrationalität jeder Grundlage entbehrt. In jedem Fall gerät argumentativ eher derjenige in Erklärungsnot, der den Embryo nicht als Menschen ansehen will. Infolgedessen stellt die Infragestellung des Menschseins im Embryo und die Wegleugnung des inhärenten Werts des Embryos eine problematische Ausgangslage für die Debatte dar.
46 2. MENSCHLICHES LEBEN
Giovanni Maio ALS DAS
UNZUMUTBARE?
Der zweite Einwand könnte lauten: Selbst wenn der Embryo Schutzrechte hätte, könnte man ihn doch nicht mehr schützen wollen als das Kind im Mutterleib. Aber auch dieses Argument muss kritisch hinterfragt werden. Wie will man die Auslese im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik rechtfertigen, wenn weder eine Schwangerschaft noch eine gesundheitliche Gefährdung der Frau vorliegt? Das Einzige, was vorliegt, ist ein nachgewiesener Gendefekt. Wenn man nun postulierte, das allein der Nachweis dieses Gendefektes ausreicht, um zu rechtfertigen, dass der Embryo nicht weiterleben dürfe, so nähme man unweigerlich eine Bewertung des Embryos vor. Man würde sagen, es sei besser, dass ein Embryo mit Gendefekt nicht weiterlebt, als dass er weiterlebt. Wenn wir so argumentieren, sorgen wir bloß dafür, dass sich eine Haltung, die schon gegenüber den vielen sonstigen Abtreibungen fragwürdig genug ist, noch mehr ausbreitet. Können wir wollen, dass es Leben gibt, das aus sich heraus etwas Nichtseinsollendes darstellte? Jeder Mensch war einst ein Embryo. Ist es dann nicht ein Widerspruch, wenn ich als Mensch eine Schutzwürdigkeit für mich selbst in Anspruch nehme und gleichzeitig dem anderen, dem Embryo, nicht nur dieselbe Schutzwürdigkeit abspreche, sondern sogar seine Tötung befürworte? Es geht ja nicht nur um eine Bewertung, die aus einer spezifischen Lebenslage heraus vorgenommen wird. Es geht um die viel schwerwiegendere Bewertung, die da lautet, dass ein bestimmtes menschliches Leben allein aufgrund eines Genbefundes per se und umstandslos für eine Zumutung gehalten wird. Der Gedanke eines nicht zumutbaren Lebens muss aber verstören, weil etwas für unzumutbar gehalten wird, das mehr oder weniger uns allen zukommt. Der Unterschied zwischen der genetischen Beschaffenheit des auf „Behinderung“ angelegten Embryos und der genetischen Beschaffenheit, die uns Erwachsenen zukommt, ist, dass man uns hat weiterleben lassen und dass wir nicht speziell diesen Gendefekt haben, sondern andere Gendefekte, von denen wir (noch) nichts wissen. Wenn es keinen Aufschrei gegen die Vernichtung von nicht-sein-sollendem Leben gibt, so ist das wohl nur damit zu erklären, dass der Embryo zunächst zu einem Objekt gemacht wurde, von dem man sich leicht abgrenzen kann. Erst mit der Strategie, den Embryo sozusagen emotional von uns zu entfernen, indem wir „lernen“, ihn als vollständig von uns abgetrennt zu betrachten, erst dadurch gelingt es, die Präimplantationsdiagnostik für einen Fortschritt zu halten, obwohl sie das Gegenteil davon ist. Es ist die Herauslösung des Embryos aus den Beziehungsstrukturen, seine „Atomisierung“ und seine Reduzierung auf ein herzustellendes und prüfbares Produkt, das es erst ermöglicht, die Präimplantationsdiagnostik als einen Akt der Humanität zu zu bezeichnen. Die Ausklammerung des Embryos insbesondere aus dem familiären Beziehungsgeflecht des Menschen weist deutliche Parallelen zur Ausklammerung auch des ungeborenen Kindes im Mutterleib aus den relationalen Bezügen auf. Wenn man die Abtreibung als eine automatische und zwingende Antwort auf ein ungeborenes Kind mit Behinderungen ansähe, so wäre dieses Verhalten genauso kritikwürdig wie die Präimplantationsdiagnostik. In den Debatten heißt es stets, wenn wir die Abtreibung nach Pränataldiagnostik erlaubten, müssten wir auch die Präimplantationsdiagnostik erlauben. Eine solche Schlussfolgerung ist aber problematisch. Die Abtreibung kann nicht verhindert werden, denn sie ist in der Praxis prinzipiell mög-
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lich geworden. Aber die generelle Möglichkeit der Abtreibung ist ja nicht gleichzusetzen mit ihrer moralischen Vertretbarkeit. Daher verfangen sich die Debatten in der Bestätigung des Faktischen, ohne die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob wir denn das Faktische tatsächlich begrüßen können oder ob wir nicht vielmehr anerkennen müssen, dass wir dem ungeborenen Leben nicht gerecht werden, wenn wir es ab dem Moment des Vorhandenseins eines Gendefektes automatisch und selbstverständlich aussortieren. Von einer bedingungslosen Annahme ungeborenen Lebens haben wir uns längst verabschiedet. Viele schwangere Frauen sind, bedingt durch die vorgeburtliche Diagnostik, angesichts der vielen Untersuchungsmöglichkeiten verunsichert. Sie wissen plötzlich nicht mehr, ob sie sich zu ihrem Kind bekennen oder ob sie dem Rat vieler Gynäkologen zur Abtreibung folgen sollen. Die bewusste Identifikation mit dem Kind verzögert sich. Sie setzt oft erst dann ein, wenn die ersten drei Monate vorbei sind und die Abtreibung schwieriger geworden ist. Tatsächlich also prüfen wir vorgeburtlich schon viel, und tatsächlich fällt es vielen schwer, hier bedingungslos ja zu sagen. Aber was bedeutet das? Falls wir uns von der Kultur der bedingungslosen Annahme schon verabschiedet haben, ist das doch umso tragischer, und man müsste erst recht etwas dagegen tun. Man müsste die neue Praxis grundlegend hinterfragen. Dass die Pränataldiagnostik, die ursprünglich als Schutz für Mutter und Kind gedacht war, fast nur noch zur Ausmusterung angewendet wird, stellt nichts anderes dar als eine Zweckentfremdung einer medizinischen Maßnahme. Aus diesem Missstand kann keine moralische Rechtfertigung für den nächsten Schritt abgeleitet werden. 3. ECHTE FREIHEIT
ALS
ANERKENNUNG
DER
NOTWENDIGKEIT
Kann man vor diesem Hintergrund ein Gesetz zur Ermöglichung der Präimplantationsdiagnostik gutheißen? Und was wäre, wenn ein solches Gesetz nur deshalb gewollt würde, weil ein jeder weiß, dass er selbst niemals mehr Embryo sein wird? Uns „Überlebthabende“ wird der Vernichtungswille, so scheint es, nicht mehr betreffen. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob mit der Präimplantationsdiagnostik tatsächlich ein Gewinn an „Freiheit“ verbunden wäre. Es gilt zu bedenken, dass Freiheit nur innerhalb des Lebens existiert. Alle „Freiheit“, die Leben verhindert bzw. beendet (vor allem das eigene und das der eigenen Nachkommen), ist nur schwerlich als Freiheit zu klassifizieren, weil echte Freiheit doch nur unter Berücksichtigung der Freiheit des anderen geht und jede Freiheit, die auf Kosten der Freiheit eines anderen erworben wird, doch eher eine trügerische Freiheit darstellt. So geht die Präimplantationsdiagnostik zwar mit manchen neuen und frei entscheidbaren Möglichkeiten einher, nämlich etwa mit der Möglichkeit, erfahren zu können, ob ein Gendefekt vorliegt oder nicht, und als Folge dessen mit der „Freiheit“, darüber entscheiden zu können, ob das noch ungeborene Leben weiterexistieren soll oder nicht. Aber diese „Freiheit“ kann man nur in Anspruch nehmen, indem man die Freiheit des ungeborenen Lebens negiert. Stattdessen müsste doch darüber nachgedacht werden, ob echte Freiheit nicht eher die wäre, die mit dem anderen und nicht auf Kosten eines anderen erworben wird. Genau besehen geht es bei der Präimplantationsdiagnostik um die scheinbar unumstößliche Prämisse, dass jeder Mensch selbst entscheiden dürfe, ob er mit einem einfachhin gegebenen Kind oder einem selbst ausgesuchten Kind leben möchte.
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Wer diese Prämisse nicht hinterfragt, kann unter Berufung auf einen Gendefekt das Lebensrecht ungeborenen Lebens leugnen und so tun, als ginge es in dieser Debatte allein um die Frage der Selbstbestimmung der Eltern. Genau das wurde im deutschen Bundestag suggeriert, als das zur Diskussion stehende Verbot der Präimplantationsdiagnostik als „paternalistisch“ verurteilt und als Maßnahme eines „bevormundenden Staates“ etikettiert wurde. Stattdessen wurde die Zustimmung zum freizügigsten der drei Gesetzesentwürfe als ein Ausdruck der Wertschätzung gegenüber dem mündigen Bürger hochstilisiert. Wenn man das Problem der Präimplantationsdiagnostik auf die Frage der Selbstbestimmung der Eltern reduziert, wird die Existenz ungeborenen Lebens bereits systematisch und kategorisch ausgeblendet, ja weggeleugnet, weil dieses Leben dem modernen Menschen im Weg zu stehen und ihn in seiner Freiheit zu behindern scheint. Vollkommen fremd ist der Gedanke geworden, dass „Freiheit“ auch Einsicht in die Notwendigkeit bedeuten kann und gelegentlich auch bedeuten muss. Und was gibt es Notwendigeres als die Anerkennung menschlicher Existenz? Noch fremder ist die Vorstellung geworden, dass auch und gerade ein Leben mit einem behinderten Kind ein erfülltes Leben sein kann. Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob man Eltern hinsichtlich ihrer Nachkommenschaft bevormunden darf oder ob man ihr Recht auf Selbstbestimmung respektieren muss. Die Grundfrage lautet vielmehr, wie man die Not der Eltern, die keinen anderen Ausweg wissen, als sich gegen das ungeborene Leben zu entscheiden, lindern kann. Die bisher propagierte Lösung lautete schlichtweg, dass die Not der Eltern durch die Ausmusterung menschlichen, mutmaßlich „behinderten“ Lebens gebannt werden müsse. Es wurde so getan, als sei dieser Weg ohne Alternative. Das bedeutet, dass sich der Staat komplett zurückzieht, vorgeburtliches Leben den gesellschaftlichen Erwartungen ausliefert und sich nicht weiter für die Eltern interessiert. Hier gilt es, genauer hinzuschauen und die Not ernst zu nehmen. Ernst zu nehmen in der Weise, dass man sich dafür interessiert, wie Eltern auf die Idee kommen, ein Kind mit Behinderung für das Ende ihres eigenen Lebensglückes zu halten. Für das Ende des Glücks, obwohl die wenigsten ein solches Kind, das sie ausmustern sollen, jemals kennengelernt haben. Diese Eltern sind in einer Not, in die sie nur die Diagnostik gebracht hat, und das Ausselektieren kann nicht die selbstverständliche Antwort auf diese Not sein. Schon deshalb nicht, weil diese Selektionsentscheidung Schatten wirft: auf die ganze Familie und damit auch auf die Geschwisterkinder, die danach überleben dürfen oder davor überlebt haben, und schließlich auf die seelische Gesundheit dieser Eltern, die mit ihrer Entscheidung ein Leben lang zurechtkommen müssen. In den Debatten wird oft so getan, als handelte es sich beim Aussortieren menschlichen Lebens um die optimale Lösung, um den Königsweg im Falle eines Gendefektes. Dass aber die Entscheidung gegen das ungeborene Leben Folgen hat, dass sie auch eine Hypothek bedeuten kann, wird meist verschwiegen.
Das ausgesuchte Kind. Eine ethische Kritik der Präimplantationsdiagnostik
4. PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
ALS
BEZWINGUNG
DES
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SCHICKSALS?
„Die Wucht des Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt haben mich still werden lassen“, sagte eine prominente Bundestagsabgeordnete und Ministerin im Juli 2011 im Deutschen Bundestag. Sie hat diese kryptische Rede von der „Wucht des Schicksals“ als Argument für die Präimplantationsdiagnostik bemüht und viel Applaus geerntet. Bezeichnenderweise wurde nicht bemerkt, wie irrational in diesem Fall die Berufung auf das Schicksal ist. De facto lautet die Argumentation so: das Schicksal kann den Menschen angesichts der Geburt eines behinderten Kindes hart treffen. So weit wird man uneingeschränkt zustimmen können. Falls aber die Präimplantationsdiagnostik als Methode befürwortet wird, mit der man dieses Schicksal in die eigene Hand nehmen könne, und darauf wollte die Ministerin offenbar hinaus, wird die Argumentation vollkommen schief. Es ist eben gerade nicht so, dass man mit der Präimplantationsdiagnostik die Unbill des Schicksals in die eigene Hand nähme. Man setzt sich vielmehr über das Schicksal hinweg. Denn menschliches Leben mit Gendefekt ist ja nicht mittels Technik verhinderbar, sondern dieses Leben existiert bereits, wenn es entdeckt wird. Die Technik macht dieses Leben nur ausfindig, um es dann vernichten zu lassen. Mit einer Meisterung des Schicksals hat das nichts zu tun; vielmehr handelt es sich hier um die Verleugnung des Schicksalhaften, indem man ein Leben, das existiert, einfach aus dem Weg räumt, damit man das Schicksal nicht erdulden muss. Das Schicksal im Sinne des Geschickten ist also schon da, und man weicht ihm aus. Statt allein auf das Aussortieren zu schielen, könnte man sein Schicksal dadurch bewältigen, dass man versucht, mit ihm umzugehen, es zu bewältigen. Nun wird argumentiert, dass man paternalistisch wäre, wenn man den Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind nicht respektierte. Aber ist es wirklich paternalistisch, wenn man zu bedenken gibt, dass der Wunsch nach einem eigenen und gesunden Kind nicht um jeden Preis erfüllt werden sollte? Der Preis, den Eltern zur Erfüllung ihres Kinderwunsches zahlen, wird dann zu einem zu hohen Preis, wenn sie sich dafür über viele andere Leben hinwegsetzen müssen. Insofern ist die Präimplantationsdiagnostik keine Bewältigung des Schicksals, sondern eine Verdrängung des Schicksals und ein verzweifelter Versuch, bereits gezeugtes Leben mit Gendefekt für nichtig zu erklären. Der Embryo ist da, und er ist da, wie er ist. Das ist der Bereich des Schicksals. Kein Mensch hat ihn gemacht, wie er ist, sondern er ist einfach da in seinem So-Sein. Viele sind heute davon überzeugt, dass dieses So-Sein nicht als So-Sein akzeptiert zu werden brauchte, weil sie sich als freie Menschen begreifen und unter „Freiheit“ die Lizenz verstehen, das schicksalhaft Gegebene abzulehnen. Innerhalb dieser Konzeption von Freiheit, eine „Freiheit von“ und keine „Freiheit zu“, fragen sich viele Menschen, warum sie ein Kind mit Behinderung als Schicksal empfinden sollen, wenn man doch heutzutage dank der technischen Möglichkeiten auch ein Kind ohne Behinderungen haben könnte. Besonders deutlich wird die Schieflage dieser rhetorischen Bemühungen bei dem beliebten Argument, die Präimplantationsdiagnostik stärke das „Ja“ zum Kind. Tatsächlich ist mit der Präimplantationsdiagnostik nur sekundär ein „Ja“ zum Kind verbunden, denn dieses „Ja“ ist erst möglich durch das kategorische „Nein“ zu einem anderen Leben, das genauso existiert. Dieses Nein setzt sich in das ganze Familiensystem fort. Wenn man offen dazu stünde, müssten auch die späteren Geschwis-
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terkinder mit der Hypothek leben, dass es sie unter Umständen nur um den Preis ihrer verworfenen Geschwister gibt. 5. DAS VERBOT
DER
PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
ALS
„BEVORMUNDUNG“?
Ein weiteres Argument in der deutschen Bundestagsdebatte vom Sommer 2011 lautete: „Ein Totalverbot geht vom bevormundeten Menschen aus, die Zulassung vom mündigen Menschen.“ Und zugleich wurde betont, dass die Regierung den Bürgern einen verantwortungsvollen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik zutraue. Nehmen wir als Vergleich die technischen Möglichkeiten der Klonierung von Menschen. Nach jener Argumentation müsste man das geltende Verbot der Klonierung ebenfalls als Bevormundung deuten und es dem „mündigen Bürger“ überlassen, ob er diese Technik in Anspruch nehmen möchte oder nicht. Nun könnte man einwenden, dass es bei der Klonierung um das Recht eines Dritten gehe, nämlich des Klons, den es nur geben kann, wenn man ihn „herstellt“. Aber dieser Einwand ist nicht stichhaltig, weil es auch bei der Präimplantationsdiagnostik um das Recht eines Dritten (des Embryos) geht, für das sich aber in jener Debatte fast kaum jemand eingesetzt hat. Wenn man nun sagt, man traue den Bürgern einen verantwortungsvollen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik zu, dann ist damit vorausgesetzt, dass die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik in bestimmten Konstellationen überhaupt kein Problem und erst die willkürliche und unverhältnismäßige Anwendung der Präimplantationsdiagnostik das eigentliche Problem sei. Doch diese Vorannahme ist nicht durchzuhalten. Denn daraus würde folgen, dass es nicht nur hinnehmbar, sondern sogar gut wäre, Embryonen auszusortieren, um kein Kind mit Behinderung zu bekommen. Man müsste behaupten, dass es gut wäre, gezeugtes Leben bei Nichtbestehen der Qualitätsprüfung (= Verdacht auf Behinderung) zu entsorgen. Erst wenn man die Präimplantationsdiagnostik für andere Zwecke vornähme, wie zum Beispiel zur geschlechtlichen Selektion, wäre ihre Anwendung nach dieser Logik nicht verantwortungsvoll. Die oben zitierte Politikerin unterstellt den Bürgern also in demonstrativ gutmütiger Weise, dass sie die Präimplantationsdiagnostik nur zum Ausschluss von Behinderung in Anspruch nehmen werden und nicht etwa, weil sie statt eines Jungen lieber ein Mädchen oder statt eines Mädchens lieber einen Jungen hätten. Wenn die Politiker diese Verantwortung den Bürgern wirklich zutrauten, wäre es unlogisch, eine kontrollierende Ethikkommission vorzusehen. Mehr noch: Wenn so argumentiert wird, dann verkennt man grundlegend, dass das Zeugen von Embryonen auf Probe und das bewusste Einkalkulieren der Vernichtung dieser Embryonen per se ein Problem darstellt, ganz gleich zu welchem Zweck. Es lässt sich also nicht sagen, dass es gut wäre, wenn ein Embryo verworfen würde, weil er einen Gendefekt hat – und dass man ihn nicht verwerfen dürfe, wenn er keinen Gendefekt hätte. Das wäre ja eine Diskriminierung der Menschen mit der entsprechenden Krankheit oder Behinderung. Insofern stellt diese Argumentation eine Bagatellisierung der Präimplantationsdiagnostik dar und vernebelt den Blick auf die ethischen Herausforderungen, die mit diesem Verfahren einhergehen. Noch bedenklicher als diese Verdrehung ist die der Argumentation zugrunde liegende Vorstellung von Mündigkeit. Wenn derjenige als mündig gilt, der sich die Kinder aussucht, die er haben möchte, und der andere Kinder aussortiert, die ihm
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im Wege stehen, dann wird Mündigkeit als Anspruch verstanden, nur den je eigenen Interessen zu folgen. Eine alternative und seit der Aufklärung wirkmächtige Vorstellung von Mündigkeit ist doch vielmehr die Fähigkeit des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und das hieße, dass der Mensch dann mündig wäre, wenn er nicht nur nach seinen Neigungen, sondern vor allem nach seiner Vernunft handeln würde. „Vernunft“ könnte hier bedeuten, sich von persönlichen Neigungen und partikularen Interessen gedanklich zu lösen, um zu prüfen, was im allgemeinen Interesse eine gute Entscheidung wäre. Mündig wäre also derjenige, der im Hören auf seine Vernunft sich aus Freiheit für das entschließen würde, was der „allgemeinen Gesetzgebung“ dienlich wäre. Folgt man dieser kantischen Konzeption von Mündigkeit, so wird deutlich, dass eine solche Mündigkeit nicht gleichzusetzen ist mit einem beliebigen Laissez-faire. Mündigkeit in diesem Sinn setzt eine Einsicht in die Notwendigkeit voraus. Das Notwendigste, was es gibt, ist die Anerkennung der Faktizität eines Lebens und die Anerkennung seiner grundsätzlichen Unverfügbarkeit. Menschliches Leben ist einfachhin da, und ab dem Moment, in dem es da ist, muss es der Verfügungsgewalt eines anderen entzogen sein. Wenn man von diesem Notwendigen komplett absehen möchte und den Schutz des Lebens nicht an das Sein des Lebens bindet, sondern an die Wünsche der Eltern, dann ist es ins Belieben dieser Eltern gestellt, ob sie die Unverfügbarkeit des Lebens respektieren oder nicht. Am wenigsten ist dieses Belieben ein Meilenstein zur „Humanisierung der Gesellschaft“. Vielmehr ist eine solche Argumentation im Deutschen Bundestag nichts weniger als eine staatliche Lizenz für beliebige Eltern, sich des Lebens selbst zu bemächtigen. Statt die Präimplantationsdiagnostik zuzulassen, wäre ein politisches Signal notwendig gewesen, das den gegenwärtigen Trend, das Kind im Mutterleib dem Belieben der Eltern beziehungsweise der gesellschaftlichen Erwartung preiszugeben, kritisch reflektiert. Aber mit der Einführung der Präimplantationsdiagnostik wurde dieser Trend nicht nur bestätigt und für gut befunden, er hat auch noch beschleunigenden Rückenwind bekommen. 6. KAPITULATION
VOR DEM
ZEITGEIST?
Künftig werden Eltern unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie als Risikopaar die Embryonen nicht testen lassen und sich für ein möglicherweise behindertes Kind entscheiden. Eine solche Entscheidung wird noch schwieriger werden, als sie es jetzt schon ist. Das Gesetz suggeriert, dass man gegen ein Kind mit Behinderung „etwas“ tun könne. Wenn ein Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt, werden die Eltern mit erhöhter Selbstverständlichkeit gefragt werden, ob sie „das“ nicht hätten verhindern können. Die Existenz eines Menschen mit Behinderung wird immer mehr zum Gegenstand präventiver elterlicher „Sorgfaltspflichten“ werden. Mindestens wird ein Mensch, der von Geburt an eine Behinderung hat in zunehmendem Maße als „Betriebsunfall“ eines genetisch nicht ausreichend beratenen Elternpaars gewertet werden. Folglich wird es den Eltern nicht länger als Akt der Humanität angerechnet werden, wenn sie „Ja“ zu jedem Leben sagen. Als human gilt heute, Leben zu verhindern, das unserer Selbstbestimmung (scheinbar) im Wege steht. Dieser subtil sich einschleichende Prüfungsimperativ im Umgang mit menschlichem Leben ist das Kernproblem bei der Zulassung der Prä-
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implantationsdiagnostik. Bedenkt man, dass kein Mensch unter uns lebt, der sich freiwillig hätte prüfen lassen, bevor man ihn hätte weiterleben lassen, wird deutlich, dass man nach dem deutschen Präimplantationsgesetz nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren kann. 7. DER
AUSGESUCHTE
MENSCH?
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Präimplantationsdiagnostik Existenzfragen aufwirft, die letzten Endes jeden betreffen. Um die Reichweite dieser Existenzfragen erahnen zu können, ist es hilfreich, sich eine zugelassene Präimplantationsdiagnostik vorzustellen und sich über diejenigen Gedanken zu machen, die die Auswahlprüfung der Präimplantationsdiagnostik bestanden haben werden und weiterleben dürfen. Diese für das Überleben ausgesuchten Embryonen werden Kinder sein, die in dem Bewusstsein werden leben müssen, dass sie es dem Willen ihrer Eltern zu verdanken haben, nicht getötet worden zu sein. Sie müssen in dem Bewusstsein leben, dass sie zwar gezeugt wurden, aber zunächst noch nicht angenommen waren. Ein unsicherer Genbefund hätte ihren Tod bedeutet. Dieses Bewusstsein ist eine schwere Hypothek. Damit der Mensch sich selbst annehmen kann, muss er von anderen angenommen worden sein; das Bewusstsein eines Menschen, dass er nur mit knapper Not überlebt habe, oder dass er sozusagen als zweiter Versuch angenommen worden sei, nachdem sein Vorgänger aufgrund eines Genmerkmals aussortiert wurde, dieses Bewusstsein wird eine nur bedingte, eine unsichere und fragile Selbstakzeptanz zur Folge haben. Der Überlebende weiß zwar, dass er lebt, aber nicht etwa, weil er einzigartig ist, sondern weil er zufällig kein Träger eines Merkmals ist, das ihn seine Existenz gekostet haben würde. Angesichts der Tatsache, dass die Eltern seine Geschwister verworfen haben, weil ihnen ein Leben mit einem Menschen mit Behinderungen nicht zumutbar schien, wird man sich fragen müssen, wie es diesem Überlebenden geht, wenn er sich klarmacht, dass er jederzeit durch Unfall oder Krankheit eine schwere Behinderung erleiden könnte. Müsste nicht auch dieser embryonale Mensch, der überlebt hat, später fürchten, seinen Eltern möglicherweise nicht mehr zu genügen, falls er krank werden sollte? Das ist der Preis, der zu zahlen wäre, falls wir auf die bedingungslose Annahme eines jeden Menschen verzichteten. Es geht um den Verlust der Geborgenheit und des Urvertrauens, das nur darauf gründen kann, dass man immer geliebt werden wird, ganz gleich, was kommen mag. Dieses Urvertrauen bleibt lebenslang erschüttert, wenn man schon am Beginn seines Lebens bloß überlebt hat. 8. ZUR
FUNDAMENTALEN
ANGEWIESENHEIT
AUF EINE BEDINGUNGSLOSE
ANNAHME
Die vorangegangenen Überlegungen machen deutlich, worin im Kern das Problem des Umgangs mit dem ungeborenen Leben besteht: Mit der Präimplantationsdiagnostik ersetzen wir die Selbstverständlichkeit des Gegebenen, des Gezeugten, durch unsere Wahl-„Freiheit“. Wir lehnen die Kontingenz des Seins ab und führen stattdessen die menschliche Planung ein. Es geht um die Wucht, mit der der moderne Mensch das Schicksal abschaffen will und mit der das Schicksal wie eh und je zu-
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rückschlägt, indem es die unvorhergesehene Trauer der selektierenden Eltern und die Verunsicherung der überlebenden Kinder als neue Bürde bereithält. Der moderne Mensch möchte das Schicksal abstreifen und macht sich auf dem Umweg über seine exzessiven technischen Eingriffe zum Sklaven einer neuen Form von Schicksal, die ihm die Technik beschert – also der Mensch sich selbst. Vor allem übersieht der moderne Mensch, dass er durch den Rückgriff auf eine solche selektierende Methode die grundsätzliche Unverfügbarkeit des Menschen aufhebt. Dass die Anfangsbedingungen des Menschen einfach gegeben und nicht gemacht und nicht ausgesucht werden können, das ist der größte Segen für den Menschen, denn wenn die Bedingungen des eigenen Seins nicht das Gegebene, sondern Resultat einer menschlichen Entscheidung wären, dann würde das Sein des Menschen seinen Gabecharakter verlieren. Das eigene Sein wäre dann nicht mehr das einfachhin Da-Seiende, das allein in seinem Sein einen Wert hat, sondern es würde durch die Wahl der Eltern zu einem Resultat. Das Resultat aber ist nicht mehr das fraglos Gültige, weil es ja ein anderes Resultat hätte sein können, wenn man es nur so gewollt hätte. Mit der Verabschiedung des Schicksalhaften hat man zugleich auch die Unbefangenheit, mit der man sich des Menschen annimmt, aufgegeben. Wir leben in einer Gesellschaft, die kein Schicksal duldet, in einer Gesellschaft, in der scheinbar nichts so sein muss wie es ist. Dass wir das Gegebene ersetzen wollen durch das Gemachte, rührt daher, dass wir in einem Zeitalter leben, das von Technik und Ökonomie durchdrungen ist. Und wir merken gar nicht, wie sehr die Technik und die Ökonomie unsere Grundeinstellungen zum Leben schon heute prägen. Denn sobald man die Technik und die Ökonomie als Lösung wählt, hat man sich bereits entschieden, dem Vorgegebenen, dem Sosein keinen inhärenten Wert beizumessen. Der technisch-ökonomische Zugang auf das Leben gleicht das Gegebene ständig mit dem technisch Möglichen ab. Die Technik steuert auf das Selbstgemachte und Geplante hin; das Vorgegebene soll machbar und planbar werden. Es sind letzten Endes der Einzug der technisch-ökonomischen Planungskontrolle und die damit geschaffenen Zugriffsmöglichkeiten, die den Blick auf den inhärenten Wert des Gegebenen komplett verstellen. Verkannt wird bei dem technischökonomischen Zugang, dass sich Sinn und Achtung nicht aus dem Gemachten ergeben können, sondern nur aus dem Gegebenen. Das Gegebene zu akzeptieren heißt, den Menschen als offene Frage zuzulassen. Löst man das Gegebensein auf und ersetzt es durch das Gemachtsein, so wird aus dem freien Menschen das ausgewählte, das gemachte und damit verunsicherte Wesen, das auch anders gemacht oder verworfen hätte werden können. Die Präimplantationsdiagnostik führt den Verlust der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Menschen herbei, weil sie den Sinn des Seins, die Weitergabe des Lebens, durch die Zweckmäßigkeit des Seins zu ersetzen versucht. Und damit kann sie nur in die Irre laufen. Wie verstörend die Vorstellung eines Menschen sein muss, der erfährt, dass seine Eltern im Falle eines positiven Gentests fest entschlossen gewesen wären, ihn zu töten, kann man sich nur ausmalen, wenn man sich vergegenwärtigt, was das Geborenwerden bedeutet. Es ist das blinde und ungefragte Sich-Übergeben eines wehrlosen Menschen in die Obhut von anderen, die sich das Kind nicht ausgesucht haben. Das Geborenwerden ist ja nicht weniger als ein Sich-Ausliefern an das Wohlwollen der Eltern. Ein Kleinkind, das denken könnte, müsste antizipatorisch der Güte seiner Eltern blind vertrauen können; wenn es das nicht könnte, wäre es verlo-
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ren oder wenigstens in einer sehr schwierigen Lage. Das Kleinkind denkt nicht, aber mit seiner Geburt ist notwendigerweise ein vernünftiges Urvertrauen verbunden, das im beruhigten Atmen in den Armen der Eltern seinen lebendigen Ausdruck findet. Das geborene Kind kann gar nicht anders als sich zunächst vertrauend in die Welt zu begeben, die es umgibt, und das ist im Zuge des Geborenwerdens zwangsläufig, unausgesucht und nichtoptional zunächst die eigene Mutter. Insofern stellt sich die Frage, ob dieses Angewiesensein auf ein blindes Vertrauen nicht durchkreuzt wird, ob ihm nicht zuwidergehandelt wird, wenn die Mutter dem Kind bei seiner Ankunft eigentlich sagen müsste, dass es nur erwünscht ist, „weil“ … 9. DIE PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK DER REPRODUKTIONSMEDIZIN
ALS MITTELBARES
RESULTAT
Dass das ungeborene Kind unser aller Anfang symbolisiert, ist eine Einsicht, die paradoxerweise nirgendwo so wenig Raum findet und so fremd erscheint wie in der Reproduktionsmedizin. Genau das erklärt auch, warum es bislang kaum aufgefallen ist, dass all die dargelegten Probleme der Präimplantationsdiagnostik zu einem beträchtlichen Teil Folgeprobleme der künstlichen Befruchtung sind, und hier allen voran das Ansinnen der Selektion. Dieses Ansinnen ist allerdings nicht etwa eine Fehlentwicklung der künstlichen Befruchtung, sondern es ist bereits als Denken in die Verfahren der künstlichen Befruchtung hineingelegt worden. Dies zeigt sich sogar historisch, denn der Nestor der Reproduktionsmedizin Robert G. Edwards hat offen zugegeben, dass es ihm bei der Entwicklung der Methoden der künstlichen Befruchtung darum ging, einen Beitrag zur Auswahl von nur gesunden Kindern zu leisten. So spricht er von „design methods for diagnosing and avoiding genetic disease before implantation“2. Peter Fonk hat die Reproduktionsmedizin zu Recht als eine „Einstiegstechnik für die Präimplantationsdiagnostik“3 beschrieben, denn es ist erwiesen, dass es Edwards von vornherein darum ging, Embryonen mit genetischen Defekten um jeden Preis zu vermeiden. Sein erstes Augenmerk galt den Gendefekten, die auf dem zweiten X-Chromosom verankert sind. Denn hier bestand die Möglichkeit, durch die Auswahl von nur männlichen Embryonen und die Ausselektierung der weiblichen dafür zu sorgen, dass kein Kind geboren wurde, das einen solchen x-chromosomalen Gendefekt hatte. Unter dieser Zielsetzung hat er sich noch vor der Geburt von Louise Brown (dem ersten Kind, das mittels künstlicher Befruchtung geboren wurde, und zwar im Jahre 1978) dafür ausgesprochen, die künstlich befruchteten Embryonen vor der Implantation einer Geschlechtsbestimmung zu unterziehen.4 Das Ausselektieren der schon bestehenden weiblichen Embryonen galt ihm als der beste Weg, um mit seiner Methode mehr genetisch „gesunde“ Kinder für die Geburt freizugeben. Bei der starken Allianz von Medizin und Technik wird zuweilen verkannt, dass die Technik ja nicht nur eine Methode ist, die gewählt wird, sondern sie ist zugleich 2 3 4
Zit. in Marco Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Münster: Lit, 2008, 131 f. Peter Fonk, „Menschenzüchtung auf neuen Wegen. Gedanken zur Geschichte und aktuellen Problemen der Biomedizin“, Theologische Revue 104 (3-2008), 191. Fonk (Fn. 3), 191.
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auch ein Programm, das mit einem bestimmten Grunddenken verknüpft ist. Wie dieses Grunddenken einer technisierten Fortpflanzung genau beschaffen ist, soll im Folgenden herausgearbeitet werden, indem die der Technik zugrunde liegende Logik des Herstellens genauer beleuchtet wird. 10. DIE LOGIK DES HERSTELLENS ALS EIGENTLICHER URSPRUNG DER PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Die künstliche Befruchtung ist so normal für uns geworden, dass wir gar nicht mehr merken, was sich dahinter verbirgt, wenn wir sagen, wir möchten mittels künstlicher Befruchtung ein Kind erzeugen. Das zentrale ethische Problem der künstlichen Befruchtung liegt in der Tatsache begründet, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt, ob ein Kind durch die Vereinigung von Mann und Frau gezeugt wird, oder ob dieses Kind durch technisches Handeln „hergestellt“ wird. Schon der Name der Disziplin Reproduktionsmedizin ist verräterisch. Etymologisch soll es in der Reproduktionsmedizin um die Wieder-Produktion von Menschen gehen. Damit wird der Mensch zu einem „beliebig wiederholbaren, auf Abruf herstellbaren Fakt“5. Was bedeutet es aber, wenn wir meinen, wir könnten Menschen in bestimmter Hinsicht herstellen? Im Folgenden sollen fünf Implikationen dieses Herstellungsdenkens herausgearbeitet werden, Implikationen, die bei genauerer Betrachtung mit weiten Teilen der Reproduktionsmedizin einhergehen und alle für die Banalisierung der Präimplantationsdiagnostik mit verantwortlich sind. 10.1. HERSTELLEN HEISST BEHERRSCHEN Jedes natürlich gezeugte Kind existiert deswegen, weil es einfach gekommen ist. Selbst wenn die Eltern ihn sich gewünscht haben, so ließe sich nicht sagen, dass die Eltern durch den Beischlaf das Kind hergestellt oder bestellt hätten. Vielmehr ist der geschlechtliche Akt eine notwendige Bedingung seiner Existenz gewesen, aber aus der ehelichen Vereinigung ergibt sich nicht in logischer und deterministischer Weise seine Existenz. Ob ein Kind aus der Liebe seiner Eltern hervorgeht, entzieht sich eben dem Zugriff der Eltern. Deswegen können wir auch sagen, dass der natürlich gezeugte Mensch seine Existenz letztlich einer Schenkung verdankt. Martin Rhonheimer verweist zu Recht darauf, dass das jedes geborene Kind nicht betrachtet werden kann als „Produkt des Wollens und Tuns seiner Eltern“6, weil es mehr ist als das. Und gerade weil das Kind eben mehr als das Produkt des Wollens seiner Eltern ist, kann sich ein Kind einfachhin als gegeben begreifen. In diesem Gegebensein drückt sich immer etwas aus, was dem direkten Zugriff des Menschen entzogen ist. Daher kann sich dieser Mensch unhinterfragt einfachhin als Geschenk begreifen, als Ge5
6
Peter Petersen, Reproduktionsmedizin – Herausforderung an die ärztlich-wissenschaftliche Haltung der Menschwerdung, in: Herausforderung Ethik in der Medizin, hg. v. Udo Benzenhöfer, Frankfurt: Peter Lang, 1994, 90. Martin Rhonheimer, Die Instrumentalisierung menschlichen Lebens. Ethische Erwägungen zur In-vitro-Fertilisierung, in: Fortpflanzungsmedizin und Lebensschutz, hg. v. Franz Bydlinski, Innsbruck: Tyrolia Verlag, 1993, 53.
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schenk in der Weise, dass er nicht produziert worden ist, aber auch in der Weise, dass er letzten Endes immer auch eine Überraschung war. Er mag zwar in den Köpfen seiner Eltern vorgedacht gewesen sein, aber seine faktische Existenz kommt nicht von seinen Eltern, weil man hier wie selbstverständlich anerkennt, dass er grundsätzlich der Menschenhand entzogen bleibt. Diese Anerkenntnis der Überraschung, des einfachhin Gegebenseins ist bei der künstlichen Befruchtung nicht mehr in dieser Weise da. Hier läuft man Gefahr, zu denken, dass der künstlich gezeugte Mensch Resultat einer technischen Anordnung sei und nicht ein Geschenk, das einfach kommt und gegeben ist. Man denkt wie selbstverständlich, dass es die Eltern und die Ärzte sind, die erst über diese Technik es bewirkt haben, dass dieser Mensch existiert. Das heißt also, man denkt, dass dieses Kind nicht einfach aus unverfügbaren Vorgaben zur Welt gekommen ist. Stattdessen wird angenommen, das Kind sei deswegen und nur deswegen da, weil seine Eltern alle verfügbaren Mittel angewendet haben, um es zum Entstehen zu bringen. Bei der künstlichen Befruchtung übersieht man grundlegend, dass auch hier der Mensch nicht einfach durch die Technik entsteht, sondern dass er aller Technik zum Trotz auch hier in einer Weise zum Werden kommt, die dem Menschen entzogen ist. Indem man dies übersieht, läuft man Gefahr, sich als Macher der Menschwerdung zu wähnen und durch dieses Wähnen verändert sich der Blick auf das vermeintlich hergestellte Leben. Der Blick verändert sich in der Weise, dass man meint, dieses Leben im Griff zu haben und es tatsächlich bewusst, willentlich herbeiführen zu können. Nur vor dem Hintergrund dieses Denkens und dieses Zugangs entsteht die Einstellung, dieses Leben eben mit allen Mitteln zum Entstehen bringen zu wollen. Nur vor diesem Hintergrund entsteht eine Neigung zur Obsession. Grundlage dieser Versteifung ist das der Technik inhärente Herrschaftsdenken, die Grundeinstellung einer Herrschaft über das Leben. Es wird dem Leben eben nicht einfach der Raum gelassen, sondern über das technische Denken wird das Leben selbst zu einem Herstellungsprodukt herabgestuft, das keinen Raum zu brauchen scheint, sondern nur eine ganz strikt festgelegte Prozessanordnung. Diese technische Prozessanordnung verstellt den Blick darauf, dass menschliches Leben gerade nicht hergestellt werden kann, sondern dass man ihm nur zum Entstehen verhelfen kann, wenn man nicht etwa einen Herstellungsmechanismus etabliert im Denken, sondern eine Grundhaltung des Dienstes am Leben mitbringt. Nicht das Machen von Leben ist die Grundlage, sondern das dem Leben dienen wollen, das dem Leben Zeit und Raum geben, was nichts anderes ist als zu ermöglichen, dass das Leben durch die Liebe geschenkt wird. Leben kann daher nur in der Grundhaltung des Wartens, des Zeit-Lassens und des Dienen-Wollens zum Entstehen gebracht werden und nicht in der Grundhaltung des absoluten Machenwollens, weil menschliches Leben sich nicht machen lässt, sondern nur empfangen und angenommen werden kann. Diese Grundeinsicht wird unter dem Herstellungsdenken der Technik immer fremder.
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10.2. HERSTELLEN HEISST DENKEN IN ZWECK-MITTEL-RELATIONEN Warum wird künstliche Befruchtung vorgenommen? Ein Reproduktionsmediziner würde sagen: Weil die Eltern sich ein Kind wünschen. Die künstliche Befruchtung dient also der Erfüllung eines Wunsches. Sie ist das Instrument zur Wunscherfüllung. Das heißt, dass die künstliche Befruchtung und ihr Resultat, nämlich der gezeugte oder geborene Mensch, nur dann gut ist, solange es einen Wunsch gibt, der damit erfüllt wird. Das heißt nichts anderes, als dass mit der künstlichen Befruchtung letztlich das zu „produzierende“ Kind als Mittel benutzt wird zur Erfüllung eines Wunsches. Das auf diese Weise zum Entstehen zu bringende Kind ist also nicht etwa zwecklos und damit ganz sinnvoll, sondern das Kind ist nur so lange sinnvoll wie es eben einen Zweck erfüllt, nämlich den Wunsch der Eltern zu erfüllen. Wenn wir in diesem Duktus sagen würden, „Es ist gut ein Kind zu bekommen, weil dadurch mein Wunsch, ein Kind zu haben, erfüllt wird“, so begäben wir uns auf eine schiefe Bahn, weil wir damit das Kind zu einem Instrument machen würden.7 Mehr noch, wir würden das Kind dadurch herabstufen, weil wir nicht im Sein des Kindes einen Wert sähen. Vielmehr hätte das Sein nur insofern einen Wert als dieses Sein eine bestimmte Funktion erfüllte; es wäre also nichts anders als eine nur bedingte Anerkennung.8 Daher muss darüber nachgedacht werden, ob nicht eine adäquate Einstellung zum Kind doch eigentlich nur darin liegen kann, dass der Mensch sich jederzeit bereit zeigt, sich damit auch anzufreunden, wenn der Wunsch nach einem Kind nicht in Erfüllung geht. Insofern kann der Kinderwunsch nur so lange ein vernünftiger und guter Wunsch bleiben als dieser Wunsch als ein Ausdruck des Hoffens auf einen neuen Menschen gesehen werden kann. Ein Ausdruck des Hoffens und nicht eine Haltung der Bestellung. Diese Haltung der Bestellung ist das, was an der Reproduktionsmedizin kritikwürdig erscheint, weil in dieser Haltung letzten Endes eine Asymmetrie hergestellt wird zwischen Eltern und Kind. Und diese Haltung der Asymmetrie impliziert letztlich eine Haltung der Verfügung. Wir alle können uns nur dann frei fühlen, wenn wir anerkennen, dass ein jedes menschliches Leben angemessen nur als eine Gabe zu verstehen, als etwas Gegebenes, das nicht dadurch gut ist, dass wir uns das neue Leben gewünscht haben, sondern das aus sich selbst heraus gut ist und daher selbst dann gut bleibt, wenn wir uns das entstandene Leben vorher gar nicht gewünscht haben. Je mehr nun die Reproduktionsmedizin aus dem Gegebensein des menschlichen Lebens ein Bestellenkönnen des Lebens macht, desto mehr würdigt sie das menschliche Leben zu einem Instrument herab und nährt eine Grundeinstellung zum menschlichen Leben, das verhängnisvolle Folgen hat. Denn wenn wir sagen, dass die menschliche Existenz nur deswegen gut ist, weil sie gewünscht wurde, so müssten wir zugleich anerkennen, dass es dann eben auch menschliche Existenzen geben müsste, die – weil wir sie uns nicht gewünscht haben – dann eben auch überflüssig und nutzlos und deswegen als Last zu betrachten wären. Genau diesen Übergang vom Leben als Gabe zum Leben als Instrument zur Wunscherfüllung erleben wir heute, wenn mit umgekehrten Vorzeichen bei der Präimplantationsdiagnostik so 7 8
Rhonheimer (Fn. 6), 53. Rhonheimer (Fn. 6), 53.
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getan wird, als wäre es das Selbstverständlichste, dass man ein menschliches Leben, das man sich nicht so gewünscht hat, im Vorhinein ausmustert. Hier sehen wir also, was eigentlich das Resultat der Herstellungslogik der Reproduktionsmedizin ist; wenn suggeriert wird, man könne menschliches Leben technisch „herstellen“, so wird damit zugleich das Leben selbst zu einem Produkt, das man sich bestellt und dessen Seinsqualitäten man im vorhinein auch angeben kann. 10.3. HERSTELLEN HEISST FESTLEGUNG AUF DAS RESULTAT Das natürliche Zeugen eines Kindes ist letzten Endes ein Liebeshandeln, das nicht bloß auf ein bestimmtes Resultat ausgerichtet ist. Das Kind, es mag kommen, aber es ist nicht vollständig absehbar und auch letzten Endes nicht verfügbar, ob es kommen wird oder nicht. Vor allem aber ist nicht nur die Existenz selbst, sondern auch die Art seiner Existenz vollkommen unvorhersehbar und damit einer absoluten Offenheit anheimgestellt. Daher die unabdingbare Vorstellung des Lebens als einer Gabe. Wenn wir nun nicht mehr von „Leben zeugen“, sondern nur noch von „Leben herstellen“ ausgehen, dann gibt es hier keine Offenheit mehr, keine Unvorhersehbarkeit, keine Gabe mehr. Dann wird aus der Gabe ein Produkt, und mit dem Produkt werden neue Maßstäbe gesetzt. Keine Offenheit, sondern Festgelegtheit, keine Unvorhersehbarkeit, sondern Kontrollierbarkeit und Planbarkeit, kein Hoffen mehr, sondern die Erwartung der bestellten „Ware“. Daher müssen wir beim Herstellungsdenken anerkennen, dass das Resultat des Herstellens bereits in den Anfang der Produktion hineingewoben worden ist. Man stellt nicht etwas Blindes her, sondern der gesamte Prozess des Herstellens ist auf ein ganz bestimmtes Produkt ausgerichtet, das nicht offen, sondern von vornherein fest determiniert ist. Das Resultat bestimmt den gesamten Prozess des Herstellens. Innerhalb dieser – der Reproduktionsmedizin implizit zugrunde gelegten – Logik erscheint es insofern als selbstverständlich, dass es bestimmte Kind-„Produkte“ gibt, die die Eltern scheinbar zu Recht nicht gewollt haben können. Es erscheint geradezu logisch, dass das Produkt auf Qualitätskriterien abgeklopft wird, bevor es angenommen wird. Dass Eltern meinen, es gäbe Embryonen, die sie zurückgeben könnten, wenn sie ihnen nicht gefallen, ist genau die Konsequenz eines Herstellungsdenkens, wie es in die Reproduktionsmedizin von vornherein hineingelegt worden ist. So lässt sich sagen, dass die Ansprüche an ein Kind und die sich immer weiter etablierende Einstellung einer Rückgabegarantie letzten Endes Resultate einer Herstellungslogik sind. Das ist auch innerhalb der Herstellungslogik stimmig. Denn wenn gesagt wird, dass das Kind deswegen „hergestellt“ wird, weil es der Erfüllung des Kinderwunsches dient, so ist es nur folgerichtig, dass das Kind eben dann zurückgegeben werden darf, wenn es dem Wunsch der Eltern doch nicht entspricht, wenn es also Eigenschaften hat, die die Eltern sich nicht gewünscht haben. Wenn also ein Kind deswegen lebt, weil die Eltern es sich gewünscht haben, dann wird auch das Leben nicht leben dürfen, das nicht gewünscht ist. Durch die Herstellungslogik wird also nichts anderes eingeführt als die Aufgabe einer Grundhaltung der bedingungslosen Annahme eines Lebens aus sich selbst heraus, nur weil es ist und nicht weil es eine bestimmte Funktion erfüllt. Die Vorstellung, dass jeder Mensch allein deswegen erwünscht ist, weil er existiert, wird durch die Herstellungslogik der Reproduktionsmedizin immer weiter in
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Frage gestellt, und immer wird ein Bewusstsein vorbereitet, nach dem ein Mensch eben nur deswegen existieren soll, und nur dann, wenn er auch gewünscht wurde.9 Deswegen lässt die Reproduktionsmedizin letzten Endes vergessen lassen, dass Kinder gezeugt werden müssen, damit sie kommen aber dass sie nicht „gemacht“ werden können, nur weil man sie bestellt hat. Und vor allem lässt ein solches Denken, wie sie der Reproduktionsmedizin implizit zugrunde liegt, das Staunen verlernen. Wenn auf das ungeborene Leben mit der beschriebenen Einstellung zugegangen wird, dann wird das Wunderbare, das Staunenswerte übersehen und unterschätzt, das in jedem neuen Leben mit hineingelegt ist. Das Leben wird bewertet, gemessen, gerastert und damit einfach reduziert auf einen winzigen Teilaspekt. Es wird nicht mehr bestaunt, sondern gemustert. Und dabei gibt es doch nichts, was mehr Staunen erregen kann als der neue Mensch, wenn man ihn nur als neuen Menschen im Bauch und Kopf zuzulassen und anzunehmen sich traute. Und noch etwas kommt hinzu. Wenn wir über die Denkkategorien des Herstellens das Kind zunehmend als ein herstellbares Produkt begreifen, dann hätte ja das Kind nicht nur das implizit zugeteilte Recht, die Eltern für sein Sosein verantwortlich zu machen und sie der Sorgfaltspflichtverletzungen zu bezichtigen, sondern auch im Gegenteil müsste dann ein geborener Mensch, wenn dieses Denken tatsächlich zum neuen Paradigma würde, erstmals seinen Eltern zu Dank verpflichtet sein, dass sie die Produktion „richtig“ gemacht hätten. Erstmals wäre eben das Kind nicht einfach bedingungslos da, sondern mit seiner Geburt würde das Kind eine Dankespflicht als Hypothek mit aufnehmen. Das Herstellungsdenken bedeutet also nicht nur eine Hypothek für die Eltern, die für Fahrlässigkeit belangt werden könnten, sondern es wäre auch eine Hypothek für die Kinder, die ihr Sosein der Wahl ihrer Eltern zu verdanken hätten und daher nicht einfach ohne das Gefühl einer notwendigen Gegenleistung leben dürften. 10.4. HERSTELLEN HEISST EINE RÜCKNAHMEPFLICHT EINGEHEN Verfolgen wir den Gedanken der Herstellungslogik weiter, so werden wir unweigerlich auf einen nächsten Punkt stoßen, und das ist die Vorstellung einer Reversibilität des Herstellungsprozesses. Diese Reversibilität ist ein Bestandteil des in den Produktionsprozess hineingelegten Kontrollierzwangs.10 Herstellen heißt zurücknehmen müssen, wenn das Produkt nicht den Produktions-Vorgaben entspricht. Damit geraten wir eben in einen fundamentalen Widerspruch zur Zeugung. Zeugen als menschliches Handeln ist grundsätzlich, wie jedes Handeln, unumkehrbar. Gezeugt ist gezeugt; eine Rücknahme dieser Handlung ist nicht möglich. Man mag die Handlung bedauern, aber man kann sie nicht ungeschehen machen. Beim Herstellen ist es anders; in das Herstellungsdenken ist die Rücknahme geradezu hineingewoben, weil allein das Produkt den „Sinn“ des Produzierens ausmacht. Wenn wir also aus der Zeugung eines Menschen eine Herstellung des Menschen machen, wie es die Reproduktionsmedizin schon vom Namen her suggeriert, dann führen wir damit unweigerlich die Vorstellung einer Umkehrbarkeit der Existenz von Menschen ein. Nur 9 10
Rhonheimer (Fn. 6), 53. Siehe auch Hofheinz (Fn. 2), 143 f.
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vor diesem Hintergrund kann überhaupt verstanden werden, warum die Präimplantationsdiagnostik als eine Verhinderung von Leben begriffen wurde, obwohl es ja keine Verhinderung, sondern eine Aussortierung von Leben ist. Dieser im Herstellungsprozess hineingelegte Gedanke der Umtauschgarantie ist es, der die Präimplantationsdiagnostik salonfähig gemacht hat, und der blind werden ließ für die Einsicht, dass menschliches Handeln nicht einfach ungeschehen gemacht werden kann ohne Gewalt anzutun. Wie weit dieses Denken bereits Einzug gehalten hat, zeigt sich daran, dass in letzter Zeit immer wieder diskutiert wird, ob es nicht Situationen geben könnte, in denen ein geborener Mensch nachträglich von seinen Eltern fordert, dass sie ihn nicht hätten auf die Welt bringen sollen. Allein dieser Gedanke macht in einer beunruhigenden Weise deutlich, wie sehr wir schon in diesem Herstellungsdenken behaftet sind, dass wir gar nicht mehr merken, wie widersinnig ein solches Anliegen ist, die eigenen Eltern dafür verantwortlich zu machen, dass man selbst nicht abgetrieben wurde. Das zeigt eben auf, dass mit der Übernahme der Gedankenfigur des Herstellens man gleichzeitig eine Haltung des Garantieanspruchs an Eltern mit einnimmt; wenn Menschen nicht gezeugt, sondern technisch gemacht werden dürfen, dann übernehmen die „Macher“ eine „Produktgarantie“ und werden mit entsprechenden Anspruchsrechten konfrontiert. Ab dem Moment, da das Selbstverständlichste des Selbstverständlichen, nämlich dass ein Leben einfachhin da ist ohne dass man fragen kann, wozu, ab dem Moment, da dieses Selbstverständliches außer Kraft gesetzt wird, kann es keine Ruhe mehr geben, keine angstfreies Ankommen eines neuen Menschen, weil man selbst dann, wenn man ja zu diesem Menschen sagt, man dennoch alles falsch gemacht haben könnte. 10.5. HERSTELLEN HEISST VERDINGLICHEN Wenn wir davon ausgehen, dass in der Reproduktionsmedizin nicht die Zeugung, sondern eher die Denkfigur des Herstellens vorherrschend ist, dann haben wir damit implizit bereits akzeptiert, dass das Produkt des Herstellens nicht etwas Unverfügbares ist, sondern als Produkt wird es zu einer verfügbaren Sache gemacht. Es gibt im Produktionsprozess einen Produzenten Mensch und ein Produkt Mensch und eine Beziehung der Herrschaft des Produzenten über das Produkt, und zwar eine Herrschaft, die als eine totale Verfügungsherrschaft bezeichnet werden muss. Das ist nur möglich, weil dem Produzieren selbst schon eine Tendenz zur Verdinglichung inhärent ist. Das Produkt wird zur bloßen Sache, zum Objekt der technischen Berechnung. Das, was vermeintlich hergestellt wird, verliert geradezu automatisch seinen inneren Wert und wird durch die gedankliche Überformung des Herstellungsdenkens zu einer Sache mit einem bloß instrumentellen Wert. Das Produkt menschliches Leben steht auf diese Weise dem Menschen sogar wörtlich zur Verfügung, zur Verfügung in dem Sinne, dass es sowohl optimiert als auch ausgemustert werden darf, weil es im Kontext des Produzierens nichts gibt, was Staunen oder Achtung ermöglichen könnte. Die Achtung vor dem Leben wird ersetzt durch die Qualitätsprüfung. Und dies ist nur möglich, weil das Leben selbst durch den Produktionszusammenhang zur Sache erklärt worden ist. Ein Grundproblem der Reproduktionsmedizin besteht somit darin, dass sie menschliches Leben nicht als Gegebenheit wahrnimmt, sondern dass sie menschli-
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ches Leben wie selbstverständlich zum Objekt macht. Wie sehr diese Tendenz vorhanden ist, können wir schon an der Sprachregelung erkennen. So teilen die Reproduktionsmediziner die Embryonen bezeichnenderweise in Güteklassen ein. Je nachdem wie überlebensfähig sie rein morphologisch erscheinen, werden sie eingeteilt in Güteklasse A bis D. Mit dem Begriff der Güteklasse bringt man nichts anderes zum Ausdruck als dass diese Embryonen schon sprachlich nicht als Menschen betrachtet werden, sondern vielmehr als Waren, als Sachgegenstände, ja in gewisser Hinsicht zunehmend als produzierbare „Konsumgüter“. Nur vor dem Hintergrund einer derartigen Verdinglichung menschlichen Lebens kann man begreifen, dass die meisten Reproduktionsmediziner den Embryo als freie Verfügungsmasse betrachten, wenn es darum geht, die Wünsche ihrer Kunden, nämlich der Kinderwunschpaare, zu erfüllen. Und gerade weil der Reproduktionsmediziner in seiner Herstellungslogik den Embryo zu einer bloßen Sache macht, entwickelt er immer neue Arsenalien, die zwar der Geburtenratestatistik dienlich sind, die aber das Lebensrecht des Embryos in untragbarer Weise missachten. Denn die Reproduktionsmedizin fußt grundlegend auf der Prämisse, dass man menschliche Embryonen opfern darf, um eine Schwangerschaft zu erreichen. Dies hat schon Adolf Laufs treffend auf den Punkt gebracht, als er betonte, dass die Reproduktionsmedizin „embryonales Leben als Preis für ihren Erfolg fordert“11. – Die Verdinglichung des Embryos ist also sozusagen als Vorbedingung der gesamten Reproduktionsmedizin bereits von Anfang an bereits angelegt und wird konsequent durchbuchstabiert. Die Präimplantationsdiagnostik erscheint hier als geradezu logische Konsequenz.
11
Adolf Laufs, Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 1992, 70.
DOMINIQUE MANAÏ, GENÈVE* CONSIDÉRATIONS
JURIDICO-ÉTHIQUES POUR LÉGITIMER LA RECHERCHE
SUR UN EMBRYON IN VITRO
INTRODUCTION Les progrès de la médecine reproductive ont placé l’embryon en dehors du corps humain. Ce faisant, ils l’ont rendu accessible aux futurs parents, aux médecins et aux scientifiques. Sa physiologie est de mieux en mieux connue, sa pathologie peut être diagnostiquée et la thérapie le concernant se développe. Il n’est plus utopique de considérer que la médecine de l’embryon prend forme à l’instar de la médecine fœtale. A telle enseigne que l’on peut parler de l’embryon comme un « nouvel âge de la vie ».1 Accessible, cet embryon devient un « être social » à part entière2 et sa présence est de plus en plus manifeste. La procréation médicalement assistée a engendré le souci du sort des embryons surnuméraires. Se pose alors la question de savoir quel est le devenir de ces embryons issus des tentatives de procréation médicalement assistée qui ne sont pas ou plus destinés à développer une grossesse, ces « vies appelées à ne point advenir ».3 Est-il envisageable de mettre à disposition des chercheurs un embryon destiné à dépérir ? Si tel est le cas, dans quelles conditions la recherche est-elle éthiquement acceptable ? Quels sont les intérêts prépondérants qui permettent de la justifier ? Répondre à ces questions engage à prendre des risques. En effet, pour le philosophe Pierre André Taguieff, « l’interrogation bioéthique apparaît dans un contexte culturel où est ébranlée la thèse du progrès global, selon laquelle le progrès politique et moral accompagnerait nécessairement les progrès scientifiques et techniques »4. Ces « désillusions du progrès »5 ont fomenté la réflexion bioéthique. Si bien que « les progrès du savoir scientifique appellent un sursaut de la pensée morale indiquant les limites à ne pas franchir afin d’empêcher les abus »6. Dans cette même perspective, la philosophe Julia Kristeva se demande : « Comment sauver la recherche sans autoriser la barbarie ? ». A son avis, il est préférable d’éviter de remédier aux impasses par des a priori, les uns généreusement protecteurs, les autres courageusement innovants. Il convient bien plutôt de porter une attention scrupuleuse aux situations
* 1 2 3 4 5 6
Je remercie mon assistante au Département de droit civil, Mme Carole-Anne Baud, pour la relecture consciencieuse de cette contribution. Anna Grabinski, « L’embryon et la recherche : réflexions générales – les données objectives du débat : données historiques, éthiques, juridiques et scientifiques », Ethique et santé 10 (2001). Luc Boltanski, La condition fœtale : une sociologie de l’engendrement et de l’avortement, Paris : Gallimard, 2004, 185. Comité consultatif national d’éthique (CCNE), avis n° 67 : Avant-projet des lois de bioéthique, 27 janvier 2001. Pierre-André Taguieff, La bioéthique ou le juste milieu, Paris : Fayard, 2007, 276. Ibid. Taguieff (Fn. 4), 277.
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singulières des individus et d’accompagner les avancées techniques7. Le médecin, et ancien président du Comité consultatif national d’éthique en France, Didier Sicard explicite davantage cette idée de la manière suivante : « peut-on à la fois respecter le début de la vie, quel qu’il soit, et non seulement faire progresser les connaissances, mais faire que ce début de la vie puisse venir en aide à l’autre au même titre que la greffe humaine ? ».8 Je me propose de traiter de la recherche menée sur l’embryon surnuméraire, sur les cellules souches embryonnaires et sur le clonage thérapeutique. En Suisse, le nombre d’embryons surnuméraires s’est accru : il s’élevait à 1 417 en 2008 et en 2011 il est à 2 124. En 2011, 1 902 embryons ont été détruits et 21 ont été mis à disposition de la recherche.9 Ma réflexion de juriste préoccupée de bioéthique abordera six questions fondamentales. Je commencerai par analyser dans quelle mesure l’utilisation de l’embryon pour la recherche est compatible avec le statut moral de celui-ci (1) puis je préciserai quel embryon peut être disponible pour la recherche (2). J’examinerai ensuite les contours du respect de la dignité humaine dans le cadre de la recherche sur un embryon surnuméraire (3) et m’interrogerai si la recherche sur les cellules souches embryonnaires peut être perçue comme l’une des conséquences du droit aux soins (4). Mon analyse s’étendra à la technique du clonage dit « thérapeutique » et je me demanderai si elle viole l’interdiction de produire des embryons pour la recherche (5). Ma dernière question portera sur l’alternative qui se présente à nous : interdire ou contrôler le clonage thérapeutique (6). 1. L’ÉNIGME
DE L’EMBRYON ET L’ADMISSIBILITÉ DE LA RECHERCHE
La question du statut moral de l’embryon est débattue depuis des siècles, c’est ce qu’un écrivain a joliment appelé « l’énigme de l’embryon ».10 Elle renvoie à celle de savoir si l’embryon a la personnalité dès la fécondation ou s’il est assimilable à une chose, certes « sacrée » comme le pense Henri Frydman. L’enjeu de la reconnaissance d’un statut moral de l’embryon in vitro implique l’interdiction d’en disposer arbitrairement et la nécessité d’une justification pertinente de sa destruction. Dans notre société pluraliste contemporaine, les positions relatives au statut moral de l’embryon sont divergentes. L’une de ces positions consiste à penser que l’embryon est déjà une personne dès la fécondation et qu’il bénéficie de la même protection que l’être humain né. Toute instrumentalisation de l’embryon pour servir les objectifs d’un autre être humain est interdite. Cette perception regroupe différents arguments quant à la nature de l’embryon : argument de l’identité (chaque personne a été un embryon), argument de la potentialité (l’embryon possède la qualité pour devenir une personne) ou 7 8 9 10
Pierre Louis Fagniez, Cellules souches et choix éthiques, Rapport au Premier Ministre, France, juillet 2006, audition Kristeva Julia. Didier Sicard, Ethique et bioéthique, in : Ethiques d’aujourd’hui, Monique Canto Sperber (sous la dir.), Paris : PUF, 2004, 80. Office Fédéral de la Statistique, Statistique suisse, procréation médicalement assistée, Etat au 31 août 2012. Jean-Claude Guillebaud, Le principe d’humanité, Paris : Seuil, 2001, 122.
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argument de la continuité (il n’y a pas un moment particulier où l’on peut repérer le passage de quelque chose à quelqu’un).11 Tous ces arguments se fondent sur la valeur intrinséque de l’embryon et prohibent l’instrumentalisation de l’embryon in vitro ainsi que toute recherche « consumériste » sur ce dernier. A l’opposé, si l’on considère l’embryon comme une chose, il ne peut bénéficier de la protection de la dignité que lorsqu’il est implanté dans le corps féminin. Ainsi un embryon qui n’est pas appelé à générer une grossesse n’est pas protégé et la recherche est autorisée. Selon une troisième position, l’embryon n’est ni une personne ni une chose mais bénéficie d’une protection graduelle en fonction de son développement embryonnaire. Dans cette perspective, les premiers stades de la vie embryonnaires méritent le respect12. Ainsi l’embryon in vitro, même non implanté, est doté d’une valeur intrinsèque. Celle-ci n’exclut pas de manière absolue une certaine intrumentalisation à des fins qui lui sont étrangères. Cette instrumentalisation n’est acceptable que lorsqu’elle vise des finalités de valeur supérieure. Si bien que ce modèle du respect laisse la place à une pondération des intérêts : d’une part la protection de l’embryon et de l’autre des intérêts de haute importance. Ce modèle qui reconnaît la valeur de l’embryon, est particulièrement attractif, dans la mesure où il protège la vie embryonnaire dès son commencement et empêche l’assimilation de l’embryon à un simple matériel biologique, tout en autorisant la recherche à certaines conditions. Néanmoins il s’agit d’une notion juridique indéterminée dont les contours sont flous.13 Le droit suisse n’a pas déterminé positivement le statut de l’embryon. La question du statut moral de l’embryon n’a été résolue ni lors des débats sur l’avortement ni lors de ceux relatifs à l’assistance médicale à la procréation. Néanmoins, il nous est loisible de déduire ce que l’embryon n’est pas : il n’est pas une personne (art. 31 al. 1 CC), dans la mesure où la naissance vivante est indispensable pour la qualification juridique de personne, tout en admettant que la personnalité de l’enfant né puisse rétroagir et s’étendre à la vie prénatale (art. 31 al. 2 CC). L’embryon n’est pas non plus une chose, compte tenu de la protection qui lui est accordée par la Constitution fédérale (art. 119 Cst).14 Ainsi sans être une personne15, l’embryon n’est pas un objet banal. Il bénéficie d’une protection partielle liée à la dignité humaine dont il est investi16, mais d’une protection différente de celle accordée à un individu déjà né.17 La 11
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Commission nationale d’éthique pour la médecine humaine (CNE), Prise de position 11/2006 relative à la recherche sur les embryons et les fœtus humains, Berne, janvier 2006, 41 ss. ; Matthias Till Bürgin/Peter Bürkli, « Schutzwürdigkeit des Embryos : Allgemeine Begründungen und die Konzeption im Entwurf zum Embryonenfosrchungsgesetz », Bioethica Forum 37 (2002), 59 ss. Cette conception est admise aussi bien par la CNE (prise de position 3/2002) que par le Conseil fédéral et lors des débats parlementaires. Matthias Bürgin la qualifie de « Leerformel » (Matthias Til Bürgin, Wen oder was schützt der Embryonenschutz ?, Bâle : Helbing Lichtenhahn, 2011, 80). Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002 sur la loi fédérale relative à la recherche sur les embryons surnuméraires et sur les cellules souches embryonnaires, FF 2003,1089. CNE, La recherche sur les embryons et les fœtus humains, Prise de position 11/2006, 41. Rainer J. Schweizer, Verfassungs- und Völkerrechtliche Vorgaben für den Umgang mit Zellen, Geweben, Embryonen, Föten und anderen Teilen menschlichen Lebens ; Gutachten zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit, Bâle : Schulthess, 2002, 66. Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003, 1089.
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difficulté réside dans le fait que le statut moral de l’embryon est spécial mais n’est pas défini de manière claire. Doté d’un statut intermédiaire entre la chose et la personne, il ne jouit pas d’un droit à la vie.18 Aucun consensus international ne se dégage non plus quant au statut moral de l’embryon. La Déclaration universelle de bioéthique et des droits humains de l’Unesco n’exclut pas l’extension de la dignité à la vie prénatale, mais ne l’affirme pas explicitement. De plus, les interprétations historique, systématique et téléologique de ses dispositions nous amènent à la conclusion que la dignité humaine est attribuée à tous les êtres humains déjà nés.19 Selon la Convention sur les droits de l’homme et la biomédecine du Conseil de l’Europe,20 dite Convention d’Oviedo, la vie humaine est digne de protection dès ses débuts et l’on ne peut en disposer librement (art. 18).21 Dans l’arrêt Vo contre France, la Cour européenne des droits de l’homme a toutefois refusé de décider si le fœtus est une personne et a considéré que cela relevait de l’appréciation du droit interne de chaque Etat.22 Le statut hybride de l’embryon renvoie à la fois à son potentiel de vie et à la fragilité inhérente à son existence biologique d’ensemble de cellules non visibles à l’œil nu. Sa vulnérabilité qui découle de ses qualités intrinsèques23 se double d’un besoin de protection fluctuant en fonction des qualités relationnelles de l’embryon, notamment biologiques. En tant que bénéficiaire d’une protection partielle, il doit être perçu comme une fin soi, au sens kantien. Ainsi, la recherche impliquant la destruction de l’embryon ne serait pas incompatible avec le respect qui lui est dû, pour autant qu’elle prenne en considération les conditions suivantes : l’utilisation de l’embryon vise des buts humainement importants et la recherche permet d’escompter un gain potentiel énorme pour le bien-être des humains.24 2. DE
QUEL EMBRYON EST-IL QUESTION ?
L’embryon bénéficie d’une protection liée à sa qualité et indépendante de son mode de conception. La dignité humaine exige de le considérer comme une valeur en soi et de lier sa création à un projet parental. C’est la raison pour laquelle la production 18 19
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Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003 1090. Harald Schmidt, « Whose dignity ? Resolving Ambiguities in the Scope of « Human Dignity » in the Universal Declaration on Bioethics and Human Rights », Journal of Medical Ethics 33 (October 2007), 578 ss, 582. Convention du 4 avril 1997 pour la protection des Droits de l’Homme et de la dignité de l’être humain à l’égard des applications de la biologie et de la médecine (Convention sur les Droits de l’Homme et la biomédecine ; RS 0.810.2), entrée en vigueur en Suisse le 1 novembre 2008. Irini Kiriakaki, Schutz des Menschen und der Embryos in vitro in der medizinischen Forschung, BadenBaden : Nomos, 2007. Mme Vo invoquait que l’Etat français ne lui avait pas permis d’accéder à un procès pénal pour homicide en se fondant sur une atteinte au droit à la vie (art. 2 CEDH) (Vo c. France, 8 juillet 2004, n° 539 24/00/Vo c. France). Bernard Baertschi/Alexandre Mauron, « Moral Status revisited : The Challenge of reversed Potency », Bioethics 24 (February 2010), 96 ss. Dan W. Brock, « Law, science and innovation : the embryonic stem cell controversy : creating Embryos for Use in Stem Cell research », The Journal of Law, Medicines and Ethics 38 (February 2010), 231.
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d’embryon pour la recherche est une réification, en général, condamnée au nom de la dignité humaine25. Aussi la question de la mise à disposition de l’embryon pour la recherche ne concerne-t-elle que l’embryon créé à des fins de procréation mais devenu surnuméraire et condamné à la destruction. La notion d’embryon surnuméraire est faussement claire. Elle suggère, en effet, que cet embryon n’a objectivement aucune chance de survie et qu’il est voué à la destruction. Néanmoins, cette situation résulte d’un choix du législateur (art. 119 al. 2 let d Cst ; art. 4 et 17 al. 3 de la Loi fédérale du 18 décembre 1998 sur la procréation médicalement assistée (LPMA)26).27 La convention d’Oviedo autorise la recherche sur les embryons à certaines conditions mais interdit la création d’embryons à des fins de recherche (art. 18). Le Groupe européen d’éthique des sciences et des nouvelles technologies (GEE) auprès de la Commission européenne se prononce en faveur de la recherche sur les embryons surnuméraires28. Dans un autre avis, il souligne les répercussions possibles sur les femmes et incite le législateur à veiller à ce que la demande d’embryons surnuméraires et de dons d’ovocytes n’alourdisse pas les contraintes qui pèsent sur elles29. En Suisse, la production d’embryons surnuméraires lors d’une procréation médicalement assistée n’est, en principe30, pas admise. En effet, seuls les embryons destinés à être implantés dans le corps maternel sont produits in vitro (art. 29 LPMA).31 En réalité, l’implantation de tous ces embryons n’est pas toujours possible, soit parce que la femme tombe malade ou décède, soit à cause d’un changement d’avis du couple, soit parce que l’embryon présente des anomalies dans son développement. L’embryon non implanté est qualifié de surnuméraire (art. 3 let. b Loi fédérale du 19 décembre 2003 relative à la recherche sur les cellules souches embryonnaires (LRCS)32). Quel est alors le devenir de cet embryon surnuméraire ? Dans le contexte d’une procréation médicalement assistée, les embryons qui ne seront pas implantés ne peuvent pas être donnés à un couple stérile (art. 119 al. 2 let d Cst). L’interprétation historique de cet alinéa révèle que cette interdiction ne vise pas le don d’embryon surnuméraire à des fins de recherche33. De plus, la Constitution fédérale n’impose pas l’obligation de détruire les embryons qui ne sont pas destinés à une gestation.34 Ne pouvant faire l’objet d’un don, l’alternative qui se présente consiste soit à le 25
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Le Royaume Uni et la Belgique autorisent la création d’embryons à des fins de recherche ; CCNE, avis n°15, 14 novembre 2000, § 2.7 ; Groupe européen d’éthique des sciences et des nouvelles technologies (GEE), avis n° 12, 25 novembre 1998. RS 810.11 Matthias T. Bürgin, Wen oder was schützt der Embryonenschutz ?, Bâle : Helbing Lichtenhahn, 2011, 45 ss. GEE avis n° 9, 28 mai 1997. Il en va de même du CCNE, avis n° 53, 11 mars 1997 ; CCNE, avis n° 67, 18 janvier 2001. GEE avis n° 15, 14 novembre 2000. Le projet de modification de la loi sur la procréation médicalement assistée prévoit la possibilité de produire huit embryons si un diagnostic préimplantatoire est envisagé (art. 17 al. 1 let b). RS 814.90. RS 810.31. Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003, 1093. Schweizer (Fn. 16), 72.
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« laisser mourir »,35 soit à permettre sa réaffectation dans un projet de recherche, étape préalable à sa destruction. En elle-même, cette alternative n’est pas contraire à la dignité humaine : les embryons sont créés dans un but de procréation et leur nombre ne peut être supérieur à trois (art. 17 al. 1 LPMA). Ainsi, l’utilisation de ces embryons dans la recherche est une conséquence envisagée, mais ce n’est pas l’intention première36. Et ce n’est pas l’éventualité d’une recherche qui conduit à la décision de détruire l’embryon.37 Afin d’être compatible avec le statut moral de l’embryon, la recherche n’est envisageable que sur des embryons surnuméraires voués à la destruction,38 la cause de leur destruction n’étant pas la recherche mais l’impossibilité de leur implantation. 3. LES
CONTOURS DU RESPECT DE LA DIGNITÉ HUMAINE
Comme nous l’avons vu, la protection partielle de l’embryon est liée à la dignité humaine dont il est investi. Cette notion est à la fois un principe constitutionnel fondamental (art. 7 et 119 Cst) et un droit fondamental subjectif, en ce sens qu’il peut être imposé juridiquement. Il s’applique à tous les êtres humains sans exception. La question de savoir si la protection de la dignité humaine s’applique déjà à l’embryon in vitro est controversée. Le débat constitutionnel reconnaît que l’embryon in vitro bénéficie de la protection de la dignité humaine, mais il ne jouit pas encore « du même degré de dignité qu’un être humain né » ni de la dignité humaine en tant que droit subjectif.39 Il est donc inadmissible de l’utiliser seulement comme un moyen. Se pose alors la question de savoir si l’utilisation de l’embryon pour la recherche est compatible avec la dignité humaine ? Il est souvent invoqué que l’inclusion des embryons surnuméraires dans un projet de recherche leur fait courir le risque de réification, dans la mesure où d’embryons destinés initialement à la procréation, ils deviennent surnuméraires40 et sont utilisés à des fins qui leur sont étrangères. Il convient toutefois de ne pas perdre de vue l’absence d’alternative à la destruction des embryons surnuméraires, que ce soit en les laissant mourir après la décision de non implantation ou en les jetant après les avoir utilisés dans un projet de recherche. Dans cette situation, la reconnaissance de la dignité humaine postule que l’utilisation de l’embryon pour la recherche n’est pas banale : elle n’est pas un automatisme et la destruction d’embryons ne nous est pas indifférente.41 La dignité humaine
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Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003,1090. Brock (Fn. 24), 233. CCNE, Avis n° 112, Une réflexion éthique sur la recherche sur les cellules d’origine embryonnaires humaines et la recherche sur l’embryon humain in vitro, 21 octobre 2010, 45. Zubin Master/G. K. D Crozier, « The Ethics of Moral Compromise for stem cell research policy », Health Care Analysis 20 (2012), 50 ss. Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002 FF 2003,1065 et 1089. Alain Cordier, « Recherche sur les cellules souches issues d’embryons surnuméraires et clonage scientifique : inquiétude éthique », Revue d’éthique et de théologie morale 2 (244/2007), 44 ss, 57. Giovanni Maio, « Ethik der Forschung an verwaisten Embryonen – Erläuterungen zum Respektmodell », Bioethica Forum 37 (2002), 22 ss, 25.
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consiste alors à ne recourir à l’embryon qu’en cas de nécessité et à le traiter avec respect. La nécessité du recours à l’embryon résultera donc de la pondération des intérêts en présence. Les restrictions apportées au respect de la dignité humaine de l’embryon doivent faire l’objet d’une évaluation entre des valeurs élevées, à savoir la protection de l’embryon, la liberté de la recherche (art. 20 Cst.), la liberté personnelle du couple duquel il est issu (art. 10 al. 2 Cst.) et le devoir moral de solidarité avec les patients.42 Lors des débats parlementaires relatifs à l’adoption de la loi sur la recherche relative aux cellules souches embryonnaires, il a été décidé d’exclure la recherche sur les embryons surnuméraires du champ d’application de la loi.43 Mais il ne s’agit pas d’un refus catégorique de toute recherche sur l’embryon. Il ressort de la loi relative à la recherche sur les cellules souches que l’embryon peut dans certaines circonstances faire l’objet d’une évaluation face à des intérêts de grande valeur. Le législateur a mis en balance la protection de l’embryon et l’intérêt de la science. Il a admis en faveur de la science qu’un projet de recherche est légitime à des conditions strictes. Plus concrètement, quels sont les actes compatibles avec le respect de l’embryon ? Les recherches d’observation de l’embryon sont généralement admises. Elles ne sont pas problématiques de l’angle de vue de la dignité humaine, dans la mesure où elles ne portent pas atteinte à l’intégrité physique de l’embryon et poursuivent une finalité médicale.44 La question du respect de la dignité se pose pour les recherches dites consuméristes et non thérapeutiques qui ne profitent pas à l’embryon et rendent impossible son développement ultérieur. Ces recherches invasives détruisent l’embryon. La Constitution suisse n’interdit la recherche dite « consumériste » que sur des embryons in vitro destinés à la procréation, mais non sur les embryons surnuméraires.45 Toutefois, la dignité humaine nécessite de déterminer une limite chronologique, un seuil au-delà duquel la recherche n’est pas admissible46 ? Si l’on considère, à la suite des biologistes, que la vie est un continuum, il est indéniable que l’implantation constitue une étape essentielle du devenir de l’embryon. Il s’agit d’une phase 42 43
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Maio (Fn.41), 25. Claire Neirinck, Comment se débarrasser de l’article 119 de la Constitution fédérale ?, in : Les cellules souches embryonnaires, un défi mais pour qui ?, Dominique Sprumont/Markus Trutmann (éd.), Rapport IDS n° 3, Neuchâtel, 2003, 55 ss, 57. ATF 119 Ia 460 c. 12. Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003, 1095. Les pays qui interdisent la recherche sur l’embryon sont l’Italie, l’Allemagne, l’Autriche, la Pologne et la Norvège. Les arguments retenus sont en général que l’embryon est une personne dès la fécondation de l’ovule par le spermatozoïde. Toutefois, ces pays admettent la recherche clinique sur l’embryon, uniquement à des fins thérapeutiques et diagnostiques pour garantir la santé et le développement de l’embryon concerné. Les pays qui autorisent la recherche sur l’embryon sont plus nombreux que ceux qui l’interdisent. Ils l’acceptent pour des finalités thérapeutiques et limitent l’utilisation des embryons surnuméraires en général à quatorze jours. Tel est notamment le cas du Royaume-Uni qui autorise la constitution d’embryons à des fins de recherche, de la Belgique qui autorise la constitution d’embryons à des fins de recherche uniquement si l’objectif ne peut pas être atteint par la recherche sur des embryons surnuméraires, de la Suède, des Pays-Bas et du Canada.
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charnière qui fait bénéficier l’embryon d’une protection supérieure. Pour les spécialistes de l’embryologie, il existe dans le développement de l’embryon des seuils cruciaux. Pour certains, c’est l’apparition de la crête neurale (la conscience), pour d’autres c’est l’apparition du troisième feuillet embryonnaire (le mésoderme au 14ème jour) sans lequel un organisme complet est impossible. C’est aussi dès le 14ème jour qu’apparaît « la ligne primitive, ébauche du système nerveux qui permettra ensuite de ressentir la douleur ».47 L’option choisie dans la loi fédérale sur les cellules souches embryonnaires est la légitimité de la recherche jusqu’au stade de blastocyste (les 6 premiers jours). Dans une perspective utilitariste et pragmatique, la fixation d’un seuil dans le développement embryonnaire permet d’élaborer une fiction juridique qui encadre une activité scientifique compatible avec le respect de l’embryon. La conservation d’embryons surnuméraires à des fins de recherche est-elle éthique ? Dans le cadre de la procréation médicalement assistée, la conservation d’embryons est interdite (art. 17 al. 3 LPMA). Cependant, la loi relative à la recherche sur les cellules souches embryonnaires autorise la conservation des embryons surnuméraires, si le couple concerné y a consenti et si la conservation est nécessaire pour la réalisation d’un projet de recherche. Ils ne peuvent être conservés que pour un projet de recherche déterminé et la traçabilité doit être garantie au cas où le couple renonce ultérieurement à laisser son embryon à la recherche (cf. art. 5 al. 4 LRCS, art. 10 LRCS). L’implication d’un embryon surnuméraire dans un projet de recherche n’est pas contraire à la dignité humaine. Bien au contraire, elle témoigne de la solidarité de la société en faveur des malades porteurs de pathologies jusqu’ici incurables. De plus, lorsque l’embryon n’est pas viable, il importe d’en connaître les causes et d’accroître ainsi les connaissances sur l’embryogenèse. En participant à une recherche au bénéfice d’autrui et de la société, la dimension humaine de l’embryon n’est aucunement niée mais bien plutôt valorisée, à l’instar d’un donneur d’organes, par une dignité humaine non abstraite mais en situation. Comme pour une personne incapable de consentir, la dignité de l’embryon n’est pas incompatible avec son inclusion dans un projet de recherche en vue de la production de connaissances généralisables. Certes, à la différence des personnes incapables de consentir, la recherche implique la destruction de l’embryon ; mais celle-ci est de toutes les manières programmée pour un embryon surnuméraire.48 Est-il vraiment plus respectueux du point de vue de la dignité humaine de le laisser mourir ou de l’inclure dans un projet de recherche ? Cet embryon qui n’a aucune chance de survie ne peut être inclus dans un projet de recherche qu’aux conditions suivantes : en application du principe de la proportionnalité, la recherche doit poursuivre des objectifs essentiels et des buts de haute importance sur le plan scientifique ou thérapeutique, en d’autres termes « un projet de recherche sur des embryons surnuméraires ne saurait servir n’importe quelle cause ».49 De plus, selon le principe de subsidiarité, la recherche sur des embryons surnuméraires n’est admissible que si des connaissances d’égale valeur ne peuvent pas être obtenues sans recourir aux embryons surnuméraires. Enfin, pour respecter
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Axel Kahn, Et L’Homme dans tout ça ?, Paris : Nil, 2000, 81. Kahn (Fn.47), 86. Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003, 1149.
Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro
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le principe de nécessité, dans la mesure où la recherche implique la destruction d’embryons, leur nombre doit être limité au minimum indispensable à la recherche. 4. LE
DROIT AUX SOINS ET LA RECHERCHE SUR DES CELLULES
SOUCHES EMBRYONNAIRES
L’accès aux soins médicaux implique le développement d’une recherche appropriée. Or, la recherche sur les cellules souches est porteuse d’immenses espoirs thérapeutiques50. Les propriétés exceptionnelles des cellules souches les ont propulsées au cœur de l’actualité biomédicale51. Depuis 1998, ces cellules peuvent être isolées à partir d’embryons à un stade précoce, au stade d’un blastocyste de 5–6 jours, et maintenues en culture52. Elles présentent le grand avantage d’être duplicables indéfiniment, de proliférer in vitro, et ont un grand potentiel de différenciation. Ces cellules pluripotentes ont la capacité de devenir n’importe quel type de tissus. Elles ouvrent ainsi des perspectives dans la médecine régénératrice. L’un des bénéfices mis en avant est que les cellules souches embryonnaires permettraient de remplacer le prélèvement plus tardif de cellules sur des fœtus issus d’une interruption de grossesse (cellules neuronales greffées sur des patients souffrant de la maladie de Parkinson ; cellules d’insuline transplantées sur des personnes diabétiques ou cellules de foie greffées sur des victimes d’irradiation nucléaire et sur des patients leucémiques). Ainsi, les cellules souches embryonnaires pourraient permettre le développement de thérapies cellulaires pour des affections neurodégénératives. Malheureusement les résultats sont jusqu’à aujourd’hui en deçà des attentes.53 De surcroît, cette technique requiert plusieurs embryons pour traiter un seul patient. Les premiers essais cliniques sur des patients atteints de la maladie de Parkinson ont abouti à des conclusions plutôt négatives, ce qui démontre que l’on est encore loin de la phase clinique. Les applications pratiques d’autres recherches visant à soigner le diabète chez de jeunes patients se font attendre. Nous constatons un décalage entre la réalité scientifique et les espoirs annoncés. Les effets d’annonce par les médias ont pour conséquence de ne pas être à la hauteur des attentes des patients.54 Dans le cadre de la recherche fondamentale aussi, les cellules souches embryonnaires sont utilisées. Ce genre de recherche est encouragé par l’Union européenne et permet d’acquérir une meilleure connaissance du développement embryonnaire, des pathologies affectant les embryons et éventuellement de produire artificielle-
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Le Groupement européen d’éthique des sciences et des nouvelles technologies (GEE) affirme l’acceptabilité éthique des recherches sur les cellules souches embryonnaires, avis n° 15, 15 novembre 2000 ; le CCNE est favorable aux recherches sur les cellules souches embryonnaires compte tenu des enjeux thérapeutiques, avis n° 8, 15.12.1986. Søren Holm, « Going to the roots of the stem cell controversy », Bioethics 16 (2002), 493 ss. James A. Thompson et al., « Embryonic stem cell lives derived from human blastocyst », Science 282 (1998), 1145 ss. Cynthia B. Cohen/Peter J. Cohen, « International Stem Cell Tourism and the Need for Effective Regulation », Part I, Kennedy Institute of Ethics Journal, 20/1 (March 2010), 27 ss. Centre d’évaluation des choix technologiques : TA-Swiss, Des cellules qui remuent la politique. Elaboration de nouvelles thérapies à base de cellules souches embryonnaires ou adultes : perspectives et obstacles (TA 44A/2003), Berne, 2003.
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ment des cellules germinales (ovocytes et spermatozoïdes) pour lutter contre la stérilité et obtenir des ovocytes pour le transfert nucléaire (cf. infra 6). Il importe alors de déterminer à quel moment les cellules souches peuvent être prélevées ? Rappelons que la fécondation de l’ovocyte par un spermatozoïde génère quatre cellules appelées blastomères. Ce sont les premières cellules de l’embryon ; elles ont la particularité d’être totipotentes et ont la capacité de pouvoir être à l’origine de tous les tissus et organes de l’individu en gestation. Dès le quatrième jour, ces cellules deviennent plus petites et se séparent en cellules externes et internes. Entre le cinquième et le sixième jour, l’embryon devient un blastocyste et mesure un sixième de millimètre.55 Il comprend une masse cellulaire interne et une couche cellulaire externe. Ces cellules de la masse cellulaire interne sont pluripotentes, c’està-dire qu’elles sont aptes à former tous les types de cellules et de tissus du corps, mais à elles seules ne peuvent pas aboutir au développement d’un individu.56 Les cellules souches pluripotentes sont prélevées juste avant leur différenciation. Après leur extraction, il est nécessaire de les trier. Ces cellules isolées seront mises en culture in vitro, afin de les faire proliférer. De nos jours, des lignées de cellules souches embryonnaires peuvent survivre en culture. Ces cellules sont ainsi le produit des biotechnologies et s’insèrent dans la médecine de régénération. Se pose alors la question de savoir si l’évaluation des bénéfices potentiels liés aux cellules souches porte atteinte au respect dû à l’embryon ? D’un point de vue éthique, il est certes problématique que la production de cellules souches embryonnaires conduise à la destruction de l’embryon. Toutefois, est-il raisonnable d’interdire la production de cellules souches à partir d’embryons surnuméraires qui seront de toutes les manières détruits ? Le droit suisse autorise la production de cellules souches à partir d’embryons surnuméraires57. La loi prohibe toutefois l’extraction de cellules souches au-delà du septième jour après la fécondation (art. 3 al. 2 et art 24 al. 1 let b LRCS). A l’heure actuelle, la recherche sur des cellules souches embryonnaires permet l’acquisition de connaissances fondamentales, mais ne s’inscrit pas encore dans une perspective clinique58, les applications thérapeutiques n’étant pas encore à l’ordre du jour. Néanmoins, il importe de souligner que la production de connaissances fondamentales est un préalable indispensable à la thérapeutique. Contribuer à l’accroissement des connaissances est donc une tâche compatible avec la dignité d’un embryon surnuméraire, destiné de toutes les manières à disparaître. Les cellules souches doivent être traitées comme n’importe quel autre élément du corps humain. Ces cellules poursuivent leur vie cellulaire dans un contexte totalement différent59, un contexte de vie. Les recherches les concernant rendent possible l’accès à des soins de qualité et permettent de disposer des moyens de développer leurs potentialités thérapeutiques.
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Fagniez (Fn.7), 44. Fagniez (Fn.7), 45. Lors des débats parlementaires, il a été décidé de ne pas inclure dans la loi la recherche sur un embryon. Entretien avec Karl-Heinz Krause, « Cellules souches : des nouveaux concepts à la clinique », Revue médicale suisse 8 (2012) 3 ss. Christoph Rehmann-Sutter, « Why care about the ethics of therapeutical cloning », Bioethica Forum 37 (2002), 55.
Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro
5. LE
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CLONAGE THÉRAPEUTIQUE VIOLE-T-IL L’INTERDICTION DE PRODUIRE
DES EMBRYONS POUR LA RECHERCHE ?
Le clonage dit thérapeutique désigne la technique du transfert du noyau d’une cellule somatique60 dans un ovocyte énucléé. Ce genre de clonage permet d’éviter de recourir à la destruction des embryons surnuméraires. Le terme « thérapeutique » prête à confusion61 et est contesté. Il est souvent remplacé par « scientifique ». Certes le clonage procède d’une intention thérapeutique, mais il n’est pas certain qu’il aboutira à des résultats utilisables sur le plan clinique. Il est dès lors plus exact de qualifier cette technique de transfert nucléaire somatique ou de clonage dans le but d’obtenir des cellules souches. Le clonage dit thérapeutique est apparu dans le contexte très polémique du clonage reproductif. L’histoire du clonage est, à cet égard, éclairante. Le clone vient du grec ancien et désigne les jeunes pousses, les brindilles, les petites branches encore molles et flexibles, faciles à plier. Ce terme est utilisé en 1903, dans le domaine de l’horticulture, par un botaniste américain, Herbert Webber. Dans les années cinquante, les biologistes utilisent ce terme pour désigner une technique de manipulation de cellules, visant à obtenir un animal identique à un autre ; en particulier Robert Briggs réussit à cloner une grenouille. Il s’agit d’une « technique de routine » utilisée dans les laboratoires ; elle ne soulève pas de problèmes éthiques particuliers62. En 1960, le clonage reproductif commence à être au cœur du débat public, dans la mesure où certains chercheurs imaginent appliquer cette technique du transfert nucléaire pour produire des êtres humains. Tel est le cas, en 1963, du biologiste indien John Haldane, ou en 1966 du biologiste américain Joshua Lederberg. Puis le 5 juillet 1996, naît la brebis Dolly, œuvre du scientifique écossais Ian Wilmut. Dès novembre 2001, la société américaine Advanced Cell Technology rend publics les résultats d’une recherche sur les cellules humaines : trois embryons humains ont été créés par transfert nucléaire et l’un d’entre eux a atteint au laboratoire la taille de six cellules. C’est dans ce contexte du clonage reproductif qu’en 1998, des chercheurs américains réussissent pour la première fois à isoler à partir d’embryons surnuméraires des cellules souches capables de survivre en culture. D’où l’idée de recourir au clonage thérapeutique. Cette technique conduit à la création d’un blastocyste artificiel duquel il est possible d’extraire des cellules souches totipotentes semblables à celles qu’un adulte aurait engendrées. Deux éléments sont essentiels dans le transfert nucléaire : il s’agit d’un ovocyte dont on a retiré le noyau du cytoplasme et du noyau d’une cellule somatique qui contient tout le matériel héréditaire qui est implanté dans le cytoplasme de notre ovule énucléé. Le noyau de la cellule va fusionner avec l’ovule pour donner un produit cellulaire. Le blastocyste ainsi produit n’est issu d’aucun projet de vie. Il est le produit d’une manipulation en laboratoire de cellules qui n’a pas pour vocation d’être implanté dans le corps féminin63. Il est produit exclusivement pour la recherche. 60 61 62 63
Par cellule somatique on entend toute cellule autre que les cellules reproductrices. CNE, Recherche sur les embryons et fœtus humains, Prise de position 11/2006, 55. Roberto Andorno, « Réflexions sur le clonage humain dans une perspective éthico-juridique et de droit comparé « , Les Cahiers de droit 42 (2001), 129–145, 131. Henri Atlan, Le clonage, in : Dictionnaire d’éthique et de philosophie morale, Monique Canto-Sperber (sous la dir.), Paris : PUF, 2004, 319.
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Se pose alors la question de savoir si le produit cellulaire issu d’un transfert nucléaire est assimilable à un embryon. L’enjeu est important : s’il n’y a aucune distinction, le blastocyste produit par transfert nucléaire, selon la technique du clonage dit thérapeutique, est contraire à l’interdiction constitutionnelle de produire des embryons à des fins de recherche (art. 119 al. 2 Cst.). A mon sens, la réponse est négative : il convient de distinguer l’embryon issu de deux gamètes et l’embryon issu du transfert nucléaire, cela pour trois raisons. D’abord, contrairement aux embryons surnuméraires, le clone produit par transfert nucléaire n’est pas le fruit d’une recombinaison des gènes paternels et maternels. Il est le produit d’une cellule initiale fabriquée sans fécondation. Alors que le terme embryon s’applique depuis le moment de la fécondation jusqu’à la huitième semaine,64 ce produit biologique, dénué de visée procréative, n’est pas similaire à un embryon naturel. Ensuite, créé en laboratoire, il possède potentiellement tout le matériel génétique nécessaire à la constitution d’un individu et en cas d’implantation, il pourrait aboutir à une naissance. Mais comme l’observe la philosophe Anne Fagot-Largeault, « à la limite, toutes nos cellules ont une potentialité embryonnaire »65. Du reste, la reprogrammation cellulaire avec des cellules souches adultes « induced pluripotent stem (iPS) cells » démontre la possibilité de ramener des cellules différenciées à un état pluripotent similaire aux cellules souches embryonnaires sans passer par la création d’un blastocyste. Ce qui ne manque pas d’affaiblir le statut des cellules embryonnaires et des embryons, qui en termes de potentialité, permettent de moins en moins de distinguer les cellules somatiques et les cellules embryonnaires66. Enfin, cette potentialité de développement ne doit pas nous induire en erreur : un individu ne peut pas naître si ce blastocyste cloné n’est pas implanté dans un utérus maternel. Ces cellules en tant que telles ne possèdent pas intrinsèquement une nature d’embryon. Les propriétés d’embryon s’acquièrent par l’interaction de la cellule avec ses environnements67. La nidation constitue l’étape-clé qui différencie le blastocyste artificiel et l’embryon. Pour les embryologistes, c’est le développement du troisième feuillet, le mésoderme, qui est essentiel pour aboutir à un individu viable. Ainsi le stade à partir duquel un être cellulaire devient un individu potentiel est le quatorzième jour. Dans cette perspective, comme l’affirme Henri Atlan, « il n’est pas justifié de parler d’instrumentalisation d’embryon quand on utilise une cellule artificielle produite sans fécondation par transfert de noyau, en dehors de toute visée de reproduction d’un individu ».68 Ainsi, un élément de vie, tel le blastocyste artificiel, n’est pas un embryon ; il ne peut ni être associé à LA vie ni prétendre à la dignité humaine. En outre, le clonage thérapeutique ne viole pas l’interdiction de produire des embryons.
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Jane Maienschein, « What’s in a Name : Embryos, Clones and Stem Cells », The American Journal of Bioethics, 2/1 (February 2002), 12 ss, 15 ; art. 2 let. a LRCS. Anne Fagot-Largeault, « La recherche sur les cellules souches humaines : quelle attitude éthique ? », Esprit (août-septembre 2003), 117. Baertschi/Mauron (Fn. 23), 97. Atlan (n.63), 322. Atlan (n.63), 322.
Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro
6. INTERDIRE
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OU CONTRÔLER LE CLONAGE THÉRAPEUTIQUE ?
L’interdiction de toute forme de clonage, y compris le clonage thérapeutique, est une position maximaliste. C’est la position qui ressort de l’article 119 alinéa 2 let. a de la Constitution fédérale.69 Cette position maximaliste est-elle le résultat de la vague d’indignation contre le clonage reproductif qui emporte avec elle la technique du clonage thérapeutique ? Dans le cadre de cette contribution, je me limiterai à rappeler que la question du clonage reproductif s’est posée avec acuité et fut résolue par une interdiction70. Selon Mme Mireille Delmas-Marty, le clonage reproductif risque de modifier « le processus biologique d’hominisation ». Elle considère que « le principe de précaution justifie l’interdit du clonage reproductif humaine et pose (…) une limite à la liberté individuelle. A condition qu’il existe des moyens pour en assurer la mise en œuvre ».71 Ainsi une quarantaine de pays interdisent le clonage reproductif. Au niveau international, suite à la naissance de la brebis Dolly, les débats ont été focalisés sur le clonage reproductif. La Résolution de l’OMS de 1997, la Déclaration universelle sur le génome et les droits de l’homme de l’Unesco du 11 novembre 1997, ainsi que la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne du 7 décembre 2000 interdisent le clonage reproductif. La Déclaration des Nations Unies sur le clonage d’êtres humains encourage les Etats à interdire toute forme de clonage humain. Quant à la Convention d’Oviedo, premier instrument juridique international contraignant dans le domaine de la biomédecine, son article 18.2 interdit la constitution d’embryons à des fins de recherche. Certains interprètent cette clause comme incluant non seulement le clonage reproductif mais aussi la création d’embryons par transfert nucléaire – le clonage thérapeutique – ; tandis que d’autres, se basant sur le contexte d’adoption de la Convention élaborée bien avant la naissance de la brebis Dolly, considèrent que seul l’embryon issu de la fusion de deux gamètes est visé. Le Protocole additionnel à la Convention d’Oviedo portant sur l’interdiction du clonage du 6 novembre 1997 laisse, dans son article premier, une marge d’appréciation aux Etats quant à la notion d’être humain. Les Pays-Bas ont précisé à cette occasion qu’ils interprétaient le terme « être humain » comme s’appliquant à une personne déjà née. Cette interdiction du clonage reproductif n’est assortie d’aucun mécanisme de sanctions en cas de violation par l’Etat. Ce qui ne manque pas d’affaiblir la portée pratique de cette interdiction.72 La question du clonage thérapeutique est controversée. En témoigne son autorisation dans quelques pays comme le Royaume Uni, la Belgique, l’Espagne, la Suède, les Pays-Bas et le Canada. Les partisans du clonage thérapeutique soulignent que « s’il convient de prendre au sérieux les risques impliqués par le clonage reproductif, il faut également prendre au sérieux les avantages que pourrait procurer le clonage thérapeutique »73. Quels sont donc ces avantages ? Les finalités thérapeu69 70 71 72 73
Message du Conseil fédéral du 20 novembre 2002, FF 2003 1092. Bernard Baertschi, « Mais qu’est-ce qui ne va pas avec le clonage ? », Revue médicale suisse 2425 (2003), 421 ss. Mireille Delmas-Marty, « Interdire et punir : le clonage reproductif humain », Revue trimestrielle des droits de l’homme 54 (2003), 429 ss, 433. Delmas-Marty (Fn.71), 434. CNE, Recherche sur les embryons et fœtus humains, Prise de position 11/2006, 48.
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tiques et scientifiques du clonage thérapeutique sont nombreuses. Le transfert nucléaire accroît la production de connaissances scientifiques concernant l’embryogenèse humaine. De plus, cette technique permet de comprendre la reprogrammation cellulaire et le développement d’une cellule en un organisme vivant apte à devenir un être humain. En outre, il serait possible d’obtenir des cellules souches en quantité inépuisable et de bonne qualité. Enfin, elles sont immortelles, en ce sens que les lignées de cellules souches embryonnaires dérivées d’un blastocyste cloné sont susceptibles d’être développées indéfiniment in vitro. Le grand défi du clonage thérapeutique demeure la thérapie cellulaire qui pourrait être un traitement « sur mesure » et sans risque de rejet, à savoir l’obtention de cellules spécialisées à partir de cellules souches embryonnaires clonées. Ce genre de clonage ayant lieu avec les cellules somatiques et les gamètes du patient, la barrière immunologique serait contournée. Cette technique évite donc le risque de rejet et les réactions immunologiques. Faut-il interdire le clonage thérapeutique ? L’argument le plus souvent avancé en faveur de son interdiction est à l’image d’une pente savonneuse. Il considère que le clonage thérapeutique utilise la même technique que le clonage reproductif. Le début du processus est identique. Seule les distingue l’utilisation ultérieure du produit biologique. A telle enseigne que l’on entend souvent dire que le clonage thérapeutique est un clonage reproductif arrêté à un moment de son évolution. D’où les craintes que le clonage thérapeutique ne débouche sur le clonage reproductif.74 Cet argument n’est pas convaincant car les deux formes de clonage ont des objectifs fondamentalement différents : le clonage thérapeutique vise à produire des cellules souches embryonnaires dont l’extraction entraînera la destruction du blastocyste artificiellement produit alors que le clonage reproductif a pour but la production d’un individu complet à partir de ce blastocyste. D’ailleurs, pour pouvoir donner naissance à un individu, il est nécessaire de faire intervenir d’autres éléments, à savoir trouver une femme qui accepte de porter cet embryon jusqu’à son terme75. Le transfert nucléaire de cellules somatiques n’a jamais été démontré sur l’être humain, l’un des obstacles majeurs étant la reprogrammation de la cellule qui doit revenir à son état le plus proche de l’état embryonnaire. De surcroît, les ovocytes disponibles sont rares. Même si le danger d’implantation d’un blastocyste issu d’un clonage thérapeutique existe, il appartient au droit de fixer des normes l’interdisant. Il lui appartient aussi de restreindre la recherche sur le clonage thérapeutique, de la confier à des institutions certifiées et contrôlées par l’Etat, de punir les violations et de protéger les victimes (mère porteuse ou donneuse d’ovules, enfants souffrant de maladies occasionnées par le procédé du clonage). L’histoire des sciences est le résultat d’une succession de découvertes de différentes techniques, qui ne sont en elles-mêmes ni bonnes ni mauvaises. Canaliser leur développement par des normes juridiques et éthiques permet d’éviter les dérives. Un autre argument visant à interdire le clonage est le risque de discrimination dans l’accès aux soins. En d’autres termes, le clonage thérapeutique ne serait réservé qu’à ceux qui en ont les moyens (argent, ovules, conditions favorables)76. Je ne re74 75 76
René Frydman, Le clonage reproductif et thérapeutique, in : Ethiques d’aujourd’hui, Monique Canto-Sperber (sous la dir.), Paris : PUF, 2004, 71–72. CNE, Recherche sur les embryons et fœtus humains, Prise de position 11/2006, 55. CNE, Recherche sur les embryons et fœtus humains, Prise de position 11/2006, 56.
Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro
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tiens pas non plus cet argument qui a déjà été avancé dans le cadre du don d’organes ; or le don d’organes n’a pas été interdit mais il est contrôlé. Un troisième argument souligne que le clonage thérapeutique favorise l’autopréservation de l’intégrité physique77. Le principe de solidarité se trouve affaibli au profit d’un individualisme renforcé, dans la mesure où le transfert nucléaire consiste, à partir des cellules d’un individu, en une production autologue de cellules souches qui seraient ensuite greffées sur l’individu. Seule la solidarité de la donneuse d’ovocytes intervient dans cette technique. Cet argument, que je ne réfute pas, ne justifie pas l’interdiction du clonage scientifique. Les objectifs thérapeutiques du clonage scientifique m’incitent à penser que son contrôle est préférable à son interdiction. Contrôler le clonage scientifique afin d’éviter une double instrumentalisation. Une instrumentalisation des patients, d’abord. Il n’est pas admissible que les patients soient instrumentalisés pour légitimer la pratique controversée du clonage scientifique. C’est pourquoi il importe de prélever le matériel biologique humain dans des conditions éthiquement acceptables. La survie des patients ne peut pas dépendre de tissus humains produits dans des circonstances qui seraient considérées comme immorales. Le contrôle vise à développer une recherche responsable pour des patients actifs, conscients et réfléchis, partenaires d’une discussion ouverte et transparente sur l’éthique de la production de cellules souches78. Une instrumentalisation des femmes ensuite : en raison du fort taux d’échec, cette technique nécessite un grand nombre d’ovocytes. Or le don d’ovocytes est rare. La Suisse interdit ce don au nom d’une potentielle instrumentalisation des donneuses, des risques de marchandisation des ovules, et des risques de pressions exercées sur les femmes, qui seraient privées de leur libre-arbitre et de leur autodétermination. Ces mêmes arguments ont déjà été invoqués pour le don d’organes entre vivants, ce qui n’a pas empêché le législateur de réglementer le don et les politiques d’encourager le don. La crainte d’instrumentalisation des femmes par le clonage scientifique pourrait être annihilée par la production d’ovules artificiels79. En effet, le clonage thérapeutique serait alors perçu non comme un problème mais comme une solution offrant des alternatives au don d’ovocytes : il permettrait d’obtenir des cellules germinales. Ainsi, un régime de contrôle du clonage thérapeutique me semble préférable à une interdiction. Un contrôle assorti d’un principe de précaution. Le GEE considère que le clonage thérapeutique est prématuré, tandis qu’il recommande d’interdire le clonage reproductif.80 Il opte pour un principe de précaution en préconisant d’attendre que cette technique devienne nécessaire81. Aussi cette technique devraitelle poursuivre une finalité thérapeutique, s’assurer que la balance entre les bénéfices et les risques soit positive, vérifier que les alternatives comparables aient été systématiquement explorées, telles que les thérapies se basant sur l’utilisation de cellules souches adultes ou embryonnaires. Il importe alors de garantir que le pro77
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Mary B. Mahowald, « Self-preservation : an argument for therapeutic cloning, and a strategy for fostering respect for moral integrity », The American Journal of Bioethics, vol. 4, 2 (2004), 56 ss, 60, 65. Christoph Rehmann-Sutter, « Why care about the ethics of therapeutical cloning ? », Bioethica Forum 37 (2002), 56. CNE, Recherche sur les embryons et fœtus humains, Prise de position 11/2006, 55. GEE, avis n° 9, 28 mai 1997, § 2.6. GEE, avis n° 15, 14 novembre 2000, § 2.7.
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duit biologique issu d’un transfert nucléaire ne puisse pas se développer au-delà du blastocyste. Enfin, les femmes en tant que donneuses d’ovules doivent être protégées par des dispositions claires garantissant leur consentement libre et éclairé, l’absence de conflit d’intérêts et l’interdiction de commercialisation.82 CONCLUSION Ma réflexion de juriste préoccupée de bioéthique m’amène à penser le droit en rapport avec l’éthique et la science. En effet, la bioéthique est un « laboratoire à ciel ouvert pour qui veut étudier les processus de formations des normes »83. Le juriste est directement interpellé et confronté aux questions de savoir comment justifier, et selon quels fondements, les limites au pouvoir-faire du scientifique sans connoter négativement la recherche sur l’embryon. Le juriste qui se préoccupe de bioéthique est condamné à gérer le complexe de manière nécessairement subtile. La liberté de la science (art. 20 Cst.) et celle de recherche (art. 118b al. 1 Cst.) sont des droits fondamentaux. Sur cette base, il appartient au juriste de façonner, par une approche prudentielle, des normes appelées à régir le vivre-ensemble. Ces normes juridiques doivent tout à la fois guider les comportements et assumer l’incertitude et l’indétermination, caractéristiques de notre société ouverte et pluraliste à l’ère d’une démocratie vivante. Le thème de la recherche sur les embryons surnuméraires, sur les cellules souches embryonnaires et le clonage thérapeutique renvoie à des problématiques bioéthiques à propos desquelles il n’existe aucun consensus et à des réalités scientifiques mouvantes dont le développement ne s’arrête pas. Certes, la fonction du droit est de déterminer un cadre et de fixer les limites dans lesquelles les possibilités offertes par la science s’exerceront. Le droit, phénomène culturel, ne doit pas se borner à entériner les développements scientifiques qui ont nécessairement une nature évolutive et transgressive. Inversement, bloquer la recherche, c’est pénaliser les patients. La difficulté réside dans le fait de penser à la fois le moment présent des personnes malades et la préservation de l’humanité. Le droit contemporain n’est pas que sanction et encadrement. Il est aussi prospectif avec une fonction d’anticipation des réalités scientifiques à venir. Il n’a pas seulement à encadrer l’innovation scientifique et à la clôturer. Bien plus, il se doit de contribuer à son développement humaniste, conformément aux valeurs éthiques qui soustendent toute conscience juridique. Ainsi, le droit dessine l’horizon des pratiques scientifiques. S’agissant plus particulièrement de la protection de l’embryon, le droit est condamné à l’innovation : il lui appartient de déterminer l’étendue de la protection de l’embryon et d’énoncer les critères qui fondent cette protection. Comme nous l’avons vu, le respect de la dignité humaine protège l’embryon in vitro et la recherche n’est pas inconciliable avec la reconnaissance de son statut moral. C’est pourquoi 82
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Rosario M. Isasi/Bartha M. Knoppers, « Beyond the permissibility of embryonic and stem cell research : substantive requirements and procedural safeguards », Human Reproduction, 21 (October 2006), 2474 – 2481, 2478. Bertrand Pulman, « Les enjeux du clonage : sociologie et bioéthique », Revue française de sociologie 46 (3/2005), 414.
Considérations juridico-éthiques pour légitimer la recherche sur un embryon in vitro
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les restrictions apportées au respect de la dignité humaine résultent d’une pondération des intérêts en présence, à savoir la protection de l’embryon, la liberté de la recherche, la liberté personnelle du couple duquel il est issu et l’intérêt des personnes malades. Lors de cette pondération, deux principes me semblent essentiels : le principe de subsidiarité et celui de proportionnalité. Ils encadrent les décisions par des critères permanents mais non fermés. Ils tracent les contours d’une ouverture canalisée. Pour être compatible avec le respect qui est dû à l’embryon, la recherche invasive sur ce dernier doit demeurer exceptionnelle. Conformément au principe de subsidiarité, ce genre de recherche n’est envisageable que s’il n’existe aucune méthode alternative d’efficacité comparable en l’état des connaissances scientifiques. Conformément au principe de proportionnalité, le projet de recherche doit poursuivre une finalité de la plus haute importance sur le plan scientifique ou thérapeutique. De plus, le produit cellulaire issu d’un transfert nucléaire (clonage thérapeutique) sans fécondation pourrait être distingué de l’embryon, cette technique du clonage thérapeutique présentant des avantages qu’il convient de ne pas négliger. L’enjeu en vaut la peine : il s’agit de développer la médecine régénératrice qui ouvre la voie au traitement des maladies graves et souvent incurables, telles que maladie d’Alzheimer, de Parkinson ou le diabète, qui sont les maladies que toute l’Europe est condamnée à affronter eu égard au vieillissement de la population. Je préfère être solidaire avec des humains en situation pour accroître leur humanité malgré toutes les incertitudes, plutôt de me réfugier dans le confort d’une acception abstraite et dogmatique de la dignité humaine qui fait fi de l’humain concret dans son incomplétude.
BERNHARD RÜTSCHE, LUZERN REPRODUKTIONSMEDIZIN UND EMBRYONENFORSCHUNG: LEGITIMITÄT DER GELTENDEN FORSCHUNGSVERBOTE? 1. EINLEITUNG Reproduktionsmedizin und Embryonenforschung sind in faktischer (medizinischer) und entsprechend auch in normativer (rechtlicher und moralischer) Hinsicht eng miteinander verknüpft. Aus reproduktionsmedizinischen Verfahren resultieren menschliche Embryonen, die – sofern sie nicht in eine Gebärmutter implantiert werden – der Forschung zugeführt werden können. Der Forschung an menschlichen Embryonen ist durch das geltende schweizerische Recht ein enger rechtlicher Rahmen gesetzt, welcher sich in einer Reihe von strafbewehrten Verboten sowie Bewilligungspflichten zeigt. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, fallen die rechtlichen Regelungen unterschiedlich aus, je nachdem, ob Embryonen zum Zweck der Fortpflanzung oder zum Zweck der Forschung hergestellt werden, ob Embryonen selber oder nur deren Stammzellen für fremde Zwecke (d. h. für Forschung) verwendet werden und welchen Zwecken die Forschung selber dient. Zwecke spielen somit in der Regulierung der Embryonenforschung eine überragende Rolle. Da liegt die These nahe, dass die Vorschriften zur Embryonenforschung als Ausfluss der Menschenwürde und des ihr zugrunde liegenden Instrumentalisierungsverbots zu verstehen sind: Menschliches Leben soll nicht gänzlich für fremde Zwecke instrumentalisiert werden. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob sich die restriktiven Regelungen zur Embryonenforschung legitimieren lassen. Die Legitimationsfrage drängt sich deshalb auf, weil Beschränkungen der Forschung nicht nur in die grundrechtlich geschützte Forschungsfreiheit (Art. 20 BV1) eingreifen, sondern auch – zumindest soweit es um angewandte Forschung geht – zum Nachteil von Patientinnen und Patienten die Entwicklung von potenziell wirksamen Therapien behindern.2 Forschungsverbote bedürfen daher guter Rechtfertigungsgründe. Diese Gründe müssen rechtlicher Natur sein, d. h. es muss sich um rechtlich anerkannte öffentliche Interessen oder Grundrechte Dritter handeln (vgl. Art. 36 Abs. 2 BV). Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, hat sich der Gesetzgeber verschiedentlich auf die in Art. 7 BV verankerte Menschenwürde berufen, um Beschränkungen der Embryonenforschung zu rechtfertigen. Damit liegt zwar, formal gesehen, ein rechtlicher Grund vor, nur ist dieser Grund derart offen und unbestimmt, dass zu klären bleibt, welche sachlichen Argumente dahinter stehen. Die Menschenwürde nach Art. 7 BV ist sozusagen ein rechtlicher Platzhalter, der mit Substanz zu füllen ist. Damit kommt der ethische Diskurs ins Spiel, in welchem eine Reihe von Interpretationsangeboten zur Menschenwürde entwickelt worden sind. Die Frage nach der Rechtfertigung von Verboten der Embryonenforschung erweist sich damit in der Sache als ethische Frage. 1 2
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101). Vgl. auch Art. 118b Abs. 1 BV, der die „Bedeutung der Forschung für Gesundheit und Gesellschaft“ im Sinne eines öffentlichen Interesses anerkennt.
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Im Folgenden werden zuerst die geltenden positivrechtlichen Regelungen zur Embryonen- und Stammzellenforschung dargelegt (Kap. 2). Anschliessend wird die Legitimitätsfrage gestellt (Kap. 3). Dabei werden zunächst einige rechtstheoretische Ausführungen notwendig sein, um aufzuzeigen, unter welchen formalen Bedingungen ethische Argumente im System des Rechts verwendet werden können (Kap. 3.1). Danach werden zwei Argumentationslinien diskutiert, mit denen sich Verbote der Embryonenforschung allenfalls begründen lassen: zum einen das Argument, dass menschlichen Embryonen ein moralischer Status zukommt (Kap. 3.2), zum anderen das erwähnte Prinzip der Nicht-Instrumentalisierung menschlichen Lebens (Kap. 3.3). Am Schluss gilt es, aus den gemachten Überlegungen die Schlussfolgerungen zu ziehen (Kap. 4). 2. GELTENDES RECHT 2.1. ERZEUGUNG VON EMBRYONEN FÜR DIE FORSCHUNG Die Erzeugung von Embryonen mit dem Ziel, sie für Forschungszwecke zu verwenden, ist in der Schweiz bereits auf Verfassungsstufe verboten, und zwar in der Bestimmung über die Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich. Art. 119 Abs. 2 Bst. c BV lautet: „Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann, nicht aber um beim Kind bestimmte Eigenschaften herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben; (…).“
Das Verbot, Embryonen zu Forschungszwecken zu erzeugen, wird im Fortpflanzungsmedizingesetz in Form eines Straftatbestandes konkretisiert (Art. 29 Abs. 1 FMedG3). Der Gesetzgeber hat dieses Verbot mit der Menschenwürde begründet und dabei von einer verpönten „Instrumentalisierung eines beginnenden menschlichen Lebens“ gesprochen4. Darüber hinaus ist das Verbot im Stammzellenforschungsgesetz verankert. Dabei wird angefügt, dass es auch verboten ist, aus einem für Forschungszwecke erzeugten Embryo „Stammzellen zu gewinnen oder solche zu verwenden“ (Art. 3 Abs. 1 Bst. a StFG5). Ferner verbietet die Biomedizinkonvention des Europarates die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken (Art. 18 Abs. 2 BMK6). Art. 26 Abs. 1 BMK erlaubt dem nationalen Gesetzgeber allerdings eine Einschränkung dieses Verbots, wenn die Einschränkung zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer bzw. im öffentliche Interesse notwendig ist.
3 4 5 6
Bundesgesetz vom 18. Dezember 1998 über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz; SR 810.11). Botschaft Fortpflanzungsmedizingesetz, BBl 1996 III 277, 283. Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003 über die Forschung an embryonalen Stammzellen (Stammzellenforschungsgesetz; SR 810.31). Übereinkommen vom 4. April 1997 zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin; SR 0.810.2).
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2.2. FORSCHUNG AN EMBRYONALEN STAMMZELLEN Eine embryonale Stammzelle ist gemäss Art. 2 Bst. c StFG eine „Zelle aus einem Embryo in vitro, die sich in die verschiedenen Zelltypen zu differenzieren, aber nicht zu einem Menschen zu entwickeln vermag, und die daraus hervorgegangene Zelllinie“. In die Forschung an embryonalen Stammzellen werden grosse Erwartungen gesetzt. Auf der Grundlagenebene verspricht die Stammzellenforschung neue Erkenntnisse über die frühe Embryonalentwicklung, auf der Anwendungsebene besteht vor allem die Hoffnung, aus embryonalen Stammzellen Ersatzzellen und Ersatzgewebe zu entwickeln, um Personen zu therapieren, die an schweren Zellkrankheiten wie zum Beispiel Diabetes oder Alzheimer leiden.7 Stammzellen lassen sich aus überzähligen Embryonen gewinnen, d. h. aus Embryonen, die im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erzeugt wurden, jedoch planwidrig der Wunschmutter nicht eingepflanzt werden können.8 Das Stammzellenforschungsgesetz erlaubt grundsätzlich, aus einem überzähligen Embryo bis zum siebten Tag seiner Entwicklung zum Zwecke der Forschung Stammzellen zu gewinnen, wobei der Embryo zerstört wird (vgl. Art. 3 Abs. 2 Bst. c StFG). Nach Art. 7 StFG braucht eine Bewilligung des Bundesamtes für Gesundheit, wer aus überzähligen Embryonen Stammzellen im Hinblick auf die Durchführung eines Forschungsprojekts gewinnen will. Die Bewilligung wird erteilt, wenn für das Forschungsprojekt selber die befürwortende Stellungnahme der zuständigen Ethikkommission vorliegt, im Inland keine geeigneten embryonalen Stammzellen vorhanden sind und nicht mehr überzählige Embryonen gebraucht werden, als zur Gewinnung der embryonalen Stammzellen unbedingt erforderlich sind. Ausserdem müssen die fachlichen und betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sein. Damit ein Forschungsprojekt mit embryonalen Stammzellen durchgeführt werden darf, müssen die Anforderungen gemäss Art. 12 StFG erfüllt sein. Demnach müssen mit dem Projekt wesentliche Erkenntnisse erlangt werden „im Hinblick auf die Feststellung, Behandlung oder Verhinderung schwerer Krankheiten des Menschen“ oder „über die Entwicklungsbiologie des Menschen“. Das verfolgte Forschungsziel muss somit hochrangig sein. Weiter ist vorausgesetzt, dass „gleichwertige Erkenntnisse nicht auch auf anderem Weg erlangt werden können“. Mit dieser Regelung sorgt das Stammzellenforschungsgesetz dafür, dass überzählige Embryonen nur dann für die Stammzellengewinnung verbraucht werden, wenn dies für die Durchführung eines bestimmten Forschungsprojekts unbedingt notwendig ist. Ferner muss das Projekt den „wissenschaftlichen Qualitätsanforderungen“ genügen sowie „ethisch vertretbar“ sein. Letzteres bedeutet, dass zwischen der Wichtigkeit des Forschungsziels und der Forschungsfreiheit einerseits sowie der Schutzwürdigkeit von Embryonen andererseits im Anwendungsfall durch die Ethikkommission eine Güterwägung gemacht werden muss.9 7 8
9
Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1184 f. Vgl. die Definition in Art. 2 Bst. b StFG. Eine planwidrige Überzähligkeit kann folgende Gründe haben: Der Embryo entwickelt sich nicht normal, oder die Wunschmutter wird krank, verunfallt, stirbt oder ändert unerwartet ihre Meinung (vgl. Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1174). Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1247.
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Die genannten Anforderungen an die Gewinnung von embryonalen Stammzellen und die Durchführung von Forschungsprojekten mit solchen Stammzellen dienen dem Schutz der Menschenwürde (vgl. Art. 1 Abs. 2 StFG). In der bundesrätlichen Botschaft und der parlamentarische Debatte zum Stammzellenforschungsgesetz wurde zur Begründung der Forschungsbeschränkungen wiederholt festgehalten, dass der Embryo „Anteil an der Menschenwürde“ habe.10 2.3. FORSCHUNG AN ÜBERZÄHLIGEN EMBRYONEN Während die Forschung an embryonalen Stammzellen unter den erwähnten Voraussetzungen erlaubt ist, verbietet das Stammzellenforschungsgesetz die verbrauchende Forschung an überzähligen Embryonen selber (Art. 3 Abs. 2 Bst. a StFG). Wer dieses Verbot missachtet, wird gemäss Art. 24 Abs. 1 Bst. b StFG mit Gefängnis bestraft. Zu beachten ist allerdings, dass der Gesetzgeber einen Sonderfall der Forschung an überzähligen Embryonen zulässt: Art. 8 StFG erlaubt unter gewissen Voraussetzungen Forschung an Embryonen mit dem Ziel, die Verfahren zur Gewinnung von Stammzellen aus überzähligen Embryonen zu verbessern.11 Die Forschung an überzähligen Embryonen könnte wie die Stammzellenforschung dazu beitragen, die frühe Embryonalentwicklung, insbesondere die Vorgänge der Zelldifferenzierung, besser zu verstehen. Zudem könnten mit Hilfe dieser Forschung die Ursachen von Entwicklungsstörungen und Spontanaborten besser begriffen werden. Das so gewonnene Wissen liesse sich vor allem für Verbesserungen der Unfruchtbarkeitsbehandlung und der Präimplantationsdiagnostik praktisch einsetzen. Hinzu kommt die Erwartung, in den Bereichen der Diagnose und Therapie genetisch bedingter Krankheiten Fortschritte zu erzielen.12 Mit Blick auf die Konsequenzen der Embryonenforschung und der Forschung an embryonalen Stammzellen – in beiden Fällen werden überzählige Embryonen zu Forschungszwecken geopfert – drängt sich die Frage auf, weshalb der Gesetzgeber Ersteres verbietet, Letzteres dagegen erlaubt. Nachdem der Bundesrat in seinem Gesetzesentwurf die Embryonenforschung noch grundsätzlich erlauben wollte, war es dann im Jahr 2003 das Parlament, das auf Anraten der Nationalen Ethikkommission (NEK) das Verbot der Embryonenforschung einführte. Dabei gaben folgende Argumente den Ausschlag: Die öffentliche Debatte und die entsprechende moralische Klärung hätten in der Schweiz bis anhin nur zur Stammzellenfrage, nicht aber zur Embryonenforschung stattgefunden. Zudem herrsche zu grosse Unklarheit über das, was unter dem Titel „Forschung an überzähligen Embryonen“ eigentlich gemeint sein könnte. Schliesslich – dies war das entscheidende ethische Argument – geschehe die Embryonenforschung am Embryo selber und mache damit Embryonen zum Gegenstand von Experimenten. Demgegenüber erfolge die Stammzellen10 11
12
Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1187, 1234; AB 2003 S 166, 180 (Voten Bieri, Berichterstatter); AB 2003 N 1349, 1366 (Voten Randegger, Berichterstatter). Die Eidgenössischen Räte waren sich des Umstandes bewusst, dass mit der grundsätzlichen Zulassung von Forschungsprojekten zur Verbesserung der Stammzellengewinnung in Art. 8 StFG „eben auch noch etwas Embryonenforschung“ zugelassen werde (so AB 2003 S 175 [Votum Schiesser]). Zum Ganzen Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1180 ff.
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forschung an herausgelösten Zellen. Embryonen würden bei der Gewinnung solcher Zellen zwar zerstört, ohne aber direkt zum Gegenstand von experimentellen Interventionen zu werden.13 2.4. VERWENDUNG VON EMBRYONEN FÜR TRANSPLANTATIONEN Regelungen zur Forschung an Embryonen in vitro finden sich – etwas überraschend – nicht nur im Fortpflanzungsmedizingesetz und im Stammzellenforschungsgesetz, sondern auch im Transplantationsgesetz. Dieses enthält einen eigenen Abschnitt zur Verwendung embryonaler menschlicher Gewebe und Zellen zu Transplantationszwecken (Art. 37–42 TxG14). Embryonale Gewebe, die zur Transplantation verwendet werden können, fallen in aller Regel aus Schwangerschaftsabbrüchen an.15 Das Gesetz erfasst aber auch die Verwendung von Embryonen aus Spontanaborten sowie von überzähligen Embryonen aus fortpflanzungsmedizinischen Verfahren. Überzählige Embryonen dürfen unter bestimmten Voraussetzungen, deren Vorliegen im Rahmen eines Bewilligungsverfahrens geprüft wird, für Transplantationen verwendet werden. Dabei verbietet Art. 37 Abs. 2 Bst. a TxG, überzählige Embryonen nach dem siebten Tag ihrer Entwicklung künstlich am Leben zu erhalten, um ihnen Gewebe oder Zellen zu Transplantationszwecken zu entnehmen. Die Entwicklungsgrenze von sieben Tagen entspricht derjenigen des Stammzellenforschungsgesetzes (vgl. Art. 3 Abs. 2 Bst. c StFG). Aus der Botschaft des Bundesrats zum Transplantationsgesetz geht hervor, dass mit diesem Verbot Missbräuche verhindert und eine Instrumentalisierung von menschlichem Leben verunmöglicht werden sollen16. Das Verbot ist demnach als Ausfluss der Menschenwürde zu verstehen. Bis zum siebten Tag ihrer Entwicklung dürfen überzählige Embryonen zu Transplantationszwecken verwendet werden, wenn die informierte Zustimmung des betroffenen Paars vorliegt (vgl. Art. 40 TxG) und die in Art. 38 TxG aufgezählten Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Die Bewilligung kann entweder für einen klinischen Versuch – also für ein Forschungsprojekt – oder für eine Standardbehandlung beantragt werden. In beiden Fällen wird die Bewilligung nur erteilt, wenn ein therapeutischer Nutzen erwartet werden kann bzw. nachgewiesen ist. Gemäss Botschaft zum Transplantationsgesetz bedeutet dies insbesondere, dass Forschungsversuche, die dem blossen Interesse der Wissenschaft dienen, sowie Behandlungen zu kosmetischen Zwecken oder mit dem Ziel einer Vitalisierung oder Verjüngung von gesunden Personen nicht bewilligt werden.17 13
14 15 16 17
Zu diesen Argumenten Nationale Ethikkommission (NEK), Vernehmlassungsantwort vom 30. August 2002 zum Entwurf des Bundesgesetzes über die Forschung an überzähligen Embryonen und embryonalen Stammzellen (Embryonenforschungsgesetz, EFG), S. 2. In den parlamentarischen Beratungen wurde das Verbot der Embryonenforschung darüber hinaus damit begründet, dass die Verfassungsgrundlage für eine umfassende Regelung der Forschung an überzähligen Embryonen zu „schmal“ sei (AB 2003 S 166 [Votum Bieri, Berichterstatter], 168 [Votum Bürgi]). Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz; SR 810.21). Botschaft Transplantationsgesetz, BBl 2002 161. Botschaft Transplantationsgesetz, BBl 2002 161. Botschaft Transplantationsgesetz, BBl 2002 162.
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2.5. ZWISCHENERGEBNIS UND FRAGESTELLUNGEN Damit wird ersichtlich, dass das positive Recht die Forschung an Embryonen, die aus reproduktionsmedizinischen Verfahren stammen, in sehr differenzierter Weise reguliert. Es gibt weder ein pauschales Verbot der Verwendung von Embryonen in vitro zu Forschungszwecken noch einheitliche Bewilligungsvoraussetzungen für Forschungsprojekte und klinische Versuche mit überzähligen Embryonen. Die nachstehende Tabelle soll einen Überblick über die unterschiedlichen Bestimmungen zur Verwendung von Embryonen in vitro für die Forschung geben und dabei mögliche regulatorische Inkohärenzen andeuten: Verbot der Erzeugung von Embryonen für die Forschung
↔ von überzähligen Embryonen für die For-
Begrenzte Zulassung der Weiterverwendung
Verbot der Forschung an überzähligen Embryonen
↔ embryonalen Stammzellen
Verbot der Forschung an überzähligen Embryonen
↔ von überzähligen Embryonen für die Trans-
schung Begrenzte Zulassung der Forschung an Begrenzte Zulassung der Weiterverwendung plantationen
Die unternommene Analyse des geltenden Rechts wirft in zweierlei Hinsicht die Frage der Legitimität auf. Zum einen tangieren Forschungsverbote im Bereich der Medizin und Biologie nicht nur die Forschungsfreiheit, sondern sie laufen auch den Gesundheitsinteressen potenzieller Patientinnen und Patienten zuwider und bedürfen daher der Rechtfertigung. Zum anderen macht das geltende Recht Unterscheidungen, die erklärungsbedürftig sind: So ist die Erzeugung von Embryonen für die Forschung anders geregelt als deren Weiterverwendung für die Forschung, d. h. die Gewinnung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken; weiter gilt für die Forschung an Embryonen ein Verbot, während die Forschung an embryonalen Stammzellen, die mittels Vernichtung von Embryonen gewonnen werden, grundsätzlich erlaubt ist; und schliesslich ist zu fragen, weshalb die Forschung an Embryonen verboten ist, während die Verwendung von Embryonen zu Transplantationszwecken lediglich einer Bewilligungspflicht untersteht. Zur Begründung seiner Regelungen betreffend die Embryonenforschung hat sich der Gesetzgeber wie gesehen wiederholt auf die Menschenwürde abgestützt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Gesetzgeber das Argument der Menschenwürde in zwei unterschiedlichen Varianten einsetzt: Einerseits führt er die Menschenwürde ins Feld, um einen bestimmten Status des menschlichen Embryos zu begründen. Davon zeugen die Aussagen, dass der Embryo nicht als blosse Sache betrachtet werden könne, sondern „Anteil an der Menschenwürde“ habe und deshalb Respekt verdiene – allerdings nicht als Träger pränataler Lebens- und Integritätsrechte, sondern im Sinne eines relativen Schutzanspruchs, welcher mit entgegenstehenden Rechtsgütern, namentlich der Forschungsfreiheit, abzuwägen sei.18 Anderer18
Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1187 f., 1236, 1234; AB 2003 S 166, 180 (Voten Bieri, Berichterstatter); AB 2003 N 1349, 1366 (Voten Randegger, Berichterstatter).
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seits beruft sich der Gesetzgeber auf das der Menschenwürde zugrunde liegende Instrumentalisierungsverbot, um Restriktionen der Embryonenforschung zu untermauern.19 In dieser Begründungsvariante zeigt sich die Menschenwürde als Verhaltensnorm, die Personen beim Umgang mit ungeborenem menschlichem Leben Grenzen setzt. Anschliessend wird untersucht, ob die Menschenwürdeargumente des Gesetzgebers einer kritischen Überprüfung aus ethischer Sicht standhalten. Dabei ist vorgängig der rechtstheoretische Rahmen aufzuzeigen, in den ethische Argumente einzuordnen sind, wenn sie in die „Sprache“ des Rechts übersetzt werden sollen. Es geht um die formalen Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit moralische Werte die Gestalt von Rechten (Menschen- bzw. Grundrechte) annehmen können; fehlt es an diesen Voraussetzungen, kann ein moralischer Wert kein Recht begründen, sondern lediglich eine der Abwägung unterliegende Interessensposition (Kap. 3.1.). In der Sache wird zuerst die Statusfrage gestellt, also die Frage, ob sich die vom Gesetzgeber angenommene relative Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen („Anteil an der Menschenwürde“) mit ethischen Argumenten begründen lässt (Kap. 3.2.). Auch wenn diese Begründung gelingt, sind damit die vom Gesetzgeber vorgenommenen Differenzierungen im Bereich der Embryonenforschung, d. h. die Differenzierungen zwischen Erzeugung und Weiterverwendung, Embryonen und embryonalen Stammzellen sowie Forschung und Transplantation, noch nicht gerechtfertigt. Diese Differenzierungen bedürften einer zusätzlichen Begründung, welche sich aus dem Schutz der Menschenwürde als Verhaltensnorm, d. h. als Instrumentalisierungsverbot, ergeben könnte (Kap. 3.3.). 3. LEGITIMITÄT
DES GELTENDEN
RECHTS
3.1 RECHTSTHEORETISCHER RAHMEN 3.1.1 Rechte als normative Privilegien Rechte zeichnen sich dadurch aus, dass Sie ihren Trägern normative Privilegien verleihen.20 Ein normatives Privileg, das mit der Rechtsträgerschaft verbunden ist, besteht darin, dass sich Rechte nicht quantifizieren lassen. Das Recht des Einen ist gleich stark wie die Rechte von Vielen. Es macht daher keinen Unterschied, ob das Recht eines Einzelnen oder die Rechte Hunderter oder Tausender dem Allgemeininteresse entgegentreten. In diesem Privileg von Rechtsträgern, als Einzelne bereits das volle normative Gewicht von Rechten in Anspruch nehmen zu können, zeigt sich die machtbegrenzende Funktion von Rechten. Dadurch, dass sich Rechte nicht mengenmässig verrechnen lassen, schützen sie Individuen bzw. Minderheiten wirksam gegen die Machtansprüche von Mehrheiten. Man kann darin eine anti-utilitaristische Stossrichtung von Rechten erkennen.21 19 20 21
Botschaft Fortpflanzungsmedizingesetz, BBl 1996 III 277, 283; Botschaft Embryonenforschungsgesetz, BBl 2003 1236 f.; Botschaft Transplantationsgesetz, BBl 2002 161. Zum Folgenden eingehend Bernhard Rütsche, Rechte von Ungeborenen auf Leben und Integrität. Die Verfassung zwischen Ethik und Rechtspraxis, Zürich: Dike/Nomos, 2009, 349 ff. Vgl. Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, 334 ff., 433.
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Ein weiteres normatives Privileg von Rechten zeigt sich darin, dass sie eingriffsresistent sind. Der Staat, der in Rechte eingreift, wird rechtfertigungspflichtig. Am wirkungsvollsten manifestiert sich die Eingriffsresistenz von Rechten in der Figur des Kerngehalts. Im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV gelten jene Schutzbereiche von Grundrechten als Kerngehalte, die „unantastbar“ sind, d. h. unter keinen Umständen eingeschränkt werden dürfen. Paradebeispiel ist das Verbot von Folter sowie grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das in Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK22 und Art. 7 UNO-Pakt II23 garantiert ist. Nahe bei den Kerngehalten liegen jene Rechte, die grundsätzlich unantastbar sind, jedoch bei Vorliegen bestimmter Ausnahmetatbestände eingeschränkt werden können (sog. „beschränkte Kerngehalte“). Zu diesen Rechten gehört namentlich das Recht auf Leben, das absichtliche Tötungen nur in ganz eng begrenzten Ausnahmesituationen zulässt, namentlich in Fällen von lebensrettender Notwehr und Notwehrhilfe sowie im Rahmen rechtmässiger Kriegshandlungen. Schliesslich sind Rechte darauf angelegt, dass sie gegen den Staat eingeklagt werden können. Der Staat ist zwar gehalten, die Grundrechte von sich aus zu beachten und zu ihrer Verwirklichung beizutragen (Art. 35 Abs. 2 BV). Eine blosse Selbstbindung des Staates genügt aber nicht. Um die Grundrechte in der Rechtsordnung effektiv zu verwirklichen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Grundrechtsträger an unabhängige Kontrollinstanzen gelangen können, welche die Kompetenz haben, Grundrechte gegen den Staat durchzusetzen. Dieses Recht auf Rechtsschutz ist durch die Rechtsweggarantien in Art. 29a BV sowie auf staatsvertraglicher Ebene in Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK gewährleistet. 3.1.2 Rechte schützen Interessen von Individuen Rechte privilegieren nach dem Gesagten ihre Träger dadurch, dass sie nicht-quantifizierbar, eingriffsresistent und einklagbar sind. Diese normativen Privilegien versetzen Rechtsträger in die Lage, gegen die Macht der durch den Staat repräsentierten Allgemeinheit ein Gegengewicht zu setzen. Rechte verteidigen und behaupten das Individuelle gegenüber dem unbestimmten Allgemeinen. Diese Funktion von Rechten als Gegengewicht zur Allgemeinheit bedingt, dass Rechte ihrerseits gerade nicht die Allgemeinheit, sondern konkrete Individuen bzw. konkrete Vereinigungen von Individuen schützen. Der individualschützende Zweck von Rechten hat praktische Konsequenzen für die Konzeption der Rechtsträgerschaft. Zunächst liegt es auf der Hand, dass Allgemeinheiten im Sinne einer unbestimmten Vielzahl von Personen bzw. Lebewesen oder gar leblosen Einheiten nicht Träger von Rechten sein können. So würde es dem individualschützenden Zweck von Rechten zuwiderlaufen, Allgemeinheiten wie die Menschheit als solche oder Gesamtheiten wie die Natur zu schützen. Rechte der Menschheit, Rechte der Natur oder Rechte von Ökosystemen, wie sie teilweise gefordert werden, verfehlen den rechtstheoretischen Sinn von Rechten. Rechte von Allgemeinheiten bzw. Gesamtheiten wären letztlich nichts anderes als Rechte des Staates, 22 23
Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101). Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2).
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der diese selber oder durch beauftragte Organisationen advokatorisch gegen die Individuen durchzusetzen hätte. Wenn Rechte Individuen um ihrer selbst willen schützen, dann bedeutet das weiter, dass sich im Namen Dritter keine Rechte begründen lassen. Im Vordergrund stehen Konstellationen, in denen Dritte ein Interesse am Schutz von Individuen haben, mit denen sie eine besondere Beziehung verbindet. So können die Eltern eines Kindes im irreversiblen Koma wünschen, dass sein Leben aufrechterhalten wird; oder eine Ehefrau will nicht, dass man ihrem Mann im hirntoten Zustand Organe entnimmt. Der individualschützende Zweck von Rechten wäre überschritten, wenn Schutzanliegen Dritter gegenüber einem Lebewesen oder einem Gegenstand zum Anlass genommen würden, Rechte dieses Lebewesens oder dieses Gegenstands zu begründen. In den erwähnten Beispielen können folglich die Anliegen der Eltern bzw. der Ehefrau nicht dazu führen, dass dem Komapatienten und dem Hirntoten Rechte zugeschrieben werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Anliegen der Eltern und der Ehefrau als solche nicht Gegenstand von Rechten sein können. Beziehungen zwischen Angehörigen und anderen Nahestehenden sind durch das Recht auf Privatsphäre geschützt. Dabei handelt es sich jedoch um Rechte Dritter und nicht etwa um Rechte, die im Namen Dritter begründet sind. Mit der Feststellung, dass Rechte Individuen schützen, ist der formale Schutzzweck von Rechten noch nicht abschliessend festgelegt. Zu bestimmen bleibt, worin Individuen geschützt werden. Die Antwort lautet: Rechte schützen Individuen in ihren Interessen. Im juristischen Sinn ist „Interesse“ weit zu verstehen, und zwar als Nutzen, der Individuen objektiv zugeschrieben wird. Eine enge Interpretation von „Interesse“ im Sinne subjektiv erfahrener Wünsche rationaler Individuen ist ausgeschlossen, weil ansonsten Rechte von urteilsunfähigen Menschen nicht erklärbar wären. Das geltende Recht geht davon aus, dass Rechte auch die Interessen von Individuen schützen, welche diese Interessen selbst nicht erkennen können. Aus dem Interessensbegriff folgt somit, dass Rechte für ihre Rechtsträger einen Nutzen bringen müssen. 3.1.3 Schützen Rechte den Wert von Lebewesen? In der ethischen und juristischen Statusdebatte wird häufig vorgebracht, menschliche Embryonen seien schutzwürdig, weil sie einen Wert haben, sei dies ein absoluter, objektiver, intrinsischer oder sonst eine Art von Wert. Damit drängt sich die Frage auf, ob Rechte überhaupt den Wert von Lebewesen schützen können. Wird die Frage bejaht, könnten Rechte von Embryonen damit begründet werden, dass ihnen ein Wert zukommt. Wird die Frage verneint, ist eine solche Begründung der Rechtsträgerschaft versperrt. Wie gesehen gehört es zum formalen Schutzzweck von Rechten, Individuen um ihrer selbst willen zu schützen, und nicht weil sie für irgendetwas oder irgendjemand nütze sind. Das bedeutet, dass Rechte nicht das adäquate juristische Gefäss sind, um den extrinsischen Wert von Lebewesen zu schützen. Denn extrinsische Werte kommen ihren Trägern nicht als solchen, um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zu bestimmten Zwecken zu. Deshalb kann beispielsweise der Wert, den wir Lebewesen im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit ihrer biologischen Art, die Schmackhaftigkeit ihres Fleisches oder den therapeutischen Nutzen ihrer Organe zuschreiben, keinen Grund für die Anerkennung von Rechten abgeben. Als formaler Schutzzweck von
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Rechten fällt, wenn schon, nur der Schutz von Werten in Betracht, die ihre Träger um ihrer selbst willen, unabhängig von ihrem Nutzen für Dritte, als wertvoll ausweisen. Die Rede ist von Eigenwerten oder intrinsischen Werten. Es sind Kriterien wie die Gottesebenbildlichkeit oder die Willensfähigkeit, die den Lebewesen, die sie aufweisen, intrinsischen Wert verleihen. Ein Lebewesen, das Ebenbild Gottes ist oder einen freien Willen hat, nützt niemandem etwas, sondern ist an sich etwas Gutes. Neben dem Individualschutz gehört es wie gesehen zur Form von Rechten, Individuen in ihren Interessen zu schützen. Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, inwiefern intrinsische Werte Ausdruck von Interessen sein sollen. Interessen verweisen ja auf einen Nutzen, während sich intrinsische Werte gerade durch ihre Nutzenunabhängigkeit auszeichnen. Dennoch gibt es einen Weg, intrinsische Werte in Interessen zu „übersetzen“. Intrinsische Werte setzen wie alle Werte einen Bewerter voraus. Der Bewerter ist die Instanz, nach deren Urteil etwas einen Wert, d. h. eine positive Bedeutung hat. Sobald der Bewerter Lebewesen als wertvoll anerkennt, ist ihm das Schicksal dieser Lebewesen nicht mehr gleichgültig. Die Bewertung impliziert das Anliegen, dass der Wert fortbesteht, dass also die wertvollen Lebewesen in ihrer Existenz erhalten bleiben. Dieses Anliegen des Bewerters gegenüber dem Bewerteten kann man durchaus „Interesse“ nennen. Es ist kein erlebensbezogenes Interesse, das mit einem materiellen Nutzen verbunden ist, sondern ein wertbezogenes Interesse, dessen Erfüllung einen ideellen Nutzen bringt.24 Der Bewerter, der Lebewesen als intrinsisch wertvoll anerkennt, hat somit ein wertbezogenes Interesse am Schutz dieser Lebewesen. Entscheidend ist nun die Frage, wer der Bewerter und damit der Träger des wertbezogenen Interesses ist. Drei Möglichkeiten sind denkbar: die Moralgemeinschaft, nahestehende Dritte oder die einzelnen Lebewesen selber. Die Bewertung durch die Moralgemeinschaft ist eine Bewertung durch die Allgemeinheit, die Lebewesen aus der Aussensicht – objektiv – als wertvoll beurteilt. Entsprechend ist der intrinsische Wert von Lebewesen in diesem Fall ein objektiver Wert. Objektive Werte verkörpern Allgemeininteressen, die ihrerseits nicht imstande sind, Rechte zu begründen. Aus rechtstheoretischer Sicht wäre es demzufolge verfehlt, Embryonen und Föten Rechte zuzusprechen, weil sie einen objektiven Wert haben. Sodann erhalten Lebewesen einen Eigenwert durch nahestehende Dritte, beispielsweise durch Eltern, die ihre Kinder um ihrer selbst willen lieben. Man kann diesen Eigenwert als intersubjektiven Wert bezeichnen, da er aus besonderen Beziehungen zwischen Menschen hervorgeht. Auch solche intersubjektiven Eigenwerte sind jedoch nicht Ausdruck eines Individualinteresses. Vielmehr sind es Dritte, die ein wertbezogenes Interesse am Schutz von Lebewesen haben. Auch mit Hilfe von intersubjektiven Werten lassen sich daher keine Rechte begründen. Gegen die Bewertung durch die Moralgemeinschaft und durch nahestehende Dritte steht die reflexive Bewertung durch die Wertträger selber, so dass Bewerter und Wertträger eins sind. In diesem Fall sind es Lebewesen, die sich aus der Innensicht – subjektiv – als wertvoll beurteilen. Der intrinsische Wert von Lebewesen ist dementsprechend ein subjektiver Wert. Subjektive Werte sind Ausdruck wertbezoge24
Zur Unterscheidung zwischen „erlebensbezogenen“ und „wertebezogenen“ Interessen hat Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994, 277 ff.
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ner Interessen, die ein Lebewesen sich selber gegenüber hat, also Ausdruck von Individualinteressen. Entsprechend sind Rechte geeignet, subjektive Werte zu schützen. Rechte können demzufolge den subjektiven Eigenwert schützen, den sich Individuen selber geben, nicht aber den objektiven oder intersubjektiven Wert von Lebewesen, die auf ein Urteil durch die Allgemeinheit bzw. nahestehende Dritte zurückgehen. 3.2 MORALISCHER STATUS DES EMBRYOS (POTENZIALITÄTSKRITERIUM) 3.2.1 Statuskriterien Zumindest in der deutschsprachigen Diskussion um den moralischen Status von Ungeborenen haben sich die Argumente der Spezieszugehörigkeit, Kontinuität, Identität und Potenzialität, abgekürzt die „SKIP-Argumente“, eingebürgert.25 Bei näherem Betrachtung vermag von diesen vier Argumenten indessen nur dasjenige der Potenzialität eigenständig zu begründen, weshalb ungeborenes Leben schutzwürdig ist. Das Speziesargument ist eigentlich gar kein Argument, sondern gibt als biologisches Faktum lediglich die Extension der Schutzwürdigkeit an, ohne dafür einen Grund anzugeben. So wäre es willkürlich zu behaupten, die Spezieszugehörigkeit sei der Grund dafür, dass die Spezieszugehörigkeit moralisch bedeutsam ist. Und die Argumente der Kontinuität und der Identität verweisen auf Teilaspekte des Potenzialitätsarguments.26 Das Potenzialitätsargument ist in der gegenwärtigen Bioethik wohl das einflussreichste Argument, um Ungeborenen moralische Schutzwürdigkeit zu attestieren. Ihm liegen die beiden Prämissen zugrunde, dass ein menschlicher Embryo eine potenzielle Person ist, und dass es unrecht ist, eine potenzielle Person zu töten. Die erste Prämisse stützt sich auf eine unbestreitbare biologische Tatsache: Menschliche Embryonen sind insofern potenzielle Personen, als sie sich biologisch zu Personen entwickeln können, wenn bestimmte äussere Bedingungen erfüllt sind. Die zweite Prämisse ist demgegenüber normativer Art. Sie verlangt nach einer Begründung, weshalb das Entwicklungspotenzial menschlicher Embryonen und Föten von moralischer Relevanz ist. In der Ethik sind verschiedene Begründungen entwickelt worden, um die moralische Bedeutung von Potenzialität zu erklären. Im Zentrum stehen dabei eine assoziative und eine ontologische Begründungsvariante.27 3.2.3 Assoziatives Potenzialitätskriterium Ein zumindest auf den ersten Blick plausibler Erklärungsansatz für die moralische Relevanz von Potenzialität erachtet das sich entwickelnde Leben schlicht und einfach aufgrund seiner Nähe zum entwickelten Leben als schutzwürdig. Das sich entwi-
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26 27
Dazu statt vieler die Aufsätze pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, in: Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2003. Vgl. zur Begründung Rütsche (Fn. 21), 187 ff. Dazu eingehend Rütsche (Fn. 21), 154 ff. – Vorliegend nicht behandelt wird die psychologische Begründungsvariante des Potenzialitätskriteriums; dazu Rütsche (Fn. 21), 166 ff.
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ckelnde Leben wird mit dem entwickelten Leben assoziiert. Insofern kann man von einer „assoziativen“ Begründung des Potenzialitätskriteriums sprechen. Wann aber ist das werdende menschliche Leben der ausgereiften Person genügend nahe, um als potenzielle und damit schutzwürdige Person zu gelten? Allgemein gesagt ist diese Nähe gegeben, wenn die notwendigen Bedingungen gegeben sind und es nur noch eine Frage der Zeit ist, dass aus dem werdenden Leben eine Person wird. Eine Unterbrechung des Entwicklungsprozesses, der ein rationales und selbstbewusstes Lebewesen hervorbringt, läuft auf dasselbe hinaus wie die Zerstörung eines solchen Wesens. Inwiefern soll aber die Zeitspanne, die zwischen der Kreation und der Realisation des Potenzials liegt, einen moralischen Unterschied machen? Um das Moralkriterium der Nähe greifbar zu machen, braucht es bestimmte Massstäbe, mit deren Hilfe sich sagen lässt, mit welchem Entwicklungsschritt die notwendigen Bedingungen gegeben sind und es nur noch eine Frage der Zeit ist, dass aus dem werdenden Leben eine Person wird. Solche Massstäbe können quantitativer oder qualitativer Art sein. Ein quantitativer Massstab beruht auf der Wahrscheinlichkeit, mit der aus dem werdenden Leben eine Person entsteht. Hat diese Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ausmass erreicht, lässt sich von einer potenziellen Person sprechen. Häufiger ist allerdings eine qualitative Betrachtungsweise, die danach fragt, ab welcher Entwicklungsstufe das werdende Leben identisch ist mit der späteren Person. Mit Blick auf die Massstäbe der Wahrscheinlichkeit und Identität lässt sich plausibel machen, dass bereits die befruchtete menschliche Eizelle der geborenen Person genügend nahe ist, um als potenzielle Person zu gelten. Zum einen ist mit der Befruchtung die entscheidende Identitätsbeziehung zur künftigen Person – die genetische Identität – festgelegt. Die befruchtete Eizelle enthält gewissermassen das Entwicklungsprogramm oder den Bauplan für die künftige Person. Zum andern findet von der Befruchtung bis zur Geburt ein kontinuierlicher, von selbst ablaufender und sich selbst steuernder Entwicklungsprozess statt. Mit der Befruchtung der Eizelle erscheinen daher die wesentlichen Bedingungen der Personwerdung erfüllt, so dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis aus der befruchteten Eizelle eine Person entsteht.28 Das assoziative Potenzialitätskriterium liefert demzufolge einen moralischen Grund, um menschliche Embryonen ab der Befruchtung als schutzwürdig anzuerkennen. Allerdings reicht dieser Grund nicht aus, um Rechte von Embryonen zu begründen. Rechte schützen, wie gezeigt wurde, Interessen von Individuen. Das assoziative Potenzialitätskriterium verweist indessen auf Allgemeininteressen: Es ist nicht das Individuum, sondern die Moralgemeinschaft, die potenzielle mit aktuellen Personen assoziiert. Menschliche Embryonen und Föten erscheinen in den Augen von uns allen als wertvoll, weil wir einmal so waren wie sie und sie einmal so sein werden wie wir. Die moralische Relevanz des assoziativen Potenzialitätskriteri28
Vgl. namentlich Hans Michael Baumgartner et al., Menschenwürde und Lebensschutz: Philosophische Aspekte, in: Beginn, Personalität und Würde des Menschen, hg. von Günter Rager, 2. A., Freiburg i. Br./München: Verlag Karl Alber, 1998, 228 ff., 237 f.; JOSEF ISENSEE, Der grundrechtliche Status des Embryos, in: Gentechnik und Menschenwürde. An den Grenzen von Ethik und Recht, Köln: DuMont, 2002, 37–77, 57 ff.; Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, 163 ff.
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ums beruht also auf einer Bewertung durch die Allgemeinheit. Die Allgemeinheit schreibt Embryonen aufgrund ihrer Nähe zu geborenen Menschen einen objektiven Wert zu, welcher seinerseits nicht Gegenstand von Rechten sein kann. Das assoziative Potenzialitätskriterium kann deshalb nicht herangezogen werden, um die Rechte auf Leben und Integrität auf vorpersonales menschliches Leben auszudehnen. 3.2.4 Ontologisches Potenzialitätskriterium Eine andere, auf die aristotelische Metaphysik zurückgehende und in der christlichen Moraltheologie verwurzelte Erklärung für die moralische Bedeutung von Potenzialität gründet auf einem ontologischen Fundament. Danach zeigt sich das Sein bzw. das Wesen eines Dings in seinen allgemeinen, artspezifischen Eigenschaften. Ob diese Eigenschaften aktuell oder nur potenziell vorhanden sind, lässt das Wesen des Dings unberührt. Aktualität und Potenzialität sind unterschiedliche Seinsformen ein und desselben Wesens. Zu den artspezifischen Eigenschaften des Menschen gehören die Vernunft und Autonomie. Ein Lebewesen, das über das Potenzial verfügt, vernünftig und autonom zu sein, ist Mensch, unabhängig davon, ob dieses Potenzial verwirklicht ist. Aus dieser ontologischen Betrachtungsweise wird in Teilen der Moralphilosophie geschlossen, dass dem Menschen im potenziellen wie im aktuellen Zustand der gleiche moralische Achtungsanspruch zukommt. Aus ontologischer Sicht lässt sich das in der befruchteten Eizelle gebildete menschliche Genom als Vermögen (griech. dynamis, lat. potentia) deuten, welches das stoffliche Leben zu einem vernunftbegabten und autonomiefähigen Menschen ausformt.29 Im Genom der befruchteten Eizelle ist die für das Menschsein typische Form (griech. eidos), die menschliche Seele (griech. psychê), bereits angelegt. Die befruchtete Eizelle erscheint als autonome Einheit, die das in ihr angelegte Potenzial selber zur Verwirklichung bringen kann. Ab der Befruchtung existiert damit eine Person dem Vermögen nach, Vernunft und Autonomie sind als Realmöglichkeiten vorhanden. Folgerichtig stellen sich Ethiker und Theologen auf den Standpunkt, dass bereits die befruchtete Eizelle als Person mit vollem moralischen Status gelten muss.30 Aus rechtstheoretischer Warte kann jedoch auch das ontologische Potenzialitätskriterium nicht Grund für die Rechtsträgerschaft sein. Das Kriterium ist Teil einer metaphysisch fundierten Moralphilosophie, die versucht, transzendente Werte zu erkennen. Der metaphysischen Erkenntnis, dass der Mensch im potenziellen wie im aktuellen Zustand dasselbe transzendente Sein verkörpert, entspricht die moralphilosophische Erkenntnis, dass der Mensch im potenziellen wie im aktuellen Zustand 29
30
Zur Deutung des menschlichen Genoms als formgebendes Vermögen auch Anton Leist, Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag, 1990, 90. Vgl. namentlich Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart: KlettCotta, 1989, 151 ff., 219 ff.; Ludger Honnefelder, Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos, in: Gentechnik und Menschenwürde. An den Grenzen von Ethik und Recht, Köln: DuMont, 2002, 79–110, 82 ff.; Otfried Höffe, Medizin ohne Ethik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, 74 f.; Rainer Beckmann, Der Embryo und die Würde des Menschen, in: Der Status des Embryos, Medizin – Ethik – Recht, Rainer Beckmann/Mechthild Löhr (Hg.), Würzburg: Johann Wilhelm Naumann Verlag, 2003, 170–207, 194 f.
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denselben transzendenten Wert hat. Dieser Wert ist objektiv vorgegeben und besteht unabhängig davon, ob ihn seine Träger – die individuellen Menschen – subjektiv anerkennen. Der Schutz transzendenter Werte ist ein Anliegen jener, die von der Existenz solcher Werte überzeugt sind, der sog. „Wertrealisten“.31 Der Schutz menschlicher Lebewesen, die über Vernunftvermögen verfügen, liegt insofern im Interesse der Gemeinschaft der Wertrealisten. Dieses Interesse ist von seiner Struktur her nichts anderes als ein Allgemeininteresse, auch wenn die Wertrealisten nur einen kleinen Teil der Allgemeinheit ausmachen mögen. Das bedeutet: Eine Statustheorie, die auf das ontologische Potenzialitätskriterium abstellt, steht im Dienst wertbezogener Allgemeininteressen und kann mithin keine Rechte begründen. 3.2.5 Zwischenergebnis Das Potenzialitätskriterium liefert somit Gründe für die Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen. In die Rechtssprache übersetzt handelt es sich um einen Schutz im Allgemeininteresse und damit um einen relativen Schutz, welcher der Abwägung mit entgegenstehenden Rechtspositionen, namentlich mit der Forschungsfreiheit und der öffentlichen Gesundheit, unterliegt. Dagegen lassen sich mit Hilfe des Potentialitätsarguments keine Rechte von Embryonen begründen, welche zu einem starken, grundsätzlich Abwägungen entzogenen Lebensschutz führen würde. Die Annahme einer relativen Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen entspricht der Haltung des schweizerischen Gesetzgebers.32 Der Gesetzgeber drückt dies dahingehend aus, dass Embryonen „Anteil an der Menschenwürde“ haben. Dabei kann man durchaus auch von der „Menschenwürde von Embryonen“ sprechen, muss sich aber bewusst sein, dass nicht die Menschenwürde als Grundrecht im Sinne von Art. 7 BV gemeint ist. Vielmehr ist die Menschenwürde als Verfassungsprinzip angesprochen, welches den objektiven Eigenwert menschlichen Lebens schützt.33 Die begrenzte Zulassung der Gewinnung embryonaler Stammzellen und der Forschung an solchen sowie der Verwendung überzähliger Embryonen zu Transplantationszwecken beruht auf Abwägungen zwischen der Schutzwürdigkeit von Embryonen einerseits und der Forschungsfreiheit sowie therapeutischen Interessen von Patientinnen und Patienten andererseits. Solche Abwägungen sind mit Blick auf das Potenzialitätsargument nachvollziehbar. Aus ethischer Sicht erscheinen somit die geltenden Bewilligungspflichten im Bereich der Embryonenforschung als legitim. Unsicher bleibt demgegenüber die Legitimität der Verbote, Embryonen zu Forschungszwecken zu erzeugen sowie an Embryonen als solchen zu forschen. Die relative Schutzwürdigkeit von Embryonen allein reicht nicht aus, um diese beiden Verbote zu begründen. Zumindest in Fällen, in denen die Erzeugung von Embryonen für ein Forschungsprojekt bzw. die Forschung an Embryonen notwendig ist, um hochrangige Forschungsziele zu erreichen, müsste die auf Allgemeininteressen rück31 32 33
Zum ethischen Realismus bzw. Objektivismus namentlich Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2. A., Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2007, 357 ff. Vgl. vorne Kap. 2.5. Dazu Bernhard Rütsche, Die Menschenwürde in der Rechtswirklichkeit: Schutz subjektiver und objektiver Werte, in: Auf der Scholle und in lichten Höhen, Festschrift für Paul Richli zum 65. Geburtstag, Zürich/St. Gallen 2010, 3–22, 17 ff.
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führbare Schutzwürdigkeit von Embryonen gegenüber wissenschaftlichen und therapeutischen Interessen zurücktreten. Um die fraglichen Verbote zu rechtfertigen, bedarf es daher zusätzlicher Argumente. Diese könnten sich ebenfalls aus der Menschenwürde ergeben, allerdings nicht aus der Würde als Statusargument, sondern aus der Würde im Sinne eines Verbots totaler Instrumentalisierung menschlichen Lebens für fremde Zwecke. 3.3 SCHUTZ DER MENSCHENWÜRDE ALS NORM 3.3.1 Menschenwürde als Verdinglichungsverbot Die Menschenwürde schützt zum einen ein Rechtsgut, nämlich die Würde des Menschen. Zum andern gibt sie aber auch Anweisungen, wie dieses Rechtsgut zu behandeln ist, nämlich mit Würde. Was bedeutet es aber, Menschen „mit Würde“ bzw. „würdig“ zu behandeln? Grundlegend und immer noch massgebend ist die Umschreibung des von der Menschenwürde geforderten Verhaltens durch Immanuel Kant in seiner zweiten Version des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.“34 Demnach folgt aus der Menschenwürde eine Verhaltensnorm, nämlich die Verbot, das Gegenüber zu einem beliebig austauschbaren Objekt zu erniedrigen und dadurch wie eine Sache zu behandeln. Das Gegenüber ist immer auch als Subjekt, als Zweck an sich selbst, zu respektieren. Man kann in Kurzform von einem „Verdinglichungsverbot“ sprechen. Das Verdinglichungsverbot gilt auf jeden Fall gegenüber Personen, die Träger der Menschenwürde im Sinne eines Grundrechts sind. Das Recht auf Menschenwürde und die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde, d. h. die Pflicht zur Achtung des Menschen als Zweck an sich, sind zwei Seiten derselben Medaille. Fraglich ist dagegen, ob sich der Anwendungsbereich des Verdinglichungsverbots auf menschliches Leben erstreckt, welches – wie frühe menschliche Embryonen – nicht Personstatus hat und damit nicht Träger von Rechten ist. Eine solche Erstreckung würde bedeuten, dass sich das Verdinglichungsverbot vom Schutz bestimmter Rechtssubjekte ablösen würde und als solches, sozusagen als „frei schwebende“ Verhaltensnorm, geschützt würde. An die Stelle des Schutzes von Rechtsträgern würde der Schutz einer Norm treten. Die Frage ist, ob sich ein solcher Normenschutz begründen lässt35. 3.3.2. Normenschutz Das Argument des Normenschutzes wird häufig, vor allem in politischen Diskussionen bio- und medizinethischer Fragen, als Warnung vor einem Dammbruch oder einer schiefen Ebene (slippery slope) geäussert. Der Tenor solcher Befürchtungen geht dahin, dass die Zulassung spezifischer Praktiken wie etwa der Präimplantationsdiag34 35
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, Nachdruck der Akademie-Ausgabe, Erstausgabe von 1785, 66 f. Zum Folgenden eingehend RÜTSCHE (Fn. 21), 202 ff.
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nostik die Moralität der Normadressaten schwächen und so fundamentale Normen wie die Menschenwürde, das Lebensrecht oder das Diskriminierungsverbot ins Wanken bringen könnte. Um solchen Dammbrüchen zuvorzukommen, sei bereits dem ersten unschuldigen Schritt Einhalt zu gebieten. Das Argument des Normenschutzes ist daran zu messen, ob die jeweilige Dammbruchprognose plausibel ist. Es handelt sich um eine empirische Frage, die vorwiegend auf der Basis bisheriger Erfahrungen zu beantworten ist. Solche Erfahrungen sprechen zumindest auf den ersten Blick gegen die These, dass Relativierungen des Schutzes von Embryonen Schritt für Schritt die Moralität in der Gemeinschaft untergraben und so geborene Menschen in ihrer Existenz bedrohen. Erinnert sei daran, dass einerseits das Dritte Reich trotz einer restriktiven Abtreibungspolitik Euthanasie und Völkermord praktizierte, während anderseits die Liberalisierungen der Abtreibungsgesetze in westlichen Staaten sowie die Zulassung der verbrauchenden Embryonenforschung in Ländern wie England und USA den Lebensschutz geborener Menschen sicherlich nicht verringert haben.36 Das Anliegen des Normenschutzes kann aber auch seine Berechtigung haben, ohne dass über kurz oder lang Dammbrüche drohen, die zur Aufweichung fundamentaler Rechte von Personen führen. Der Rechtsstaat hat unter Umständen ein Interesse daran, bestimmte Handlungen allein wegen ihrer symbolischen Bedeutung zu untersagen. Es geht um Handlungen, die zwar keine Personen verletzen, die aber gegen Lebewesen gerichtet sind, die Personen ähnlich sind. Man könnte von „QuasiPersonen“ sprechen. Solche Handlungen machen in den Augen all jener Bürgerinnen und Bürger, die zwischen Personen und Quasi-Personen keinen Unterschied machen, den Anschein von Verletzungshandlungen und manifestieren insoweit dieselben verwerflichen Einstellungen, die zur Verletzung von Personen führen. Mit einem Verbot von Übergriffen gegen Quasi-Personen bringt der Rechtsstaat zum Ausdruck, dass er Gesinnungen, die gegen fundamentale Normen wie die Menschenwürde gerichtet sind, in keiner Weise toleriert. Um die Geltung fundamentaler Normen zu bestätigen und zu stärken, stellt der Staat auch Quasi-Personen unter rechtlichen Schutz. Damit sollen Tugenden wie Mitgefühl und Sorge um das Wohlergehen des Nächsten und generell die Moralität in der Rechtsgemeinschaft langfristig aufrechterhalten werden.37 Der Staat, der Quasi-Personen aus moralpädagogischen Gründen unter Schutz stellt, tut dies unabhängig davon, ob konkrete Gefahren eines Dammbruchs nachweisbar sind. Im Fokus stehen nicht die Konsequenzen staatlichen Handelns oder Unterlassens, sondern das moralische Selbstverständnis der Gemeinschaft selber. Insofern kann von einer deontologischen Variante des Normenschutzargumentes gesprochen werden, während das Dammbruchargument die konsequenzialistische Variante darstellt. Dass eine begrenzte Zulassung der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken oder der Embryonenforschung als solcher zu einem Normenzerfall und 36 37
Darauf aufmerksam machen etwa Leonard W. Sumner, Abortion and Moral Theory, Princeton/ New Jersey: Princeton University Press, 1981, 24 f.; Merkel (Fn. 29), 206 ff. Dazu H. Tristram Engelhardt, The Foundations of Bioethics, 2. A., New York: Oxford University Press, 1996, 147, 149 f. („social sense of person“); Mary A. Warren, Moral Status. Obligations to Persons and Other Living Things, New York: Oxford University Press, 1997, 207 („psychological foundations of human morality“); Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. A., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, 114 ff.
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einer Erodierung der Menschenwürde führen könnte, ist empirisch schlicht unwahrscheinlich. Daher verbietet sich eine Berufung auf das konsequenzialistische Normenschutzargument, um das Verdinglichungsverbot auf Embryonen auszudehnen. Dagegen kann eine solche Ausdehnung mit Hilfe des Normenschutzargumentes in seiner deontologischen Variante nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Menschliche Embryonen können kraft ihrer Potenzialität als Quasi-Personen angesehen werden, denen gegenüber das aus der Menschenwürde fliessende Verdinglichungsverbot als zentrale Norm unseres Rechtsstaates aufrechterhalten werden muss. Auf diese Weise lässt sich zumindest das Verbot der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken legitimieren. Denn es geht dabei um die von Anfang an intendierte Verwendung menschlichen Lebens zu einem fremden – nicht-reproduktiven – Zweck. Eine stärkere Form von Instrumentalisierung einer Existenz ist kaum vorstellbar. Anders ist demgegenüber die Forschung an überzähligen Embryonen zu beurteilen. Zum einen ist die Instrumentalisierung in diesem Fall weniger stark, da es sich um Lebewesen handelt, die ursprünglich zu Fortpflanzungszwecken erzeugt worden sind und mangels Implantierbarkeit in eine Gebärmutter keine Überlebenschance haben. Zum anderen ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Forschung an überzähligen Embryonen anders geregelt sein soll als die Forschung an embryonalen Stammzellen, die mittels Vernichtung überzähliger Embryonen gewonnen werden. Im einen wie im anderen Fall verfolgt die Handlung denselben Zweck (Forschung) mit derselben Konsequenz (Zerstörung des Embryos). Das strafbewehrte Verbot der Forschung an überzähligen Embryonen ist deshalb nicht zu rechtfertigen. Solche Forschung sollte grundsätzlich zugelassen werden. 4. SCHLUSSFOLGERUNGEN Die Forschung an Embryonen, die aus einem reproduktionsmedizinischen Verfahren stammen, ist im schweizerischen Recht sehr differenziert geregelt. Während die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken sowie die Forschung an Embryonen selber verboten sind, ist es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, aus überzähligen Embryonen Stammzellen für die Forschung zu gewinnen und an diesen Stammzellen zu forschen. Ebenso ist die Verwendung von überzähligen Embryonen zu Transplantationszwecken grundsätzlich zulässig. Der Gesetzgeber stützt diese Regelungen zur nicht-reproduktiven Verwendung menschlicher Embryonen zur Hauptsache auf die Menschenwürde. Dabei ist die Menschenwürde in zwei unterschiedlichen Facetten angesprochen: Einerseits als Statusargument, aus dem sich die prinzipielle Schutzwürdigkeit von Embryonen ergibt, andererseits als Verhaltensnorm, welche die Verdinglichung, d. h. die gänzliche Entfremdung von Embryonen von ihrem natürlichen Zweck, sich zu einer Person zu entwickeln, verbietet. Im vorliegenden Beitrag wurde aus rechtstheoretischer und ethischer Sicht gefragt, ob die geltenden Regelungen zur Embryonenforschung und deren Rechtfertigung durch den Gesetzgeber legitim sind. Die Untersuchung hat ergeben, dass sich zwar eigentliche Rechte von Embryonen im Sinne von Grund- und Menschenrechten nicht begründen lassen. Dagegen gibt es gute Gründe, menschliche Embryonen als potenzielle Personen zum einem gewissen Grad in Schutz zu nehmen. Es han-
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delt sich dabei um einen Schutz im Interesse der Moralgemeinschaft, welche dem werdenden menschlichen Leben aus unterschiedlichen Gründen einen Eigenwert zuschreibt. Dieses wertbezogene Allgemeininteresse begründet eine Rechtsposition, welche im Konfliktfall mit den entgegenstehenden Positionen der Forschungsfreiheit und der öffentlichen Gesundheit abzuwägen ist. Mit Blick auf die relative Schutzwürdigkeit von Embryonen erscheint es als gerechtfertigt, die Embryonenforschung bestimmten Voraussetzungen zu unterstellen, welche im Rahmen von Bewilligungspflichten überprüft werden. Noch nicht gerechtfertigt sind damit jedoch die geltenden Verbote. Diese lassen sich nur plausibel machen, wenn das der Menschenwürde inhärente Verdinglichungsverbot auf menschliche Embryonen erstreckt wird. Diese Erstreckung ist ihrerseits begründungsbedürftig. Als Erstreckungsgrund kann ein deontologisch verstandenes Normenschutzargument herangezogen werden: Fundamentale Normen wie die Menschenwürde sind unbesehen der Rechtsträgerschaft auf alles menschliche Leben anzuwenden, um die Moralität in unserer Rechtsgemeinschaft langfristig zu erhalten. Auch dieses Normenschutzargument vermag indessen nur das Verbot der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken zu legitimieren. Dagegen ist das geltende Verbot der Forschung an überzähligen Embryonen auch auf diese Weise nicht zu begründen.
2. BIOETHISCHE PROBLEME EN COURS DE VIE
WÄHREND DES
LEBENS/PROBLÈMES
BIOÉTHIQUES
BERNICE ELGER, BASEL/GENF FORSCHUNG
MIT INHAFTIERTEN
ETHISCHE UND RECHTLICHE
PERSONEN –
FRAGEN
1. EINLEITUNG Forschung am Menschen ist ein zentrales Thema der Bioethik. Die Geburt der modernen universitären Disziplin „Bioethik“ in den USA in den 1970er Jahren wurde unter anderem ausgelöst durch die öffentlichen Reaktionen auf verschiedene Forschungsskandale. Von 1932 bis 1972 wurde mit vierhundert Afroamerikanern aus Alabama, die an latenter und sekundärer Syphilis erkrankt waren, die TuskegeeStudie durchgeführt. Ziel dieser Studie war es unter anderem, die Folgen von unbehandelter Syphilis zu dokumentieren. Viele Studienteilnehmer wussten nicht, dass sie unter Syphilis leiden und dass diese Erkrankung seit den 1940er Jahren durch Antibiotika heilbar ist. Erst 1972 wurde die Studie nach öffentlichen Protesten abgebrochen.1 In der Willowbrook-Studie wurden in dem gleichnamigen grossen Heim die dort untergebrachten Kinder mit geistigen Behinderungen gezielt mit Hepatitisviren infiziert, um mögliche Präventivmassnahmen zu testen. Kinder wurden nur aufgenommen, wenn die Eltern der Teilnahme an der Studie zustimmten. Für viele Eltern war dies die einzige Möglichkeit, einen Heimplatz für ihr Kind zu bekommen.2 Im Belmont Report haben Experten aus Fächern wie der Theologie, Philosophie, Medizin und Jurisprudenz ethische Prinzipien festgehalten, die in der Zukunft weitere als unethisch eingestufte Studien verhindern sollten.3 Weniger bekannt als die oben erwähnten Forschungsskandale ist, dass nicht nur vulnerable Gruppen wie verarmte schwarze Amerikaner oder Kinder mit geistigen Behinderungen, sondern auch Inhaftierte in den USA gezielt zu Forschungszwecken herangezogen wurden, oftmals unter Verletzung anerkannter ethischer Grundsätze.4 In Europa sind vor allem die Forschungsskandale aus der Zeit des Dritten Reichs bekannt5. Viele dieser Studien wurden mit Gefangenen in Konzentrationslagern ohne informierte Einwilligung durchgeführt. Der Nürnberger Kodex, ein Teil der 1 2
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S. David M. Pressel, „Nuremberg and Tuskegee: Lessons for Contemporary American Medicine“, J Natl Med Assoc 95/12 (Dec 2003), 1216–1225. Vgl. David J. Rothman, „Research Ethics at Tuskegee and Willowbrook“, Am J Med 77/6 (Dec 1984), A49; Ezekiel J. Emanuel/David Wendler/Christine Grady, „What Makes Clinical Research Ethical?“, JAMA 283/20 (May 24–31 2000), 2701–2711. Vgl. National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research (NCPHSBBR), The Belmont Report: Ethical Principles and Guidelines for the Protection of Human Subjects of Research, veröffentlicht auf: http://ohsr.od.nih.gov/guidelines/ belmont.html (Zugang am 20.10.07), 1979. Vgl. Allen M. Hornblum, „They Were Cheap and Available: Prisoners as Research Subjects in Twentieth Century America“, BMJ 315/7120 (Nov 29 1997), 1437–1441. Achim Trunk, „Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein notorisches Forschungsvorhaben und die Frage nach dem Beitrag Adolf Butenandts“, Acta Hist Leopoldina 48 (2007), 9–40; Astrid Ley, „Medizin im Konzentrationslager: Gezielte Vernachlässigung, medizinische Minimalversorgung, ärztliche Verbrechen, Dauerausstellung in der Gedenkstatte Sachsenhausen“, Medizinhist J 41/1 (2006), 99–108.
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Gerichtsdokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, wurde als Reaktion auf diese weitreichenden Übertretungen ethischer Prinzipien der Forschungsethik verfasst. Auch in anderen Ländern wurden unethische Studien mit Häftlingen durchgeführt.6 Forschungsethische Grundsätze sind in der modernen Bioethik vielfach analysiert worden.7 Trotz der Tatsache, dass in vielen Fällen Verletzungen der Forschungsethik inhaftierte Personen betreffen, gibt es nur wenige Untersuchungen zu ethischen Prinzipien der Forschung an Gefangenen.8 Ziel diesens Beitrags ist daher, nach einer kurzen Darstellung der Problematik, die wichtigsten internationalen und nationalen ethischen und rechtlichen Dokumente auf diesem Gebiet zusammenzustellen, die in ihnen enthaltenen Prinzipien zu vergleichen und ihre Bedeutung für zukünftige Forschung mit inhaftierten Personen darzulegen. 2. MEDIZINETHIK
IM
GEFÄNGNIS
Medizinethische Prinzipien gelten gleichermassen für inhaftierte und nicht-inhaftierte Personen. Verschiedene bahnbrechende internationale Dokumente haben dies mehrfach betont. Sogenanntes soft law, d. h. nicht-bindende Empfehlungen der Vereinten Nationen und des Europarats, nennen als zentrales ethisches Prinzip für medizinische Versorgung in Haft das sogenannte „Äquivalenzprinzip“. Dieses fordert eine Gleichwertigkeit der Versorgung: Der Gesundheitsdienst in einer Vollzugsanstalt soll in der Lage sein, unter Bedingungen, die denen ausserhalb der Anstalt vergleichbar sind, eine allgemeinärztliche, psychiatrische und zahnärztliche Behandlung zu gewährleisten und Programme auf dem Gebiet der Hygiene und der vorbeugenden Medizin durchzuführen. Anstaltsärzte sollten Fachärzte hinzuziehen können […]. In Vollzugsanstalten beschäftigte Ärzte sollen dem einzelnen Gefangenen dasselbe Mass an gesundheitlicher Versorgung angedeihen lassen, wie es Patienten9 ausserhalb der Anstalt erhalten.10
Zu nennen sind hier ebenfalls die Basic Principles for the Treatment of Prisoners der Vereinten Nationen von 1990. Hier heisst es im Art. 9: „Prisoners shall have access 6
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Vgl. Louis Lasagna, Special Subjects in Human Experimentation, in: Experimentation with Human Subjects, edited by Paul Abraham Freund, London: Allen & Unwin, 1972, 470 S.; Udo Schuklenk, „Protecting the Vulnerable: Testing Times for Clinical Research Ethics“, Soc Sci Med 51/6 (Sep 2000), 969–977; Arnold C. Brackman, The Other Nuremberg: The Untold Story of the Tokyo War Crimes Trial, New York: William Morrow and Company, 1987, 395 S. Vgl. Emanuel/Wendler/Grady (Fn. 2). Vgl. Bernice S. Elger, „Research Involving Prisoners: Consensus and Controversies in International and European Regulations“, Bioethics 22/4 (May 2008), 224–238. In diesem Text wird zur Vereinfachung meistens die maskuline Form verwendet. Diese schliesst die feminine Form ein. Vgl. B. Art. 10. und D. Art. 19 aus der deutschen Übersetzung: Council of Europe, Recommendation N° R(98)7 of the Committee of Ministers on the Ethical and Organisational Aspects of Health Care in Prison, veröffentlicht auf:https://wcd.coe.int/com.instranet. InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=530914&SecMode=1& DocId=463258&Usage=2 (Zugang am 12.6.13), 1998; Bundesministerium der Justiz (Berlin)/ Bundesministerium für Justiz (Wien)/Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Bern), Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962–2003, Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, 2004, S. 163–174.
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to the health services available in the country without discrimination on the grounds of their legal situation“.11 Ausserdem halten die Principles of Medical Ethics relevant to the Role of Health Personnel, particularly Physicians, in the Protection of Prisoners and Detainees against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment von 1982 fest (1. Prinzip): Health personnel, particularly physicians, charged with the medical care of prisoners and detainees have a duty to provide them with protection of their physical and mental health and treatment of disease of the same quality and standard as is afforded to those who are not imprisoned or detained.12
Das Äquivalenzprinzip beinhaltet ebenfalls, dass ethische Prinzipien wie die Vertraulichkeit und die informierte Zustimmung bei Inhaftierten genauso gelten wie für Patienten ausserhalb von Haftanstalten.13 Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat dies in ihrer Richtlinie zur „Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen“ von 2002 bestätigt. Die grundlegenden ethischen und rechtlichen Bestimmungen, welche die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit regeln, insbesondere die Vorschriften über Patienteneinverständnis und Vertraulichkeit, gelten auch für Personen unter Freiheitsentzug.14
3. REGULIERUNG
UND
KONTROLLE
VON
FORSCHUNG
MIT INHAFTIERTEN
PERSONEN
3.1. REGULATORISCHE ENTWICKLUNGEN ALS REAKTION AUF UNETHISCHE FORSCHUNGSPRAKTIKEN Es leuchtet ein, dass das Äquivalenzprinzip eine Grundbedingung für ethische Forschung an Gefangenen darstellt, d. h. Forschung, die weder mit Druck noch mit unethischen Anreizen einhergeht. Sollte in Haftanstalten keine ausreichende medizinische Versorgung zur Verfügung stehen, bestünde die Gefahr, dass inhaftierte Personen zustimmen, an Studien teilzunehmen, weil dies für sie die einzige Möglichkeit darstellt, medizinische Therapien oder diagnostische Massnahmen zu erhalten. Ein Häftling sollte Zugang zu qualifiziertem und vertrauenswürdigem ärztlichem Personal haben, das ihn in Bezug auf den möglichen Nutzen und die Risiken von Forschungsprojekten beraten kann. Daher ist eine hochstehende Qualität medi11
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13 14
Für die meisten der zitierten Texte gibt es keine amtlichen Übersetzungen. Falls auf der Website der Vereinten Nationen oder des Europarats eine nicht amtliche deutsche Übersetzung existiert, ist diese wiedergegeben, ansonsten wird der Originaltext auf Englisch zitiert: s. Art. 9 aus United Nations, Basic Principles for the Treatment of Prisoners 14.12.1990, veröffentlicht auf: http:// www.hri.ca/uninfo/treaties/35.shtml oder http://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/BasicPrinciplesTreatmentOfPrisoners.aspx (Zugang am 13.6.13), 1990. S. United Nations, Principles of Medical Ethics Relevant to the Role of Health Personnel 18.12.1982, veröffentlicht auf: http://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/MedicalEthics.aspx, 1982. S. Buchstabe C. Art. 13–18 Council of Europe (Fn. 10). Vgl. Art. 1 Schweizerische Akademie des Medizinischen Wissenschaften, (SAMW), Ausübung Der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen 28.11.2002, veröffentlicht auf: http://www. samw.ch/de/ethik/richtlinien/aktuell-gueltige-richtlinien.html (Zugang am 1.10.12), 2002.
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Bernice Elger
zinischer Versorgung im Gefängnis eine Vorbedingung für ethisch akzeptable Forschungsaktivitäten jeder Art in Haftanstalten. Eine weitere Vorbedingung ist, dass medizinische Versorgung und Forschungsprojekte in Haftanstalten von unabhängigem ärztlichem Personal durchgeführt werden können. Die Richtlinien des Europarats sprechen hier von „fachlicher Unabhängigkeit“: Klinische Entscheidungen und andere Beurteilungen in Bezug auf die Gesundheit inhaftierter Personen sollen nur durch medizinische Kriterien bestimmt werden. Die in der Gesundheitsfürsorge tätigen Mitarbeiter sollen im Rahmen ihrer Qualifikationen und Zuständigkeiten völlig unabhängig handeln. […] Krankenpflegekräfte und andere in der Gesundheitsfürsorge tätige Mitarbeiter sollen ihre Aufgaben unter der unmittelbaren Verantwortung des leitenden Arztes wahrnehmen.15
Um eine solche Unabhängigkeit zu gewährleisten, sollte medizinisches Personal nicht vom Justizdepartment angestellt sein, sondern in einer unabhängigen Hierarchie stehen, die dem Gesundheitsdepartment zugeordnet ist. Hilfreich ist hier ebenfalls eine hohe akademische Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte, z. B. durch die Zugehörigkeit zu einer Universität. Eine solche Qualifikation stärkt die Unabhängigkeit und den Respekt, der dem medizinischen Personal von Sicherheitskräften in Haftanstalten entgegengebracht wird.16 Verschiedene Empfehlungen der Vereinten Nationen regeln die Rechte von inhaftierten Personen und nehmen unter anderem auch auf die medizinische Versorgung Bezug.17 Forschung mit Inhaftierten wird jedoch nur in zwei dieser Dokumente erwähnt. Die Bezugnahme auf Forschung bleibt hier auffällig kurz. No detained or imprisoned person shall, even with his consent, be subjected to any medical or scientific experimentation which may be detrimental to his health.18 Non-custodial measures shall not involve medical or psychological experimentation on, or undue risk of physical or mental injury to, the offender.19
Die Zitate zeigen, dass auch bei Zustimmung der inhaftierten Personen Forschung entweder gar nicht erlaubt ist oder nur, wenn Risiken ausgeschlossen werden können. Beide Zitate spiegeln die Einstellung der 80er und 90er Jahre in den westlichen 15 16
17
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S. Art. 20 und 21 Council of Europe (Fn. 10). Vgl. hierzu die Erfahrungen in der Gefängnismedizin an der Universität Genf: Bernice S. Elger, „Towards Equivalent Health Care of Prisoners: European Soft Law and Public Health Policy in Geneva“, J Public Health Policy 29, n° 2 (Jul 2008), 192–206; Bernice S. Elger, „Prison Medicine, Public Health Policy and Ethics: The Geneva Experience“, Swiss Med Wkly 141 (2011), w13273. Hierzu gehören neben den zwei oben erwähnten Dokumenten unter anderem auch noch die folgenden: United Nations, Body of Principles for the Protection of All Persons under Any Form of Detention or Imprisonment 9.12.1988, veröffentlicht auf: http://www.un.org/documents/ga/res/43/a43r173.htm (Zugang am 1.12.12), 1988; United Nations, Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment 10.12.1984, veröffentlicht auf: http://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/CAT.aspx (Zugang am 13.6.13), 1984; United Nations, Safeguards Guaranteeing Protection of the Rights of Those Facing the Death Penalty 25.5.1984, veröffentlicht auf: http://www.un.org/documents/ecosoc/ res/1996/eres1996-15.htm (Zugang am 13.6.13), 1984; United Nations, Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice (the Beijing Rules) 29.11.1985, veröffentlicht auf: http://www.un.org/documents/ga/res/40/a40r033.htm (Zugang am 3.12.11), 1985. S. Prinzip 22: United Nations, Body of Principles (Fn. 17). S. Art. 3.8 United Nations, United Nations Standard Minimum Rules for Non-Custodial Measures (the Tokyo Rules, 14.12.1990, veröffentlicht auf: http://www1.umn.edu/humanrts/instree/i6unsmr.htm (Zugang am 13.6.13), 1990.
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Demokratien wieder. Damals schlug – als Reaktion auf den Missbrauch von inhaftierten Personen im 20. Jahrhundert – die damals permissive Haltung in ein weitreichendes Verbot von Forschung mit Gefangenen um. Eine kurze Zusammenfassung der vorausgehenden Ereignisse zeigt, wie es zu diesen Reaktionen kam. In den USA wurde ab 1950 eine grosse Anzahl von nicht-therapeutischen Studien mit inhaftierten Personen durchgeführt. In Ohio wurde z. B. Forschern des berühmten New Yorker Sloan-Kettering Institute for Cancer Research erlaubt, über 100 Gefangenen lebende Krebszellen zu spritzen. Das Ziel dieser Studie war, zu beschreiben, durch welche natürlichen Mechanismen gesunde Menschen Krebszellen abwehren können. Gefangenen wurde mitgeteilt, dass sie keine schweren Risiken eingingen, weil Krebs langsam wachsen würde und, falls nötig chirurgisch entfernt werden könne.20 Forscher profitierten davon, dass Gefangene eine leicht zugängliche, stabile Gruppe darstellten, an denen ohne grosse Kosten Medikamentenstudien in grossem Umfang durchgeführt werden konnten. Dies wurde 1960 besonders wichtig, um die Vorgaben von Phase-1 Studien der amerikanischen Food and Drug Administration zu erfüllen. Ende der 1960er Jahre wurden 85 % aller neuen Medikamente in den USA an Gefangenen getestet. Mindestens zweiundvierzig Haftanstalten waren involviert. Noch Anfang der 1970er Jahre wurden bei über 90 % aller neuen Medikamente inhaftierte Personen für die erforderlichen Studien herangezogen.21 Diese Forschung war nicht auf Studien von Pharmaunternehmen begrenzt, sondern wurde durch grosse Summen öffentlicher Forschungsgelder unterstützt. Sieben Institute der National Institutes of Health wurden in den USA von Bundesgeldern finanziell für 19 Forschungsprogramme mit Gefangenen gefördert.22 Mitte der 1970er Jahre, nachdem verschiedene Berichte und Empfehlungen die ethischen Probleme angeprangert hatten23, wurde Forschung mit Gefangenen in vielen US Staaten grundsätzlich verboten, bzw. auf Bundesebene in dem sogenannten Subpart C24 deutlich eingeschränkt. Die restriktive Haltung bezüglich Forschung mit Gefangenen wurde aber bald schon hinterfragt, vor allem als im Rahmen der HIV-Epidemie in Gefängnissen der Zugang zu nur als Teil von Studien verfügbaren neuen Medikamenten lebensrettend sein konnte. Eine Kommission unter Leitung des Rechtswissenschaftsprofessors L. Gostin von der Georgetown University in Washington D. C. 20
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22
23 24
Vgl. Hornblum (Fn. 4), 1440; vgl. ebenfalls Allen M. Hornblum, Acres of Skin: Human Experiments at Holmesburg Prison, a True Story of Abuse and Exploitation in the Name of Medical Science, New York: Routledge, 1998, 320 S. S. Hornblum (Fn. 4), 1440; vgl. ausserdem: David Kinney, „Activist Documents Experiments on ‚Volunteer’ Inmates in Philadelphia“, Los Angeles Times (June 21, 1998), veröffentlicht auf: http://articles.latimes.com/1998/jun/21/news/mn-62097 (Zugang am 4.12.12); Maggie Frederick, „Prisoners as Research Subjects, veröffentlicht auf: http://www.dshs.wa.gov/pdf/ms/rda/ hrrs/prisoner%20research.pdf (Zugang am 4.12.12), 2008. S. National commission for the protection of human subjects of biomedical and behavioral research, Research Involving Prisoners. Report and Recommendations, veröffentlicht auf: http:// bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/past_commissions/research_involving_prisoners.pdf (Zugang am 5.11.12), S. 27. S. NCPHSBBR (Fn. 3). Department of Health and Human Services (DHHS), Code of Federal Regulations Title 45 Part 46 Subpart C. Additional DHHS Protections Pertaining to Biomedical and Behavioral Research Involving Prisoners as Subjects, veröffentlicht auf: http://www.hhs.gov/ohrp/humansubjects/ guidance/45cfr46.htm#subpartc (Zugang am 10.6.13), 1978.
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Bernice Elger
wurde zusammengestellt, um neue Vorschläge für eine gerechte Regelung von Forschung mit Gefangenen zu erarbeiten.25 In Europa haben die in den Nürnberger Prozessen aufgedeckten Grausamkeiten während des Dritten Reiches zu einem Erstarken der Menschenrechtstradition geführt. Die Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der medizinischen Forschung an inhaftierten Personen begangen wurden, haben die Überzeugung gestärkt, dass regulatorische Massnahmen nötig sind, um ähnliche Vorkommnisse in der Zukunft zu verhindern. Die Europäische Menschenrechtskonvention, das Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe26, sowie verschiedene weitere europäische Konventionen und Empfehlungen des Europarates27 etablieren in Europa einen besonderen Schutz der Menschenrechte von inhaftierten Personen. Eine Besonderheit in Europa sind die Mechanismen, die zur Durchsetzung der Rechtsnormen geschaffen wurden. Hier ist zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu nennen. Seit dem 1. November 1998 existiert der Gerichtshof in seiner aktuellen Form und ersetzt damit die vorausgehenden Institutionen, den 1959 geschaffenen Gerichtshof und die 1954 auf ihn folgende Europäische Kommission für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat seit 1979 verschiedentlich Entscheidungen zu Fragen des Äquivalenzprinzips in Haftanstalten gefällt.28 Entscheide sind bindend für alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarates, die die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben. Der Gerichtshof beruft sich u. a. auf vom Europäischen Folterkomitee (Committee for the prevention of torture, CPT) etablierte Normen. Das CPT ist eine weitere wichtige Institution, die die Durchsetzung der Menschenrechte von Gefangenen unterstützt. Das Mandat des CPTs beruht auf dem oben schon erwähnten Europäischen Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, das ebenfalls von allen 47 Mitgliedern des Europarats ratifiziert wurde. Es wird ein Europäischer Ausschuß zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (im folgenden als „Ausschuß“ bezeichnet) errichtet. Der Ausschuß prüft durch Besuche die Behandlung von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, um
25
26
27 28
S. Lawrence O. Gostin, „Biomedical Research Involving Prisoners: Ethical Values and Legal Regulation“, JAMA 297/7 (Feb 21 2007), 737–740; Lawrence O. Gostin et al., Ethical Considerations for Research Involving Prisoners, Washington, D. C.: The National Academies Press, 2006, 266 S.; Bernice S. Elger/Anne Spaulding, „Research on Prisoners – a Comparison between the IOM Committee Recommendations (2006) and European Regulations“, Bioethics 24, 1 (January 2010); 1–13. S. Council of Europe, The European Convention on Human Rights 4.11.1950, veröffentlicht auf: http://www.hri.org/docs/ECHR50.html Deutsche Übersetzung veröffentlicht auf: http:// www.echr.coe.int/nr/rdonlyres/f45a65cd-38be-4ff7-8284-ee6c2be36fb7/0/convention _deu.pdf (Zugang am 20.6.12), 1950; Council of Europe, European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment 26.11.1987, veröffentlicht auf http:// conventions.coe.int/treaty/commun/quevoulezvous.asp?nt=126&cl=eng, Deutsche Übersetzung veröffentlicht auf: http://www.cpt.coe.int/lang/deu/deu-convention.pdf (Zugang am 20.6.12), 1987. Die wichtigsten Dokumente werden im Folgenden diskutiert. Zu den Fällen, die das Äquivalenzprinzip in Bezug auf medizinische Behandlung in Gefängnissen etablieren, gehören Bonnechaux v. Switzerland 1979 (ein Fall aus dem Genfer Gefängnis Champ Dollon), De Varga Hirsch v. France 1983 und Patanye v. Italy 1986.
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erforderlichenfalls den Schutz dieser Personen vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu verstärken.29
Das CPT setzt sich aus unabhängigen Experten zusammen, die ungehinderten Zugang zu Haftanstalten und anderen Orten von Inhaftierungen, wie z. B. Polizeistationen oder auch geschlossenen psychiatrischen Anstalten haben.30 Im Verlauf seiner Aktivitäten und langjährigen Besuche von Inhaftierungsorten hat das CPT regelmässig Berichte veröffentlicht, sowie Zusammenfassungen der applizierten Normen erarbeitet, die im Rahmen der Haft für Gefangene gelten. Da diese Normen in die Jurisprudenz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einfliessen, ist es wichtig, neben den vorliegenden Konventionstexten und soft law Dokumenten auch die Berichte des CPTs heranzuziehen. Das CPT hält fest, dass unzureichende Gesundheitsversorgung eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention31 darstellen kann. „An inadequate level of health care can lead rapidly to situations falling within the scope of the term „inhuman and degrading treatment“.32 Das Äquivalenzprinzip ist für das CPT ein Grundpfeiler der medizinischen Versorgung von inhaftierten Personen: A prison health care service should be able to provide medical treatment and nursing care, as well as appropriate diets, physiotherapy, rehabilitation or any other necessary special facility, in conditions comparable to those enjoyed by patients in the outside community. Provision in terms of medical, nursing and technical staff, as well as premises, installations and equipment, should be geared accordingly.33
Im 3. Generalbericht des CPT von 1992 wird in Bezug auf Forschung an Gefangenen auf das Äquivalenzprinzip hingewiesen: As regards the issue of medical research with prisoners, it is clear that a very cautious approach must be followed, given the risk of prisoners’ agreement to participate being influenced by their penal situation. Safeguards should exist to ensure that any prisoner concerned has given his free and informed consent. The rules applied should be those prevailing in the community, with the intervention of a board of ethics. The CPT would add that it favours research concerning custodial pathology or epidemiology or other aspects specific to the condition of prisoners.34
Hervorzuheben ist, dass zwar eine „sehr vorsichtige“ Einstellung empfohlen wird, aber Forschung nicht an sich eingeschränkt wird. Vielmehr liegt der Fokus auf den Sicherheitsmassnahmen, die dafür sorgen sollen, dass Forschung konform mit ethischen Richtlinien erfolgt. Hierzu zählt die Kontrolle durch Forschungsethikkommissionen, wie dies auch für Forschung ausserhalb von Haftanstalten vorgeschrie29 30 31
32
33 34
S. Art. 1 Council of Europe, European Convention for the Prevention of Torture (Fn. 26). Vgl. http://www.cpt.coe.int/en/. Art. 3: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“: Council of Europe, The European Convention on Human Rights (Fn. 26). S. Art. 30: European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Third General Report 1993, veröffentlicht auf: http://www. cpt.coe.int/en/annual/rep-03.htm (Zugang am 1.12.12) 1993; s. auch in: The CPT Standards „Substantive“ Sections of the CPT’s General Reports 2004, veröffentlicht auf: http://www.cpt. coe.int/en/documents/eng-standards-scr.pdf (Zugang am 30.1.13), 2004. S. Art. 28 CPT (Fn. 32). S. Art. 48 CPT (Fn. 32).
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ben ist. Das CPT geht sogar so weit, dass Forschung aktiv gefordert wird, um im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin wichtige Daten zu Epidemiologie und Krankheiten, die typischerweise in Haftanstalten auftreten, zu erheben. Diese Stellungnahme des CPTs ist umso wichtiger, als andere europäische soft law Dokumente zur Behandlung von Gefangenen, wie z. B. die Empfehlungen des Europarats, Forschung nur in Ausnahmefällen direkt ansprechen. Eine solche Ausnahme ist Art. 48 der European prison rules: 48.1 Prisoners shall not be subjected to any experiments without their consent. 48.2 Experiments involving prisoners that may result in physical injury, mental distress or other damage to health shall be prohibited.35
Eine weitere Ausnahme, die durch ihre Ausführlichkeit auffällt, ist Art. 16 der Recommendation No. R(93) 6 of the Committee of Ministers to member states concerning prison and criminological aspects of the control of transmissible diseases including AIDS and related health problems in prison. Diese Empfehlung ist im Zusammenhang mit den verheerenden Auswirkungen der Verbreitung von HIV entstanden. Persons deprived of their liberty may not undergo medical research unless it is expected to produce a direct and significant benefit to their health. Ethical principles concerning research on human subjects must be strictly applied, particularly in relation to informed consent and confidentiality. All research studies carried out in prisons should be subject to approval by an ethical review committee or to an alternative procedure guaranteeing these principles. Research on the prevention, treatment and management of transmissible diseases in prison populations should be encouraged, provided that such research yields information not available from studies in the community. Prisoners should have the same access to clinical trials of treatments for all HIV/ Aids-related diseases as persons living in the community. Epidemiological HIV/Aids monitoring, including anonymous, non-correlated screening, could be considered only if such methods are used in the general population and if their application to prison populations appears likely to yield results useful to the prisoners themselves. Prisoners should be informed in due time about the existence of any epidemiological studies carried out in the prison where they are detained. Publication and communication of the results of research studies must ensure absolute confidentiality concerning the identity of prisoners who have participated in such studies.36
Ähnlich wie das CPT unterstreicht diese Empfehlung, dass epidemiologische Studien wichtig sind, und legt den Fokus auf nötige flankierende Massnahmen, die garantieren, dass Forschung die ethischen Standards in Bezug auf die informierte Zustimmung und Vertraulichkeit erfüllt. Ausserdem wird das Subsidiaritätsprinzip angesprochen. Letzteres impliziert, dass Forschung mit Gefangenen ohne direkten Nutzen nur dann gerechtfertigt ist, wenn vergleichbare Forschung nicht mit anderen Personengruppen durchgeführt werden kann. Dies ist z. B. der Fall, wenn es um die Erhebung spezifischer epidemiologischer Daten zu Infektionskrankheiten im Gefängnis geht. Der erklärende Bericht zu diesen Empfehlungen führt im Kommentar 35
36
S. Art. 48 Council of Europe, Recommendation N° R(2006)2 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules 11.01.2006, veröffentlicht auf: https://wcd.coe. int/viewdoc.jsp?id=955747 (Zugang am 4.9.12), 2006. S. Art. 16 Council of Europe, Recommendation N° R(93) 6 of the Committee of Ministers to Member States Concerning Prison and Criminological Aspects of the Control of Transmissible Diseases Including Aids and Related Health Problems in Prison 18.10.1993, s. deutsche Übersetzung in: Bundesministerium der Justiz (Berlin)/Bundesministerium für Justiz (Wien)/ Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Bern), Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962–2003, Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, 2004, S. 141–147.
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zu Art. 16 weiter aus, wie das Gerechtigkeitsprinzip im Rahmen der biomedizinischen Forschung ausgelegt werden sollte. Although it is clearly unthinkable that prisoners should be subjected, without their consent or knowledge, to experimental procedures which may damage their physical or mental health, the principle of equal treatment with outside patients suggests that excluding them totally from such treatment may be unethical. This mostly applies to persons who had been undergoing clinical trials before imprisonment and for whom it seems indispensable to continue the trials during detention.37
Einerseits ist es ungerechtfertigt, dass Medikamente, die allen Menschen nutzen, überproportional an Gefangenen getestet werden, wie es in den USA vor 1975 der Fall war. Andererseits ist es ebenfalls nicht zu rechtfertigen, dass Gefangene von Studien ausgeschlossen werden, die ihnen selbst oder Gefangenen als Gruppe nützen. Hierzu gehören im ersten Fall therapeutische Studien mit direktem Nutzen für Patienten und im zweiten Fall epidemiologische Studien, die helfen, Infektionskrankheiten bei Gefangenen besser präventiv und therapeutisch behandeln zu können. It is therefore recommended that prisoners should be given the benefit of clinical trials if the following conditions are satisfied: the prisoner must give his informed and written consent and must be able to withdraw at any time; the expected effect of the treatment should be, in principal, beneficial; the procedures must be approved by an ethical committee independent of both the doctor carrying them out and the prison authorities, in conformity with national legislation.38
Im Jahr 2005 wurde der Text eines Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung festgeschrieben.39 Dieses behandelt in Art. 20 Forschung mit Personen im Freiheitsentzug. Article 20 – Research on persons deprived of liberty Where the law allows research on persons deprived of liberty, such persons may participate in a research project in which the results do not have the potential to produce direct benefit to their health only if the following additional conditions are met: i. research of comparable effectiveness cannot be carried out without the participation of persons deprived of liberty; ii. the research has the aim of contributing to the ultimate attainment of results capable of conferring benefit to persons deprived of liberty; iii. the research entails only minimal risk and minimal burden.40
Art. 20 bezieht sich nur auf Studien ohne direkten Nutzen für die Teilnehmer, d. h. bei therapeutischen Studien mit direktem Nutzen bestehen für inhaftierte Personen keine besonderen Regelungen ausser denen, die allgemein für vulnerable Gruppen bestehen. Hierzu gehört, gemäss Art. 12 des Zusatzprotokolls die Prüfung, dass unangemessener Einfluss oder Druck auf die vulnerablen Personen ausgeschlossen wer37 38 39 40
Kommentar zu Art. 16 Council of Europe, Explanatory Memorandum to the Committee of Ministers. Recommendation No. R(93) 6 (Fn. 36). Kommentar zu Art. 16 Council of Europe (Fn. 37). Dieses Zusatzprotokoll ist bisher von der Schweiz nicht ratifiziert worden. Art. 20 Council of Europe, Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, Concerning Biomedical Research, Strasbourg 25.1.2005, veröffentlicht auf: http:// conventions.coe.int/treaty/commun/quevoulezvous.asp?cl=ger&nt=195 (Zugang am 30.1.12), 2005.
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Bernice Elger
den kann. Dieser kann dadurch entstehen, dass vulnerable Personen sich in einer abhängigen Situation befinden, in der sie nicht frei sind, die Teilnahme an einem Forschungsprojekt abzulehnen.41 Article 12 – Undue influence: The ethics committee must be satisfied that no undue influence, including that of a financial nature, will be exerted on persons to participate in research. In this respect, particular attention must be given to vulnerable or dependent persons.42
Für Studien ohne direkten gesundheitlichen Nutzen bestehen bei Forschung mit inhaftierten Personen besondere Beschränkungen. Im erklärenden Bericht wird ausgeführt, dass Personen, die ihrer Freiheit beraubt sind, auch Patienten in geschlossenen psychiatrischen Anstalten einbezieht. Alle drei in Art. 20 genannten Bedingungen gelten kumulativ. Es handelt sich um das Subsidiaritätsprinzip (Abs. i.), der Vorschrift, dass zumindest ein Nutzen für Gefangene als Gruppe vorliegen muss (Abs. ii.), sowie der Einschränkung, dass Risiken und Belastungen nicht grösser als minimal sein dürfen. Diese Bestimmungen implizieren, dass Phase-1 Studien und eine Reihe von Phase-2 Studien mit inhaftierten Personen nicht erlaubt sind. Erwähnenswert ist, dass der erklärende Bericht Sonderfälle nennt: Gefangene dürfen in genetische Studien eingeschlossen werden, wenn ihre Teilnahme für diese Studien von grosser Wichtigkeit ist: It was agreed that this article should not be interpreted as impeding the possibility, for a Party, to allow participation in research concerning specific situations, such as family genetic studies, if that research could not be carried out without the participation of that specific person, coincidentally deprived of liberty, because of his or her health condition or genetic characteristics. It was considered that, because of its rarity, this exception, noted in the Explanatory Report, did not need to be reflected in the text of the Protocol itself.43
Es ist weiterhin wichtig, die Definition von minimalen Risiken und Belastungen des Zusatzprotokolls zu beachten. Diese findet sich in Art. 17: Article 17 – Research with minimal risk and minimal burden: 1. For the purposes of this Protocol it is deemed that the research bears a minimal risk if, having regard to the nature and scale of the intervention, it is to be expected that it will result, at the most, in a very slight and temporary negative impact on the health of the person concerned. 2. It is deemed that it bears a minimal burden if it is to be expected that the discomfort will be, at the most, temporary and very slight for the person concerned. In assessing the burden for an individual, a person enjoying the special confidence of the person concerned shall assess the burden where appropriate.44
Aus Studien mit verschiedenen Ethikkommissionen ist bekannt, dass es durchaus unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, welche medizinischen Interventio41
42 43 44
S. auch Art. 67 „Dependent persons are those whose decision on participation in a research project may be influenced by their reliance on those who may be offering them the possibility of participation in the research. Such persons could be those deprived of their liberty, recipients of health care dependent on their health care provider for continued care, medical or other students, those in military service, health care workers (particularly those in junior positions) or employees to give just a few examples“, Council of Europe, Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, Concerning Biomedical Research. Explanatory Report, veröffentlicht auf: http://conventions.coe.int/treaty/en/reports/html/195.htm (Zugang am 1.12.12), 2005. S. Art. 12 Council of Europe (Fn. 40). S. Art. 112 Council of Europe (Fn. 41). S. Art. 17 Council of Europe (Fn. 40).
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nen nur einen geringfügigen und vorübergehenden negativen Einfluss auf die Gesundheit haben. Dies verdeutlicht eine Studie aus dem Jahr 2004, in der in einer Telefonumfrage 188 zufällig ausgewählte Leiter von Forschungsethikkommissionen in den USA befragt wurden. Von diesen stuften 48 % Magnetresonanztomographie ohne Sedation als minimales Risiko ein. Dagegen waren 35 % der Meinung, dass diese Form der Magnetresonanztomographie leicht über minimalem Risiko einzuordnen ist und 9 % hielten Magnetresonanztomographie für eine Intervention mit deutlich höherem als minimalem Risiko. Wenn es um eine Studie ging, in der eine Befragung zu sexuellen Aktivitäten durchgeführt werden soll, stuften 44 % die Risiken als minimal ein, 29 % als leicht höher und 19 % als deutlich höher als minimal. Bei Hauttests zu Allergien waren 23 % der Meinung, dass die Risiken minimal sind, während jeweils 43 % und 27 % die Risiken für wenig bzw. deutlich höher als minimal einstuften.45 3.2. DAS SCHWEIZERISCHE BUNDESGESETZ ÜBER DIE FORSCHUNG AM MENSCHEN Die vom Parlament am 30. September 2011 verabschiedete Schlussversion des Gesetzes enthält folgende Abschnitte zu Forschung mit Personen im Freiheitsentzug. Art. 28 Forschungsprojekte mit Personen im Freiheitsentzug. 1 Für ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen mit Personen im Freiheitsentzug gelten die allgemeinen Anforderungen an die Forschung mit Personen; Artikel 11 Absatz 2 ist nicht anwendbar. 2 Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen mit Personen im Freiheitsentzug darf nur durchgeführt werden, wenn es nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist.46
In Art. 29 wird ausserdem präzisiert, dass die „Teilnahme an einem Forschungsprojekt […] nicht mit Erleichterungen im Rahmen des Freiheitsentzugs verbunden sein [darf]“. 47 Da Gefangene in dem Gesetz zur Gruppe der besonders verletzbaren Personen gezählt werden, gilt ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip aus Art. 11 Abs. 2: „Ein Forschungsprojekt mit besonders verletzbaren Personen darf nur durchgeführt werden, wenn gleichwertige Erkenntnisse anders nicht gewonnen werden können.“48 Anders als das oben genannte europäische Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung wird in der verabschiedeten Version des Bundesgesetzes keine Definition von minimalen Risiken und Belastungen gegeben. In den Verordnungsentwürfen, deren Anhörungsverfahren am 31.10.12 abgeschlossen wurde, werden als „gesundheitsbezogene Intervention mit minimalen Risiken und Belastungen“ Handlungen bezeichnet, die „mit keinen oder allenfalls leichten und vorübergehenden psychischen be45 46
47 48
Seema Shah et al., „How Do Institutional Review Boards Apply the Federal Risk and Benefit Standards for Pediatric Research?“, JAMA 291/4 (Jan 28 2004), 476–482. Art. 28 Forschungsprojekte mit Personen im Freiheitsentzug, Schweizerische Eidgnossenschaft, Bundesgesetz über die Forschung am Menschen, Version der Schlussabstimmung der Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 30.9.2011, veröffentlicht auf: http:// www.bag.admin.ch/themen/medizin/00701/00702/07558/ (Zugang am 1.12.12), 2011. Art. 29 ibid. Art. 11 ibid.
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Bernice Elger
ziehungsweise physischen Beeinträchtigungen der teilnehmenden Personen verbunden sind“. Als Beispiele für Interventionen mit minimalen Risiken werden weiterhin genannt: „1. Befragungen und Beobachtungen, 2. periphere venöse oder kapillare Blutentnahmen sowie kleinflächige Stanzbiopsien, 3. die Entnahme von organischen Flüssigkeiten ohne invasive Massnahmen (insbesondere Speichel-, Urin- und Stuhlproben), 4. Abstriche, 5. Ultraschalluntersuchungen oder Elektrogramme.“49 Im Vergleich mit dem europäische Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung fehlt im schweizerischen Gesetz die Bestimmung zu einem Nutzen für die Gruppe. Diese führt das Bundesgesetz über die Forschung am Menschen in den Bestimmungen zu Forschung mit Kindern und Forschung mit urteilsunfähigen Erwachsenen auf, aber nicht in Bezug auf Forschung mit Personen im Freiheitsentzug.50 Dies ergibt zwei bemerkenswerte Unterschiede zwischen dem europäischen Zusatzprotokoll und dem Schweizerischen Bundesgesetz, die im Rahmen einer in der Zukunft zu erhoffenden Ratifizierung des Zusatzprotokolls durch die Schweiz untersucht werden sollten. Das Bundesgesetz würde Forschung erlauben, die keinen Nutzen für inhaftierte Personen als Gruppe hat, solange die Risiken und Belastungen minimal sind, wogegen das Zusatzprotokoll eine solche Forschung nicht zulässt. Im Unterschied zum Zusatzprotokoll enthält das Bundesgesetz eine zusätzliche Bestimmung (Art. 29), in der untersagt wird, dass im Zusammenhang mit Forschungsprojekten Erleichterungen im Rahmen des Freiheitsentzugs verbunden sind. Diese Bestimmung ist jedoch kein Widerspruch zum Zusatzprotokoll, da Erleichterungen im Rahmen des Freiheitsentzuges (siehe Art. 29) zweifelsfrei in die Kategorie von ethisch unzulässigen Anreizen für vulnerable Gruppen fallen und daher auch im Rahmen des Zusatzprotokolls nicht zulässig wären. 3.3. FÖRDERUNG VON FORSCHUNG IM GEFÄNGNIS UND KONTROLLMECHANISMEN BEI DER PUBLIKATION VON STUDIEN MIT INHAFTIERTEN PERSONEN Verschiedene europäische wissenschaftliche Zeitschriften hohen Niveaus wie z. B. The Lancet und das British Medical Journal haben hervorgehoben, dass die Qualität der Gefängnismedizin durch wissenschaftliche Studien untermauert werden muss und die Disziplin als solche akademisch anerkannt werden sollte. Diese Zeitschriften setzten sich deshalb vermehrt für die Publikation wissenschaftlich hochstehen49
50
S. Art. 2 b und c Entwurf, Schweizerische Eidgnossenschaft, Verordnung über klinische Versuche. Entwurf 23.7.2012, veröffentlicht auf: http://www.bag.admin.ch/themen/medizin/00701/00702/12310/index.html?lang=de (Zugang am 4.9.12), 2012. Art. 24, Abs. 2: „Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsunfähigen Erwachsenen nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu den Anforderungen nach Abs. 1: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krankheit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen bringen können“; Art. 22 Abs. 2: „Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsfähigen Kindern nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu Abs. 1: a. nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist; und b. wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krankheit oder Störung oder in demselben Zustand längerfristig einen Nutzen bringen können“, s. Schweizerische Eidgnossenschaft (Fn. 46).
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Forschung mit inhaftierten Personen – ethische und rechtliche Fragen
der Studien mit inhaftierten Personen ein. Im Prozess des peer review wird ebenfalls überprüft, ob die Studien alle ethischen Kriterien erfüllt haben. Studien, bei denen dies nicht der Fall ist, werden nicht zur Veröffentlichung zugelassen. An der Universität Genf ist Forschung mit inhaftierten Personen seit vielen Jahren Teil des akademischen Auftrags der Gefängnismedizin. Ethische Begleitung von Studien und das Bemühen, auch inhaftierten Personen äquivalent Zugang zu neuen Medikamenten im Rahmen von Studien zu gewähren, standen im Mittelpunkt. Beispiele für Forschungsprojekte sind unter anderem Studien zu den Auswirkungen von Inhaftierung auf die geistige Gesundheit in Form von psychosozialem Stress, die Behandlung von Entzugssymptomen von drogenabhängigen Gefangenen zu Beginn der Inhaftierung, epidemiologische Untersuchungen zu Schlafstörungen und dem Verschreiben von Medikamenten im Gefängnis. Als am Universitätsspital Genf die ersten Studien zur Behandlung von Hepatitis C durch Interferon und antivirale Medikamente starteten, wurde es Gefangenen möglich gemacht, im selben Mass wie nicht inhaftierte Patienten an diesen Studien teilzunehmen, wenn sie die Einschlusskriterien erfüllten.51 4. DISKUSSION
DER WICHTIGSTEN ETHISCHEN UND RECHTLICHEN
FRAGEN
4.1. GRUNDPRINZIPIEN DER FORSCHUNGSETHIK Um die Besonderheiten bezüglich der Forschung mit inhaftierten Personen herauszuarbeiten, ist es wichtig, sich auf die wichtigsten ethischen Grundprinzipien biomedizinischer Forschung zu besinnen, wie sie in der Helsinki Deklaration, den CIOMS Richtlinien und der europäischen Bioethikkonvention und ihres Zusatzprotokolls dargelegt sind.52 Hierzu gehören der Vorrang des Wohlergehens der einzelnen Ver51
52
Zu Studien mit inhaftierten Personen an der Universität Genf vgl. Bernice S. Elger, „Does Insomnia in Prison Improve with Time? Prospective Study among Remanded Prisoners Using the Pittsburgh Sleep Quality Index“, Med Sci Law 43/4 (Oct 2003), 334–344; Bernice S. Elger, „Management and Evolution of Insomnia Complaints among Non-Substance-Misusers in a Swiss Remand Prison“, Swiss Med Wkly 134/33–34 (Aug 21 2004), 486–499; Bernice S. Elger, „Prevalence, Types and Possible Causes of Insomnia in a Swiss Remand Prison“, Eur J Epidemiol 19/7 (2004), 665–677; Bernice S. Elger et al.,“Evaluation of Drug Prescription at the Geneva Prison’s Outpatient Service in Comparison to an Urban Outpatient Medical Service“, Pharmacoepidemiol Drug Saf 13/9 (Sep 2004), 633–644. Rolf Jeanmonod/Timothy Harding/Christian Staub, „Treatment of Opiate Withdrawal on Entry to Prison“, Br J Addict 86/4 (Apr 1991), 457–463; Georgette Schaller/Timothy Harding, „Information on Health Risks in Prisons: Evaluation of a Leaflet“, Soz Praventivmed 41/5 (1996), 288–294; Elger, Prison medicine (Fn. 16); Elger, Towards equivalent health care (Fn. 16). S. Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS), International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects, veröffentlicht auf: http:// www.cioms.ch/publications/layout_guide2002.pdf (Zugang am 28.2.12), 2002; World Medical Association (WMA), WMA Declaration of Helsinki – Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects, October 2008, veröffentlicht auf: http://www.wma.net/ en/30publications/10policies/b3/, Deutsche Übersetzung veröffentlicht auf: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/deklhelsinki2008.pdf (Zugang am 15.11.12), 2008; Council of Europe, Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and
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Bernice Elger
suchsperson53, die Subsidiarität54, die Verhältnismässigkeit von Risiken und Nutzen55, wissenschaftliche Qualität56 und die freie und informierte Zustimmung. Letztere beinhaltet, dass die Versuchsperson ihre ausdrückliche und freie Zustimmung gegeben hat, nach angemessener Aufklärung. Diese Zustimmung beinhaltet ein Recht zum jederzeitigen Widerruf. Auf die Versuchsperson darf kein Druck ausgeübt werden, auch nicht durch finanzielle Anreize, um die Zustimmung zu erhalten. Die Weigerung, zuzustimmen oder ein Widerruf der Zustimmung dürfen für die angefragte Versuchsperson keine negativen Konsequenzen beinhalten, wie z. B. irgendeine Form von Diskrimination, einschliesslich bezüglich des Zugangs zu medizinischer Versorgung.57 Ebenfalls erforderlich ist der Schutz von Personen, die nicht in der Lage sind, wirksam ihre Zustimmung zu erteilen.58 Weiterhin sollte Forschung nicht mit nötigen klinischen Massnahmen interferieren59 und z. B. verhindern, dass die Versuchsperson rechtzeitig alle indizierten therapeutischen, diagnostischen und präventiven Massnahmen erhält. Weitere Grundprinzipien sind Vertraulichkeit60, positive Beurteilung durch eine Forschungsethikkommission61 und die „Entschädigung von Personen […], die infolge ihrer Teilnahme an der wissenschaftlichen Studie einen Schaden davongetragen haben“.62
53
54
55
56
57 58 59 60 61 62
Biomedicine, Oviedo, 4.4.1997, veröffentlicht auf: http://conventions.coe.int/treaty/commun/ quevoulezvous.asp?nt=164&cl=eng, (Zugang am 1.12.12), 1997; Council of Europe (Fn. 40). Zentrales Prinzip der Forschungsethik ist, dass Interessen der Gesellschaft und von Patientengruppen dem Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson untergeordnet werden: „In der medizinischen Forschung am Menschen muss das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang vor allen anderen Interessen haben“, s. Art. 6 World Medical Association (Fn. 52); s. auch Art. 4 „Vorrang der Interessen des Menschen. Interesse, Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen Menschen haben Vorrang gegenüber den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft“ Schweizerischen Eidgenossenschaft (Fn. 46) Forschung am Menschen ist nur dann gerechtfertigt, wenn die aus den Studien erhofften Erkenntnisse nicht auf andere Weise gewonnen werden können, s. Art. 5: „Absence of alternatives. Research on human beings may only be undertaken if there is no alternative of comparable effectiveness“ Council of Europe (Fn. 40); s. auch commentary on guideline 1, S. 23: „Among the essential features of ethically justified research involving human subjects, including research with identifiable human tissue or data, are that the research offers a means of developing information not otherwise obtainable“ in CIOMS (Fn. 52); s. ebefalls Art. 11 Subsidiarität, Abs. 1: „Ein Forschungsprojekt mit Personen darf nur durchgeführt werden, wenn gleichwertige Erkenntnisse anders nicht gewonnen werden können“ Schweizerische Eidgenossenschaft (Fn. 46). Ein Forschungsprojekt ist nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn die Risiken für Versuchsteilnehmer gegenüber dem erwarteten Nutzen in einem vertretbaren Verhältnis stehen: „Medizinische Forschung am Menschen darf nur durchgeführt werden, wenn die Bedeutung des Ziels die inhärenten Risiken und Belastungen für die Versuchspersonen überwiegt“, s. Art. 21 World Medical Association (Fn. 52). S. guideline 1, p.23 „investigators and sponsors must ensure that proposed studies involving human subjects conform to generally accepted scientific principles and are based on adequate knowledge of the pertinent scientific literature“ CIOMS (Fn. 52). S. guideline 4 ibid. S. Art. 15 Council of Europe (Fn. 40). S. Art. 23 ibid. Vgl. Art. 23 World Medical Association (Fn. 52). S. Art. 14 ibid. S. Art. 14 ibid.
Forschung mit inhaftierten Personen – ethische und rechtliche Fragen
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4.2. BESONDERHEITEN VON FORSCHUNG MIT INHAFTIERTEN PERSONEN IM VERGLEICH ZU FORSCHUNG MIT PERSONEN AUSSERHALB DES FREIHEITSENTZUGS Welche Besonderheiten müssen, zusätzlich zu den oben erwähnten, berücksichtigt werden, d. h. welche Massnahmen müssen mit dem Ziel eines zusätzlichen Schutzes der Versuchspersonen ergriffen werden, wenn Forschung mit inhaftierten Personen durchgeführt wird? Hier kann man in den oben beschriebenen regulatorischen Dokumenten vor allem zwei Mechanismen unterscheiden. Zum Ersten wird Forschung stärker eingeschränkt. Zum Zweiten wird eine erhöhte Wachsamkeit bei der Kontrolle der ethischen Vorgaben verlangt. Vor allem Forschung ohne direkten Nutzen wird stärker eingeschränkt. Personen in Freiheit dürfen an Phase-1 Studien teilnehmen, bei denen Nutzen auf das Gewinnen wissenschaftlicher Erkenntnisse beschränkt ist. Forschung mit Inhaftierten muss zusätzliche Kriterien erfüllen. Studien ohne direkten Nutzen sind nur erlaubt, wenn Risiken und Belastungen minimal sind und wenn zumindest ein Nutzen für die Gruppe der inhaftierten Patienten allgemein erwartet wird. Solche Beschränkungen könnten von Anhängern einer die Autonomie des Einzelnen sehr hochschätzenden Auffassung kritisiert werden. Darf man inhaftierten Personen das Recht vorenthalten, aus altruistischen Motiven an Phase-1 Studien teilzunehmen, vor allem wenn man weiss, dass altruistisches Handeln positivere Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl von Menschen hat? Abgewogen werden muss hier zwischen möglichem sekundärem Nutzen, der Gefangenen aus der altruistischen Teilnahme aus Studien erwächst, dem Risiko, dass inhaftierte Personen für die Forschung ausgenutzt werden, und den Autonomierechten eines Gefangenen, frei zu entscheiden und Zugang zu Phase-1 Studien zu haben. Der Europarat hat hier zugunsten eines höheren Schutzes inhaftierter Versuchspersonen entschieden. Gefangene dürfen nicht an Phase-1 Studien zum Test neuer Medikamente teilnehmen. Die Beispiele aus den USA bis in die 1970er Jahre hinein haben allzu deutlich gemacht, wie gross das Risiko der Ausbeutung von Häftlingen ist, wenn solche Forschungspraktiken erlaubt werden. Die Restriktionen für Gefangene erwachsen ausserdem aus Gerechtigkeitsüberlegungen. Es ist heutzutage allgemeiner Konsens, dass die Last der Forschungsteilnahme bei der Erprobung von Medikamenten, von denen viele Menschen profitieren sollen, nicht überproportional von vulnerablen Gruppen wie inhaftierten Personen getragen werden darf, vor allem auch weil bei diesen Gruppen ein erhöhtes Risiko einer Ausbeutung besteht. Wenn ein Forschungsprojekt auch ausserhalb von Haftanstalten durchgeführt werden kann, sollte es mit Versuchspersonen aus der am wenigsten vulnerablen Gruppe stattfinden. Der zweite Ansatz, um Gefangene angemessen zu schützen, setzt auf eine erhöhte Wachsamkeit und Kontrolle: Ethikkommissionen und Forscher müssen mit besonderer Sorgfalt prüfen, dass inhaftierte Versuchspersonen angemessen informiert worden sind, dass ihre Zustimmung frei gegeben werden kann, und dass keine unethischen Anreize bestehen oder Druck ausgeübt wird. Der sicherste Weg, um Ausbeutung zu verhindern, ist hier die strikte Garantie des Äquivalenzprinzips. Wenn eine inhaftierte Person Zugang zu den besten für Patienten in Freiheit im selben Land verfügbaren Behandlungsmethoden hat, sowie zu gut ausgebildetem medizinischen Personal, und wenn die Arzt-Patienten-Beziehung auf Vertrauen und Vertraulichkeit fusst, ist das Risiko deutlich reduziert, dass ein Gefangener aus Un-
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Bernice Elger
wissen oder unter Druck an Forschung teilnimmt, oder weil dies für ihn die einzige Gelegenheit ist, ausreichende medizinische Versorgung zu erhalten. Wichtig ist, dass der behandelnde Gefängnisarzt selbst keinem Druck ausgesetzt ist und seine Patienten unabhängig beraten und sicherstellen kann, dass die gesundheitsbezogenen Interessen und das Wohl der Patienten nicht gesellschaftlichen Interessen untergeordnet werden. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass Personen in Haftanstalten an Studien teilnehmen, zu denen sie in Freiheit nie zugestimmt hätten. Erhöhte Sorgfaltspflicht bei der Evaluation von Studien bedeutet, dass eine Person mit sehr guten Kenntnissen der Haftanstalten, in denen die Studien stattfinden sollen, prüft, ob dort die Bedingungen erfüllt sind, die zur Erfüllung der ethischen Vorgaben nötig sind. Die Qualität von Zustimmung, Aufklärung, Vertraulichkeit und eventuelle unethische Anreize müssen besonders sorgfältig untersucht werden, weil die Risiken einer unangemessenen Beeinflussung im Kontext der Inhaftierung besonders hoch sind. Selbst wenn aus objektiver Sicht kein direkter Druck auf Gefangene ausgeübt wird, ist es nicht selten, dass inhaftierte Personen sich nicht in ihrer Entscheidung frei fühlen. Aus ihrer eigenen subjektiven Sicht heraus können Gefangene den Eindruck gewinnen, dass ihnen Nachteile entstehen, wenn sie die Teilnahme an einem Forschungsprojekt ablehnen. Es ist evident, dass der Zugang zu medizinischen Behandlungen nie von einer Teilnahme an Studien abhängen darf. Zusätzliche Sicherheitsmechanismen bei Forschung in Haftanstalten können darin bestehen, dass die Person des Forschers und des behandelnden Arztes strikt getrennt werden und ein behandelnder Arzt nicht im selben Gefängnis Forschung durchführen darf. Dies kann helfen, sicherzustellen, dass inhaftierte Personen nicht den Eindruck gewinnen, ihre medizinische Behandlung würde leiden, wenn sie die Teilnahme an einer Studie verweigern. Auch wenn das medizinische Personal in einer Haftanstalt das Äquivalenzprinzip strikt einhält, ist damit die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ein Gefangener sich von nicht-medizinischem Personal unter Druck gesetzt fühlt. Daher ist es von grosser Wichtigkeit, dass inhaftierte Personen aufgeklärt werden, dass Vertraulichkeit streng eingehalten wird und dass medizinisches Personal die Entscheidungen, die die Gesundheit von Gefangenen betreffen, unabhängig vom Sicherheitspersonal in Haftanstalten treffen können. Es zeigt sich hier, wie wichtig es ist, zu prüfen, dass die Kommunikation und Informationsübermittlung an Gefangene besonders ausführlich und sorgfältig erfolgt. Im Protokoll einer Studie mit inhaftierten Personen muss ersichtlich werden, dass die Faktoren, die eine effiziente Kommunikation beeinträchtigen können, genügend berücksichtigt werden. Der durch die Inhaftierung erzeugte Stress führt dazu, dass Informationen weniger leicht behalten werden. Ebenfalls berücksichtigt werden muss, dass viele inhaftierte Personen über geringe Schulbildung verfügen und daher Schwierigkeiten haben können, medizinische Zusammenhänge zu verstehen. Daher sollten in Haftanstalten besondere Vorkehrungen getroffen werden, zu prüfen, ob Versuchspersonen Informationen ausreichend verstanden haben. Auch in Bezug auf die Vertraulichkeit muss in Haftanstalten noch sorgfältiger als in Freiheit evaluiert werden, ob Risiken, dass die Schweigepflicht verletzt wird, genügend eingedämmt werden können. Eine schwierige ethische Abwägung muss getroffen werden, wenn die angemessene Entschädigung für die aufgebrachte Zeit während der Studienteilnahme einer inhaftierten Person beurteilt werden soll. Gefangene erhalten für Arbeit in Haftanstalten in den meisten Fällen einen sehr geringen Lohn. Aber selbst eine ge-
Forschung mit inhaftierten Personen – ethische und rechtliche Fragen
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ringe finanzielle Entschädigung, die den reellen Stundenlohn für verlorenes Einkommen durch die Studienteilnahme berücksichtigt, könnte einen unethischen Anreiz darstellen. Besonders in Untersuchungsgefängnissen hat ein erheblicher Anteil der Gefangenen keinen Zugang zu bezahlter Arbeit. Hier würde eine Bezahlung nur der arbeitenden Gefangenen als ungerecht empfunden werden. Andere Anreize, wie eine Erleichterung der Haftbedingungen, sind ethisch eindeutig nicht zulässig. 4.3. ABWÄGEN ZWISCHEN AUSREICHENDEM SCHUTZ UND PROZEDURALEN BARRIEREN Alle genannten besonderen Schutzmassnahmen bei Forschung mit inhaftierten Personen sollten anhand von drei Kriterien evaluiert werden: Effizienz und Umfang des Schutzes, die Möglichkeit, Missbrauch und Ausbeutung von inhaftierten Personen zu verhindern und das Entstehen unangemessener Barrieren für Forschung in Haftanstalten. Einerseits wird gegen das Gerechtigkeitsprinzip verstossen, wenn Gefangene überproportional in Forschung eingebunden werden, andererseits ist es ebenfalls ungerechtfertigt, Gefangenen den Zugang zu Forschungsprojekten mehr als nötig zu verweigern. Denn epidemiologische Studien, sowie Forschung zu spezifischen Gesundheitsproblemen in Haftanstalten, sind für eine effiziente Gefängnismedizin und damit auch das Wohl der Gefangenen selbst sehr wichtig. Um Missbrauch von inhaftierten Personen auszuschliessen und ungerechtfertigte Restriktionen zu vermeiden, sollten Ethikkommissionen ausreichend Entscheidungskompetenz haben und lokale Experten in der Gefängnismedizin heranziehen, die die Forschungsbedingungen in den betroffenen Haftanstalten angemessen beurteilen können. Der vorgegebene regulatorische Rahmen ist hilfreich, um anhand theoretischer Kriterien ethisch nicht vertretbare Forschungsprojekte zu erkennen. Ethische Probleme in der Durchführung des Projekts können jedoch erst ausgeschlossen werden, wenn ausreichende Kenntnisse über die Qualität der medizinischen Versorgung in einer Haftanstalt zur Verfügung stehen und die reellen Möglichkeiten, Vertraulichkeit und die informierte Zustimmung im Kontext der Inhaftierung durchzusetzen. 5. SCHLUSSFOLGERUNGEN
UND
AUSBLICK
Die vorausgegangene Untersuchung zeigt, dass regulatorische Texte oft keine oder nur in sehr begrenztem Umfang Forschung mit inhaftierten Personen behandeln. Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung ist bis zum Datum des 15.12.2012 erst von 7 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden63. In den USA wurde die Diskussion mit dem Bericht des Institute of Medicine von 2006 neu aufgerollt, ohne dass der Gesetzgeber bisher die in dem Bericht vorgeschlagenen Änderungen aufgenommen hat.64 Sekundärliteratur zu Forschung mit inhaftierten Personen ist zum grossen Teil auf 63
64
Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Georgien, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Türkei, vgl.: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=195&CM=8&DF=07/12/20 12&CL=ENG. Gostin et al. (Fn. 25).
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Bernice Elger
die Aufarbeitung historischer Missstände beschränkt65 und es gibt kaum internationale Untersuchungen.66 HIV und Hepatitis C Epidemien sowie die grosse Zahl zu versorgender Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen und anderen psychiatrischen Problemen stellen grosse Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung von Gefangenen dar. Diese und ähnliche für die Gefängnismedizin typische Krankheiten können nur angemessen behandelt werden, wenn mehr über Epidemiologie und Effizienz von Therapieansätzen im Gefängnismilieu bekannt ist. Forschung mit inhaftierten Personen ist aus medizinischer und ethischer Sicht wichtig. Um Missbrauch in der Zukunft verhindern und die Arbeit von Ethikkommissionen zu unterstützen und begleiten, ist weitere ethisch-rechtswissenschaftliche Forschung nötig.
65 66
Vgl. Hornblum (Fn. 4); Hornblum (Fn. 20); Trunk (Fn. 5); Ley (Fn. 5). Vgl. Elger (Fn. 8) and Elger/Spaulding (Fn. 25).
PAOLO BECCHI, LUZERN DIE WIEDERBELEBUNG DER HIRNTODDEBATTE DER ORGANTRANSPLANTATION
UND DAS
PROBLEM
„Ins Herz, Ramon, ins Herz! … Wenn man einen Mann umlegen will, muss man ihn mitten ins Herz treffen.“
1. EINLEITUNG Sicherlich kennen Sie die kulminante Szene des Films „Für eine Handvoll Dollars“ mit Gian Maria Volontè und Clint Eastwood. Einer der beiden muss sterben – und zwar ins Herz getroffen, welches für das entscheidende Organ gehalten wurde. Der Film spielt im New Mexico der 2. Hälfte des 19. Jh.; die dem Herzen beigemessene Bedeutung, auf welche die Szene anspielt, sollte aber noch 100 Jahre fortdauern: Erst die bewegten Zeiten um das Jahr 1968 brachten nämlich nicht nur studentische und sexuelle Revolutionen hervor, sondern auch ein Ereignis, welches noch heute entscheidend ist: die Neudefinition des Todes. Worin dieser Bedeutungswandel besteht ist und welche Implikationen mit ihm verbunden sind, werde ich in diesem Vortrag zu erklären versuchen. Beginnen wir mit zwei Zitaten aus einem grundlegenden Werk der juristischen Tradition des 19. Jh. Im zweiten Band seines Werks „System des heutigen Römischen Rechts“ schreibt Friedrich Carl von Savigny: „Der Anfang der natürlichen Rechtsfähigkeit ist bedingt durch die Geburt, das heißt durch die vollständige Trennung eines lebenden Menschen von der Mutter. (…) Der Tod, als die Gränze der natürlichen Rechtsfähigkeit, ist ein so einfaches Naturereignis, daß derselbe nicht, so wie die Geburt, eine genauere Feststellung seiner Elemente nöthig macht“1. So einfach liegen die Dinge heute freilich nicht mehr. Galten die Geburt und der Tod lange Zeit als natürliche Ereignisse, sind sie heute mehr und mehr Objekt menschlicher Entscheidung und obliegen unserer eigenen Verantwortung. Der enorme technologische und wissenschaftliche Fortschritt in der Medizin hat uns eine radikal neue Situation vor Augen geführt (und wird dies in nächster Zeit immer wieder tun): Künstliche Befruchtung (am Lebensanfang) und künstliche Lebensverlängerung (am Lebensende) bringen verschiedenste Berufsgruppen zum Nachdenken: Den Philosophen und den Theologen über den Sinn des Lebens und des Todes; den Bioethiker über die Legitimität konkreter Entscheidungen über Anfang und Ende des Lebens; den Juristen über den Schutz der Person vor ihrer Geburt bzw. ihrem Tod, ja sogar nach ihrem Tod. Was das Ende des Lebens anbelangt, werden heute vorrangig zwei Themenkomplexe diskutiert: die Sterbehilfe und die postmortale Organspende. Freilich gibt es auch die Organspende unter Lebenden, die ihrerseits ethische und rechtliche Fragen aufwirft. Indes ist diese Art der Spende auf nicht lebenswichtige Organe beschränkt 1
Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, Berlin: Veit und Comp., 1840, § 61 u. § 63, 4 u. 17.
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Paolo Becchi
und deshalb von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zur Organspende von Verstorbenen. Aber handelt es sich wirklich um Verstorbene? Bei welchem klinischen Zustand werden heute Organe entnommen? Bekanntlich wird im Zusammenhang mit der Organtransplantation auf eine besondere Todesdefinition verwiesen: Den so genannten „Hirntod“, welcher vor etwa 40 Jahren die traditionelle Todesdefinition, die auf dem Aussetzen von Herzschlag und Blutzirkulation gründete, ersetzt hat. Der „neue Tod“ ist äusserlich nicht mehr erkennbar: Die klassischen Todeszeichen (algor mortis, livor mortis und rigor mortis) treten dabei nicht mehr ein, und das Kreislaufsystems setzt nicht aus, weil es künstlich aufrecht erhalten wird. Nur das Hirn hat seine Tätigkeiten eingestellt, während der Körper des Patienten im Zustand des Hirntodes den Eindruck eines lebenden und nicht eines toten Körpers macht. Was aber hat die Medizin dazu gebracht, diese neue Todesdefinition einzuführen, nach welcher eine Person tot ist, selbst wenn ihr Organismus noch immer Lebenszeichen von sich gibt? Zu Beginn der 1950er Jahre sah sich die Medizin im Zuge der Entwicklung der neuen Techniken der Reanimation mit einem neuen Phänomen konfrontiert, welches zunächst noch unabhängig von den sich heute stellenden Problemen bestand.2 Konnte nämlich der Gebrauch der neuen Beatmungsmaschinen in der aufkommenden Intensivmedizin das Leben vieler Patienten mit schweren Hirntraumata und vorübergehendem Aussetzen des Herz-Kreislaufsystems retten, so gab es auch Fälle, in denen sich der erhoffte Erfolg nicht einstellte und die Patienten – ohne erkennbare Hirnaktivität – einige Zeit weiterlebten, bis es zum endgültigen Herzstillstand kam. Hierin zeigte sich beispielhaft der ambivalente Charakter, welcher der neuen Technologie innewohnte und mit welchem wir nun leben müssen: Viele Menschenleben konnten durch die künstliche Beatmung gerettet werden, aber dies bedeutete die Verlängerung des Todeskampfes für viele andere Patienten. Um dieses neue Phänomen zu beschreiben, war es aber eigentlich nicht unbedingt notwendig, den Tod selbst neu zu definieren. Und in der Tat beschränkten sich die ersten wissenschaftlichen Studien vom Ende der 1950er Jahre darauf, das neue Krankheitsbild, das bei künstlich beatmeten Komapatienten beobachtet wurde, als solches zu beschreiben. Michel Jouvet sprach von „mort du système nerveux central“3, Pierre Mollaret und Maurice Goulon fast zeitgleich vom „coma dépassé“4 (Ultrakoma), um den klinischen Zustand künstlich am Leben gehaltener Patienten zu beschreiben, deren Schicksal trotz Intensivmedizin besiegelt war. Mit dem Begriff vom coma dépassé wollte man weder eine neue Definition des Todes noch ein Kriterium für dessen Feststellung 2
3 4
Der Einsatz des ersten Geräts für die künstliche Beatmung mit positiv-endexspiratorischem Druck geht auf das Jahr 1952 zurück und vermochte sogleich während einer in Kopenhagen grassierenden Kinderlähmungs-Epidemie zahlreichen Menschen das Leben zu retten. Für eine historische Darstellung der künstlichen Beatmung vgl. Ernst T. Mörch, History of Mechanical Ventilaton, in: Mechanical Ventilation, hg. v. Robert R. Kirby et al., New York: Churchill Livingstone, 1985, 1–58. Michel Jouvet, „Diagnostic electro-sous-corticographique de la mort du système nerveux central au cours de certains comas“, Electroencephalography and Clinical Neurophysiology 3 (1959), 52–53. Pierre Mollaret/Maurice Goulon, „Le coma dépassé“, Revue Neurologique 101 (1959), 3–15; Pierre Mollaret et al., „Coma dépassé et nécroses nerveuses centrales massives“, Revue Neurologique,101 (1959), 116–139. Vgl. jetzt dazu Howard R. Doyle, Reinventare la morte: dal coma dépassé ai criteri dell’Harvard Ad Hoc Committee, in: Passaggi. Storia ed evoluzione del concetto di morte cerebrale, hg. v. Ignazio R. Marino et al., Roma: Il Pensiero Scientifico Editore, 2012, 39–58.
Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation
121
bezeichnen. Selbst Jouvet, der doch explizit vom „Tod“ des Zentralen Nervensystems sprach, beschränkte sich darauf, sich bei Auftreten des erwähnten Zustandes für den Abbruch der künstlichen Beatmung auszusprechen, setzte diesen Zustand aber nicht mit dem Tod gleich. Die ersten, welche diesen Schritt wagten, waren 1963 zwei deutsche Ärzte: Tönnis und Frowein.5 Im Zuge der ersten Herztransplantationen, welche Christiaan Barnard durchführte, veröffentlichte dann die zwischen Ende 1967 und Anfang 1968 auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ins Leben gerufene Kommission für Reanimation und Organtransplantation schon im April 1968 ein Dokument, in welchem erstmals der Begriff des „Hirntodes“ als grundlegendes Kriterium für die Feststellung des Todes statuiert wurde. Dies alles gehört nun zur Medizingeschichte,6 aber die Aufmerksamkeit der Wissenschaft – und in der Folge der einschlägigen Gesetzgebung – richtet sich vielmehr auf ein anderes Dokument, welches wenige Monate später erschien und das irreversible Koma nicht nur als Kriterium für die Feststellung des Todes künstlich beatmeter Patienten auffasste, sondern in eine eigentlich neue Definition des Todes verwandelte: Es handelt sich um den berühmten „Harvard-Bericht“7. 2. STERBEN
NACH
HARVARD
Dieses Dokument leitete eine klare Wende ein. Was vorher noch als eine – wenn auch extreme – Form von Leben galt, wurde von nun an als Todeszustand aufgefasst. Ein Patient, dessen Gehirn endgültig zu funktionieren aufgehört hat, ist kein Patient in finis vitae mehr, sondern ein Toter – und sein dem Anschein nach noch lebendiger Körper ist nichts als eine Leiche. Die Gründe für die durch das Komitee von Harvard gezogenen Schlüsse sind nicht schwer auszumachen. Gewiss war Barnard nach der ersten Herztransplantation zu einem Star geworden, aber er operierte in Südafrika. Sein Kollege David Hume, welcher eine der ersten Herztransplantationen in den USA vorgenommen hatte, wurde dagegen wegen Tötungsdelikten angeklagt (und später freigesprochen). Die Transplantationschirurgie verzeichnete erste Erfolge, doch gab es zwei grosse Schwierigkeiten: Über funktionsfähige Organe zu verfügen und – nach der Transplantation – deren Abstossung zu vermeiden. Der letzteren hoffte man durch die fortschreitende Entwicklung immunsuppressiver Medikamente Herr zu werden (man denke an die Entdeckung der Cyclosporine). Die erstgenannte Schwierigkeit schien aber zunächst ungelöst, bis man erkannte, dass der Transplantationschirurgie unerwartete Hilfe durch die Intensivmedizin und deren Wiederbelebungstechniken zuteil wer5
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7
Wilhelm Tönnis/Reinhold A. Frowein, „Wie lange ist Wiederbelebung bei schweren Hirnverletzungen möglich?“, Monatsschrift für Unfallheilkunde, Versicherungs-, Versorgungs- und Verkehrsmedizin, 66 (1963), 169–190. Die Thematik wurde von einer Medizinhistorikerin eingehend untersucht: Claudia Wiesemann, Notwendigkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der ersten Hirntod-Definition der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie von 1968, in: Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, hg. v. Thomas Schlich/Claudia Wiesemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, 209–235. Vgl. „Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death: The Definition of Irreversible Coma“, Journal of the American Medical Association 205 (1968), 337–340.
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den sollte: Patienten, welche dank intensivmedizinischer Therapie am Leben erhalten werden konnten, für welche aber wegen irreversibler Einstellung ihrer Hirntätigkeit keine Aussicht auf Genesung bestand, mochten das beste „Rohmaterial“ für Transplantationen bieten. Lebten aber solche Patienten noch, so kam die Organentnahme doch einer Tötung gleich! Wahrscheinlich war es diese Fragestellung, die das Komitee von Harvard dazu bewogen hatte, folgende Überlegung anzustellen: Ist ein Patient, welcher bis anhin noch als lebend betrachtet wurde, erst einmal für tot erklärt, wäre weder der Abbruch der künstlichen Beatmung noch die Organentnahme in irgendeiner Weise mit einer Tötung vergleichbar – kann man doch nur einen noch lebenden Menschen töten, nicht aber eine Leiche. Mit einem scheinbar höchst geschickten Zug schlug das Komitee sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Wurden alle Patienten im Zustand eines irreversiblen Komas für tot erklärt, so stellten weder das Abschalten der künstlichen Beatmung noch deren Aufrechterhaltung im Hinblick auf optimale Bedingungen für eine Organentnahme Probleme dar, da es sich bei den Patienten nunmehr um Tote handelte. Man beendete schliesslich die künstliche Beatmung nicht, um einem Patienten ein würdiges Sterben zu ermöglichen, sondern man beendete die künstliche Beatmung eines bereits toten Patienten – und somit war es einerlei, die Beatmung noch ein wenig aufrecht zu erhalten. In diesem Kontext ist der Harvard-Bericht zu sehen – als eine neue, auf neurologische Begriffe abstellende Definition des Todes, welche noch heute zahlreichen Gesetzgebungen, welche die Organtransplantation erlauben, zu Grunde liegt. Nun gibt es nach wie vor Stimmen, wonach der Harvard-Bericht keine neue Definition8 enthalte: Von Bedeutung sei einzig die Diagnose des Hirntodes und die klinischen Kriterien für dessen Annahme. Nichts mehr. Ruft man den Einleitungssatz des Dokuments in Erinnerung, müsste man – auf den ersten Blick – einer solchen Interpretation zustimmen: Die Absicht des Komitees schien es in der Tat zu sein, nicht etwa den Todesbegriff, sondern vielmehr „das irreversible Koma als neues Kriterium für die Todesfeststellung“ zu definieren. Hätte sich der Bericht darauf beschränkt, die technische Fragestellung des irreversiblen Komas anzugehen, indem er dessen klinische Zeichen und die zu dessen Feststellung notwendigen Untersuchungen benannt hätte, wäre in der Tat keine neue Definition des Todesbegriffs erfolgt. Aber so verhielt es sich nicht. Auf den erwähnten Einleitungssatz folgt eine ganz andere Argumentation, welche zwei Gründe dafür erwähnt, warum eine Neudefinition nötig sei. Der zweite dieser Gründe lautet folgendermassen: „Überholte Kriterien für die Todesdefinition können zu Kontroversen bezüglich Massnahmen im Hinblick auf Organtransplantationen führen“9. Aus dieser Äusserung lässt sich ableiten, dass der Zustand des irreversiblen Komas nunmehr als ein zeitgemässes Kriterium für die Toterklärung aufgefasst wird, so dass Organtransplantationen künftig ohne gesetzliche Hindernisse vorgenommen werden können, weil der Patient eben tot ist. Das irreversible Koma wurde so zu einer neuen Definition des Todes: der Definition of Brain Death, wie es im Titel des Berichts heisst.
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So, in letzter Zeit, Stephan Patt, „Zur Aktuellen Hirntoddebatte – Medizinische Erwägungen mit Implikationen für Ethik und Theologie“, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, 8 (2009), 61–74. Vgl. „Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death: The Definition of Irreversible Coma“ (Fn. 7), 337–340.
Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation
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Wohlgemerkt: Die schiere Tatsache, dass eine Todesdefinition einer bestimmten Personengruppe (derjenigen der auf Spenderorgane Wartenden) Vorteile bereitet, beweist für sich noch nicht deren Unrichtigkeit. Aus der Tatsache, dass die neue Definition durch praktische Interessen motiviert worden war, folgt nicht zwingend, dass sie ausschliesslich auf diesen gründet.10 Der Gehalt an Wahrheit oder Falschheit einer Definition hängt nicht von den Gründen ab, welche zu ihrer Annahme geführt haben, sondern vielmehr von ihrer Fähigkeit, die zu definierenden Phänomene fassbar zu machen. Definitionen werden gebraucht, um sprachlichen Unschärfen vorzubeugen, und eine Definition kann durch eine andere abgelöst werden, wenn sich der effektive Begriffsgebrauch in einer bestimmten Gruppe oder – wie im vorliegenden Beispiel – generell ändert. Dem Anschein nach ist das vom Harvard-Komitee erreichte Ergebnis folgendes: Der Tod wird fortan anders beschrieben, so dass eine Person, welche bis anhin – wenn auch in hoffnungslosem Zustand, aber dennoch – als lebend galt, fortan als tot gelten sollte. Die Trennlinie zwischen Leben und Tod wird dabei vom irreversiblen zerebralen Zustand des Patienten gezeichnet. Aber auch wenn diese neue Definition im Kleid einer beschreibenden Definition daherkommt, entpuppt sie sich in Tat und Wahrheit als eine eigentlich grundlegende Neudefinition, wird doch der Gebrauch des Wortes „Tod“ in einem genau festgelegten und umschriebenen Sinn gefordert: demjenigen des Hirntodes. Neudefinitionen dienen aber oft – das vorliegende Beispiel beweist es – bestimmten Zwecken, und sie werden im Hinblick auf spezifische Resultate angeregt. Im vorliegenden Fall ist der augenscheinliche Zweck der Neudefinition, bei Patienten im Zustand eines irreversiblen Komas entweder die Einstellung der künstlichen Beatmung oder aber im Hinblick auf eine Organentnahme ihre Aufrechterhaltung zu erlauben. Dies alles hat aber nichts mit der Beschreibung des Phänomens des Todes an sich zu tun. Unter dem Deckmantel einer rein deskriptiven Definition des Todes wurde tatsächlich eine Neudefinition beschlossen, welche Dinge zu tun erlauben sollte, die mit der herkömmlichen Todesdefinition nicht möglich waren. Und zu diesem Zweck hat man eine unklare Situation, das heisst die Grauzone zwischen Leben und Tod, in eine angeblich eindeutige Todessituation verwandelt. Wenn dem aber so ist, haben wir es nicht mehr mit einer deskriptiven, sondern mit einer wertenden Definition zu tun. Somit war diese Neudefinition auf ein bestimmtes, praktisches Ziel – dasjenige der Organentnahme – hin gerichtet und betraf keineswegs ein nebensächliches Element. Ganz im Gegenteil lässt dieses Ziel die wertende Bedeutung erkennen, welche der Neudefinition zu Grunde lag. Aber wenn die Neudefinition eine neue Wertung voraussetzt, wird ihre vermutete „Neutralität“ und Wissenschaftlichkeit ab origine in Frage gestellt. Auch wenn er sich als Definition von Tatsachen darstellen wollte, definierte der Harvard-Bericht den Tod neu und in einer Weise, welche einem anvisierten, praktischen Zweck zu dienen vermochte. In den Jahren nach seiner Veröffentlichung hatte der Harvard-Bericht grossen Erfolg, ging man doch davon aus, dass der komplette und irreversible Verlust der Hirnfunktionen tatsächlich das Ende des ganzheitlichen Funktionierens eines lebenden, vernunftbegabten Körpers darstellte. Um es mit zwei bekannten katholi10
So hatte anfänglich Dieter Birnbacher argumentiert – Hans Jonas kritisierend; vgl. Dieter Birnbacher, Eine Verteidigung des Hirntodkriteriums (1997), in: Bioethik zwischen Natur und Interesse, hg. V. Dieter Birnbacher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, 248–270 (261–262). Zu seiner heutigen Position vgl. unten, Fn. 34.
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Paolo Becchi
schen Bioethikern – Germain Grisez und Joseph Boyle – zu sagen, „bedeutet diese Definition [des Hirntodes] zu akzeptieren nicht, eine auf einer Wertung verschiedener menschlicher Eigenschaften beruhende Entscheidung zu treffen, sondern ganz einfach eine Theorie zu übernehmen, welche mit den Tatsachen übereinstimmt“11. So besehen war die Neudefinition des Todes Ausdruck einer neuen Realität: Vermochte man den Herzschlag dank der neu entwickelten künstlichen Beatmung zu reaktivieren, war das Hirn nach Verlust seiner Funktionen durch keine Maschine mehr reaktivierbar – und so wurde das Gehirn zum neuen Indikator des Todes eines menschlichen Organismus. Auch wenn die Neudefinition das Phänomen des Todes in einer die Organtransplantation begünstigenden Art und Weise umschrieb, stimmte sie mit den Tatsachen überein. Aber dennoch: Praktische Probleme lassen sich, wie wir nun sehen werden, mit Neudefinitionen langfristig nicht lösen.12 3. NEUE WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE BEI HIRNTOTEN
ÜBER DIE
HIRNFUNKTIONEN
Unsere heutigen Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns und dessen Wechselwirkungen mit dem Rest des menschlichen Körpers stellen die Vorstellung, wonach der komplette und irreversible Verlust der Hirnfunktionen zugleich das Ende des ganzheitlichen Funktionierens des menschlichen Organismus bedeute, in Frage – und lassen somit auch die Neudefinition als überholt erscheinen. Es sind vor allem zwei Punkte, welche den anfänglich erreichten Konsens aufgeweicht haben. Ich beschränke mich hier darauf, sie kurz darzustellen.13 Der erste betrifft die Gleichsetzung von Hirntod und irreversiblem Verlust sämtlicher Hirnfunktionen. Es ist heute klinisch erwiesen, dass zahlreiche hirntote Patienten nicht alle Hirnfunktionen verloren haben, was darauf hinweist, dass ein kompletter Hirnfunktionsverlust mit den heutigen Standarduntersuchungen nicht diagnostizierbar ist.14 Der zweite – meiner Ansicht nach entscheidende – Punkt betrifft die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Organismus als Ganzes. Letz11
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Germain Grisez/Joseph Boyle, Life and Death with Liberty and Justice, London: Notre Dame, 1979, 77. Aber die These wurde auch im nicht-katholischen Umfeld übernommen, vgl. David Lamb, Death, Brain Death and Ethics, Albany/N. Y.: State University of New York Press, 1985. Ähnliches lässt sich über die von der Warnock-Kommission bezüglich des Embryos getroffene Entscheidung sagen (vgl. A Question of Life. The Warnock Report on Human Fertilization and Embryology, Oxford/New York: Blackwell, 1985). Die Unterscheidung zwischen Embryo und PräEmbryo (des gezeugten Kindes während den ersten 14 Tagen) wurde eingeführt, um mit einer Neudefinition ein moralisches Problem zu lösen und so in jener ersten Lebensphase Eingriffe zu gestatten, welche nachher nicht mehr erlaubt sind. Für eine vertiefte Darstellung muss ich verweisen auf Paolo Becchi, Morte cerebrale e trapianto di organi. Una questione di etica giuridica, Brescia: Morcelliana, 2008 (nun auch in einer überarbeiteten spanischen Version, Muerte cerebral y trasplante de órganos. Un problema de ética jurídica, Madrid: Trotta, 2011) sowie Rosangela Barcaro et al., Prospettive bioetiche di fine vita, Milano: F. Angeli, 2008. Es handelt sich hierbei um Erkenntnisse, welche schon auf Untersuchungen Anfangs der 90er Jahre zurückgehen und welchen in der Folge nicht widersprochen wurde. Vgl. Robert Truog/ James Fackler, „Rethinking Brain Death“, Critical Care Medicine, 20, 12 (1992), 1705–1713; Amir Halevy/Baruch A. Brody, „Brain Death: Re-conciling Definitions, Criteria and Tests“, Annals of Internal Medicine 119 (6-1993), 519–525; Robert Veatch, „The Impending Collapse of the WholeBrain Definition of Death“, Hastings Center Report 23 (4-1993), 18–24.
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tere basierte auf der Annahme, dass nach Verlust der Hirnfunktionen der Herzstillstand selbst bei künstlicher Beatmung unmittelbar bevorstand. Klinisch dokumentierte Fälle von Personen, welche nach festgestelltem Hirntod lange Zeit weitergelebt haben, vermochten indes die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Organismus in Frage zu stellen.15 Das Schiff scheint keines Steuermannes zu bedürfen; das Gehirn ist mit anderen Worten nicht so entscheidend, wie man zu Zeiten des Harvard-Berichts bei Verlust der Steuereinheit des Körpers annahm. All dies lässt den Schluss zu, dass während der künstlichen Beatmung nicht nur die einzelnen Organe weiterleben, sondern der gesamte menschliche: Hirntote, aber stabilisierte Patienten behalten ihre Wirbelsäulenreflexe, normale Herz-Kreislaufaktivität und normalen Blutdruck; sie nehmen intravenöse Nahrung auf und scheiden die Körpersekrete aus; sie leiden bei falscher Ernährung unter Durchfall oder Verstopfung; ihr Stoffwechsel ist nach wie vor in der Lage, Hormone zu produzieren. Wunden und Knochenbrüche verheilen, Infektionskrankheiten wie Lungenentzündungen können behandelt und geheilt werden. Bei Kindern setzen sexuelle Entwicklung und Körperwachstum ein. Schwangere Frauen können ihre Kinder zur Welt bringen oder aber spontane Abtreibungen treten ein. Hirntote Männer sind unter elektrischer Stimulierung zu Ejakulation und Zeugung fähig. Mit einem Wort: Während der künstlichen Beatmung ist ein Patient, welcher heute laut Gesetz für tot erklärt wird, alles andere als tot, obwohl sein Zustand irreversibel ist. Wollte man zu einer überzeugenden Definition gelangen, so müsste man immer mehr Parameter für die Feststellung des Hirntodes aufgeben, wie es zum Beispiel mit den Wirbelsäulenreflexen bereits geschehen ist. Andernfalls müsste man z. B. eine hirntote Schwangere einfach als Inkubator betrachten. Aber wie ist der Fall eines mit vier Jahren in ein irreversibles Koma gefallenen, hirntoten Kindes zu beurteilen, das erst 20 Jahre später stirbt?16 Die Anhänger der Konzeption des Hirntodes müssen sich heute mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ein voll funktionsfähiges Gehirn nicht als notwendige Voraussetzung für das Bestehen eines menschlichen Organismus aufgefasst werden kann. Kurz und gut: Ein menschlicher Organismus ist noch lebendig, wenn sein Gehirn tot ist. Ob wir uns dieser neuen Situation stellen oder unsere Augen vor ihr verschliessen wollen – die Realität bleibt die gleiche. Während in anderen Ländern wie z. B.
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Vgl. u. a. D. Alan Shewmon, „‚Brain-stem Death‘, ‚Brain Death‘ and Death: A Critical ReEvaluation of the Purported Equivalence“, Issues in Law & Medicine 14 (2-1998), 125–145 und neuer D. Alan Shewmon, Disconnessione tra encefalo e corpo: implicazioni per il fondamento teorico della morte cerebrale, in: Finis Vitae. La morte cerebrale è ancora vita?, hg. v. Roberto de Mattei, Soveria Mannelli: Rubbettino, 2007, 277–331. Diese Positionen sind auch von neueren bestätigt worden: vgl. Howard R. Doyle, Cosa va nel concetto di morte cerebrale: dal punto di vista del letto del paziente, in: Marino et al. (Fn. 4), 139–154. Vgl. D. Alan Shewmon, „Seeing is believing: videos of life 13 years after „brain death“, and consciousness despite congenital absence of cortex“, in: III. International Symposium on Coma and Death, Havana, Cuba, 22–25 February, 2000, wo der Autor u. a. das Video einer neurologischen Untersuchung eines Knaben zeigte, der zum Untersuchungszeitpunkt bereits seit 13 Jahren hirntot war und danach noch weitere 6 Jahre lebte.
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Paolo Becchi
Deutschland17 und Italien18 im Zuge des neuen Positionsbezugs der US-amerikanischen Bioethikkommission19 der „Hirntod“ wieder ins Zentrum der Diskussion gerückt ist, scheint sich die Schweiz bis jetzt darauf beschränkt zu haben, die Kriterien für die Todesfeststellung zu ändern. Kritik an der auf neurologischen Kriterien beruhenden Todesdefinition liess bis vor kurzem noch auf sich warten20. Wir konzentrieren uns im Folgenden zunächst auf einzelne Aspekte der neuen schweizerischen Richtlinien, um dann auf die aktuelle ethisch-philosophische Debatte einzugehen. Von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt hat die Akademie der Medizinischen Wissenschaften auf den 1. September 2011 neue Richtlinien für die Feststellung des Todes bei möglichen Organspendern in Kraft gesetzt, welche die bisherigen Richtlinien aus dem Jahr 2005 ersetzt haben.21 Schon der Titel der Richtlinien („Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen“) ist erstaunlich: Anscheinend gibt es einen Tod für Patienten, die für Organspende in Frage kommen und einen anderen für die übrigen Patienten. So jedenfalls drückt sich das Dokument aus: „Dieses Todeskriterium betrifft nur die Situationen, in denen eine Organspende angestrebt wird. In allen anderen Fällen wird der Tod durch einen Arzt/eine Ärztin nach den allgemeinen Regeln der ärztlichen Fachkunde festgestellt. Hier gilt vor allem der irreversible kardiopulmonale Stillstand, welcher in der Folge zum Tod führt, als Haupt-Todeskriterium“ (S. 5, Fussnote 4). Hier wird klar, dass das Kriterium des Hirntodes nur der Organtransplantation dient, zumal in Fällen ohne vorgesehene Transplantation nach wie vor die herkömmlichen Kriterien gelten sollen. Daran wäre an sich noch nichts Negatives zu sehen (obwohl zu ergänzen wäre, dass 17
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Vgl. Ralf Stoecker, „Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland“, Kritisches Jahrbuch für Philosophie 8 (2009), 41–59; Sabine Müller, „Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik“, Ethik in der Medizin 22 (1-2010), 5–17. Eine gute journalistische Zusammenfassung ist der Beitrag von Christian Schüle, „Wann ist ein Mensch tot?“, Zeit online, 4. April 2012 (www.zeit.de/2012/15/M-Hirntod). Die Diskussion in Italien wurde durch einen Zeitungsartikel in Gang gesetzt: Lucetta Scaraffia, „I segni della morte. A quarant’anni dal Rapporto di Harvard“, L’Osservatore romano, 3. September 2008, 1. Dieser Artikel nahm auf die Veröffentlichung zweier Bücher Bezug, die in Italien viel zu reden gaben: Becchi (Fn. 13) und de Mattei (Fn. 15). Aus der Sicht eines Arztes vgl. das wichtige Buch von Carlo A. Defanti, Soglie. Medicina e fine della vita, Torino: Bollati-Boringhieri, 2007 und, neuer, Stato vegetativo, morte cerebrale ed etica, in: Marino et al. (Fn. 4), 59–78. Die Debatte ging so weit, dass sich das CNB (Comitato Nazionale per la Bioetica) veranlasst sah, in einem neuen Dokument auf die Thematik zurückzukommen, auch wenn darin auf viele der neu aufgeworfenen Fragen keine Antworten gegeben wurden. Vgl. dazu Paolo Becchi, „I criteri di accertamento della morte. Per una critica del recente documento del CNB“, Bioetica, 1 (2011), 54–74 und jetzt auch Paolo Becchi, Un passo avanti e uno indietro: i criteri di accertamento della morte nel recente documento del CNB, in: Marino et al. (Fn. 4), 123–137. Vgl. President’s Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death. A White paper, Washington D. C., 2008. Deshalb die vom Verfasser in der „Neuen Zürcher Zeitung“ angeregte Diskussion, zunächst mit dem Beitrag „Der Tod bleibt gleich – oder?“ (NZZ vom 24. Juli 2012, 17), nach mehreren Reaktionen dann im grösseren Artikel „Funktion und Grenzen von Todesdefinitionen“ (NZZ vom 8. Oktober 2012, 15). Vgl. Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien, 1. September 2011 (www.samw.ch/dms/de/Ethik/RL/AG/d_RL_FeststellungTod.pdf). Dieses Dokument ersetzt die gleichnamigen Richtlinien vom 24. Mai 2005 (www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Archiv.html). Weitere Zitate des Dokuments von 2011 werden direkt, mit Angabe der Seite, im Text angegeben.
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das Hirntodkriterium bei primären Hirnschädigungen in jedem Fall unerlässlich ist) – würde das Dokument nur nicht von Beginn an eine einzige Todeskonzeption festigen, nämlich eine neurozentrische: „Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Gehirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind“ (S. 5). Und in der Folge bekräftigt das Dokument eine Aussage der vorhergehenden Richtlinien: „Durch den irreversiblen Ausfall sämtlicher Funktionen des Gehirns verliert ein Mensch das Steuerungsorgan des gesamten Organismus endgültig“ (S. 5). Nun hat sich aber diese auf einer neurozentrischen Todesdefinition beruhende Konzeption als empirisch nicht mehr beweisbar erwiesen. Es muss noch einmal betont werden: Die Vorstellung, dass das Gehirn nicht als zentraler Integrator aller menschlichen Körperfunktionen wirkt, wird heute von der Wissenschaft einhellig anerkannt. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass in den neuen Richtlinien an einer Konzeption festgehalten wird, die heute wissenschaftlich-empirisch durchwegs für falsch gilt. Darüber hinaus erstaunt das fast gänzliche Fehlen der einschlägigen neuesten wissenschaftlichen Literatur im gesamten Dokument. Sodann stellt sich die Frage, warum man neue Richtlinien erlässt und gleichzeitig – wie der Präsident der zuständigen Kommission, Prof. Dr. Jürg Steiger in einem Interview – erklärt: „Der Tod bleibt gleich“22. Dieses Interview verdient Aufmerksamkeit, lässt es uns doch – wenn auch zwischen den Zeilen – das Motiv für die Formulierung neuer Richtlinien erkennen. Dort heisst es: „Heute ist es so, dass die Ärzte die Therapie bei Schwerkranken in den meisten Fällen vor deren Tod abbrechen – sobald sie feststellen, dass es für diese keine Hoffnung mehr gibt. Wer in so einer Situation zum Beispiel die künstliche Beatmung weiterlaufen lässt oder andere medizinische Massnahmen im Hinblick auf eine Organentnahme ergreift, hätte sich vor dem Inkrafttreten der neuen Richtlinien in einem juristischen Graubereich bewegt.“ Zunächst ist es wirklich erstaunlich zu erfahren, dass sich die Schweizer Ärzte bis zum Jahr 2011 bei entsprechendem Verhalten in einem „juristischen Graubereich“ bewegt hätten und somit, wie es scheint, an die Grenzen der Legalität oder sogar darüber hinaus gegangen wären. Doch ist es offensichtlich, dass zur Vermeidung unzulässiger Behandlungen keine neuen Richtlinien nötig waren, sondern die richtige Anwendung der alten genügt hätte. Warum also neue Richtlinien erlassen? Sicherlich nicht, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wie das Interview glauben machen will. Vielmehr um Tätigkeiten zu erlauben, welche die alten Richtlinien verboten hatten. Somit geht es wieder darum, die Organtransplantation zu erleichtern. Die bisherigen Richtlinien sahen nämlich vor, dass medizinische Massnahmen zur Organerhaltung bereits vor Feststellung des Todes unternommen werden konnten, sofern der Spender auch einer solchen Behandlung vorgängig explizit zugestimmt hatte. Andernfalls wären solche organerhaltende Massnahmen nach den bisherigen Richtlinien nicht zulässig gewesen.23 Wenn wir nun den vorher zitierten Abschnitt aus dem Interview mit Dr. 22
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Jürg Steiger, „Der Tod bleibt gleich“, Horizonte, Schweizerischer Nationalfonds (Dezember 2011), 5. Man darf sich fragen, ob der Herausgeber, der doch die Interessen der Wissenschaft zu vertreten hat, mit der Publikation solcher Interviews nicht vielmehr bestimmten politischen Interessen zuspielt. Vgl. Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen (24. Mai 2005), 10: „Medizinische Massnahmen, die ausschliesslich der Erhaltung von Organen, Geweben oder Zellen dienen, dürfen vor dem Tod der spendenden Person nur vorgenommen werden, wenn diese umfassend informiert worden ist und frei zugestimmt hat. Umfasst die Einverständniserklärung die Mass-
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Steiger in Erinnerung rufen, ergibt sich der begründete, aber schlimme Verdacht, dass die Ärzte genau das taten, nämlich organerhaltende Massnahmen unter Missachtung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen vornahmen. Wäre dem tatsächlich so gewesen, hätten sich die Ärzte nicht in einem „Graubereich“, sondern in einer verbotenen Zone bewegt, indem sie nicht nur vom Reglement nicht vorgesehene, sondern krass reglementswidrige Behandlungen vornahmen. Daher – und ausschliesslich daher – das Bedürfnis nach neuen Richtlinien, die im Wesentlichen ex post legitimieren sollten, was die vorhergehenden Richtlinien verboten. Damit gäbe es auch keine „Grauzone“ mehr, und der Arzt könnte tun, was er bisher schon tat. Voilà, ohne etwas befürchten zu müssen: „Ist ein gesetzlicher Vertreter vorhanden oder hat der Patient die Vertretung einer Person seines Vertrauens übertragen, so entscheiden diese über Durchführung von organerhaltenden Massnahmen. Hat der Patient keinen gesetzlichen Vertreter, können – mit Zustimmung der Angehörigen – organerhaltende Massnahmen durchgeführt werden, wenn dies dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht“ (S. 11). Einzig zu beachten wäre, dass der an diesem Punkt vollends instrumentalisierte Gebrauch des Sterbenden auf zwei Tage beschränkt ist (S. 12). Ganz so einfach präsentiert sich die Sache freilich nicht; wir haben es sogar mit rechtsstaatlich inakzeptablen Machenschaften zu tun: Wenn gemäss den neuen Richtlinien die Angehörigen schon vor dem Tod eines potentiellen Organspenders für diesen stellvertretend in organerhaltende medizinische Massnahmen einwilligen können, widerspricht dies nämlich offensichtlich und in schwerwiegender Weise dem geltenden Transplantationsgesetz, das organerhaltende Massnahmen durch Stellvertreterentscheid ausdrücklich nur nach dem Tod des Patienten erlaubt24. Die Botschaft des Bundesrates stellte hierzu klar fest: „Vor jeder Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen werden an der spendenden Person medizinische Massnahmen durchgeführt, die ausschliesslich dazu dienen, die Transplantate bis zur Übertragung in möglichst gutem und funktionstüchtigem Zustand zu erhalten. (…) Diese Massnahmen werden zum Teil bereits vor dem Tod der spendenden Person durchgeführt. Sie sind in diesem Fall nur dann gerechtfertigt, wenn die spendende Person umfassend informiert worden ist und frei zugestimmt hat (Abs. 1). Eine stellvertretende Einwilligung durch die nächsten Angehörigen oder die gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter bei urteilsunfähigen Personen kann in diesen Fällen nicht in Frage kommen, da diese nur in Massnahmen einwilligen können, die dem objektiven Wohl der Patientin oder des Patienten entsprechen. (…) Medizinische Mass-
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nahmen zur Organerhaltung nicht, dürfen diese erst nach der Feststellung des Todes durchgeführt werden“. Vgl. Art. 10 des Transplantationsgesetzes vom 8. Oktober 2004, SR 810.21: „Abs. 1: Medizinische Massnahmen, die ausschliesslich der Erhaltung von Organen, Geweben oder Zellen dienen, dürfen vor dem Tod der spendenden Person nur vorgenommen werden, wenn diese umfassend informiert worden ist und frei zugestimmt hat. Abs. 2: Solche Massnahmen sind verboten, wenn sie: a. den Tod der Patientin oder des Patienten beschleunigen; b. dazu führen können, dass die Spenderin oder der Spender in einen dauernden vegetativen Zustand gerät. Abs. 3: Liegt keine Erklärung zur Spende vor, so dürfen solche Massnahmen nach dem Tod der Patientin oder des Patienten bis zur Entscheidung der nächsten Angehörigen durchgeführt werden. Der Bundesrat legt fest, wie lange solche Massnahmen längstens durchgeführt werden dürfen“ (In Art. 8 der Transplantationsverordnung, SR 810.211, hat der Bundesrat diese Frist auf 72 Stunden festgelegt).
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nahmen, die ausschliesslich der Organerhaltung im Hinblick auf eine Transplantation dienen, können aber in keinem Fall mit dem Wohl der Patientin oder des Patienten in Zusammenhang gebracht werden“25. Zwar ist eine entsprechende Gesetzesrevision geplant, doch ist es unannehmbar, dass die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) als private Fachorganisation den Entscheid des demokratisch legitimierten Gesetzgebers gleichsam „vorwegnimmt“. Damit würden Kernelemente der verfassungsmässigen Kompetenzordnung mit Füssen getreten! Nun gibt es einflussreiche Stimmen, welche sich gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes und der Botschaft stellen: So bezeichnet Andrea Arz de Falco, Leiterin des Direktionsbereichs Öffentliche Gesundheit des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) die neue Richtlinienbestimmung als „ethisch vertretbar“26. Und Olivier Guillod, Direktor des Instituts für Gesundheitsrecht der Universität Neuchâtel, nota bene selbst Mitglied der SAMW, kommt in seinem vom BAG in Auftrag gegebenen Gutachten zu Handen des Bundesrates zum gewagten Schluss, dass der geltende Art. 10 des Transplantationsgesetzes gegen dessen Wortlaut so ausgelegt werden kann, dass prämortale organerhaltende Massnahmen auch ohne explizite Zustimmung des Betroffenen durch Stellvertreter-Entscheid durchgeführt werden können27 – wie in den neuen Richtlinien der SAMW. Wenn Guillod selbst einräumt, dass seine „liberale Auslegung“ nicht „über alle anderen Interpretationen erhaben ist“, scheint dies untertrieben: Die „liberale Auslegung“, welche nun in die Richtlinien der SAMW Eingang gefunden hat, bewirkt nämlich, dass sich Ärzte, die sich an die geänderten Richtlinienbestimmungen halten, nach geltendem Recht der Strafverfolgung aussetzen: Die Vornahme organerhaltender Massnahmen ohne gesetzmässige Einwilligung des Patienten oder dessen Angehörigen gilt nämlich als Körperverletzung 25 26
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Botschaft zum Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz) vom 12. September 2001, BBl 2002 29 ff., 142 f. Vgl. Andrea Arz de Falco: „Organerhaltende Massnahmen ohne explizite Einwilligung sind ethisch vertretbar“, Interview, Thema im Fokus 102 (April 2012), 12–14. Freilich muss darüber diskutiert werden, wann organerhaltende Massnahmen „ethisch vertretbar“ sind. Jedoch liefert Frau Arz de Falco im Interview keinerlei spezifische ethische Argumente, um den von ihr gezogenen Schluss zu begründen. Vielmehr beschränkt sie sich darauf, rechtfertigende Analogien zum Humanforschungsgesetz zu ziehen, bei dem es doch nur um nicht- oder minimal-invasive Eingriffe wie Datensammlung, Blut-, Urin- und Speichelproben geht. Auf den Vorhalt der Interviewer, bei organerhaltenden Massnahmen gehe es mit Medikamenten zur Gefässerweiterung, Bluttransfusionen oder das Setzen von arteriellen Kanülen doch um weit schwerwiegendere Eingriffe, wusste Frau Arz de Falco nur zu antworten: „Bluttransfusionen oder das Setzen von arteriellen Kanülen sind wie jeder chirurgische Eingriff keine ‚minimalen Belastungen‘ und dürfen meines Erachtens nur vorgenommen werden, wenn vom Betroffenen eine explizite Einwilligung vorliegt. Wenn nicht, darf man diese Eingriffe erst durchführen, wenn der Patient tot ist“. Es taucht somit leider der Verdacht auf, dass sich Frau Arz de Falco entweder der Tragweite der neuen Richtlinien nicht bewusst ist oder aber leichtfertig deren ethische Vertretbarkeit verkündet. Macht sich die promovierte Theologin dadurch aber nicht angreifbar, so dass sie sich die berühmte Ermahnung von Albericus Gentilis (1552–1608), „silete theologi in munere alieno!“ gefallen lassen müsste? Gegen die Position von Frau Arz de Falco vgl. Margot Michel, „Die Richtlinien der SAMW sind mit dem geltenden Recht nicht vereinbar“, Interview, Thema im Fokus 102 (April 2012), 7–11. Olivier Guillod: „Verfassungsmässig geschützte Rechte können eingeschränkt werden, wenn es gute Gründe dafür gibt“, Interview, Thema im Fokus 102 (April 2012), 18–20.
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i. S. v. Art. 122 u. 123 StGB, zumal ärztliche Eingriffe, die nicht der Heilung dienen, nach „einhelliger Meinung tatbestandsmässig“ sind.28 Freilich könnten gewiefte Anwälte solch schwarzen Schafen mit einiger Erfolgsaussicht raten, sich auf einen schuldausschliessenden Rechtsirrtum nach Art. 21 StGB zu berufen. Welcher Richter könnte denn einen Arzt verurteilen, der sich bei seinem gesetzeswidrigen Handeln gutgläubig auf die „Richtlinien“ der SAMW abgestützt hatte? Der Gesetzgeber sollte sich schliesslich auch überlegen, warum er Angelegenheiten wie z. B. „Bürgschaften und Zinskostenbeiträge im Berggebiet und im weiteren ländlichen Raum“29 selbst regeln wollte, während er die Regelung der Feststellung des Todes (klinische Zeichen, Anforderungen an die Ärzte) im Transplantationsgesetz an den Bundesrat delegiert30 – und jetzt sogar zulässt, dass dieser die SAMW als private Fachorganisation darüber entscheiden lässt!31 Die Diskussion um die SAMW-Richtlinien drängt zu folgendem Schluss: Wer heute auf der Verteidigung des Hirntodes beharrt, tut dies mit dem einzigen Ziel, die gängige Praxis der Organtransplantation fortzusetzen. Dabei werden neue Elemente eingeführt, die weit davon entfernt sind, den Spendern mehr Sicherheit zu gewährleisten. Vielmehr zielen sie darauf ab, die Menge verfügbarer Organe zu erhöhen – koste es, was es wolle. In der Schweiz scheint sich die Aufmerksamkeit auf die Kriterien der Todesfeststellung zu beschränken. Demgegenüber sehen wir nun bei der Betrachtung der ethisch-philosophischen Debatte, dass sich der Fokus in anderen Ländern direkt auf die Krise der Hirntoddefinition richtet. 4. DIE
NEUE ETHISCH-PHILOSOPHISCHE
DEBATTE
Diejenigen, welche noch heute an der Gültigkeit des Hirntodbegriffs festhalten, sind dazu gezwungen, dieses Begriffsverständnis neu zu rechtfertigen. Sie können dies zu erreichen versuchen, indem sie alles auf eine Karte setzen: Misst man nur dem Kopf Bedeutung zu und vernachlässigt man die Bedeutung des restlichen Körpers, lässt sich zwischen dem Tod der Person und dem Tod ihres Körpers unterscheiden. Auf diese Weise kann eine Person als tot gelten, auch wenn ihr Körper noch weiterlebt. Implizit geht man hier vom totalen zum kortikalen Hirntod über. Für die Feststellung des Todes wird das Fehlen eines bewussten Lebens ausschlaggebend. Sobald jene Bereiche des Gehirns, in denen unsere mentalen Fähigkeiten angesiedelt sind, nicht mehr funktionieren, ist ein Mensch tot. So argumentiert z. B. Jeff McMahan.32 28 29 30
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Vgl. Stefan Trechsel, Thomas Fingerhuth, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Zürich: Dike, 2008, N 6 zu Art. 122 StGB. Vgl. Bundesgesetz vom 25. Juni 1976 über die Gewährung von Bürgschaften und Zinskostenbeiträgen im Berggebiet und im weiteren ländlichen Raum, SR 901.2. Vgl. Art. 9 Abs. 2 des Transplantationsgesetzes: „Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Feststellung des Todes. Er legt insbesondere fest: a. welche klinischen Zeichen vorliegen müssen, damit auf den irreversiblen Ausfall der Funktionen des Hirns einschliesslich des Hirnstamms geschlossen werden darf; b. die Anforderungen an die Ärztinnen oder Ärzte, die den Tod feststellen.“ Art. 7 und Anhang 1 Ziffer 1 der Transplantationsverordnung, SR 810.211. Jeff McMahan, „The Metaphysics of Brain Death“, Bioethics 9 (1995), 91–126. Bezüglich der ethischen Implikationen aber auch Jeff McMahan, The ethics of Killing. Problems at the margins of life, Oxford: Oxford University Press, 2002. Schon vorher findet sich eine analoge Argumenta-
Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation
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Wollen wir mit dem kortikalen Hirntod aber wirklich eine Definition einführen, dergemäss körperwarme Menschen, welche sogar noch selbständig atmen können, tot sein sollen? Diese Neudefinition kontrastiert – noch mehr als die vorangehende – mit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die These von McMahan erscheint als Wiederbelebung des alten kartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans. Aber ebenso wie heute wohl niemand mehr Descartes Beschreibung der Tiere als gefühlsleere Mechanismen teilen würde, wäre sicher niemand bereit, körperwarme und atmende Menschen einzusargen, nur weil sie mental tot sind. Wohlgemerkt: McMahan selbst zielt keineswegs auf diesen Schluss, da er im zitierten Werk doch keine praktische, sondern eine theoretische Absicht verfolgt. Was ich hier aber unterstreichen möchte ist, dass heute die Auffassung vom Hirntod noch aufrecht erhalten werden kann, indem man zu einer enger gefassten Definition davon übergeht, wonach er als Funktionsausfall der Grosshirnrinde, d. h. als kortikaler Hirntod aufgefasst wird. Demzufolge mag der Körper weiterleben, aber ohne mentale Fähigkeiten gilt eine Person als tot. Die Alternative zu diesem sich so ergebenden Dualismus könnte in einem radikalen Monismus gefunden werden, welcher das Leben auf die mentalen Fähigkeiten reduziert und die nicht-mentalen, organischen Vorgänge nicht als Leben betrachtet. Dabei würde das ganze Leben – gerade vom Hirntod ausgehend – in ausschliesslich mental konnotierten Begriffen erklärt. Der allgemeine Sprachgebrauch würde so aber dermassen strapaziert, dass – wie ich glaube – nur wenige Karin Akerma folgen33 möchten, welche diese Vorgehensweise vertreten hat. Daneben stellt sich die Position von Dieter Birnbacher. Schon immer Anhänger der Hirntodauffassung,34 ist er sich inzwischen auch der mit ihr einhergehenden Schwierigkeiten bewusst und schlägt vor, sie nur unter einem pragmatischen Blickwinkel weiter aufrecht zu erhalten. Er scheint denn auch – freilich nicht explizit – einzugestehen, dass Jonas ins Schwarze getroffen hatte, als er die neue Todesdefinition als „pragmatische Neudefinition“ bezeichnete. Aber anstatt darin Anlass für eine Kritik zu sehen, glaubt Birnbacher, dass gerade ihr bewiesener praktischer Nutzen uns zu ihrer weiteren Verteidigung drängen muss. „Eine pragmatische Verteidigung“, wie der Titel der jüngsten Arbeit von Birnbacher zum Thema lautet, in welcher zu lesen ist: „Das Hirtod-Kriterium ist kein adäquates Kriterium für den Tod, sondern ein Kriterium für den unter ethischen Gesichtspunkten primär relevanten, aber mit dem Tod simpliciter nicht zusammenfallenden mentalen Tod“35.
33
34
35
tion in Michael B. Green/Daniel Wikler, „Brain Death and Personal Identity“, Philosophy and Public Affairs 9, (2-1980), 105–133. Vgl. Karin Akerma, Lebensende und Lebensbeginn. Philosophische Implikationen und mentalistische Begründung des Hirn-Todeskriteriums, Münster: LIT, 2006. Dagegen aus thomistischer Sicht: Christian Erk, Das Eigentliche des Todes. Ein Beitrag zur Be-Lebung der Debatte über Hirntod und Transplantation, in: Ethik in der Medizin, Heidelberg: Springer, 2013. Es gibt auch Stimmen, welche in der bioethischen Debatte die hierzu vollkommen konträre Position einnehmen, vgl. David De Grazia, Human Identity and Bioethics, Cambridge: University Press, 2005. Dieter Birnbacher u. a., „Der vollständige und endgültige Ausfall der Hirntätigkeit als Todeszeichen des Menschen – Anthropologischer Hintergrund“, Deutsches Ärzteblatt 90 (1993), 2926– 2929; Birnbacher (Fn. 10), 248–270. Vgl. Dieter Birnbacher, „Der Hirntod – eine pragmatische Verteidigung“, Jahrbuch für Recht und Ethik 15 (2007), 459–477 (475).
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Paolo Becchi
Zweierlei könnte allerdings auseinandergehalten werden: auf der einen Seite die Definition des Todes, auf der anderen die Kriterien für dessen Feststellung: Die Definition dient einem theoretischen Zweck, nämlich das Phänomen des Todes zu umschreiben, während die Kriterien zur Todesfeststellung praktische Zwecke verfolgen. Aber was bedeutet das? Die Kriterien müssten uns die zuverlässigen Indikatoren bereitstellen, um den eingetretenen Tod mit Sicherheit erkennen zu können. Wenn sich nun aber die Todesdefinition als unangemessen erweist, warum sollten dann die Kriterien, auf welchen sie beruht, weiterhin Geltung beanspruchen? Beide sind nicht mehr zuverlässig, um einen Patienten für tot zu erklären. Das heisst aber nicht, dass die Hirntodkriterien – bei unserem heutigen Wissensstand – nicht als unbestreitbare Zeichen für eine ungünstige Prognose gedeutet werden können. Die „ethischen Gesichtspunkte“, auf welche Birnbacher im erwähnten Zitat anspielt, lassen sich jedoch weder mit Überlegungen über die Definition des Hirntodes noch mit solchen über die zu dessen Feststellung heranzuziehenden Kriterien lösen. Notwendig erscheint vielmehr eine ethische und rechtliche Reflexion darüber, was zu tun erlaubt sein soll, wenn wir mit Patienten in solchem Zustand konfrontiert sind. Birnbacher würde wohl Robert D. Truog darin zustimmen, dass die Konzeption des Hirntodes „zu rissig“ geworden ist, um den immer zahlreicheren Kritiken zu widerstehen, aber auf der anderen Seite „zu sehr in die Praxis eingebunden, um aufgegeben werden zu können“36. Erscheint in dieser Argumentation die Hirntoddefinition vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse als überholt, so müsste sie dennoch schon ihrer praktischen Vorteile wegen aufrecht erhalten werden. Dies würde uns aber dazu zwingen, eine präzise Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen, und diese Grenze würde weiterhin durch den Hirntod gezogen. Auch wenn sie – de facto – noch nicht tot sind, können Menschen in diesem Zustand – dies scheint der zu ziehende Schluss zu sein – als Tote betrachtet werden, um Organentnahmen zu ermöglichen. Wenn aber der praktische Beweggrund entscheidend sein soll, dann könnte es etliche weitere Zwecke geben, wie Ralf Stoecker zutreffend bemerkt hat37: nicht nur die Organtransplantation, sondern auch die Bereithaltung der Körper von Hirntoten zur Verfügung des Sektionsraumes für wissenschaftliche Versuche aller Art, um daraus allen möglichen Nutzen zu ziehen, wie es im Übrigen schon Hans Jonas befürchtet hatte38. 36
37 38
Vgl. Robert D. Truog, „Brain Death – too Flawed to Endure, too Ingrained to Abandon“, Journal of Law, Medicine & Ethic 35 (2-2007), 273–281: „What have we lost by using the brain death criterion? First the medical profession has dad to pay the price of self-delusion. Despite continual commentary in the medical literature about the inconsistencies and incoherence of the concept of brain death, medical professionals have had to defend the concept in order not to jeopardize the benefits of organ transplantation“ (277). Stoecker (Fn. 17), 57. Vgl. Hans Jonas, Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes (1969), in: Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, 219–241: „Sind wir erst einmal versichert, dass wir es mit einem Leichnam zu tun haben, dann sprechen keine logischen Gründe dagegen und starke pragmatische dafür, die künstliche Durchblutung (Lebenssimulierung) fortzusetzen und den Leib des Verschiedenen zur Verfügung zu halten – als eine Bank für lebensfrische Organe, möglicherweise auch als eine Fabrik für Hormone und andere biochemische Substanzen, nach denen Bedarf besteht. Ich zweifle nicht, dass einem solchen Leibe auch die natürliche Fähigkeit zu Narbenbildung und Heilung von Operationswunden erhalten werden kann, so dass er mehr als
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Zudem: Wenn es bei der Todesdefinition ausschliesslich auf deren praktischen Nutzen ankommen soll, warum sollte dann nicht die Definition des kortikalen Hirntodes übernommen werden? Indem man die Beschreibung des Todesphänomens weiterentwickelt, letzteres mit dem irreversiblen Verlust des Bewusstseins zusammenfallen lässt und Personen im Zustand des dauernden Wachkomas bzw. Hirnfunktionsverlusts sowie Neugeborene ohne Hirnfunktionen für tot erklärt, könnten zahlreiche ethische Probleme gelöst werden, welche mit diesen Zuständen einhergehen. Zwar zeichnete Birnbacher die Grenze im Hinblick auf den Hirntod auf, aber wenn man eingedenk ihrer praktischen Vorteile eine „mentale“ Todesdefinition aufrecht erhalten will, ist nicht ersichtlich, weshalb man nicht von der Auffassung des totalen Hirntodes zu derjenigen des kortikalen Hirntodes übergehen könnte. Wie dem auch sei – der neueste Positionsbezug von Birnbacher ist schlicht und einfach eine geschickte escamotage, um eine auch seiner Ansicht nach theoretisch überholte Definition aufrecht zu erhalten. „Anstössig“ finde ich an diesem Versuch sicherlich nichts, aber – wie er selbst abschliessend einräumt – ist „eine Reihe von rechtlichen Einwänden vorprogrammiert“, und es scheint mir schon ziemlich naiv zu glauben, dass „entsprechende Anpassungen in der Legaldefinition“39 diese zu lösen vermöchten. Geht man davon aus, dass das Hirntodkriterium nicht mehr zuverlässig genug ist, um den Tod eines Menschen festzustellen, erwachsen Schwierigkeiten, welche keineswegs durch eine – und welche? – Änderung der Legaldefinition des (Hirn-)Todes aus dem Weg geräumt werden können. Wenn schon, dann müssten wir die Frage stellen, ob es einer Legaldefinition des Todes überhaupt bedarf. Vor der Entwicklung der Reanimationstechniken war der Tod ein Naturereignis, das kein Gesetzgeber je zu definieren gewagt hätte. Nicht einmal die juristische Lehre (Savigny docet!) verlangte dies zu unternehmen. Aber heute, da der Tod als biologischer, medizinisch überwachbarer Prozess verstanden wird und Patienten unter künstlicher Beatmung bisweilen für eine gewisse Zeit zwischen Leben und Tod schweben, glaubt man, eine klare und eindeutige Definition davon geben zu müssen. Da jedoch gerade jetzt eine klare Demarkationslinie zwischen Leben und Tod nur willkürlich gezeichnet werden kann, gibt es keinen Grund, eine solche Definition einzuführen40. Es wäre somit besser, keine einhellige Definition zu liefern und
39 40
einen Eingriff überstehen könnte. Verlocken ist auch die Idee einer sich selbst regenerierenden Blutbank. Künstliche Nährstoffzufuhr wäre kein Problem. Und das ist noch nicht alles. Vergessen wir nicht die Forschung. Warum sollten nicht die wundervollsten Transplantexperimente an dem gefälligen Subjekt-Nichtsubjekt vorgenommen werden, wo der Kühnheit keine Schranken gesetzt sind? Warum nicht immunologische und toxikologische Untersuchungen, Infektion mit Krankheiten, alten und neuen, Ausprobieren von Drogen? Wir haben die ‚aktive‘ Kooperation eines funktionierenden Organismus, der für tot erklärt ist und deshalb keinen Schaden leiden kann: das heisst, wir haben die Vorteile des lebenden Spenders ohne die Nachteile, die dessen Rechte und Interessen auferlegen (denn ein Leichnam hat keine). Welch ein Segen für die medizinische Ausbildung, für anatomische und physiologische Demonstration und Übung an so viel besserem Material, als es sonst der Seziersaal bietet! Welche Chance für den Anfänger, gleichsam ‚in vivo‘ amputieren zu lernen, ohne dass seine Fehler etwas ausmachen! (Und so fort – in den weit offenen Raum der Möglichkeiten …) Befürwortet wird ja ‚die volle Ausnutzung moderner Mittel, den Wert von Kadaverorganen zu maximieren‘. Wohlan, hier hätten wir die Maximierung“ (231–232). Vgl. Birnbacher (Fn. 35), 475. So auch Baruch A. Brody, How much of the brain must be dead?, in: The definition of death. Con-
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Paolo Becchi
den Begriff mit seinen unterschiedlichen Bedeutungen im Sprachgebrauch und der Unschärfe seiner vielen Sinngebungen stehen zu lassen. Wie Jonas bereits in seiner brillanten und in Teilen noch heute unübertroffenen Kritik des Harvard-Berichts ausgeführt hatte, wird das Eingeständnis, uns auf unsicherem Gelände zu befinden, dem Todesbegriff „gerechter als eine präzise Definition, die ihm Gewalt antut“41. Der richtige Ansatz ist somit nicht, eine neue pragmatische Rechtfertigung des Hirntods zu finden, um das, was wir auf Grundlage der Hirntoddefinition bisher tun durften, weiterhin tun zu dürfen. Die Frage ist vielmehr, wie wir es weiterhin tun dürfen, wenn – wie es immer klarer erscheint – die Definition sich als unangemessen herausgestellt hat. Was sich heute offenbart, ist die grundlegend falsche Art und Weise, wie die Problematik von Beginn an gehandhabt wurde: Die Reanimationstechniken haben uns das Problem eines erschreckenden menschlichen Zustandes vor Augen geführt. Und wir haben es auf eine ebenso erschreckende Art lösen wollen, da dies zugleich die Lösung eines anderen Problems erlaubte: desjenigen der Organtransplantation. Für eine gewisse Zeit ist alles gut gelaufen. Nun müssen wir jedoch einfach zur Kenntnis nehmen, dass die hergebrachte Definition als unangemessen erscheint und das Problem von Grund auf neu angehen, gerade wegen der praktischen Vorteile der Hirntoddefinition. Das wahre Problem liegt dennoch – damals wie heute – nicht in der Frage, ob Patienten im Zustand des irreversiblen Komas lebendig oder tot sind (wir hätten heute übrigens mehr Anlass, sie als lebendig zu bezeichnen), sondern darin, dass wir überlegen müssen, was wir für diese bzw. mit diesen Patienten tun dürfen. Zur Lösung dieses Problems benötigen wir aber keine neue Todesdefinition, vielmehr eine breite ethische und rechtliche Diskussion über den Zeitpunkt, ab welchem es erlaubt sein soll, lebenserhaltende Massnahmen abzubrechen und gegebenenfalls zur Organentnahme zu schreiten42. 5. EIN
ALTERNATIVER
ANSATZ
Wir müssen klären, wie man Personen, die in einem irreversiblen Koma liegen, mit dem Respekt, der ohnehin jeder Person gebührt, behandeln soll. Das menschliche Wesen ist mit einer ihn auszeichnenden Würde versehen. Aus diesem Grund muss mit Menschen in einer ihre Würde nicht verletzenden Art und Weise umgegangen werden. Wäre es nun respektlos, Menschen mit einem schweren und irreversiblen Hirnschaden anders zu behandeln als Menschen, welche sich nicht in einem solchen Zustand befinden? Ich glaube nicht. Sicherlich dürfen wir Hirntote nicht so behandeln wie Leichen, zumal sie solche ja nicht sind. Aber wir dürfen sie anders behandeln als Personen mit funktionierendem Gehirn, weil Hirntote ein solches eben
41 42
temporary controversies, hg. v. Stuart J. Youngner et al., Baltimore/London: J. Hopkins University Press, 2002, 71–82. Jonas (Fn. 38), 227. Darin besteht heute eine gewisse Einhelligkeit, auch bei Autoren, welche im Übrigen abweichende Positionen befürworten. Unter den interessantesten Beiträgen sei vor allem jener in der Habilitationsschrift und in zahlreichen nachfolgenden Publikationen von Ralf Stoecker erwähnt, vgl. Ralf Stoecker, Der Hirntod – ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation, Freiburg: Alber, 1999. Vgl. auch die vom Verfasser in der „Neuen Zürcher Zeitung“ angerissene Debatte (siehe oben, Fn. 20).
Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation
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nicht mehr haben. Dies bedeutet, dass der Arzt die Pflicht hat, das Leben seiner Patienten zu schützen, wobei er in der Regel keine Behandlung gegen ihren Willen aufzwingen darf. Diese Pflicht besteht jedoch nicht gegenüber Patienten mit einem fatalen Hirnschaden. Die Aufrechterhaltung des Lebens erscheint uns unter solchen Voraussetzungen sogar als unmenschlich und erniedrigend, wogegen der Tod, der nur künstlich hinausgezögert wird, als eine Art Befreiung gesehen wird. Eine hirntote Person aus jenem Zustand zu erlösen heisst nicht, sie als lebensunwürdig zu betrachten, sondern im Gegenteil ihre Würde zu retten43. In diesem Extremzustand existiert die Würde noch, in ihrer tragischsten und absurdesten Form: ihrer Abwesenheit. Eine Pflanze bleibt stets eine Pflanze, aber ein Mensch, möge er auch dahinvegetieren, bleibt immer ein Mensch. Es ist gerade seine vom gesundheitlichen Zustand verdeckte humanitas, die uns dazu zwingt, seinem Zwangsüberleben ein Ende zu setzen. Wie es eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben gibt, so gibt es auch eine Würde des Lebens und eine Würde des Sterbens, weil die Würde über Leben und Sterben hinausgeht. Stellt demnach das Sterbenlassen eines hirntoten Patienten keine Verletzung, sondern im Grunde genommen die letzte Gelegenheit zur Wahrung seiner Menschenwürde dar, so fragt man sich, wie die Dinge im Hinblick auf die Organentnahme stehen. Sicherlich wäre es eine Verletzung der Menschenwürde, einem gesunden Menschen Organe zu entnehmen und dadurch eine schwere Körperverletzung oder sogar den Tod zu bewirken. Warum sollten wir jedoch gleiches annehmen, wenn Organe einer hirntoten Person entnommen werden? Man könnte ins Feld führen, dass der kantische kategorische Imperativ, wonach der Mensch „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ behandelt werden muss, auch für den hirntoten Menschen zu gelten habe. Unbestreitbar wird der Patient durch die Organentnahme unter künstlicher Beatmung auf den ersten Blick in gewisser Weise verdinglicht. Sein Tod wird hinausgezögert mit dem einzigen Ziel, seine Organe in bestmöglichem Zustand für andere Patienten zu verwenden. Deckt sich aber ein solches Vorgehen mit der Einwilligung des Organspenders, dann würde er nicht mehr instrumentalisiert und als blosses Mittel behandelt. Er hätte sich nämlich mit seiner frei und bewusst getroffenen Entscheidung zur Organspende deren Zweckes bemächtigt. Eine ausgesprochen entfremdende Situation würde dadurch in eine Geste von höchster Edelmut verwandeln: Nämlich das, was vom eigenen Leben noch übrig bleibt, einem anderen zu schenken, der – in Erwartung eines Spenderorgans – um das eigene Leben ringt. Demgegenüber würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, die künstliche Beatmung einer schwangeren, hirntoten Frau abzubrechen, nur um zu vermeiden, sie zu einer Gebärmaschine zu reduzieren. Freilich handelt es sich dabei um einen relativ seltenen Fall, und das enge Verhältnis zwischen Mutter ungeborenem Kind ist nicht mit dem heutzutage anonymen Verhältnis zwischen Organspender und Organempfänger vergleichbar. Trotzdem kann das Bestehen einer Instrumentalisierung der Frau nicht verneint werden. Und doch sind wir bereit, eine solche Instru43
Auf das Thema der Würde bin ich in einem Aufsatz eingegangen: Das Puzzle der Menschenwürde, in: Interdisziplinäre Wege in der juristischen Grundlagenforschung, hg. v. Paolo Becchi et al., Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 2007, 157–182 sowie, mit spezifischem Bezug auf die hier behandelte Thematik, in meinem Artikel „Morire dopo Harvard“, Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 87 (2-2011), 273–287.
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Paolo Becchi
mentalisierung des Körpers hinzunehmen, weil wir vermuten, dass die Frau dazu sicher ihre Zustimmung gegeben hätte, um ihr Kind auf die Welt bringen zu können. Dieses Beispiel zeigt, besser als alle anderen, was in der Tat bei der Organspende geschieht: Neues Leben entspringt nicht dem Tod, sondern aus dem zu Ende gehenden Leben.44 Doch auch wenn diese ethischen Überlegungen mehrheitsfähig wären, bliebe – rein juristisch betrachtet – ein schwer zu überwindendes Hindernis bestehen: Wenn die Organentnahme vor dem Tod erfolgt, wird ein grundlegendes Prinzip verletzt, auf welchem sämtliche modernen Rechtsordnungen beruhen, nämlich das Recht auf Leben. Es liesse sich so der Vorwurf erheben, auf diese Weise würde eine Form von Sterbehilfe legalisiert. Der redensartlich „gute Tod“ wäre somit ganz und gar sui generis: Er wäre nicht gut im Hinblick auf den Betroffenen, sehr wohl aber auf seine vorteilhaften Konsequenzen für Dritte, d. h. eine Art solidarische Sterbehilfe. Ist es aber angebracht, in diesem Zusammenhang von Sterbehilfe zu sprechen? Dies hängt sicherlich davon ab, wie man diesen Begriff gebrauchen möchte. Angesichts der semantischen Verunreinigung des Begriffs wäre man versucht, diesen auf zwei Anwendungsbereiche zu begrenzen, auf welche das Strafrecht – in verschiedenen Rechtsordnungen und mit teilweise unterschiedlichen Folgen – Bezug nimmt: Die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid. Unter aktiver Sterbehilfe versteht man die auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten erfolgende ärztliche Abgabe von tödlich wirkenden Medikamenten. Bei der Beihilfe zum Suizid verabreicht sich der Patient die tödlichen Mittel selbst; der Sterbehelfer, der in einigen Gesetzgebungen nicht Arzt sein darf bzw. nicht Arzt sein muss (die Schweiz ist hier beispielhaft) – beschränkt sich dabei darauf, die notwendigen Medikamente zu besorgen und dem Patienten bei deren Einnahme zu helfen. Mit einer solchen Eingrenzung des semantischen Bedeutungsfeldes würde eine Reihe von Praktiken, welche üblicherweise als passive Sterbehilfe bezeichnet werden (wie z. B. den Behandlungsabbruch oder die terminale palliative Sedierung), nicht mehr als Sterbehilfe angesehen. Und dennoch, so unmöglich es ist, mit einer schieren Neudefinition des Todes das Problem der Organtransplantation zu lösen, so wenig hilfreich ist eine Neudefinition der Euthanasie beim Anpacken der Probleme, die hinter diesem Begriff stehen.45 Würde man die semantische Bedeutung der Sterbehilfe auf deren aktive Form beschränken, machte es freilich keinen Sinn mehr, von passiver Sterbehilfe zu sprechen, und umstrittene Abgrenzungsfragen würden an Bedeutung verlieren. Die mit dem „Sterbenlassen“ und „Töten“ einhergehenden Probleme würden aber keinesfalls gelöst. Gilt der hirntote Mensch noch als lebendig, so würde die Einstellung der künstlichen Beatmung ein „Sterbenlassen“ und die Organentnahme einem „Töten“ ent44
45
Mein diesbezüglicher Denkansatz findet sich in Becchi (Fn. 13); ebenfalls in zahlreichen späteren Arbeiten, wovon hier nur erwähnt seien „I segni della morte e la questione dei trapianti“, Humanitas 3 (2010), 486–501 sowie, aus juristischer Sicht, Definizione e accertamento della morte: aspetti normativi, in: Trattato di biodiritto, Il governo del corpo, hg. v. Stefano Canestrani et al., Bd. 2, Milano: Giuffrè, 2011, 2053–2085. Aus diesem Grund erscheint mir der von Corrado Viafora unternommene Versuch, das semantische Feld des Sterbehilfebegriffs einzuschränken, nicht überzeugend. Vgl. Corrado Viafora, Il diritto a morire con dignità: quattro tesi sull’etica dell’accompagnamento, in: I diversi volti dell’eutanasia. Prospettive teologiche, etiche e giuridiche, hg. v. Alessandro Argiroffi et al., Roma: Aracne, 2009, 99–128.
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sprechen. Zum Schluss meines Beitrages möchte ich jedoch aufzuzeigen versuchen, warum diese – auf den ersten Blick logisch erscheinende – Folgerung nicht überzeugend erscheint.46 Sie setzt nämlich voraus, dass die Organentnahme Ursache für den Tod des Patienten ist, dass somit – im strafrechtlichen Vokabular – ein Kausalzusammenhang zwischen dem ärztlichen Eingriff und dem Tod des Patienten besteht. Dies ist jedoch diskutabel. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die eigentliche Todesursache nicht die Organentnahme, sondern der schwere und irreparable Hirnschaden ist, welchen der Patient erlitten hat. Man könnte nun entgegnen, dass auch im Fall einer beliebigen unheilbaren Krankheit letztere – und beispielsweise nicht die Sterbehilfe durch den Arzt – die Todesursache ist. Der ärztliche Eingriff bei einem Patienten im Endstadium ist aber zweifelsohne mitverantwortlich für den Tod des Patienten, hätte dieser doch ohne den Eingriff noch eine gewisse Zeit weitergelebt. Bei einem hirntoten Patienten lässt sich Gleiches jedoch nicht sagen. Trennt man ihn vom Beatmungsgerät, tritt der Tod in wenigen Minuten ein. Dies bedeutet, dass der Patient obwohl noch nicht tot, so doch bereits unwiderruflich in den Sterbeprozess eingetreten ist. Die erschütternde Tatsache, dass dieser Prozess manchmal mehrere Wochen, in Einzelfällen Monate oder sogar Jahre dauern kann, vermag an dieser Feststellung nichts zu ändern. Der klinische Befund bleibt unverändert, ohne jegliche Chance auf Änderung. Der Tod ist – nach unseren aktuellen Erkenntnissen – lediglich zeitlich aufgeschoben. Es gibt Fälle, in denen Patienten nach einer langen Zeit aus dem Wachkoma erwachen, aber wenn bei einem Patienten sämtliche Hirnfunktionen aufgehört haben, ist für ihn nichts mehr zu machen. Wenn der Hirntod einmal festgestellt ist, soll die künstliche Beatmung nach einer angemessenen Beobachtungsperiode eingestellt werden. Auf Behandlungen zu beharren, von denen man keinen ersichtlichen Vorteil für den Patienten erwarten kann, wäre schlicht unzumutbar. Wenn sich aber der Patient, als er dazu noch in der Lage war, für die Organentnahme auch in jener Situation der künstlichen Beatmung entschieden hatte, warum sollte seinem Willen nicht gefolgt werden? Wenn der Arzt zur Organentnahme schreitet, tötet er nicht – wie im Fall der Sterbehilfe – einen Patienten, der trotz unendlichen Leiden noch weiterleben würde. Der Arzt beendet hier einzig einen Zustand, welchen er nach Feststellung des irreversiblen Komas ohnehin durch Einstellung der künstlichen Beatmung beenden müsste. Im Fall der aktiven Sterbehilfe verkürzt man das Leben eines Patienten, der zu sterben wünscht. Im Fall der Organentnahme verlängert man das Leben des Patienten noch für eine kurze Zeit. Der Arzt braucht einen guten Grund dafür. Die Organentnahme, dank deren sich Menschenleben retten lassen, ist bestimmt einer.
46
Meine Schlussfolgerungen stimmen mit denjenigen überein von Wolfram Höfling/Stephan Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin. Hirntodkriterium und Transplantationsgesetz in der Diskussion, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, 97 ff.
ALBERTO BONDOLFI, GENF DIE FRAGE DER ORGANTRANSPLANTATION DER HIRNTOD-DEBATTEN
UND DAS
AUFLEBEN
Mit dieser meiner Intervention möchte ich nicht die empirischen und normativen Fragen um die Hirntoddebatte restlos beantworten wollen, sondern sie nur zu klären versuchen. Die Organisatoren haben zwei Interventionen für diese Thematik, sowie für die anderen Probleme, welche an dieser Tagung diskutiert werden, vorgesehen. Dies trägt korrekt zur kontroversen Dimension des Problems bei, kann aber ebenso nicht als ihre vollkommene Lösung betrachtet werden. In der Tat sollte eher von „Debatten“ im Plural als von einer Kontroverse geredet werden. Plural sind die Debatten, da sie in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen je anders verlaufen, und weil sie in verschiedenen Disziplinen je anders angegangen und vertieft werden.1 Obwohl ich eine gewisse Multidisziplinarität und Multikulturalität an dieser Stelle pflegen möchte, werde ich kaum die ganze Breite der Problematik angehen, geschweige denn bewältigen können. 1. ZUR VIELSCHICHTIGKEIT
DER
PROBLEMATIK
Somit möchte ich, als Einführung, einige Dimensionen der Hirntoddebatte kurz schildern, und die damit verbundenen Missverständnisse erwähnen, um sie dann in einem weiteren Punkt zu interpretieren versuchen. Eine erste fundamentale Unterscheidung, welche in der Debatte nicht immer klar wahrgenommen und geschweige denn systematisch berücksichtigt wird, ist diejenige zwischen einer möglichen „Definition“ und einer „Feststellung“ des Hirntodes. Wenn es um diese zwei Ebenen des Diskurses über den Hirntod geht und ihrer Komplexität Rechnung getragen werden soll, dann muss man klar zwischen der empirischen und der meta-empirischen Annäherung an die Gesamtproblematik unterscheiden können und wollen. Über diese vornormativen, genuin meta-physischen Probleme hinaus stellen sich im Bereich der Organexplantation noch weitere Schwierigkeiten. Diese sind normativer Natur und werden dann in einem zweiten Punkt meiner Intervention erwähnt 1
Die Literatur zum Thema ist immens und unüberschaubar. Ich verweise nur auf Titel, welche ich direkt nachschlagen konnte. Vgl. Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, hg. v. Thomas Schlich/Claudia Wiesemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2001; Ralf Stöcker, Der Hirntod. Ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation, Freiburg i. Br./München: Alber Verlag, 1999; für die französischsprachige Diskussion verweise ich auf: Bernard N. Schumacher, Quand cesse-t-on de vivre? Pour une définition de la mort humaine, Nantes: Ed. Cécile Defaut, 2011; Stéphanie Hennete-Vauchey/Graciela Nowenstein, « Dire la mort et faire mourir. » Tensions autour de la mort encéphalique et la fin de la vie en France, Sociétés contemporaines 3 (2009), 37–57; für die italienische Diskussion vgl. Paolo Becchi, Morte cerebrale e trapianto di organi. Una questione di etica giuridica, Brescia: Morcelliana ed., 2008; Rosangela Barcaro/Paolo Becchi/Paolo Donadoni, Prospettive bioetiche di fine vita. La morte cerebrale e il trapianto di organi, Milano: F. Angeli ed., 2008. Neuerdings vgl. ebenso: Feinendegen, Norbert – Höver, Gerhard: Der Hirntod – Ein „zweites Fenster“ auf den Tod des Menschen? Zum Neuansatz in der Debatte um das neurologische Kriterium durch den US-Bioethikrat, Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag, 2013.
140
Alberto Bondolfi
und problematisiert. Bereits jetzt kann man jedoch feststellen, dass eine medizinisch korrekt durchgeführte Hirntoddiagnose zwar eine notwendige, zugleich aber keine ausreichende Bedingung für die moralische Legitimität einer Organexplantation darstellt. Alle diese verschiedenen Schichten der Problematik sind stets in einer gemischten Form anzutreffen und können nicht leicht und evident auseinanderdividiert werden. Aufgabe der reflektierenden Disziplinen, wie etwa Ethik und Rechtsphilosophie, ist es diese Vielschichtigkeit transparent zu machen und somit einen Beitrag zur Minimierung der Komplexität in diesem Lebensbereich zu leisten. 2. TODESDEFINITION
UND
TODESFESTSTELLUNG
Wenn man die Dokumente der medizinischen Standesorganisationen anschaut, welche versucht haben, die Praktiken der Organtransplantation zu regulieren, und zwar bevor die Staaten mit demokratisch verabschiedeten Gesetzen gekommen sind, wird man feststellen müssen, dass oft die Rede von einer „Definition“ des Todes ist.2 Sehr wahrscheinlich war den Verfassern dieser Richtlinien oder Dokumente nicht klar bewusst, was mit dem Ausdruck „Definition“ gemeint ist und was eine Definition eines Phänomens an Folgeproblemen mit sich bringt. In der Tat stehen wir alle, Mediziner/innen und „Laien“, vor einer „gemischten“ Realität. Sie hat ein sichtbares und ein nichtsichtbares Gesicht. An dieser Stelle hilft uns die deutsche Sprache: für die sichtbare Seite dieser Wirklichkeit haben wir das Wort „Sterben“ zur Verfügung, für die unsichtbare und mit den Sinnen unerreichbare Seite das Wort „Tod“. Warum führe ich hier eine solche Unterscheidung? Sicherlich nicht aus purer Pedanterie oder Besserwisserei. Im Gegenteil: ich möchte die spezifische Annäherungseise an das Phänomen des Todes durch verschiedene Disziplinen am besten honorieren, indem ich ihre jeweilige Spezifität hervorhebe. Die Medizin verstehe ich als empirisch beobachtende und interpretierende Handlungswissenschaft, welche die „signa certa corporis“, also die sichtbaren Zeichen des „Bios“, des empirisch beobachtbaren Leibes, interpretieren kann und soll. Sie ist in der Lage glaubhaft zu behaupten, wann Signale oder das Fehlen von Signale vorhanden sind, welche ein weiteres menschliches Leben im Selbstbewusstsein ermöglichen oder eben nicht. Sie definiert insofern ein Phänomen nicht, sondern deutet die empirisch beobachtbaren Phänomene als notwendige Bedingungen für die Möglichkeit eines selbstbewussten Lebens. Mit anderen Worten ist medizinisches Wissen nicht in der Lage, mit den eigenen Methoden und Messinstrumenten den Tod zu definieren, sondern sie ist „nur“ in der Lage, Kriterien für die Reversibilität oder Irreversibilität von Situationen, welche ein Leben ermöglichen, festzulegen. Wenn man die medizinische Literatur der letzten Jahre beobachtet, wird man feststellen müssen, dass langsam die Vorstellung vorherrscht, nach der die Medizin in erster Linie den Tod nicht definieren muss und darf, sondern, dass sie Kriterien besitzt, um ihn glaubhaft feststellen zu können.3 2
3
Vgl. Vor allem die Richtlinien der schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften in www.samw.ch sowie, für Deutschland, die Dokumente der Bundesärztekammer in: http:// www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.3285. Vgl. grundsätzlich Matthias Kliegel, „Ist der Mensch sein Gehirn? Anthropologische Bemerkungen zur Ethik der Hirnforschung aus der Sicht eines Theologen“, Ethik in der Medizin 2
Die Frage der Organtransplantation und das Aufleben der Hirntod-Debatten
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Welcher ist der Ertrag dieser neuen Perspektive, mit der nun die Medizin die Problematik betrachtet? Ich würde sagen, dass der Ertrag einerseits bescheiden und anderseits ohne weiteres hilfreich ist. Was meine ich mit dieser doppelten Eingrenzung? Der Ertrag einer Perspektive, welche sich damit begnügt, den Tod festzustellen, statt ihn definieren zu wollen, ist in philosophischer Hinsicht bescheiden, weil diese Perspektive das sogenannte „Geheimnis des Todes“ kaum lüftet. Sie beschränkt sich darauf, ihn via negationis anzunehmen, da die notwendigen Bedingungen, um vom menschlichen Leben reden zu können, irreversibel nicht mehr vorhanden sind und kaum mehr auftreten werden. Entscheidend ist hier das sichere Feststellen der Irreversibilität eines Zustandes, welches das Wiederauftreten des menschlichen Lebens definitiv ausschliesst. Statt zu behaupten, dass der Patient sicherlich tot ist, sagt man, dass er sicherlich nicht mehr leben kann und wird. Diese „bescheidene“ Behauptung ist aber, in ethisch-normativer Hinsicht, ohne weiteres nützlich, hilfreich und ausreichend. Um die moralischen Pflichten der ganzen medizinischen Equipe, welche die sterbende Person begleiten, festlegen zu können, reicht eine korrekte Feststellung des erreichten Irreversibilitätszustandes aus, um weitere Bemühungen zur Lebensverlängerung bzw. -rettung des Patienten zu beenden. Ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass das Fortsetzen der intensivmedizinischen Massnahmen nach einer solchen korrekten Feststellung, ethisch gesehen, eine Form des „acharnement thérapeutique“, also der therapeutischen Verbissenheit, darstellt, und insofern ethisch kaum zu rechtfertigen wäre. Somit sieht man, dass das Kriterium der Feststellung der fehlenden Tätigkeit des Hirns nicht nur im Falle einer Organexplantation heranzuziehen ist, sondern, darüber hinaus, jedes Mal, wenn die physiologischen Funktionen eines menschlichen Körpers ausschliesslich durch die Hilfe von Maschinen gewährleistet werden können, währendem die organisierende Funktion des Gehirns nicht mehr festzustellen ist. Die Tatsache, dass das Hirntodskriterium anlässlich der ersten Erfahrungen mit der Organexplantation herangezogen worden ist, soll nicht als „Beweis“ für eine instrumentalisierende Absicht derjenigen Ärzt/innen ausgelegt werden, welche das Kriterium zum ersten Mal eingeführt haben.4
4
(2000), 75–87; die standesrechtlichen Texte der verschiedenen europäischen Länder, sowie die jeweiligen rechtlichen Regulierungen sind, in ihrer Terminologie, nicht immer gleich von der Vielschichtigkeit der sogenannten „Definitionen“ bzw. „Feststellungen bewusst. Für eine umfassende Darstellung der verschiedenen Positionen in Europa vgl. Constantin Doumat, Diagnostik des Hirntodes im internationalen Vergleich, Dissertation, Münster 2005: http://miami.uni-muenster. de/servlets/DerivateServlet/Derivate-2675/diss_doumat/diss_doumat_constantin.pdf Vgl. für eine historische Rekonstruktion und eine entsprechende Interpretation folgende Beiträge: Robert Spaemann, Ist der Hirntod der Tod des Menschen? Zum Stand der Debatte, in: Normkultur versus Nutzenkultur, hg. v. Thomas S. Hoffmann/Walter Schweidler, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2006, 457–470; für eine Gesamtdarstellung der letzten Etappen der Debatte über diesen Zusammenhang vgl. Laura Bossi, „Mort ou vivant? Les critères de la mort à l’ère des greffes d’organe“, Le Débat 163 (2011) 173–188; Zur interkulturellen Gültigkeit dieses Ansatzes vgl. Christian Steineck, Ist der Hirntod ein kulturübergreifendes Todeskriterium? Japanische Perpektiven, in: Gibt es universale Bioethik?, hg. v. Nikola Biller-Andorno/Peter Schaber/ Annette Schulz-Baldes, Paderborn: Mentis Verlag 2008, 119–134.
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Alberto Bondolfi
In der Tat, auch wenn die Nähe zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhänge manchmal zu vorschnellen Verwechselungen zwischen beiden Momente führen können, ist es ratsam, beide Perspektiven nicht zu vermischen. Bereits die Scholastik kritisierte den Sillogismus nachdem „post hoc, ergo propter hoc“ als irreführend.
3. DER KONTRAINTUITIVER CHARAKTER MENSCH-MASCHINE
DES
HIRNTODES
UND DIE
BEZIEHUNG
Warum also verbleibt, sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den Angehörigen, sowie bei einem Teil der öffentlichen Meinung, ein Unbehagen angesichts einer solchen Todesdiagnostik bestehen? Ich werde hier zwei möglichen Ursachen feststellen und sie als plausibel erklären. In erster Linie wird jeder von uns den kontraintuitiven Charakter der „signa certa corporis“, d. h. der äusserlichen Merkmale des Leibes des unter diesen Umständen Verstorbenen feststellen und annehmen müssen. Der Leib der Personen, welche in einer Intensivstation keine Hirntätigkeit mehr aufweisen, zugleich aber funktionierende Organe haben, sehen kaum als Sterbende geschweige denn als Leichen aus. Sie werden eher als „beaux au bois dormant“, also als ruhig schlafende Patient/innen wahrgenommen. Diese Fiktion, welche darin besteht, ein noch vorhandenes Leben wahrzunehmen, ist ausschliesslich den Maschinen zuzuschreiben, welche diese Illusion aufrechterhalten. Die Wirksamkeit der Apparate ist so mächtig, dass man hinter den positiven „signa corporis“ (Wärme, Atmung, Schwitzen usw.) ein noch vorhandenes Bewusstsein vermutet. Hier liegt die psychologische Wurzel des Unbehagens der Vorstellung eines Todes, das das eigene Gesicht nicht zeigt und nicht zeigen kann. Die Wirksamkeit dieser „Apparate“ geht so weit, dass man ihre Wirkung zu leugnen versucht wird. Das Atmen der „Patienten“ (sie werden weiterhin so genannt), ihre Farbe und ihre physiologischen Funktionen des Körpers werden als „Lebenszeichen“ wahrgenommen und entsprechend interpretiert. Man erwartet, dass sie mit der Zeit „echt tot“ werden und nimmt kaum wahr, dass ein solcher Zustand noch sehr lange dauern könnte, und dass die klassischen Merkmale einer Leiche erst durch die Abschaltung der Maschinen zu gewinnen und wahrzunehmen sind. Pflegende sind in der Regel daran gewöhnt, Leibeszeichen zu interpretieren. So wird hohes Fieber mehr oder weniger automatisch als mögliches Zeichen einer Infektion oder eines anderen pathologischen Zustandes interpretiert. Diese verinnerlichte und routinisierte Interpretationsfähigkeit wird aber in unserem spezifischen Kontext beinahe „ausgeschaltet“ und an der Stelle tritt eine fast mythologische Interpretation der Situation dieser Patient/innen. Die gleiche Einstellung kann ebenso bei Verwandten dieser Patient/innen beobachtet werden. Selbstverständlich leiden sie am Zustand der geliebten Person, die als „im Sterben liegend“ wahrgenommen wird. Hier scheint mir eine korrekte Information der Verwandten unbedingt notwendig. Nach einer korrekten Feststellung der fehlenden Tätigkeit des gesamten Hirns sollte eine klare Mitteilung des Hinschieds des Patienten/in geschehen und ein angemessener Abschied von ihm ermöglicht werden. Ich nenne an dieser Stelle nur einige Folgen einer unreflektierten Einstellung den in einer Intensivstation verstorbenen Patient/innen gegenüber, welche für eine
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angemessene ethische Bewältigung der Probleme der Transplantationsmedizin sehr hinderlich und sogar schädlich sind. Bei einer Orientierung nur an äusserliche Merkmale werden verstorbene Personen als „Patient/innen“, welche durch Vorbereitungsmassnahmen zur Organexplantation missbraucht oder sogar in ihrer Menschenwürde verletzt werden, wahrgenommen und entsprechend definiert. Eine solche Orientierung an die spontane Sinneserfahrung prägt auch andere Fragen der Pflegenden, welche mit echten Schuldgefühlen an den Ethiker oder an die Ethikerin appellieren, um auf die Frage nach der moralischen Berechtigung der pflegerischen Massnahmen an solche „Patienten“ eine klare ablehnende Antwort zu erhalten. Oft werden an dieser Stelle psychologische Befindlichkeiten mit ethischen Argumenten ausgetauscht: „es kotzt mich an, solche Patient/innen zu pflegen, also ist es unmoralisch es zu tun“.5 Ich gebe zu, dass eine korrekte Einstellung in diesem Kontext ebenso ein grosses und qualifiziertes Abstraktionsvermögen verlangt, und dies nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Um diesen Zustand zu überwinden, haben sowohl Standesorganisationen als auch staatliche Stellen an eine bessere Information appelliert. Die Resultate dieser Anstrengungen bleiben aber eher bescheiden und kulturell je nach Region, sowohl in der Schweiz also auch anderswo in Europa, anders geprägt. Wie ist eine solche unbefriedigende Situation zu interpretieren und vor allem zu überwinden? 4. WARUM
DIESE
KONTROVERSE? MÖGLICHE AUSWEGE
DERSELBEN
Nach einigen Jahren der Auseinandersetzung bin ich zur Überzeugung gekommen, dass die Hauptursache dieser Missverständnisse in der Diskussion um den Hirntod nicht in erster Linie in einer ungenügenden medizinischen Information der Bevölkerung zu suchen ist, sondern dass die Ursache der fehlenden Akzeptanz des Hirntodeskonzepts eine genuin philosophische ist. Ich erkläre diese meine These mit einigen knappen und vereinfachenden philosophiegeschichtlichen Hinweisen. Lange bevor die heutigen Diskussionen um den Hirntod stattgefunden haben, hatte die Philosophie und Theologie, zumindest bis in die Moderne hinein, ein Erklärungsmuster zur Verfügung gestellt, um den Tod angemessen interpretieren zu können. Es handelt sich um das Begriffspaar „Leib und Seele“, welche bei lebenden Personen eine innige und untrennbare Einheit darstellen.6 Der Tod wird, in der Perspektive dieses philosophisch-theologischen Ansatzes, als „Trennung von Leib und Seele“ interpretiert, die je nach Denktradition zu je anderen Grundeinstellungen der Auffassung des Hirntodes gegenüber führen. Ich stelle 5
6
Eine eingehende Information und Sensibilisierung sowohl des Pflegepersonals als auch der involvierten Verwandten ist eine notwendige Voraussetzung zur ethischen und politischen Akzeptanz der Transplantationsmedizin überhaupt. Vgl. für eine Analyse der schweizerischen Situation: Donazioni e trapianti d’organo: visioni filosofiche, etiche e religiose, hg. von Roberto Malacrida/Sebastiano Martinoli/Roberta Wullschleger, Comano: Edizioni Alice, 1997 (= Corbaro 7), sowie: Etica e trapianti = Ethique et transplantation = Ethik und Transplantationsmedizin, hg. von Alberto Bondolfi/ Roberto Malacrida/Adrien Rohner, Comano: Edizioni Alice, 1993 (= Corbaro 4). Vgl. zu den Zusammenhängen zwischen der philosophischen und theologischen Interpretation der Kategorie „Seele“ einerseits und der medizinischen Auseinandersetzung mit ihr andererseits die eingehende Analyse von Laura Bossi, Histoire naturelle de l’âme, Paris: PUF, 2003 (= science histoire et société).
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Alberto Bondolfi
vor allem zwei Grundeinstellungen fest, welche je nachdem entweder die Vorstellung des Hirntodes begünstigen oder erschweren. In einer ersten Perspektive, welche ich vereinfachend als „aristotelisch-materialistisch“ nennen würde, ist die Seele kaum eine magische Grösse, sondern lediglich das Organisationsprinzip der menschlichen Leiblichkeit. „Anima forma corporis“: die Seele ist also ein Gestaltungsprinzip, eine notwendige Voraussetzung damit die Äusserungen unseres Leibes auf eine organisierte Einheit zurückgeführt werden können. Aufgrund dieser Auffassung wird dann der Tod als ein Prozess der Desintegration oder der Desorganisation dieser Einheit verstanden. Der menschliche Leib ist nicht mehr gestaltet, wird formlos zur Leiche.7 In einer zweiten Variante, welche ich wiederum vereinfachend als „platonische“ und noch mehr als „cartesianische“ nennen würde, ist die Seele eine Grösse, welche unabhängig vom Leib als selbständige Grösse bestehen kann. Der Leib wird eher als „Gefängnis der Seele“ wahrgenommen. Das Christentum, in der Vielfalt der verschiedenen theologischen und kirchlichen Traditionen, im Osten und im Westen, hat sowohl Elemente des platonischen als auch des aristotelischen Ansatzes übernommen, um sie für die Formulierung oder Reformulierung der eigenen theologischen Doktrinen zu benutzen. Wie wirken diese beiden Ansätze heute bei der Wahrnehmung und Auslegung der neuen intensivmedizinischen Auffassungen und Praktiken? Diejenige Philosoph/innen und Theolog/innen, die eher aristotelisch geprägt sind, werden weniger Probleme oder Mühe mit der Auffassung des Hirntodes haben als Intellektuelle, welche eher platonisch geprägt sind oder vom modernen cartesianischen Dualismus beeinflusst werden. Lassen sich mit diesen knappen philosophie- und theologiegeschichtlichen Hinweisen die eigentlichen Ursachen für das Unbehagen mit dem Hirntod erklären? Ich glaube es nicht. In der Tat, wenn man die medizinischen Praktiken näher betrachtet, wird man feststellen müssen, dass diese einige Grundfunktionen des menschlichen Leibes an Maschinen delegiert haben, welche diese Funktionen optimal erfüllen können, so dass man dazu geneigt wird, solche Funktionen als selbstständige Leistungen des menschlichen Subjekts zu betrachten. Der Tod wird somit unsichtbar und unerfahrbar gemacht, da die „signa certa corporis“ zu „signa ficta corporis“ werden. Laura Bossi spricht zu Recht von einer „Parzellierung des Todes“8 in den heutigen Lebenswissenschaften. Es entstehen also in der Ausübung der heutigen Intensivmedizin sogenannte „kontraintuitive“ Situationen, in denen die sichtbaren Zeichen, welche man mit den Sinnen wahrnimmt, eine neue und kaum spontane Interpretation verlangen und nicht mehr mit dem „Alltagswissen“ unserer Sinnenwahrnehmung interpretiert und bewältigt werden können. 7
8
Ich bin in dieser Einschätzung der klassischen aristotelisch-thomanischen Seelenauffassung als mit den heutigen Formulierungen der Neurowissenschaften zum Verhältnis zwischen Hirn und „Mind“ kompatibel nicht allein. Vgl. unter vielen Autoren etwa: Tobias Kläden, Mit Leib und Seele … Die mind-brain-Debatte in der Philosophie des Geistes und die anima-forma-corporis-Lehre des Thomas von Aquin, Regensburg: Friedrich Pustet, 2005 (ratio fidei 26). Zur Gesamtproblematik vgl. Hirnforschung und Menschenbild: Beiträge zur interdisziplinären Verständigung, hg. von Adrian Holderegger, Fribourg: Academic Press, 2007. Vgl. Bossi (Fn. 6), 387 ff. wo sie von der « mort morcelée » redet.
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Die Grenzen zwischen der empirischen Beobachtung und ihrer Interpretation verwischen sich zunehmend; und erst nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit dieser Problematik wird man zu gemeinsam getragenen Aussagen kommen können. Um diese komplexe und kontroverse Auseinandersetzung zu vereinfachen, schlage ich vor, die Worte „Leben“ und „Tod“ nicht zu meiden (es wäre praktisch unmöglich eine solche Askese auszuüben), sondern sich des analogen Umgangs mit ihnen immer mehr bewusst zu werden. In der Tat, in unserer Alltagssprache kommt die analoge Bedeutung beider Worte immer zum Zuge. Auch nach einer korrekten Feststellung der fehlenden Tätigkeit des Gehirns weist der menschliche Organismus Phänomene auf, welche wir als „Formen des Lebens“ wahrnehmen und deuten. Nur bedeutet nun „Leben“ nicht dasselbe, als das was wir annehmen, wenn wir vom „Leben einer Person“ reden. Die normativen Folgen dieser komplexen Wahrnehmung des Lebensendes sind ebenso vielfältig und sind indirekt mit den Interpretationen der jeweiligen Phasen dieses Auslöschens verbunden. Solange eine begründete Hoffnung auf eine „Restitutio“ besteht, versuchen alle medizinischen Akteure „Leben zu retten“. Wenn man die abnehmende und immer mehr irreversible Tätigkeit des Gehirns feststellt, informieren die Medizinfachleute die Angehörige, dass der Tod des Patienten bald eintreffen wird. Mit der nötigen Sensibilität und Takt werden sie versuchen, den mutmasslichen Willen des Sterbenden im Hinblick auf eine mögliche Organexplantation zu eruieren. Erst dann sind Vorbereitungsmassnahmen zu einer solchen Explantation moralisch zulässig und werden entsprechend auch von bestehenden Gesetzen reguliert. Die Feststellung der eingetretenen Hirnuntätigkeit kann dann als eine notwendige, wenn auch nicht restlos ausreichende Phase in einem vielschichtigen Prozess akzeptiert werden. Ethisch begründete Respekteinstellungen der Leiche gegenüber sind auch nach der Hirntoddiagnose notwendig. Wenn Respekt dem Sterbenden sowie den Angehörigen gegenüber stets am Werke sein wird, wird auch die Akzeptanz des Hirntodskriteriums zunehmen. Ein echter Konsens wird aber erst dann wahrscheinlich, wenn die philosophische Dimension dieser Problematik von allen Akteuren wahrgenommen und eingehend reflektiert wird.
3. BIOETHISCHE PROBLEME
AM
EN LIEN AVEC LA FIN DE VIE
LEBENSENDE/PROBLÈMES
BIOÉTHIQUES
ROBERTO ANDORNO, ZÜRICH ÜBERLEGUNGEN ZUM UNTERSCHIED ZWISCHEN VERBINDLICHEN NICHT-VERBINDLICHEN PATIENTENVERFÜGUNGEN
UND
1. VORBEMERKUNGEN Heute ist generell anerkannt, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht nur das Recht auf informierte Zustimmung zu medizinischen Behandlungen beinhaltet, sondern auch die Möglichkeit, bestimmte Behandlungen zu verweigern. Dieses Recht Behandlungen abzulehnen ist dann besonders wichtig, wenn die Behandlung von den Patienten als extrem belastend, sinnlos und damit als psychologisch schädlich empfunden wird. Die Zustimmung und die Verweigerung der Zustimmung gelten heute als zwei Facetten desselben Patientenrechts, nämlich des Rechts auf Selbstbestimmung. Die Ablehnung von Behandlungen ist zu beachten, auch dann, wenn sie sich nachteilig auswirken kann oder dadurch sogar die Lebensdauer des Patienten verkürzt wird. Beispielsweise hat ein urteilsfähiger Patient, der an einer Krebserkrankung leidet, das Recht, eine Chemotherapie oder eine Operation zu verweigern, auch wenn diese Massnahmen gute Chancen zur Verbesserung seiner Überlebenschancen bieten. Anders gesagt: Die Entscheidung eines urteilsfähigen Patienten, eine Behandlung abzulehnen, ist im Allgemeinen verbindlich und muss vom Arzt selbst dann befolgt werden, wenn die Behandlung medizinisch indiziert ist und der Verzicht darauf zum Tod des Patienten führen kann, weshalb die Behandlung in den Augen des Arztes unbedingt notwendig scheint. Während also klar ist, dass der urteilsfähige Patient für sich selbst verbindlich entscheiden kann, stellt sich die Frage, wie es sich verhält, wenn der Patient seine Urteilsfähigkeit verloren hat. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn er bewusstlos und sein Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit (oder sogar mit Sicherheit) irreversibel ist (z. B. Koma, permanenter vegetativer Zustand, schwere Kopfverletzung). Wer soll für ihn in solchen Fällen Entscheidungen treffen? Welche Kriterien leiten den Entscheidungsprozess? Was ist, wenn sich die Familienmitglieder über die verschiedenen Optionen nicht einigen können? Was ist, wenn Ärzte und Verwandte unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was das Beste für den Patienten ist? An dieser Stelle kommt der Nutzen von Patientenverfügungen ins Spiel. Patientenverfügungen ermöglichen es, für diesen Zustand antizipativ eine Willenserklärung abzugeben. In einer Patientenverfügung kann die Einwilligung in eine bestimmte medizinische Massnahme erteilt werden oder (praktisch noch häufiger) deren Ablehnung verfügt werden. In dieser Präsentation werde ich mich auf die Patientenverfügung stricto sensu (die in der internationalen Literatur als living will bezeichnet wird) konzentrieren und mich nicht mit dem Vorsorgeauftrag (durable power of attorney) beschäftigen. Die beiden Instrumente verkörpern unterschiedliche Formen, eine antizipative Einwilligung oder Ablehnung von medizinischen Massnahmen zu verfügen, und stellen unterschiedliche ethische und rechtliche Problemen.
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Roberto Andorno
2. PATIENTENVERFÜGUNGEN:
VERBINDLICH ODER NICHT-VERBINDLICH?
Ziel dieses Referats ist es, persönliche Überlegungen über einen bestimmten Aspekt dieser Thematik vorzustellen, der eine besondere rechtsphilosophische Relevanz hat: die Verbindlichkeit der Patientenverfügungen. Was bedeutet es genau, wenn gesagt bzw. rechtlich geregelt wird, dass eine Patientenverfügung „verbindlich“ ist? Ist der häufige erwähnte Unterschied zwischen verbindlichen und nicht-verbindlichen Patientenverfügungen wirklich sinnvoll? Diese Diskussion ist nicht rein akademischer Natur. In den letzten Jahren haben viele europäische Länder begonnen, Patientenverfügungen gesetzlich zu regulieren. Ein zentraler Punkt in den Debatten ist immer, ob solche Verfügungen „verbindlich“ oder „nicht verbindlich“ sein sollen. Die Beteiligten an dieser Kontroverse bringen Argumente für oder gegen die Verbindlichkeit. Derzeit anerkennen in Europa bereits einige Länder eine formale Bindungswirkung von Patientenverfügungen (z. B. Deutschland, Grossbritannien, Spanien, Belgien, Niederlanden und die Schweiz). Andere Länder aber weigern sich, eine bindende Wirkung von Patientenverfügungen anzuerkennen (Frankreich, und voraussichtlich auch Italien, wenn der aktuelle Gesetzesentwurf von Parlament verabschiedet wird).1 Der Dualismus zwischen verbindlichen und nicht-verbindlichen Patientenverfügungen hat auch auf der Ebene des Europarates während der Ausarbeitung der Biomedizin-Konvention (Oviedo-Konvention) von 1997 die Diskussionen beherrscht. Die Mitgliedstaaten des Europarats haben schliesslich eine Kompromisslösung in Artikel 9 verankert.2 Meine Hypothese ist, dass die Unterscheidung zwischen „verbindlichen“ und „nicht-verbindlichen“ Patientenverfügungen irreführend oder zumindest nicht so wichtig ist, wie sie dargestellt wird. Diese Unterscheidung ist in der Tat nicht Schwarzoder-Weiss, alles-oder-nichts, sondern eher eine graduelle Frage. Sie ist nicht qualitativ, sondern eher quantitativ. Ich vertrete die Meinung, dass Patientenverfügungen, wenn sie vom Gesetz anerkannt werden (oder vom Gesetz nicht ausdrücklich verboten sind), prinzipiell immer verbindlich sind, in dem Sinne, dass sie beachten werden müssen, ausser wenn das Gesetz unter bestimmten Umständen dem Arzt erlaubt, den antizipierten Willen im Einzelfall nicht umzusetzen. Das entscheidende Thema ist also nicht so sehr, ob Patientenverfügungen als „verbindlich“ oder „nicht verbindlich“ betrachtet werden, sondern welche Gründe der Arzt angeben darf, um eine Patientenverfügung nicht umzusetzen. Wenn Ärzte willkürlich und ohne Angabe von seriösen Gründen entscheiden dürften, ob sie die Patientenverfügungen im konkreten Fall umsetzen werden oder nicht, dann wäre die Abfassung solcher Dokumente sinnlos. Es ist an dieser Stelle wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die primäre Rechtfertigung von Patienten1
2
Roberto Andorno/Nikola Biller-Andorno/Susanne Brauer, „Advance Health Care Directives. Towards a Coordinated European Policy?“, European Journal of Health Law 16 (3) (2009), 207– 227. Roberto Andorno, Regulating Advance Directives at the Council of Europe, in: Life, Death and Dignity. Regulating Advance Directives in National and International Law, hg. v. Stefania Negri, Leiden: Brill Academic Publishers, 2012, 73–85.
Verbindliche und nicht-verbindliche Patientenverfügungen
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verfügungen in der Respektierung der Patientenselbstbestimmung (oder Patientenautonomie) liegt. Wenn Patienten das Recht haben, eine bestimmte medizinische Behandlung abzulehnen, dann erscheint es sinnvoll, dass sie auch über ein Mittel verfügen, um dieses Recht weiter auszuüben, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Zusätzlich zur Förderung der Autonomie zielt die Patientenverfügung darauf ab, das Wohl der Patienten zu unterstützen. Es geht also nicht nur um die bloss Patientenautonomie, sondern auch um das Patientenwohl (beneficence). Oder besser gesagt: Das Wohl der Patienten wird durch die Respektierung ihrer Autonomie gefördert. Die vorsorgliche Willensbekundung ermöglichen dem Patienten, bestimmte medizinische Massnahmen zu verweigern, da er solche Behandlungen eher als schädlich denn als hilfreich empfindet. Anders gesagt ist die Patientenverfügung ein Werkzeug, um dem Patienten zu ermöglichen, selber im Voraus zu bestimmen, welche Behandlungen in einem Zustand von Urteilsunfähigkeit in seinem „besten Interesse“ sind. Ich denke, dies ist die grundlegende Rechtfertigung der Patientenverfügung. Es geht also nicht darum, Autonomie um der Autonomie willen zu gewährleisten, also um Autonomie als Selbstzweck. Es geht darum, die selbstbestimmten Präferenzen zu beachten, weil sie ein wertvoller Hinweis sind auf das Wohl des Patienten. Die Betonung der Patientenautonomie ist in diesem Bereich deshalb besonders stark, weil das Patientenwohl kein rein objektiver Begriff ist. Im Gegenteil, das Patientenwohl beinhaltet gerade auch eine wichtige subjektive Komponente: die persönlichen Präferenzen, Wünsche, Erwartungen und Ängste jedes einzelnen Patienten sind wesentliche Elemente in der Bestimung der besten Interessen eines individuellen Patienten. Mit anderen Worten: Jeder Patient ist letzlich der einzige, der bestimmen kann, was in seinem eigenen Interesse liegt oder eben nicht. Sogar die antizipierte Entscheidung, lebenserhaltender Massnahmen zu verweigern weil sie als extrem belastend oder unverhältnismässig betrachtet werden, kann aus dieser Perspektive den besten Interessen des Patienten dienen. Aber natürlich ist es in der Praxis nicht immer einfach zu bestimmen, was im besten Interesse eines urteilsunfähigen Patienten liegt, auch wenn er eine Patientenverfügung verfasst hat. Die Anordnungen in der Patientenverfügung sind nämlich häufig ziemlich vage und allgemein formuliert. Wie jedes Schriftstück müssen deshalb auch Patienverfügugnen interpretiert werden. Wendungen wie beispielsweise „Wenn keine Aussicht auf Besserung im Sinne eines für mich erträglichen und umweltbezogenen Lebens besteht, möchte ich keine lebensverlängernden Massnahmen …„ haben deshalb eine zweifehlhafte Bindungswirkung.3 Um dieses Problem zu umgehen, wird oft empfohlen, eine Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht zu kombinieren. Dadurch kann der Patientenbetreuer bei der Interpretation der Patientenwünsche helfen. Möglich ist ferner, dass zweifelhaft ist, ob die Bestimmungen bzw. Anordnungen in der Patientenverfügung sich auf den aktuellen Zustand des Patienten beziehen, d. h. ob er tatsächlich eine solche Situation wie die jetzt vorliegende vor Augen hatte, als er die Verfügung erliess.
3
Wolfram Höfling, „Das neue Patientenverfügungsgesetz“, Neue Juristische Wochenschrift 62 (2009), 2849–2852.
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Roberto Andorno
Ferner können begründete Zweifel bestehen, ob die Wünsche des Patienten heute anders wären, wenn er seinen heutigen Zustand und die therapeutischen Möglichkeiten und Alternativen kennen würde. Hier liegt meiner Ansicht der Kern des Problems mit der Umsetzung von Patientenverfügungen. Im Hinblick auf diese Problematik enthält der britische Mental Capacity Act (2005) einige interessante und hilfreiche Kriterien für die Bestimmung des besten Interesse des Patienten. Z. B. gemäss Abschnitt 4 sind weder das Alter noch die Erscheinung Kriterien, die alleine herangezogen werden dürfen, um das beste Interesse der Patienten zu bestimmen. Das heisst: Man darf nicht annehmen, dass nur weil ein Patient z. B. sehr alt ist, die Unterbrechung von lebenserhaltenden Massnahmen in seinem besten Interesse ist.4 Aber das britische Gesetz bietet nicht nur negative, sondern auch positive Kriterien für die Identifizierung des besten Interesse des Patienten. In Abschnitt 4 heisst es, dass die Person, die entscheiden muss, die folgenden Aspekte berücksichtigen muss: a) Die Wünsche und Gefühle der Person, insbesondere die, die er schriftlich formuliert hat, als er urteilsfähig war. b) Die Überzeugungen und Werte, die ihre Entscheidung beeinflussen würden, wenn sie urteilsfähig wäre.5 Besonders wichtig ist der Abschnitt 4.5, der sich spezifisch auf die Entscheidung über lebenserhaltende Massnahmen konzentriert: „Die Bestimmung, ob lebenserhaltende Massnahmen im besten Interesse der Person sind, darf nicht motiviert sein vom Wunsch, den Tod des Patienten herbeizuführen“.6 Dies bedeutet, dass die Entscheidung über den Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen keinesfalls auf der Annahme basieren darf, dass das Leben von terminalen Patienten nicht „lebenswert“ ist. Die Entscheidung darf nur die Vorteile und Nachteile der Behandlung selbst betrachten und nicht durch ein negatives Werturteil über die Existenz des Patienten motiviert sein. Diese Forderung versucht, ein schwieriges Gleichgewicht zu erreichen zwischen – auf einer Seite – der legitimen Sorge, Patienten übertriebene oder belastende medizinische Massnahmen zuzumuten und – auf der anderen Seite – der Verhinderung von Tötungen von urteilsunfähigen Patienten durch Unterlassen. Es ist klar, dass es in der Praxis extrem schwierig ist, die Erfüllung dieser Bedingung nachzuprüfen, weil sie rein subjektiv sind. Aber sie spielen dennoch eine wichtige pädagogische oder propädeutische Rolle und können im Entscheidungsprozess helfen. Es ist auch wichtig zu betonen, dass es im Bereich der vorsorglichen medizinischen Massnahmen (wie in allen anderen Bereichen) keine absolute Autonomie gibt. 4
5
6
Section 4.1.: „In determining for the purposes of this Act what is in a person’s best interests, the person making the determination must not make it merely on the basis of: (a) the person’s age or appearance (…)“. Section 4.6.: „He must consider, so far as is reasonably ascertainable: (a) the person’s past and present wishes and feelings (and, in particular, any relevant written statement made by him when he had capacity); (b) the beliefs and values that would be likely to influence his decision if he had capacity“. Section 4.5.: „Where the determination relates to life-sustaining treatment he must not, in considering whether the treatment is in the best interests of the person concerned, be motivated by a desire to bring about his death“.
Verbindliche und nicht-verbindliche Patientenverfügungen
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Das heisst: Nirgendwo ist eine Patientenverfügung unter alle Umstände verbindlich. Folgende Beispiele können dies verdeutlichen: a) Das erste Beispiel sind die „pflegerischen Massnahmen“ (basic care). Sie müssen dem bewusstlosen Patienten auch dann zur Verfügung gestellt werden, wenn er solche Massnahmen in einer Patientenverfügung verweigert hat. Es handelt sich z. B. um Hygienemassnahmen, Unterkunft, Unterstützung der Körpertemperatur, Ernährung und Versorgung mit Wasser (zumindest dann, wenn eine orale Versorgung möglich ist). Diese Massnahmen sind nicht Bestandteil einer „medizinischen Behandlung“ und fallen deshalb ausserhalb des Anwendungsbereichs der Patientenverfügung. b) Eine weitere Grenze der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sind natürlich die Verfahren, die bereits rechtswidrig sind. Ein guter Beispiel dafür ist die aktive Euthanasie, die in fast allen Ländern verboten ist. Daher wäre ein solcher Wunsch in einer Patientenverfügung nicht zu beachten. c) Positive Wünsche (beispielsweise der Wunsch nach einer bestimmten Therapie oder medizinischen Massnahme) sind nicht verbindlich für den Arzt. Er kann solche Wünsche berücksichtigen, aber ist nicht verpflichtet, sie zu befolgen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die gewünschte Massnahmen nicht medizinisch indiziert sind. Aber das häufigste Problem bei der Umsetzung von Patientenverfügung ist nicht die Verweigerung von pflegerischen Massnahmen oder von Euthanasie-Wünschen, oder die positiven Präferenzen des Patienten, sondern die Frage, ob die vorhandene Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Patienten zutrifft. So kann der Arzt berechtigte Zweifel daran haben, ob die Patientenverfügung den authentischen Willen des Patienten widerspiegelt. Dabei darf es freilich nicht darum gehen, dass der Arzt mit der Patientenverfügung nicht „einverstanden“ ist. Es geht vielmehr darum, dass der Arzt ernsthafte Gründe hat, um zu glauben, dass die Patientenverfügung nicht dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht. Dies ist der Kern des Problems, das sich bei der Umsetzung von Patientenverfügungen stellt. 3. DIE PATIENVERFÜGUNGEN
IN
EUROPA
Zunächst werden einige europäische Regelungen vorgestellt werden, um zu verdeutlichen, dass alle Gesetze versuchen, diesen möglichen Zweifel Rechnung zu tragen. Nirgendwo gibt es einen Automatismus in der Umsetzung von Patientenverfügungen. Ich beginne mit der Biomedizin-Konvention (oder Oviedo-Konvention) des Europarats. Artikel 9 schreibt vor, dass zu einem früheren Zeitpunkt geäusserte Wünsche des Patienten „zu berücksichtigen“ sind. Dieser Artikel ist deshalb besonders wichtig, weil er die erste Anerkennung von Patientenverfügungen in einem gemeinsamen europäisch verbindlichen Instrument bedeutet. Problematisch ist, dass der Ausdruck „zu berücksichtigen“ durchaus ambivalent ist. In der Tat wurde er ausgewählt, weil er eine Kompromisslösung erlaubt.7 Meistens wird dieser Artikel 7
Adriano Bompiani, Consiglio d’Europa, diritti umani e biomedicina. Genesi della Convenzione di
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Roberto Andorno
dahingehend interpretiert, dass die europäischen Länder, die die Konvention ratifiziert haben, nicht verpflichtet sind, die Verbindlichkeit der Patientenverfügungen zu gewährleisten. Dennoch müssen solche Verfügungen zumindest als Indiz für den mutmasslichen Willens des Patienten anerkannt weden. Dies wäre die minimale Bedeutung von Patientenverfügungen auf europäischer Ebene. Dem Erläuterungsbericht der Konvention zufoge bedeutet der Ausdruck „zu berücksichtigen“ nicht, dass „die Äusserungen in einer Patientenverfügung (…) unbedingt vom Arzt befolgt werden“ müssen.8 Der Bericht versucht zu verdeutlichen, weshalb der Arzt in manchen Fällen gute Gründe haben könnte, die Patientenverfügung nicht umzusetzen. Er führt als Beispiel an, dass die Patientenverfügung vor längerer Zeit verfasst wurde und die medizinische Technologie seitdem bedeutende Fortschritte gemacht hat. In solchen Situationen können Zweifel daran bestehen, obder Patient, unter den derzeitigen Umständen,nicht anders entscheiden würde, wäre er noch urteilsfähig. Interessanterweise sind dies genau die Gründe, die dem Arzt gemäss der nationalen Gesetzgebung erlauben, die Patientenwünsche nicht zu befolgen, selbst wenn eine Patientenverfügung grundsätzlich als verbindlich anerkannt werden. Wo liegt denn der Unterschied zwischen verbindlichen und nicht-verbindlichen Patientenverfügungen? Oder gibt es vielleicht keinen konkreten, signifikanten Unterschied in der Praxis zwischen einer Patientenverfügung zu „respektieren“ und einer Patientenverfügung zu „berücksichtigen“? Wenn dies der Fall ist, wäre es nicht besser gewesen, die Debatte zwischen „verbindlichen“ vs. „nicht-verbindlichen“ Patientenverfügung zu verlassen und sich auf die legitime Gründe konzentrieren, auf die man sich berufen kann, um eine Patientenverfügung nicht umzusetzen? Ich werde nun einige nationale Gesetzen vorstellen, die die Patientenverfügung als verbindlich anerkennen, um diese Überlegungen zu verdeutlichen: 3.1 GROSSBRITANNIEN Das schon erwähnte Gesetz „Mental Capacity Act“ (2005) von Grossbritannien weist an, dass eine Patientenverfügung nicht umzusetzen ist, • • •
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wenn die konkrete Behandlung, die in Frage kommt, nicht spezifisch genannt wird; wenn bestimmte Umstände der Patientenverfügung nicht erfüllt sind; wenn es vernünftige Gründe gibt, zu glauben, dass der Patient bei der Abfassung der Patientenverfügung bestimmte Umstände nicht vorhergesehen hat, die seinen Willen beeinflusst hätten, wenn sie ihm bewusst gewesen wären.9 Oviedo e dei Protocolli, Rom: Edizioni Studium, 2009, 86. Erläuterungsbericht der Biomedizin-Konvention, Nr. 62. Section 25.(4): „An advance decision is not applicable to the treatment in question if: (a) that treatment is not the treatment specified in the advance decision; (b) any circumstances specified in the advance decision are absent, or (c) there are reasonable grounds for believing that circumstances exist which the person did not anticipate at the time of the advance decision and which would have affected his decision had he anticipated them.“
Verbindliche und nicht-verbindliche Patientenverfügungen
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3.2 ÖSTERREICH Das österreichische Patientenverfügungsgesetz (PatVG) von 2006 ist für unser Thema interessant, da es zwischen „verbindlichen“ und „beachtlichen“ Patientenverfügungen unterscheidet. Als beachtlich, d. h. als Orientierungshilfe für den behandelnden Arzt bei der Ermittlung des Patientenwillens, gelten alle Verfügungen, welche nicht die strengen Formalitäten für verbindliche Patientenverfügungen erfüllen. Die Errichtung einer verbindlichen Patientenverfügung ist ein Notariatsakt. Vor Errichtung der Patientenverfügung hat eine umfassende ärztliche Aufklärung zu erfolgen. Ausserdem muss die Verfügung alle 5 Jahre erneuert werden. Neben den formalen Anforderungen muss eine verbindliche Patientenverfügung bestimmte inhaltliche Bedingungen erfüllen. In ihr „müssen die medizinischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung sind, konkret beschrieben sein oder eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen. Aus der Patientenverfügung muss zudem hervorgehen, dass der Patient die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt“ (§ 4 PatVG). Patientenverfügungen, welche nicht alle genannten Voraussetzungen erfüllen, gelten lediglich als „beachtlich“. Sie sind bei der Ermittlung des Patientenwillens umso mehr zu beachten, je eher sie die Voraussetzung einer verbindlichen Verfügung erfüllen (§ 9 PatVG). Dieser Artikel bestätigt meine These, dass die Verbindlichkeit keine Schwarz oder Weiss Frage ist, sondern eher eine graduelle Frage. Je präziser die Patientenverfügung, desto verbindlicher. Das ist logisch. Je vager und allgemeiner die Patientenverfügung, desto schwieriger ist es zu wissen, was der Patient wirklich wollte oder ob die Bestimmungen in der Patientenverfügung der aktuellen Situation entsprechen. Es geht also nicht um die Verbindlichkeit als solche, sondern ob eine vernünftige und sachgerechte Umsetzung einer Patientenverfügung möglich und praktikabel ist. Ausserdem sieht das österreichische Recht keine absolute Verbindlichkeit von Patientenverfügungen vor: So werden Patientenverfügungen unwirksam, wenn „der Stand der medizinischen Wissenschaft sich im Hinblick auf den Inhalt der Patientenverfügung seit ihrer Errichtung wesentlich geändert hat“ (§ 10 [1] PatVG). 3.3 DEUTSCHLAND Seit 2009 sind in Deutschland die Patientenverfügungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt (Art. 1901a). Das Gesetz überträgt dem Betreuer eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess. Um zu entscheiden, ob die Patientenverfügung umzusetzen ist, ist zentral zu berücksichtigen, ob die Bestimmungen in der Patientenverfügung „auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation“ des Patienten zutreffen. • •
Wenn ja, „hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen“. Wenn nicht, „hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Massnahme (…) einwilligt oder sie untersagt“.
Den mutmasslichen Willen des Patienten zu bestimmen bedeutet, nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, „was der Patient für sich selbst in der Situation
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entscheiden würde, wenn er es könnte“, formuliert die Deutsche Bundesärztekammer10. Ausserdem ist der mutmassliche Wille, gemäss dem Gesetz ,„aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.“ 3.4 SCHWEIZ In der Schweiz wurde die Patientenverfügung anlässlich der Einführung des neuen Erwachsenenschutzrecht in den Artikeln 370 ff. des Zivilgesetzbuches (ZGB) geregelt. Die neuen Regelungen sind am 1. Januar 2013 in Kraft getreten. Der neue Artikel 372, Absatz 2, ist hier besonders relevant. Er besagt: „Die Ärztin oder der Arzt entspricht der Patientenverfügung, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht.“
Die Regelung ist ähnlich wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern: Die Patientenverfügung ist prinzipiell vom Arzt zu respektieren, aber wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht, dann darf der Arzt sie nicht befolgen. Der mutmassliche Wille der Patienten funktioniert als Korrektiv der Äusserungen in der Patientenverfügung, die nicht genug spezifisch, zu allgemein oder sogar falsch sind, weil sie dem authentischen Willen des Patienten widersprechen. Aber man darf sich nicht willkürlich oder beliebig auf den mutmasslichen Wille des Patienten berufen, sondern nur wenn begründete Zweifel bestehen, dass die Bestimmungen in der Patientenverfügung dem mutmasslichen Willen des Patienten entsprechen. Um einen Missbrauch dieses Korrektiv zu vermeiden, verlangt Absatz 3, dass der Arzt im Patientendossier festhalten muss, aus welchen Gründen die Patientenverfügung im Einzelfall nicht umgesetzt ist. Der Botschaft zum Erwachsenenschutzrecht enthält Beispiele, in welchen Fällen Zweifel als begründet angesehen werden können: „wenn die Patientenverfügung vor längerer Zeit errichtet worden ist und deren Verfasserin oder Verfasser später eine andere Meinung geäussert hat. (…) Begründet können Zweifel auch dann sein, wenn die medizinische Entwicklung Massnahmen ermöglicht, die in der Verfügung nicht vorgesehen wurden“.11 3.5 FRANKREICH Im Unterschied zu den erwähnten Regelungen sieht das französische Recht die Nicht-Verbindlichkeit von Patientenverfügung vor. Gemäss dem Code de la Santé Publique (Artikel 1111-1) ist die Patientenverfügung vom Arzt „zu berücksichtigen“ 10
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Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis, Deutsches Ärzteblatt 107 (18), (2010), A877–A882. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) vom 28. Juni 2006, S. 7033. In: http://www.admin.ch/ch/d/ ff/2006/7001.pdf.
Verbindliche und nicht-verbindliche Patientenverfügungen
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(„tenir compte“). Einige Autoren (Véronique Fournier und Sophie Trarieux) betonen den Unterschied zwischen „respecter“ und „en tenir compte“. „Tenir compte“ wäre danach weniger verbindlich als „respecter“.12 „Tenir compte“ würde bedeuten, dass Patientenverfügungen „ein Element unter anderen der medizinischen Entscheidung“ sind.13 Das französische Gesunheitsministerium hat ausdrücklich in einem Informativen Blatt betont, dass die Patientenverfügung „ein wesentliches Dokument für den Entscheidungsprozess“ ist und dass „ihr Inhalt Vorrang vor jeder anderen nichtmedizinischen Meinung hat“.14 Gleichzeitig hält es allerdings fest, dass die Patientenverfügung „keine verbindliche Wirkung für den Arzt hat“. Dies bedeutet, dass „der Arzt frei ist, abzuschätzen, unter welchen Umständen die Bestimmungen der Patientenverfügung umzusetzen sind. Dabei hat er die konkrete Situation des Patienten und die mögliche Entwicklung des medizinischen Wissens“ zu berücksichtigen.15 3.6 PERSÖNLICHE ÜBERLEGUNGEN Freilich wäre diese letzte Bemerkung auch gültig für diejenigen Länder, die die Patientenverfügungen als verbindlich betrachten. Der Arzt muss nämlich immer berücksichtigen, ob die Umstände für die Umsetzung der Patientenverfügung die richtigen sind. Deshalb möchte ich meine eingangs gestellte Frage wiederholen: Was ist denn der Unterschied zwischen den sogenannt verbindlichen und den nicht-verbindlichen Patientenverfügungen? Meine Hypothese ist, dass der Unterschied vor allem auf der Ebene der Beurteilungskriterien liegt, die der Arzt benutzen darf, wenn die in der Patientenverfügung antizipierten Umstände nicht mit der konkret eingetretenen Situation übereinstimmen. Bei den Ländern, welche die Verbindlichkeit der Patientenverfügungen ausdrücklich anerkennen, muss der Arzt versuchen, den mutmasslichen Wille der Patienten zu ermitteln und darf nicht einfach seine persönliche Meinung durchsetzen. Das Wohl des Patienten ist als rein subjektiv vorgestellt. Der Arzt versucht, sich vorzustellen, wie er sich entscheiden würde, wenn er an Stelle des Patienten wäre und dessen Wertvorstellungen und Präferenzen hätte. Demgegenüber darf in Ländern, welche die Verbindlichkeit der Patientenverfügung formell nicht anerkennen (wie Frankreich), der Arzt auch objektive, wissenschaftliche Kriterien verwenden, um zu bestimmen, ob die Patientenverfügung umzusetzen ist oder nicht. Der Arzt versucht hier die „objektiven Interessen“ des Patienten herauszufinden, und nicht so sehr, was der Patient für sich selbst in der Situation ent12 13 14 15
Véronique Fournier/Sophie Trarieux, „Les directives anticipées en France“, Médicine et Droit 74/75 (2005), 146–148. Frédérique Dreifuss-Netter, „ Les directives anticipées: de l’autonomie de la volonté à l’autonomie de la personne “, Gazette du Palais 161 (2006), 1693–1695. Siehe: http://sante.gouv.fr/IMG/pdf/les_directives_anticipees.pdf. „Toutefois, les directives anticipées n’ont pas de valeur contraignante pour le médecin. Celui-ci reste libre d’apprécier les conditions dans lesquelles il convient d’appliquer les orientations que vous aurez exprimées, compte tenu de la situation concrète et de l’éventuelle évolution des connaissances médicales“.
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Roberto Andorno
scheiden würde. Das beste Interesse des Patienten wird demnach nicht rein subjektiv, sondern objektiv verstanden. In dieser Hinsicht zitiere ich zwei französichen Autorinnen: „Wenn der Arzt mit klarem Verstand zum Schluss kommt, dass es im besten Interesse des Patienten liegt, die Patientenverfügung nicht zu beachten, gehört es zu seiner Sorgfaltspflicht, sie nicht zu befolgen.“16 Der mutmassliche Wille des Patientent ist also hier nicht erwähnt. Gefordert ist nicht, zu ermitteln, was der Patient gewollt hätte, sondern was (objektiv) in seinem besten Interesse ist. Eine ähnliche Position findet man auch bei italienischen Autoren. Adriano Bompiani, der als Vetreter Italiens ein Mitglied des Bioethik-Komitee des Europarats und an der Ausarbeitung der Oviedo-Konvention beteiligt war, schreibt: Artikel 9 der Konvention über die Patientenverfügung stellt eine Kompromisslösung zwischen zwei verschiedene Positionen dar: Während einige Länder vor allem die Respektierung der Patientenverfügung gewährleisten wollten, war es anderen ein Anliegen, sowohl die objektive Bewertung der klinischen Situation des Patienten zu berücksichtigen als auch die grundlegende Pflicht der Ärzte, die im Hinblick auf die konkreten Umstände beste Behandlung zu bestimmen.17 4. SCHLUSSFOLGERUNG Die Kontroverse über Patientenverfügungen hat sich in Europa übermässig auf den Antagonismus zwischen „verbindlichen“ und „nicht-verbindlichen“ Verfügungen konzentriert. Meiner Meinung nach ist diese Unterscheidung etwas irreführend, zumindest wenn sie als Schwarz-Weiss, alles-oder-nichts vorgestellt wird. In der Tat ist sie eine graduelle Frage. Je präziser und näher die Patientenverfügung die konkret eingetretene Situation des Patienten vorwegnimmt, desto verbindlicher ist sie. Darüber hinaus zeigt die Analyse der nationalen Regelungen und der OviedoKonvention, dass die Gründe, auf die sich der Arzt berufen darf, um eine Patientenverfügung nicht umzusetzen, überall sehr ähnlich ausgestaltet sind. Die entscheidende Frage ist deshalb nicht so sehr, ob Patientenverfügungen als „verbindlich“ oder „nicht verbindlich“ betrachtet werden müssen, sondern eher, welche Gründe der Arzt angeben darf, um eine Patientenverfügung nicht umzusetzen und wie das Prinzip des „besten Interessen der Patienten“ konkretisiert wird: entweder als ein bloss subjektiver Begriff, der mit dem mutmasslichen Willen des Patienten zusammenfällt; oder als ein idealer Patientenzustand, der (auch) mit objektiven, wissenschaftlichen Kriterien vom Seiten des Arztes herauszufinden ist.
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Fournier/Trarieux (Fn. 11), 147: „si le médecin considère en toute conscience que le meilleur intérêt du patient impose de ne pas suivre les directives anticipées, il continue d’être de son devoir de médecin de passer outre“. Bompiani (Fn. 7), 86.
MARKUS ZIMMERMANN-ACKLIN, FRIBOURG STERBEN ALS AUFGABE? ETHISCHE ÜBERLEGUNGEN LEBENSENDE1
ZU SCHWIERIGEN
ENTSCHEIDUNGEN
AM
1. WAHRNEHMUNGEN Während Elisabeth Kübler-Ross mit ihrem Buch „On Death and Dying“2 im Jahr 1969 noch ein gesellschaftliches Tabu anrührte, sind Sterben und Tod heute zu omnipräsenten Themen geworden. Das öffentliche Sterben Johannes Paul II. im Jahr 2005, die Debatten um das Sterben von Terry Schiavo in den USA, Diane Pretty im Vereinigten Königreich, Eluana Englaro und Piergiorgio Welby in Italien, Vincent Humbert und Chantal Sébire in Frankreich, Noël Martin in Deutschland und Gunter Sachs in der Schweiz sind nur einige Beispiele, sozusagen die Spitze des Eisbergs, um das immense gesellschaftliche Interesse an Sterben und Tod zumindest in den Hochlohnländern der Welt aufzuweisen. Dafür, dass die These von der Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft nicht mehr zutrifft, lassen sich viele weitere Hinweise finden. So besteht offensichtlich eine große Aufmerksamkeit für die Themen der Sterbe- und Suizidhilfe, wie nicht nur weltweit erfolgreiche Kinofilme wie Alejandro Amenàbars „Mar adentro“ und Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“ zeigen.3 Auch die Hospiz- und Palliative Care-Bewegungen erfahren zunehmend Aufmerksamkeit. Ausstellungen wie „Noch einmal leben vor dem Tod“4 mit überlebensgroßen Portraits Sterbender und Toter, zu Gast in Deutschland, Schweiz, Österreich, Israel und England, werden wochenlang verlängert, spezialisierte Internetseiten5 bringen täglich neue Nachrichten zu Sterben und Tod. Leicht ließen sich Institutionalisierung, Professionalisierung, Legalisierung, Politisierung und nicht zuletzt auch Ökonomisierung der letzten Lebensphase anhand einschlägiger Beispiele aufzeigen. Ein Spiegel dafür sind gegenwärtig erscheinende Handbücher mit teilweise enzyklopädischem Anspruch, in welchen der Versuch unternommen wird, selbst die entlegensten Winkel des menschlichen Sterbens wissenschaftlich auszuleuchten und zugänglich zu machen.6 1
2 3 4 5 6
Der Text geht auf einen Vortrag zurück, der an der Jahrestagung der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie zum Thema „Ethik und Recht in der Bioethik“ am 11./12.5.2012 an der Universität Luzern gehalten wurde. In deutscher Übersetzung: Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Stuttgart: KreuzVerlag, 2010 (zuerst Stuttgart: Kreuz-Verlag, 1969). Vgl. die Beobachtungen dazu bei Frank Mathwig, Zwischen Leben und Tod. Die Suizidhilfediskussion in der Schweiz aus theologisch-ethischer Sicht, Zürich: TVZ, 2010. Vgl. Beate Lakotta/Walter Schels, Noch mal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben, München: DVA Sachbuch-Verlag, 2004. Vgl. z. B. www.sterbehilfedeutschland.de. Vgl. z. B. aktuell in deutscher Sprache: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hg.), Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2010; Franz-Josef Bormann/Gian-Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin: De Gruyter 2012; Michael Anderheiden/Wolfgang U. Eckhart/Eva Schmitt (Hg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde, Berlin: De Gruyter, 2012.
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Markus Zimmermann-Acklin
In der Soziologie ist in diesem Zusammenhang von der „neuen Sichtbarkeit des Todes“7, der „Entdeckung des Sterbens“8, sogar von der „Geschwätzigkeit des Todes“9 die Rede. Diese Veränderungen sind allerdings von einer tiefen Ambivalenz gekennzeichnet.10 Während heute viele Menschen mehr über Sterben und Tod wissen möchten, insbesondere über Erfahrungen und Möglichkeiten, das eigene Sterben abzusichern, erleben die Wenigsten das Sterben von Menschen real mit. Dieses geschieht vielmehr in speziellen Institutionen wie Pflegeheimen, Palliative Care-Stationen und Hospizen, es entstehen neue Berufe rund um die Begleitung Sterbender, so dass die unmittelbare Erfahrung nur noch Wenigen zugänglich ist. In der Thanatosoziologie werden diese Prozesse als eine Form gesellschaftlicher Diskursivierung von Sterben und Tod interpretiert. In dieser zeichne sich, so der Soziologe Werner Schneider, eine umfassende Um- bzw. Neuordnung des Lebensendes ab: „Die zu beobachtende zunehmende öffentliche Diskursivierung von Sterben und Tod birgt eine Um- bzw. Neu-Ordnung der modernen Ordnung des Lebensendes in sich, in der die ‚natürliche Gegebenheit‘ des Todes als ‚dem Feind des Lebens‘, die ihm die Moderne erst verliehen hat, wieder verschwindet. Die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Gültigkeit von Todesdefinitionen und Organspende-Ausweis, um Sterbehilfe versus Sterbebegleitung, um Patientenverfügungen und Behandlungsabbruch am Lebensende usw. kreisen nicht mehr primär um den medizinisch (an-)geführten Kampf für das Leben und damit gegen ‚den Tod‘. Sondern sie verweisen vielmehr auf eine neue Form der sozialen und kulturellen ‚Sicherstellung‘ von Sterben und Tod.“11
Entsprechend dieser Diagnose sind wir gegenwärtig Zeugen eines veränderten Umgangs mit der letzten Lebensphase: Der Tod wird nicht mehr als unter allen Umständen abzuwendendes Schicksal verstanden, sondern als eine zu gestaltende Aufgabe. Kontrolle und Sicherstellung sind die entscheidenden Stichpunkte, um diesen neuen Umgang mit dem Sterben zu charakterisieren. Mit diesen einher gehen bestimmte Ideale, wie ein gutes Sterben heute aussehen sollte, eine moderne ars moriendi sozusagen: Zentrale Werte sind dabei die Selbstbestimmung und das Sterben verstanden als ein vom Sterbenden kontrollierter, bewusster und aktiver Akt bei möglichst hoher Lebensqualität bis zuletzt. Abgesehen von grundlegenden Diffe7 8
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Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München: Wilhelm FinkVerlag, 2007. So die Berner Soziologin Ursula Streckeisen in einem Gespräch, vgl. Ursula Streckeisen, Legitime und Illegitime Schmerzen. Ärztliche und pflegerische Strategien im Umgang mit invasiven Maßnahmen bei Sterbenden, in: Irmhild Saake/Werner Vogd (Hg.), Moderne Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, 191–213. Armin Nassehi, „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Über die Geschwätzigkeit des Todes in unserer Zeit, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Ruhm, Tod, Unsterblichkeit, Wien: Zsolnay, 2004, 118–145. Vgl. Werner Schneider, Wandel und Kontinuität von Sterben und Tod in der Moderne. Zur gesellschaftlichen Ordnung des Lebensendes, in: Ingo Bauernfeind/Gabriela Mendl/Kerstin Schill (Hg.), Über das Sterben. Entscheiden und Handeln am Ende des Lebens, München: Zuckschwerdt Verlag, 2005, 30–54. Schneider (Fn. 10), 41 f. Vgl. auch Markus Zimmermann-Acklin, Öffentliche Sterbehilfediskurse in Deutschland und in der Schweiz. Beobachtungen aus ethischer Sicht, in: Michael Anderheiden/Wolfgang U. Eckhart/Eva Schmitt (Hg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde, Band 3, Berlin: De Gruyter, 2012, 1531–1546.
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Sterben als Aufgabe?
renzen hinsichtlich der Einschätzung eines Suizids werden die angedeuteten Ideale sowohl von der Palliative Care-Bewegung als auch den Suizidhilfeorganisationen geteilt und sind auch die Grundlage für die Idee der Patientenverfügung.12 Wie alle Ideale wirken auch diese normativ13 und werden unter Umständen für Menschen zur Schwierigkeit, die diese Ideale nicht erfüllen können, insbesondere Neugeborene, kleine Kinder und alte Menschen mit Demenzerkrankungen. Entsprechend sprachlos sind heute Ethik-Expertinnen und -Experten, wenn es um die Formulierung normativer Orientierungen angesichts schwieriger Entscheidungen in der Neonatologie und bei Demenzkranken geht. 2. VERSORGUNG, BEGRIFFE
UND
LEBENSENDE-ENTSCHEIDUNGEN
Viele Institutionen und Vereinigungen, beispielsweise die Protagonisten der Palliative Care- und Hospizbewegung, Berufsverbände, Patientenverbände, aber auch politische Parteien und Kirchen beklagen heute den Mangel an einer spezifisch ausgerichteten Versorgung von Menschen am Lebensende. Die kritisierten Zustände und konkreten Forderungen zeigen zum einen, dass politische Maßnahmen weit über den Bereich der eigentlichen Gesundheitsversorgung hinausgehen sollten und zum andern, dass Probleme nicht nur durch einen Mangel an Ressourcen, sondern auch durch Überversorgung entstehen können. Am eindeutigsten vertreten wird die Forderung nach der Anerkennung und Etablierung von Palliative Care für alle Patientengruppen und Regionen. Insbesondere wird das einseitige Angebot für Tumorpatienten und geriatrische Patienten sowie die Konzentration auf städtische Agglomerationen hervorgehoben.14 De facto sollte die lindernde Medizin, Pflege und Begleitung möglichst allen chronisch Kranken und Sterbenden zur Verfügung stehen, wozu ein langjähriger Aufbau entsprechender Einrichtungen inklusive der Ausbildung des notwendigen Personals von Bedeutung ist.15 Eine große Herausforderung ergibt sich zudem aus der stetig stärker werdenden Berufstätigkeit von Frauen. Analog zur Frage nach der Betreuung von Säuglingen 12
13
14 15
Vgl. Samia A. Hurst/Alexandre Mauron, „The Ethics of Palliative Care and Euthanasia. Exploring Common Values“, Palliative Medicine 20 (2006), 107–112. Vgl. dagegen aber auch: Jose Pereira et al., „The Response of a Swiss University Hospital’s Palliative Care Consult Team to Assisted Suicide Within the Institution“, Palliative Medicine, 22 (2008), 659–667; Courtney S. Campbell/Jessica C. Cox, „Hospice and Physician-Assisted Death. Collaboration, Compliance, and Complicity“, Hastings Center Report 40 (2010), No. 5, 26–35. Vgl. dazu die ethnographischen Beobachtungen von Stefan Dresske, Interaktionen zum Tode. Wie Sterben im Hospiz orchestriert wird, in: Petra Gehring/Marc Rölli/Maxine Saborowski (Hg.), Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, 77–101; ders., Die Herstellung des „guten Sterbens“. Arbeit an der Identitätssicherung im Hospiz, in: Irmhild Saake/Werner Vogd (Hg.), Moderne Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, 215–235. Für die internationale Diskussion vgl. Joachim Cohen/Luc Deliens (Eds.), A Public Health Perspective on End of Life Care, New York: Oxford University Press, 2012. Vgl. Bundesamt für Gesundheit & Gesundheitsdirektorenkonferenz (Hg.), Nationale Strategie Palliative Care 2010–2012: Halbzeit. Aktueller Stand der Umsetzung und Ausblick, Bern 2011; dies., Nationale Strategie Palliative Care 2013–2015. Bilanz „Nationale Strategie Palliative Care 2010– 2012“ und Handlungsbedarf 2013–2015, Bern, 2012.
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und Kleinkindern stellt sich in gleicher Weise auch die Frage, wer den nötigen zeitlichen und räumlichen Freiraum hat, um sich um die abhängigen, pflegebedürftigen und sterbenden älteren Menschen zu kümmern. Erste Erfahrungen mit so genannten Pflegeurlauben in Nachbarländern der Schweiz wie Österreich können hier als Orientierungspunkte dienen. Problemanzeigende Fragen, die darüber hinaus gestellt werden, thematisieren die Fragmentierung der Versorgung in einem modernen Akutkrankenhaus, welche Sterbende völlig überfordern kann, greifen die Entscheidungen bei den so genannten Last-chance-Therapien16 auf und machen auf einen vermutlich mittelfristig zu erwartenden Notstand in der ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen aufmerksam, der mit dem Wegschmelzen des Hausärzteberufs verknüpft ist. Was die Begrifflichkeit in den Sterbehilfedebatten angeht, hat sich in der Schweiz seit dem Bericht der „Arbeitsgruppe Sterbehilfe“ von 199917 eine Praxis ergeben, die eng entlang gesetzlicher Regelungen orientiert ist: Es wird zwischen direkter aktiver, indirekter aktiver, passiver Sterbehilfe und Beihilfe zum Selbstmord unterschieden. Wesentlich ist dabei die Unterscheidung zwischen Sterbehilfe und der Suizidhilfe, insofern die Tatherrschaft bei beiden Handlungen verschieden ist. Mit den Begriffen aktiv und passiv soll die Handlung, mit den Adjektiven direkt und indirekt die Absicht der handelnden Person charakterisiert werden. Die direkte aktive Sterbehilfe meint demnach die gezielte (beabsichtigte) Tötung zur Verkürzung des Leidens eines anderen Menschen, die indirekte aktive Sterbehilfe den Einsatz von Mitteln zur Linderung eines Leidens unter (unbeabsichtigter) Inkaufnahme einer Lebensverkürzung. Die passive Sterbehilfe umschreibt den Verzicht auf lebenserhaltende Mittel durch einen Behandlungsabbruch oder -verzicht, die Suizidhilfe die Unterstützung eines suizidwilligen Menschen bei der Durchführung der Selbsttötung durch Besorgen oder Bereitstellung der tödlich wirkenden Mittel bzw. der Anleitung in der Handhabung derselben. Der Nationale Ethikrat in Deutschland hat dafür plädiert, die Rede von aktiver, passiver, direkter und indirekter Sterbehilfe ganz aufzugeben und stattdessen neu nur noch zwischen Sterbebegleitung, Therapie am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen zu unterscheiden.18 Da die heutigen Auseinandersetzungen sowohl auf interdisziplinäre als auch auf eine europäische Verständigung angewiesen sind, liegt es tatsächlich nahe, auf die abgekürzten Begrifflichkeiten zu verzichten und stattdessen in jedem Einzelfall möglichst deskriptiv zu umschreiben, was jeweils gemeint ist. Der begriffliche Bezug auf die Intention oder Absicht des Handelnden wird allerdings nach wie vor notwendig bleiben, da je nach Handlungsabsicht sowohl ein Sterbenlassen moralisch äußerst verwerflich sein als auch eine „indirekte Tötung“ (als Inkaufnahme einer Lebensverkürzung bei einer Maßnahme zur Schmerzlinderung oder Symptomkontrolle) zur ärztlichen Pflicht werden kann. Nicht zu umgehen ist zudem, dass sich in jeder Terminologie – wie beispielsweise die Rede vom Selbstmord, Suizid, Selbsttötung 16 17 18
Vgl. dazu die hilfreichen Ausführungen bei Leonard Fleck, Just Caring. Health Care Rationing and Democratic Deliberation, New York: Oxford University Press, 2009, 229–253. Vgl. Arbeitsgruppe Sterbehilfe, Sterbehilfe. Bericht an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, Bern, 1999. Vgl. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme, Berlin, 2006, 26–30.
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Sterben als Aufgabe?
oder Freitod zeigt – Werturteile verbergen. Diese sollten möglichst transparent gemacht und zur Sprache gebracht werden, um Missverständnisse zu vermeiden, Verständigung zu ermöglichen und nicht zuletzt sensibel zu bleiben für alle Formen von Sprachpolitik. Über die Entscheidungspraxis in der Schweiz ist heute relativ wenig bekannt. Die Ergebnisse der so genannten EURELD-Studie, in deren Rahmen medizinische Entscheidungen am Lebensende in sechs europäischen Ländern im Jahr 2001 erforscht wurden, haben gezeigt, dass in der Schweiz bei gut jedem zweiten Sterbefall Entscheidungen getroffen wurden, welche das Lebensende der Betroffenen beeinflusst haben.19 Quantitativ standen dabei Entscheidungen zum Behandlungsabbruch und -verzicht (bei 28 % aller Sterbefälle) sowie zur Linderung von Symptomen und Schmerzen mit Einflussnahme auf den Todesverlauf (bei 22 %) deutlich im Vordergrund. Die ethisch umstritteneren und teilweise auch strafrechtlich verbotenen Handlungen wie die Tötung auf Verlangen (0,27 %), die Suizidhilfe (0,36 %) oder auch Fälle von Mitleidstötung (0,42 %) wurden gemäß Studienergebnissen in der Schweiz relativ selten praktiziert. Auffällig und näher anzuschauen bleibt hingegen die Tatsache, dass gemäß dieser Studie die rechtlich verbotene Mitleidstötung (auch nicht-freiwillige aktive Sterbehilfe genannt) häufiger als die rechtlich unter Einhaltung definierter Umstände erlaubte Suizidhilfe praktiziert wurde. Neue Angaben zur Suizidhilfe zeigen, dass diese 2009 von knapp 300 Personen mit Wohnsitz in der Schweiz in Anspruch genommen wurde. Bei gesamthaft 62’500 Todesfällen im Jahr 2009 wäre das ein Anteil von knapp 0,5 %. Während der letzten zehn Jahre ist die Rate kontinuierlich gestiegen, nämlich von ca. 100 registrierten Fällen im Jahr 2000 auf ca. 300 im Jahr 2009; die Beihilfe wurde deutlich häufiger von Frauen als von Männern beansprucht. Während sie nur selten von jungen Menschen und relativ selten von hochaltrigen Menschen über 85 Jahren erbeten wird, ist die Praxis bei 74- bis 85-jährigen Menschen am stärksten.20 3. STERBEWÜNSCHE
VON
HIOB
BIS HEUTE
„Ich möchte die Erdrosselung mir wünschen: Der Tod ist mir lieber als meine Schmerzen. Schon schwind ich hin; nicht ewig kann ich leben. Lass ab von mir! Denn nur ein Hauch sind meine Tage.“ So klagte bereits der biblische Hiob bei Gott (Hiob 7,15 f). Sterbewünsche werden auch heute häufig und in unterschiedlichsten Kontexten geäußert. Nicht selten sind Menschen betroffen, die sich in geriatrischer Behandlung befinden, alt und gebrechlich in einem Pflegeheim leben, oder auch – unabhängig vom Alter – aufgrund einer schweren Erkrankung beispielsweise unter chronischen Schmerzen leiden. Äußert ein Mensch in einer solchen Situation, er möchte lieber tot sein als unter den gegebenen Umständen weiter leben zu müssen, kann diese Aussage sehr unterschiedliche Botschaften beinhalten.
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Vgl. Agnes van der Heide et al., „End-of-life Decision-Making in Six European Countries: Descriptive Study“, Lancet 362 (2003), 345–350. Vgl. Bundesamt für Statistik, „Todesursachenstatistik 2009. Sterbehilfe (assistierter Suizid) und Suizid in der Schweiz“, BFS Aktuell, Nr. 3, Neuchâtel, 2012.
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Es kann beispielsweise, so Daniel Grob, Chefarzt der Geriatrie am Waidspital Zürich, Ausdruck einer tief empfundenen Lebensmüdigkeit bei sehr alten Menschen sein, die nicht selten alle Bekannten verloren haben, an vielerlei Gebrechen leiden und nicht mehr weiterleben möchten. Die Botschaft könne auch Ausdruck von einem hohen Grad an körperlichem Leiden oder Schmerzen sein, Ausdruck auch von einer so empfundenen sozialen Wertlosigkeit oder einer Depression, die dann behandelt werden sollte. Es könne sich auch eine Testfrage an den Arzt oder die Ärztin darin verbergen, in dem Sinne von: ‚Lässt er oder sie mich fallen oder nicht?‘; schließlich könne es auch um ein Kokettieren mit dem Tod gehen, insofern die Beschäftigung mit dem Tod im hohen Alter etwas völlig Normales sei und dann beispielsweise meinen, dass jemand gerne über diese Fragen sprechen würde.21 Roland Kunz, Spezialist für Palliative Care am Spital Affoltern am Albis, ergänzt, dass auch Ängste der Grund für Sterbewünsche sein können: Ängste vor unerträglichen Schmerzen, vor dem Ersticken, davor, körperlichen Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein oder schlicht alleine gelassen zu werden. Seiner Erfahrung nach verschwinden solche Sterbewünsche häufig, sobald eine wirksame Symptomtherapie und Begleitung begonnen werden konnten.22 Ganz andere Herausforderungen können Sterbe- und insbesondere Suizidwünsche bei psychisch Kranken mit sich bringen, wie Paul Hoff von der Psychiatrischen Uniklinik in Zürich betont: Hier gelte es herauszufinden, inwieweit ein Sterbewunsch Teil einer Erkrankung ist oder inwieweit dieser in Auseinandersetzung mit der Erkrankung entstanden ist. Dies abzuklären setze voraus, Zeit zu haben, die Bereitschaft, sich unvoreingenommen auf die Lebens- und Wertewelt des Sterbewilligen einzulassen und vor allem auch psychiatrische Erfahrung im Umgang beispielsweise mit schwer depressiven Patienten.23 Ein qualitatives Forschungsprojekt zu Sterbewünschen von krebskranken Menschen am Lebensende hat ergeben, dass Sterbewünsche selten als eine feste Geisteshaltung und Entscheidung zu verstehen sind, sondern offenbar einen komplexen, dynamischen und interaktiven Prozess widerspiegeln.24 Der Wunsch könne sich wandeln, umfasse verschiedene Anliegen und sei nicht selten auch widersprüchlich: Manche Patienten äußern sowohl ihre Bereitschaft zu sterben als auch den Wunsch, bald nach Hause zurückzukehren. Ambivalenzen würden wir auch aus anderen Lebensbereichen kennen, am Lebensende seien sie allerdings besonders prekär, so ein Mitglied des Forschungsteams, Christoph Rehmann-Sutter, in einem Interview.25 Als wichtig habe sich herausgestellt, auf Wünsche einzugehen und die tieferen Beweggründe in der Lebensgeschichte und im Beziehungsumfeld eines Sterbewilligen zu erkunden.
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Vgl. Daniel Grob, „Vom Umgang mit Sterbewünschen: ‚Ich möchte sterben‘ heisst nicht ‚Ich will mich umbringen‘“, Schweizerische Ärztezeitung 93 (2012), 493–494. Vgl. Roland Kunz, „Lebens- und Sterbenswünsche bei unheilbarer Krankheit“, Schweizerische Ärztezeitung 93 (2012), 669–670. Vgl. Paul Hoff, „Suizidwunsch bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung: Symptom oder autonomer Entscheid?“, Schweizerische Ärztezeitung 93 (2012), 852–853. Kathrin Ohnsorge et al., „‚Ambivalence‘ at the end of life: How to understand patients’ wishes ethically“, in: Nursing Ethics 19 (2012), 629–641. Vgl. Nina Streeck, „Lieber tot als lebendig? Viele unheilbar kranke Menschen sehnen den Tod herbei. Dahinter verbergen sich vielfältige und häufig widersprüchliche Anliegen. Wünsche zu sterben und zu leben wechseln sich oft ab“, NZZ am Sonntag (9.9.2012), 59.
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Eine weitere Schweizer Studie, in welcher die Motive von Menschen erkundet wurden, welche zwischen 2001 und 2004 in der Stadt Zürich um Suizidhilfe gebeten und in der Folge auch einen begleiteten Suizid durchgeführt hatten, hat ergeben, dass sowohl von den verschreibenden Ärzten als auch den Sterbewilligen als Grund für die gewünschte Beihilfe am häufigsten „Schmerzen“ (56 % von Ärzten, 58 % von Sterbewilligen) angegeben wurden.26 „Langzeitpflege“ (37 % und 39 %) rangierte an zweiter Stelle, dann folgten „neurologische Symptome“ (35 % und 32 %), „Bewegungsunfähigkeit“ (23 % und 30 %) und „Atemnot“ (beide 23 %). Auffällig ist, dass einige, vor allem psychosoziale Gründe, von Sterbewilligen weitaus häufiger angegeben wurden als von den verschreibenden Ärzten, nämlich „Kontrolle über das Sterben“ (12 % und 39 %), „Verlust der Würde“ (6 % und 38 %), „allgemeine Schwäche“ (13 % und 26 %), „an alltäglichen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen können“ (6 % und 18 %) sowie „Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme“ (4 % und 13 %). Offensichtlich werden letztere Phänomene, deren Berücksichtigung in der Palliative Care nicht zufällig eine zentrale Rolle einnehmen, von den verschreibenden Ärzten in ihrer Bedeutung für den Sterbe- und Suizidwunsch massiv unterschätzt. Eine Studie mit Sterbewilligen, die bereits vor einigen Jahren in Kanada mit AIDS-Kranken durchgeführt wurde, hat schließlich gezeigt, dass vor allem zwei Erfahrungen besonders wesentlich zu sein scheinen, wenn Menschen einen Suizid in Erwägung ziehen:27 Offenbar wird es dann besonders kritisch, wenn der Verlust der körperlichen Integrität, Ängste vor unkontrollierbaren Schmerzen und eine Situation der Isolierung, also die Unmöglichkeit, weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, zusammentreffen. In einer solchen Situation entsteht offenbar der Wunsch, dem drohenden Selbstverlust durch einen Suizid zuvorzukommen. 4. ETHISCHE DISKUSSION Drei wichtige ethische Themenfelder betreffen erstens die Forderung nach einer Etablierung der Palliative Care, zweitens diejenige nach einem angemessenen Umgang mit den Mitteln der hochtechnisierten Medizin und drittens Versuche einer Etablierung und Normalisierung der Suizidhilfe. Diese Bereiche werden im Folgenden aufgegriffen, wobei methodisch ein induktiv-hermeneutischer Zugang verfolgt wird, in welchem es darum geht, ausgehend von Beobachtungen, Erfahrungen und Intuitionen ethische Orientierung zu gewinnen, diese jedoch gleichzeitig an grundlegenden normativen Maßstäben, beispielsweise dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde und den vier medizinethischen Prinzipien der Autonomie, Fürsorge, dem Nicht-Schaden und der Gerechtigkeit, zu überprüfen.28
26 27 28
Vgl. Susanne Fischer et al., „Reasons why people in Switzerland seek assisted suicide: the view of patients and physicians“, Swiss Medical Weekly 139 (2009), 333–338. Vgl. James Lavery et al., „Origins of the Desire for Euthanasia and Assisted Suicide in People With HIV-1 or AIDS. A Qualitative Study“, The Lancet 358 (2001), 362–367. Vgl. Markus Zimmermann-Acklin, Bioethik in theologischer Perspektive. Grundlagen, Methoden, Bereiche, 2. erweiterte Auflage, Freiburg i. Br. & Freiburg i. Üe.: Herder & Academic Press Fribourg, 2010, 15–50.
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4.1 PALLIATIVE CARE Entstanden ist die Palliative Care-Bewegung in kritischer Auseinandersetzung mit Fehlentwicklungen in der Gesundheitsversorgung und der Gesellschaft insgesamt, die sich mit Begriffen wie Fragmentierung, Individualisierung, Medikalisierung, Spezialisierung und Ökonomisierung andeuten lassen.29 Zu ihren Quellen zählen neben der Hospizbewegung mit ihrer neuen Aufmerksamkeit für das menschenwürdige Sterben maßgeblich die Psychosomatik und neuere spirituelle Bewegungen, die z. B. im Rahmen von New Age Orientierung an einem ganzheitlichen Leben suchen. Einer Medizin und Pflege, die sich einseitig als Reparaturwerkstatt für ausgefallene Körperfunktionen versteht, und Spitälern, welche die Anpassung ihrer Patienten an Abläufe eines möglichst effizienten Betriebs verlangen, stellt die Palliative Care-Bewegung in Anknüpfung an das Verständnis einer bio-psycho-sozialen Medizin als Ideal ein ganzheitliches Modell entgegen, das um die spirituelle Dimension erweitert wurde. Im Kern geht es um einen umfassenden Betreuungsansatz, letztlich ein neues Verständnis medizinischer Praxis.30 Die offizielle Definition von Palliative Care in den „Nationalen Leitlinien Palliative Care“ von 2010 lautet: „Die Palliative Care umfasst die Betreuung und Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten. Sie wird vorausschauend miteinbezogen, ihr Schwerpunkt liegt aber in der Zeit, in der die Kuration der Krankheit als nicht mehr möglich erachtet wird und kein primäres Ziel mehr darstellt. Patientinnen und Patienten wird eine ihrer Situation angepasste optimale Lebensqualität bis zum Tode gewährleistet und die nahestehenden Bezugspersonen werden angemessen unterstützt. Die Palliative Care beugt Leiden und Komplikationen vor. Sie schliesst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung mit ein.“31
Während es der Palliative Care-Bewegung um eine grundlegende Erneuerung medizinischer Praxis geht, wird sie de facto – nicht nur aufgrund der historischen Verbindungen zur Hospizbewegung – in der klinischen Praxis und in öffentlichen Diskursen oftmals ausschließlich mit dem Lebensende in Verbindung gebracht. Seit Jahren verwendet die Palliative Care-Bewegung viel Energie darauf, dieses Missverständnis zu korrigieren: Palliative Maßnahmen können vielmehr während der gesamten Biographie eines Menschen wichtig werden, namentlich bei chronisch Kranken, ganz besonders bei chronischen Schmerzpatienten. Selbst dann, wenn aufgrund einer bestimmten Erkrankung das Lebensende abzusehen ist, möchte Palliative Care nicht erst dann wahrgenommen werden, wenn kurativ nichts mehr zu machen ist, sondern weit vorher, nämlich parallel und komplementär zu kurativen Behandlungsweisen.32 29 30
31 32
Vgl. Reimer Gronemeyer, Sterben in Deutschland. Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserm Leben einräumen können, Frankfurt a. M.: Fischer, 2008. Vgl. Roland Kunz, „Palliative Care: Keine neue medizinische Spezialität, sondern ein umfassender Betreuungsansatz“, Schweizerische Ärztezeitung 87 (2006), 1106–1114; Cornelia Knipping (Hg.). Lehrbuch Palliative Care, 2., durchgesehene und korrigierte Auflage, Bern: Huber, 2007. Bundesamt für Gesundheit & Gesundheitsdirektorenkonferenz (Hg.), Nationale Leitlinien Palliative Care, Bern, 2010, 8. Ein viel beachtetes Beispiel für die Vorteile einer rechtzeitig einsetzenden palliativen Betreuung ist die Studie von Jennifer S. Temel et al., „Early Palliative Care for Patients with Metastatic Non–Small-Cell Lung Cancer“, New England Journal of Medicine 363 (2010), 733–742: Die Patientinnen und Patienten, welche rechtzeitig palliative Unterstützung erhielten, haben nach
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In dieser Hinsicht befinden sich Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung gesellschaftlich heute in einem gewissen double bind: Einerseits möchten sie vom Klischee der besseren Sterbebegleitung wegkommen, welche dann einsetzt, wenn die „eigentlich richtige Medizin“ nichts mehr tun kann; zudem wollen sie keine weitere Spezialisierung innerhalb der Medizin begründen, da sie sich genau von dieser Tendenz der Subspezialisierung kritisch absetzen. Andererseits ist die Betonung des Lebensendes der einfachste Weg, gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erlangen, und die Spezialisierung der einzige Weg, in der Welt der wissenschaftlichen Medizin Forschungsgelder zu bekommen. Angesichts dessen ist es wichtig, Missverständnisse, Fehlerwartungen und auch Gefahren im Zusammenhang mit Palliative Care deutlich zu markieren, wie dies beispielsweise in den medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Palliative Care der Fall ist.33 Beispiele für eine gelungene und zukunftsweisende Umsetzung von Palliative Care sind Initiativen, die zu einer Verstärkung der Vernetzung bestehender Institutionen beitragen und damit der fragmentierten Behandlung von Menschen entgegenwirken. Vorbildcharakter haben zudem die mobilen Palliative Care-Teams, welche flexibel arbeiten, neben somatischen Problemen auch psychische, soziale und spirituelle Leiden der Patienten wahr- und ernstnehmen, kranke Menschen Zuhause begleiten und ihnen damit ermöglichen, in ihrem gewohnten Ambiente leben und unter Umständen auch sterben zu können. Eine ethisch umstrittene Praxis, die im Rahmen der Palliative Care Anwendung und Akzeptanz findet, ist die palliative Sedierung. Es geht um eine Form von Symptomkontrolle auf dem Weg einer Bewusstseinsdämpfung bzw. der Aufrechterhaltung eines Schlafzustands, nachdem bei einem terminalen Patienten alle Mittel zur Kontrolle quälender, so genannter therapierefraktärer Symptome ausgeschöpft wurden.34 Wird dabei auf die Fortsetzung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr verzichtet und stirbt ein Patient im bewusstlosen Zustand, ist das Vorgehen aufgrund der Nähe zur absichtlichen Lebensbeendigung ethisch umstritten. Die Richtlinien der SAMW zur Palliative Care heben darum die Bedeutung der informierten Zustimmung und damit der Autonomie des Patienten besonders hervor35, in der einschlägigen Literatur wird zudem auf die Bedeutung der Angemessenheit einer solchen Maßnahme und der Absicht des Handelnden verwiesen:36 Eine palliative Sedierung sollte nur vorgenommen werden, wenn keine anderen Möglichkeiten mehr bestehen, ein für den Sterbenden unerträgliches Leiden zu lindern, wobei die Absicht des handelnden Arztes auf die Schmerzlinderung zielen soll und lediglich als Nebenfolge in Kauf genommen wird, dass ein Patient stirbt. Georg Bosshard,
33 34 35 36
eigenen Aussagen in ihren letzten Lebensmonaten nicht nur qualitativ besser gelebt als diejenigen der Vergleichsgruppe, sondern sie haben zudem länger gelebt, weniger aggressive Therapien erhalten und ihre Versorgung war finanziell günstiger. Vgl. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Palliative Care. Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen, Basel, 2013, 7 (www.samw.ch). Vgl. Dietmar Weixler, Palliative Sedierung, in: Cornelia Knipping (Hg.), Lehrbuch Palliative Care, 2., durchgesehene und korrigierte Auflage, Bern: Huber, 2007, 576–587, hier: 576. Vgl. SAMW (Fn. 33), 16 f. Vgl. Weixler (Fn. 34), 577; Georg Bosshard/Noémi de Stoutz/Walter Bär, „Eine gesetzliche Regulierung des Umgangs mit Opiaten und Sedativa bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende?“, Ethik in der Medizin 18 (2006), 120–132.
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Noëmi de Stoutz und Walter Bär äußern sich zwar skeptisch zum Rekurs auf die Handlungsabsicht, kommen aber gleichwohl zum Schluss, dass eine rechtliche Regelung dieses heiklen Bereichs lediglich neue Unsicherheiten und Grauzonen schaffen würde, so dass sie von einer solchen abraten.37 Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass in den Niederlanden die dort als „dauerhafte tiefe Sedierung“ bezeichnete Praxis, die stets mit dem Tod des Patienten endet, in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat, nämlich von 5,6 % aller Sterbefälle im Jahr 2001 auf 8,2 % im Jahr 2005 und 12,3 % im Jahr 2010.38 Im gleichen Zeitraum ist die Praxis der ärztlichen Tötung auf Verlangen zunächst von 2,6 % (2001) auf 1,7 % (2005) zurückgegangen, um anschließend wiederum auf 2,8 % im Jahr 2010 zu steigen.39 Die Gründe für diese Entwicklungen sind weitgehend offen, auffällig ist allerdings die sehr hohe Inzidenz der terminalen Sedierung in den Niederlanden, die dort inzwischen als etablierte und normale ärztliche Praxis eingeschätzt wird und kausal in einem gewissen Zusammenhang mit der inzwischen etablierten Palliative Care stehen könnte.40 Übertragen auf die Schweizer Größenordnungen würde dies bedeuten, dass in der Schweiz jährlich über 7’600 Patientinnen und Patienten im sedierten Zustand sterben würden. Über die tatsächliche Größenordnung in der Schweiz ist meines Wissens bislang nichts bekannt. 4.2 UMGANG MIT DEN MITTELN DER TECHNISIERTEN MEDIZIN Aufgrund der medizinischen Fortschritte ist die Frage, welche Maßnahmen nicht nur wirksam, sondern zusätzlich auch noch sinnvoll oder zweckmäßig sind, im ärztlichen Alltag inzwischen alltäglich zu beantworten. Mit Blick auf die Einführung äußerst kostenintensiver Behandlungsmöglichkeiten beispielweise im Bereich onkologischer Medikamente gewinnt auch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit zusehends an Bedeutung.41 Die Frage nach der Sinn- oder Nutzlosigkeit (englisch „Futility“) medizinischer Maßnahmen steht im Zentrum der oftmals schwierigen Entscheidungen, am Lebensende auf bestimmte Interventionen zu verzichten.42 Georg Marckmann unterscheidet 37 38
39 40 41
42
Vgl. ebd., 131. Vgl. Agnes van der Heide et al., „End-of-Life Practices in the Netherlands under the Euthanasia Act“, New England Journal of Medicine 356 (2007), 1957–1965; Bregje D. Onwuteaka-Philipsen et al., „Trends in end-of-life practices before and after the enactment of the euthanasia law in the Netherlands from 1990 to 2010: a repeated cross-sectional survey“, The Lancet 380 (2012), 908–915; Bernard Lo, „Euthanasia in the Netherlands: what lessons for elsewhere?“, The Lancet 380 (2012), 869–870. Vgl. ebd. Vgl. Judith Rietjens et al., „Continuous Deep Sedation for Patients Nearing Death in the Netherlands: Descriptive Study“, British Medical Journal 336 (2008), 810–813. Vgl. Georg Marckmann/Anna Mara Sanktjohanser/Jürgen in der Schmitten, Sterben im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie, in: Franz-Josef Bormann/Gian-Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin: De Gruyter, 2012, 351–367. Vgl. Georg Marckmann, „Lebensverlängerung um jeden Preis? Ethische Entscheidungskonflikte bei der passiven Sterbehilfe“, Ärzteblatt Baden-Württemberg 59 (2004), 379–382. Vgl. auch das Themenheft von HEC-Forum (Health Care Ethics Committee Forum: An Interprofessional Journal on
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zwischen der Wirksamkeit und dem Nutzen einer Maßnahme: Ein Eingriff kann de facto wirksam sein, beispielsweise zur Stärkung des Kreislaufs beitragen oder die Funktion gewisser, zeitweise ausgefallener Organsysteme ersetzen, aber er muss deshalb noch nicht nützlich sein. Nutzen bzw. Nützlichkeit bezieht sich in seinem Begriffskonzept auf die Befindlichkeit des betroffenen Patienten insgesamt, während die Wirksamkeit lediglich etwas über die eingesetzte Maßnahme und deren physiologischen Folgen aussagt. Das Futility-Konzept zielt in diesem Sinne ausschließlich auf den Nutzen einer Maßnahme und damit auf die Gesamtbefindlichkeit einer Person. Praktisch erwogen werden einerseits der Verzicht auf eine Therapie und andererseits der Abbruch bereits begonnener Maßnahmen (in Deutschland auch mit „Änderung des Behandlungsziels oder Therapiebegrenzung“ umschrieben). Psychologisch gesehen ist der Abbruch von Maßnahmen, der häufig mit einer Therapiezieländerung verbunden ist, oftmals schwieriger bzw. emotional belastender als ein Verzicht auf eine Maßnahme oder Therapiebegrenzung, da in diesen Fällen der einsetzende Sterbeprozess in der Regel kausal enger in Verbindung gebracht wird mit dem eigenen Handeln. Moralisch gesehen sind beide Handlungen gleichwertig zu beurteilen, das alleinige Faktum, dass es einmal um einen Abbruch und das andere Mal um einen Verzicht geht, qualifiziert die Handlungen moralisch nicht unterschiedlich. Bei der Bestimmung der Nutzlosigkeit sind gemäß G. Marckmann zudem zwei Begriffsbereiche zu unterscheiden: Nutzlosigkeit im engeren Sinne zunächst meint, der Einsatz einer Therapie bleibe aller Voraussicht nach ohne Erfolg, sei also aus medizinischer Sicht wirkungslos. Selbst bei Anwendung einer Maximaltherapie könnte das Leben einer Patientin nicht mehr erhalten werden oder auch nur ein bestimmtes Heilungsziel „objektiv“ erreicht werden. Nutzlosigkeit im weiteren Sinne meint dagegen, dass nur Erfolgsaussichten bestehen, welche keine anzustrebenden Behandlungsziele mehr darstellen. D. h., dass die zu erwartende Lebensqualität den Einsatz einer weiteren Maßnahme nicht mehr lohnt bzw. die Intervention voraussichtlich mehr Schaden als Nutzen für den Patienten darstellt. Georg Marckmann schreibt: „Während es sich bei der Nutzlosigkeit im engeren Sinne um rein medizinisch-fachliche Urteile handelt, erfordert die Nutzlosigkeit im weiteren Sinne Bewertungen: Was ist eine geringe Erfolgsaussicht? Wann ist die Lebensqualität als inakzeptabel zu bewerten? Und auch Nutzen und Schaden sind evaluative, d. h. wertende Begriffe.“43
Der Nutzen oder Schaden wird stets auf ein bestimmtes Woraufhin bestimmt, Nutzen wozu? Schaden bezogen auf was? – und sind damit relative Begriffe, die auf zugrunde gelegte Wertungen hinweisen. Für die Frage nach einem Behandlungsabbruch oder -verzicht ergibt sich aus diesen Überlegungen heraus folgende Konsequenz: Ist der Einsatz einer Maßnahme im engeren Sinne oder quantitativ gesehen nutz-, weil wirkungslos, so ist eine einseitig ärztliche Entscheidung gerechtfertigt bzw. aus ethischer Sicht sogar geboten, um das Zufügen von Schaden zu verhindern und die Verschwendung von Ressourcen zu verhindern. Die Entscheidung darüber, ob eine Nutzlosigkeit im weiteren oder qualitativen Sinne vorliegt, ist im Prinzip dem betroffenen Patienten zu überlassen, da die Vorstellungen über Lebenswert und Lebensqualität sehr verschieden sind und auch je
43
Healthcare Institutions’ Ethical and Legal Issues) 19 (2007), Heft 1, mit einem Editorial von Griffin Trotter, „Futility in the 21st century“, 1–12. Marckmann (Fn. 42), 380.
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nach Lebenssituation stark divergieren; so kann es sein, dass eine Frau unbedingt noch die Geburt ihres Enkelkindes oder den Schulabschluss ihrer ältesten Tochter erleben möchte, und darum eine Reihe von Therapien auf sich nehmen möchte, die aus Sicht eines anderen Patienten mehr Schaden als Nutzen erbringen. Susan B. Rubin betont die Gefahr, dass Ärztinnen ihre eigene Sicht von Leben, Sterben und Leiden in einem maternalistischen Sinne bei Entscheidungen am Krankenbett anwenden könnten, was sie zu Recht für problematisch hält.44 Allerdings betont sie auch, dass die Medizin unvermeidlich und wesentlich eine soziale (und nicht nur individuelle) Praxis darstelle, medizinische Entscheidungen daher notwendig immer auch soziale Ansichten, Werte, Werthaltungen beinhalteten und transportierten. Wichtig sei, diese Gegebenheit wahrzunehmen, anzuerkennen und möglichst bewusst und offen damit umzugehen. Schwierig wird es, wenn der Patient eine Therapie verweigert bzw. als sinnlos ablehnt, obgleich sie aus Sicht der Ärztin hilfreich wäre; hier wiegt im Zweifelsfall der Wille des Patienten stärker als die Fürsorge und ist letztlich – nach erfolgter Aufklärung und Ausschluss von Depressionen etc. – zu achten; eine Variante besteht darin, dass Eltern beispielsweise für ihr Neugeborenes eine Therapie verweigern, welche aus Sicht der Ärzte angezeigt wäre; hier muss unter Umständen die Erwachsenenschutzbehörde eingeschaltet werden, auf alle Fälle dann, wenn es um Leben und Tod des kleinen Patienten geht. Ebenfalls eine Schwierigkeit entsteht dann, wenn ein Patient im Hinblick auf schwierige Therapieentscheidungen am Lebensende nicht mehr urteilsfähig ist. Aus ethischer Sicht ist dann der mutmaßliche Wille des Patienten entscheidend, dass heißt der Wille, den der Patient zum Zeitpunkt der Entscheidfindung mit großer Wahrscheinlichkeit äußern würde, wenn er urteilsfähig wäre. Zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens können insbesondere Patientenverfügungen, Vertretungspersonen sowie frühere Äußerungen, die sich auf die aktuelle Situation beziehen lassen, hilfreich sein. Erfahrungen zeigen, dass die Patientenverfügungen alleine ihren Zweck nur bedingt erfüllen. Dazu kommt, dass bislang nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine Verfügung erstellt hat. Zur Sicherung des Patientenwillens bei Entscheidungen am Lebensende scheint sich dagegen das Konzept einer umfassende Vorausplanung (Advance Care Planning) eher zu bewähren.45 Es besteht darin, dass erstens in einem professionell begleiteten Gesprächsprozess rechtzeitig mit einem Patienten dessen Präferenzen festgelegt werden, und dass gleichzeitig zweitens die in der Gesundheitsversorgung Tätigen so geschult werden, dass sie diese Vorausverfügungen kennen und auch respektieren. 4.3 SUIZIDHILFE Die Forderung einer Etablierung, d. h. einer Regelung und Normalisierung der Suizidhilfe ist aus ethischer Sicht zu Recht umstritten. Es lassen sich drei Problemzonen identifizieren, die einer vertieften gesellschaftlichen Debatte bedürfen.46 44 45 46
Vgl. Susan B. Rubin, „If We Think It’s Futile, Can’t We Just Say No?“, HEC-Forum 19 (2007), 45–65. Vgl. Karen M. Detering et al., „The Impact of Advance Care Planning on End of Life Care in Elderly Patients. Randomised Controlled Trial“, British Medical Journal 340 (2010), c1345. Vgl. Christoph Rehmann-Suter u. a. (Hg.), Beihilfe zum Suizid in der Schweiz. Beiträge aus Ethik, Recht und Medizin, Bern: Peter Lang, 2006; Zimmermann-Acklin (Fn. 28), 321–335.
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Erstens geht es um die Frage nach dem Verfügungsrecht über das eigene Leben. Seit dieses Recht außerhalb religiöser Ethiken kaum mehr ernsthaft infrage gestellt wird, konzentrieren sich die Auseinandersetzungen im Rahmen dieser grundsätzlichen Fragestellung heute insbesondere auf die Frage nach der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit eines auf einer freien Entscheidung beruhenden Bilanzsuizids.47 Die damit verbundene Unsicherheit ist insbesondere mit Blick auf die Beurteilung der Suizidalität von psychisch kranken Menschen virulent: Inwieweit ist ein Suizidwunsch Teil der Erkrankung, wann ist er ein freier Entschluss, der in Auseinandersetzung mit einer psychischen Erkrankung gefällt wurde? Zweitens ist die Beihilfe zu bedenken: Was heißt es, als Begleiter gemeinsam mit einer sterbewilligen Person zu der Auffassung zu kommen, es gäbe keinen anderen Ausweg mehr als die Selbsttötung? Hier stellen sich beispielweise Probleme hinsichtlich der Distanz und Nähe zwischen Sterbewilligem und Helfendem, die bislang kaum diskutiert wurden. Drittens sind die gesellschaftlichen Folgen einer etablierten Praxis der Suizidhilfe zu überdenken. Hier geht es insbesondere darum, wie Missbrauch und Ausweitungseffekte zu verhindern sind sowie um die schwierige Abgrenzung der staatlichen Pflicht zum Lebensschutz besonders vulnerabler Menschen und der Akzeptanz von Suizidhilfeorganisationen. Ist der Suizid eine humane Möglichkeit, eine unerträgliche Situation zu beenden, dem Sterben gleichsam zuvorzukommen? Der Entschluss ist radikal und die Handlung unwiderruflich, was angesichts der erwähnten Ambivalenzen bei Todeswünschen als besonders problematisch erscheint. Die Selbsttötung steht darum aus Sicht einer christlichen Ethik unter moralischem Vorbehalt, sie ist oft, wenn auch nicht immer, Symptom und nicht Therapie einer schweren Belastung, und steht daher zusätzlich unter medizinisch-psychiatrischem Vorbehalt. Aufgrund dieses doppelten Caveats ist auch die Beihilfe mit großer Verantwortung verbunden und ethisch bedenklich. Als etablierte und rechtlich geregelte Praxis ist sie aufgrund der Gefährdung der ärztlichen Berufsintegrität und Fürsorgepflicht abzulehnen. Mit Blick auf die Erfahrungen in Oregon bleibt zu fragen, ob ein Staat zugunsten der Erweiterung der Handlungsfreiheit einiger Weniger das Wohlergehen Vieler, namentlich von Menschen mit psychischen Krankheiten, gefährden sollte. Darüber hinaus stellen sich mit Blick auf eine mögliche gesetzliche Regelung der Suizidhilfe eine Reihe schwieriger praktischer Fragen, auf welche die Schweizer Nationale Ethikkommission in einer Stellungnahme hingewiesen hat:48 Wenn die Suizidhilfeorganisationen staatlich beaufsichtigt werden, erhält ihre Praxis damit gleichzeitig auch eine offizielle Anerkennung, die falsche Signale setzen könnte. Soll die Suizidhilfe auch für Kinder und Jugendliche erlaubt werden? Wie soll die Suizidhilfe praktisch in Pflegeheimen geregelt und durchgeführt werden? Besonders schwierig und umstritten ist die Rolle, welche die Ärzteschaft übernehmen soll: Während der Gesetzgeber ein Interesse daran hat, die Ärzte als Kontrollinstanz möglichst stark in die Praxis der Suizidhilfe einzubinden, sind die Ärzte selbst nur 47
48
Vgl. Adrian Holderegger, Suizid – Leben und Tod im Widerstreit, Freiburg i. Ue.: Paulus-Verlag, 2002, 110–121; Dagmar Fenner, Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit? Eine medizin-ethische Untersuchung, Freiburg/München: Alber-Verlag, 2008; Matthias Bormuth, Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein-Verlag, 2008. Vgl. Nationale Ethikkommission, Beihilfe zum Suizid. Stellungnahme 9/2005, Bern (www.nekcne.ch), 2005, 65–77.
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bedingt gewillt, diese Funktion zu übernehmen, da die Praxis nicht mit ihrem traditionellen beruflichen Ethos vereinbar ist, dass im Heilen, Pflegen und Begleiten besteht. Erfahrungen aus Oregon und der Schweiz zeigen, dass mit einer Etablierung der Suizidhilfe entgegen häufig geäußerter Erwartungen die öffentlichen Diskussionen nicht beendet, sondern eher intensiver werden. Die Untersuchungen zu den Sterbewünschen haben zudem ergeben, dass diese tendenziell unbeständig sind und dass die Palliative Care bestrebt ist, rechtzeitig auf Ängste und Bedrohungen einzugehen: Sie versucht dies, indem sie die Erhaltung der Lebensqualität ins Zentrum stellt, Ängsten vor unerträglichen Schmerzen und erst Recht realen Schmerzen rechtzeitig und effizient entgegnet und indem sie nicht nur den Patienten betreut, sondern stets auch dessen Umfeld mit einbezieht. Damit setzt sie offensichtlich an den entscheidenden Schwierigkeiten an und versucht, dem drohenden Selbstverlust schwer leidender Menschen entgegenzuwirken. Insofern ist es auch wenig überraschend, dass in der Palliative Care-Bewegung und bei den Suizidhilfeorganisationen ähnliche Werte vertreten werden: Beiden ist es wichtig, die Selbstbestimmung des Patienten zu betonen, Schmerzen als etwas Negatives zu bekämpfen, der Reduktion des Menschen auf seine biologischen Bedingtheiten entgegenzuwirken und ihn als ganze Person wahrzunehmen, ein „kontrolliertes“ bzw. bewusst gestaltetes Sterben zu ermöglichen und die Ansicht stark zu machen, der Tod sei nicht das größte Übel und nicht unter allen Umständen zu verhindern.49 Der entscheidende Unterschied besteht offensichtlich in der speziell in den Suizidhilfeorganisationen bestehenden Bereitschaft, ab einem gewissen Punkt „aufzugeben“ und zuzulassen, dass nur noch die Lebensbeendigung einen Ausweg aus einer unerträglichen Situation darstellt. Während im Bereich von Palliative Care die Kräfte darauf konzentriert werden, diese Grenzüberschreitung und damit eine Verletzung des kulturell nicht umsonst tief verankerten (Selbst-)Tötungsverbots möglichst zu vermeiden, gehen die Suizidhilfeorganisationen davon aus, dass sich diese Überschreitung grundsätzlich nicht verhindern lasse und die Lebensbeendigung als eine Wahlmöglichkeit etabliert werden sollte. 5. AUFGABEN Bevor wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden, in der Politik z. B. durch Professionalisierung und Institutionalisierung bestimmter Bereiche, und im Recht beispielsweise durch Ergänzungen des Strafgesetzbuchs oder die Schaffung eines neuen Bundesgesetzes zur Sterbehilfe, sollten drei Aufgaben intensiver als bisher wahrgenommen werden. Erstens wäre es wichtig, die öffentlichen Debatten verstärkt zu führen: Wir wissen nach wie vor zu wenig, was sich Bürgerinnen und Bürger am Lebensende wünschen bzw. wie sie die zu fällenden Entscheidungen beurteilen. Gewisse begrenzte politische und rechtliche Maßnahmen erscheinen zweitens bereits heute angebracht, beispielsweise die Förderung der Palliative Care auch für nicht-Onkologie-Patienten und in ländlichen Gebieten, die Etablierung eines Aufsichtsgesetzes für Sterbehilfeorganisationen oder die Unterstützung von Bedingungen, die es auch berufstätigen 49
Vgl. Hurst/Mauron (Fn. 12).
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Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, ihre Angehörigen im Sterben zu begleiten. Drittens ist es sinnvoll, die Lebensende-Forschung zu intensiveren, wie dies im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 67 „Lebensende“ bereits durchgeführt wird.50 Nur auf diese Weise kann die Wissensbasis dafür geschaffen werden, um grundlegende Entscheidungen in Politik und Recht in Zukunft zu ermöglichen. Offene Fragen betreffen im Grunde alle aufgegriffenen Themen und Bereiche: Wer nimmt beispielsweise aus welchen Gründen eine Suizidhilfe in Anspruch? Wer hat aus welchen Gründen eine Patientenverfügung ausgefüllt, wer nicht? Wer hat heute Zugang zur Palliative Care? Wie weit geht die Bereitschaft, die hohen und steigenden Kosten für die gesundheitliche Versorgung am Lebensende sozial für alle zu finanzieren? Was wird heute unter einem guten bzw. schlechten Sterben verstanden? Wie wirkt sich das neue Erwachsenenschutzgesetz auf Entscheidungen am Lebensende aus? Was gesellschaftlich verbreitete Ideale um Sterben und Tod betrifft, stellt die einseitige Orientierung an Kontrolle und Sicherstellung heute sicherlich ein Problem dar. Selbstbestimmung ist ja erst dann möglich, wie Martin Seel geschrieben hat, wenn wir bereit sind, uns von Anderem, Anderen und auch von uns selbst überraschen zu lassen.51 Allan Kellehear, ein englischer Soziologe, der seit Jahrzehnten Sterben und Tod erforscht, meinte: „Dying, like life itself, can still surprise us with the unexpected and the positive, often even in what seems to be our darkest hour.“52
50 51 52
Vgl. dazu die Angaben unter www.nfp67.ch. Vgl. Martin Seel, „Aktive und passive Selbstbestimmung“, Merkur 54 (2000), 626–632. Allan Kellehear, What the social and behavioural studies says about dying, in: Allan Kellehear (Ed.), The study of dying. From autonomy to transformation, Cambridge: Cambridge University Press 2009, 1–26, hier: 17.
ZWEITER TEIL: DISKUSSIONSVOTEN DEUXIÈME PARTIE: DÉLIBÉRATIONS
DANIELA DEMKO, LUZERN/BASEL HUMANFORSCHUNG UND NEUROENHANCEMENT IM KONTEXT VON ETHIK, ANTHROPOLOGIE UND RECHT – EIN BEITRAG ZUR ENTWICKLUNG EINES MENSCHENWÜRDEBEGRÜNDETEN MENSCHENBILDES 1. (NEURO-)ENHANCEMENT
IM
KONTEXT
DES
HUMANFORSCHUNGSRECHTS
Mit dem Verfassungsartikel 118b BV (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999) zur Forschung am Menschen ist die „Grundlage für eine einheitliche und umfassende Regelung der Forschung am Menschen in der Schweiz“1 geschaffen. Der Regelungsauftrag dieses Verfassungsartikels hat in dem Bundesgesetz über die Forschung am Menschen2 vom 30. September 2011 seine Umsetzung gefunden.3 Beide erheben, wie es Art. 118b Abs. 1 S. 1 BV und Art. 1 Abs. 1 HFG expressiv sichtbar machen, den Schutz der Würde und Persönlichkeit des Menschen in der Forschung zum obersten Regelungs- und Leitmassstab. Denkt man bei der Forschung am Menschen dabei auf den ersten Blick an Forschungen, bei denen es um die Heilung, Linderung und Vorbeugung von Krankheiten geht, so zeigt eine nähere Betrachtung, dass sich der Verfassungsartikel und das HFG ebenso für Forschungen am Menschen zur „Verbesserung des Menschen“ offen gestalten, womit der in diesem Beitrag näher zu untersuchende Zusammenhang von Humanforschung und Enhancement angesprochen ist. Bei Enhancement geht es um die gezielte Gestaltung, Verbesserung, Veränderung von physischen und/oder psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen, denen kein Krankheitswert zugemessen wird, durch als „künstlich“ empfundene, nicht schon kulturell approbierte Mittel.4 Im Unterschied zu dem die körperliche Seite des Menschen ansprechenden Body-Enhancement betrifft Neuroenhancement die gezielte Einflussnahme auf die mentale Verfasstheit und individuelle Psyche des Menschen. Angesprochen sind hier Einflussnahmen (etwa) auf kognitive Leistungen (z. B. Gedächtnis- oder Konzentrationsleistungen), auf mit Gefühlen und Emotionen verbundende Eigenschaften (z. B. Ängstlichkeit) oder die Persönlichkeitsdisposition und Persönlichkeitsveränderungen betreffende Einflussnahmen (Persönlichkeitsenhancement).5 Nicht gemeint 1 2 3
4
5
Botschaft zum Bundesgesetz über die Forschung am Menschen vom 21. Oktober 2009, 09.079 (nachfolgend Botschaft HFG), 8054. Nachfolgend bezeichnet als Humanforschungsgesetz, HFG. Dazu näher Botschaft HFG, 8054 ff.; in Kraft treten wird das HFG voraussichtlich im Sommer 2013; siehe auch Bundesgesetz über die Forschung am Menschen (Humanforschungsgesetz, HFG), Entwurf: http://www.admin.ch/ch/d/ff/2009/8163.pdf. Siehe näher Eike Bohlken/Christian Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie, Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2009, 107 ff.; Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2006, 111 ff. Siehe dazu etwa Oliver Müller, Der Mensch zwischen Selbstgestaltung und Selbstbescheidung. Zu den Möglichkeiten und Grenzen anthropologischer Argumente in der Debatte um das Neuroenhancement, in: Die „Natur des Menschen“ in Neurowissenschaft und Neuroethik, hg. v. Jens Clausen/Oliver Müller/Giovanni Maio, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann,
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sind damit aber die Seite der Psyche des Menschen betreffende Verbesserungen/ Veränderungen durch in der Gesellschaft als „normal“ angesehene Mittel – wie intensives Lern- und Gedächtnistraining, Erziehung, Bildung, psychologische Betreuungs- und Coachingmethoden und/oder die Anwendung bestimmter technischer Hilfen, wie Handy oder Computer –, sondern gemeint sind vielmehr solche durch sog. „künstliche“ Mittel und Eingriffe (etwa in das Gehirn), sei es etwa durch Psychopharmaka, Gehirnstimulation, Hirnimplantate, Modulation des Hirnstoffwechsels, Eingriffe ins Genom oder als weitere Zukunftsvision die Schaffung von MenschMaschine-Wesen.6 1.1 ÖFFNUNG DES ART. 118B BV UND DES HUMANFORSCHUNGSGESETZES FÜR (NEURO)ENHANCEMENTBEZOGENE FORSCHUNG Bevor der ethische und rechtliche Rahmen des HFG für (neuro)enhancementbezogene Forschung am Menschen im Einzelnen zu untersuchen ist, ist zunächst zu zeigen, „dass“ der Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen und das HFG auch (neuro)enhancementbezogene Forschung in sich einschliessen: Primäres Ziel des Art. 118b BV ist der Schutz von Würde und Persönlichkeit des Menschen in der Forschung.7 Ausgerichtet auf dieses Ziel – sich hingegen nicht auf bestimmte Fachbereiche, wie Medizin oder Psychologie beschränkend, d. h. keinen fachbereichsbezogenen Ansatz vertretend8 – ist dem Art. 118b BV ein sich an diesen beiden Rechtsgütern der Würde und Persönlichkeit des Menschen ausrichtender Anwendungsbereich eigen.9 Mit dieser rechtsgutbezogenen Ausrichtung ist zugleich ein sog. gefährdungsbezogener Anwendungsbereich verknüpft, wonach dem Bund eine Regelungskompetenz im Bereich der Forschung immer, aber auch nur dann zukommt,10 wenn und soweit der Schutz von Würde und Persönlichkeit dies erforderlich macht („soweit der Schutz seiner Würde und seiner Persönlichkeit es erfordert“), d. h. wenn und soweit Würde und Persönlichkeit durch Humanforschungen in Gefahr sind,
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2008, 186 f.; Jan-Christoph Heilinger, Die anthropologische Dimension der Technisierung des Menschen, Ein Plädoyer für eine anthropologisch fundierte „Gelassenheit“, in: Das technisierte Gehirn, Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, hg. v. Oliver Müller/Jens Clausen/Giovanni Maio, Paderborn: mentis Verlag, 2009, 402 f.; Matthis Synofzik, Technische Optimierung des Gehirns: Was wäre dagegen einzuwenden?, in: Müller/Clausen/Maio (Fn. 5), 313 f.; Dominik Baltes, Philosophisch-anthropologische und theologische Überlegungen zum neurotechnologischen Enhancement, in: Müller/Clausen/Maio (Hg.) (Fn. 5), 341. Dazu etwa Heilinger (Fn. 5), 402 f.; Wolfgang van den Daele, Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement, in: Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn, hg. v. Deutschen Ethikrat, 2009, 107, siehe dazu auch www.ethikrat.org; zu verschiedenen Anwendungsgebieten von Enhancement siehe auch Nathalie Janßen, Der Authentizitätsbegriff in der Enhancementdebatte, Berlin: Lit Verlag, 2010, 19 ff. Siehe Botschaft zum Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen vom 12. September 2007, 07.072 (nachfolgend Botschaft BV), 6719. Dazu Botschaft BV, 6714, 6720, 6721 f.: „einheitliche und umfassende Regelung der Forschung am Menschen“ (6720, Hervorhebung Demko), „unabhängig vom Fachbereich“ (6722, Hervorhebung Demko). Siehe Botschaft BV, 6714. Ausdrücklich Botschaft BV, 6721: „Gleichzeitig begrenzen diese beiden Rechtsgüter den Anwendungsbereich des Verfassungsartikels“ (Hervorhebung Demko), „dann – und nur dann“.
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verletzt zu werden.11 Ausdrücklich verknüpft die Botschaft mit diesem gefährdungsbezogenen Ansatz einen dynamischen sowie zukunftsoffenen und flexiblen, d. h. zukünftige wissenschaftliche Entwicklungen in der Forschung einschliessenden Ansatz, um Gefährdungen von Würde und Persönlichkeit durch neuartige zukünftige Forschungen – wie sie sich auch im Zusammenhang mit (neuro)enhancementbezogener Forschung ergeben können – verhindern zu können.12 Nicht nur in der Botschaft ist darauf hingewiesen, dass nicht nur medizinische, sondern auch Forschungen ausserhalb der Medizin erfasst sind,13 sondern diese Erweiterung über den Bereich der Medizin hinaus zeigt explizit zudem der Wortlaut des Art. 118b Abs. 2 S. 1 BV, der von der „Forschung in Biologie und Medizin“ spricht. (Neuro-)Enhancementbezogene Forschung fällt unter diese biologische Forschung, geht es hier doch um Untersuchungen von Wirkungen und Verlauf bestimmter Einflussnahmen und Eingriffe in den Körper der Menschen zu dessen Verbesserung und/oder Veränderung in physischer und/oder psychischer Hinsicht.14 Die Öffnung des Art. 118b BV für (neuro)enhancementbezogene Forschung setzt sich beim HFG fort: Der Schutz von Würde und Persönlichkeit sowie der Gesundheit des Menschen in der Forschung wird als Zweck des HFG in dessen Art. 1 Abs. 1 an den Anfang gestellt und damit ist auch hier der rechtsgut- und gefährdungsbezogene Ansatz sichtbar, der mit Art. 118b BV verknüpft ist.15 Dass der Geltungsbereich des HFG sich nicht allein auf krankheitsbezogene Forschung beschränkt, zeigt sich sogleich anschliessend im Art. 2 Abs. 1 S. 1 HFG, wonach dieses Gesetz für die Forschung zu Krankheiten des Menschen sowie „zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers“ gilt. Jene bereits hier sichtbare Öffnung für nichtkrankheitsbezogene Forschung am Menschen und damit auch für (neuro)enhancementbezogene Forschung bestätigt sich durch die Begriffsdefinition in Art. 3 lit. b und c HFG, wo es zu der „Forschung zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers“ heisst: „Grundla11 Siehe Botschaft BV, 6721: „Gefahr einer Würde- oder Persönlichkeitsverletzung“; „Gesetzgeberischer Handlungsbedarf entsteht dann, wenn ein Gefährdungspotenzial für Würde oder Persönlichkeit vorliegt …“ (Hervorhebung Demko); eine solche Gefährdungsanalyse wurde bei dem HFG vorgenommen und bejaht, siehe Botschaft HFG, 8046: „Die von der Verfassung geforderte Gefährdungsanalyse hat gezeigt, dass die Forschung zu Krankheiten des Menschen sowie zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers zum Schutz von Würde und Persönlichkeit des Menschen regulierungsbedürftig ist. Dies aufgrund der mit dieser Forschung stets einhergehenden Gefährdung der physischen und psychischen Integrität sowie des Rechts auf Selbstbestimmung der teilnehmenden Personen …“ (Hervorhebung im Original); dazu auch Rainer Schweizer, Die Bundesgesetzgebung zur Humanforschung in der Schweiz, in: Ethik und Recht in der Humanforschung, hg. v. Ulrich Körtner/Christian Kopetzki/Christiane Druml, Wien/New York: Springer Verlag, 2010, 21 f. 12 Näher dazu Botschaft BV, 6721 f.: „… zukunftsoffen formuliert: Welche Forschungsbereiche darunter fallen, hängt davon ab, was in der jeweiligen Zeit als würde- oder persönlichkeitsverletzend gilt. Damit ist auf Verfassungsstufe Flexibilität in einem sich rasch wandelnden Gebiet wie der Forschung gewährleistet. Heute noch nicht absehbare wissenschaftliche Entwicklungen, die ein Gefährdungspotenzial für Würde oder Persönlichkeit in sich bergen, können aufgefangen und einer Regulierung zugeführt werden, ohne dass eine Änderung der Verfassung notwendig wird.“ (Hervorhebung im Original); siehe auch näher Botschaft HFG, 8056. 13 Siehe dazu Botschaft BV, 6722. 14 Ebenso Anne Eckhardt et al., Human Enhancement, Zürich: vdf Hochschulverlag, 2011, 210 f. 15 Siehe auch Botschaft HFG, 8046: „Der vorliegende Gesetzesentwurf stellt – in Übereinstimmung mit dem primären Ziel von Artikel 118b BV – in erster Linie ein Gesetz zum Schutz des Menschen in der Forschung dar …“ (Hervorhebung Demko).
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genforschung, insbesondere zur Anatomie, Physiologie und Genetik des menschlichen Körpers, sowie nicht auf Krankheiten bezogene Forschung zu Eingriffen und Einwirkungen auf den menschlichen Körper“.16 Erfasst ist vom HFG damit auch Forschung ohne Krankheitsbezug, wenn und insofern „sie sich mit Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers auseinandersetzt oder mit Eingriffen und Einwirkungen auf den Körper einhergeht“.17 Mit eben solchen Forschungen ist die Gefahr einer Verletzung der physischen und/oder psychischen Integrität des Menschen in der Forschung verbunden,18 weshalb das die Würde und die Persönlichkeit verletzende besondere Gefährdungspotential bejaht wird.19 Mit Blick auf die Interdisziplinarität der Forschung verzichtet das HFG – wie auch Art. 118b BV – auf eine fachbereichsbezogene Umschreibung und zum entscheidenden Mittelpunkt wird vielmehr „der zu erzielende Erkenntnisgewinn zu Krankheiten des Menschen sowie zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers“20 erklärt. Unerheblich ist, „in welcher wissenschaftlichen Disziplin und mit welchen Methoden die Forschung durchgeführt wird“21 und massgebend ist für den Anwendungsbereich des HFG allein, dass es bei den Forschungen am Menschen um solche zu Krankheiten oder zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers geht. Auch (neuro)enhancementbezogene Forschung ist von jener Begriffsdefinition des Art. 3 lit. c HFG als erfasst anzusehen und fällt als Forschung zu „Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers“ in den Geltungsbereich des HFG (Art. 2 Abs. 1 S. 1 HFG), denn auch bei Forschungen zur physischen und/oder psychischen Verbesserung des Menschen geht es um einen angestrebten Erkenntnisgewinn über den Aufbau und die Funktion des menschlichen Körpers.22 Zudem kommt es auch bei einer auf physische und/oder psychische Verbesserung des Menschen ausgerichteten Forschung zum Einsatz von „künstlichen“ Mitteln und Methoden, wie etwa von Psychopharmaka, Gehirnstimulation oder -implantaten oder Gen-Eingriffen, was mit Eingriffen und Einwirkungen auf den menschlichen Körper einhergeht und die physische und/oder psychische Integrität des Menschen in der Forschung verletzen kann. 1.2 ETHISCHE UND RECHTLICHE KRITERIEN DES HFG FÜR (NEURO)ENHANCEMENTBEZOGENE FORSCHUNG 1.2.1 In das HFG einfliessende bioethische Prinzipien Ist damit, auch wenn weder Art. 118b BV noch das HFG ausdrücklich von Forschung zum (Neuro-)Enhancement sprechen, aufgezeigt, dass infolge der weit, dynamisch und zukunftsoffen verstandenen „Forschung am Menschen“ auch (neuro) enhancementbezogene Forschung in deren Anwendungsbereich fällt, so bleibt zu 16 17 18 19 20 21 22
Art. 3 lit. c HFG, Hervorhebung Demko; siehe zur krankheitsbezogenen Forschung die Begriffsdefinition in Art. 3 lit. b HFG. Botschaft HFG, 8079 (Hervorhebung Demko). Dazu näher Botschaft HFG, 8078 f., siehe zu Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit und/ oder der psychischen Unversehrtheit der teilnehmenden Personen näher 8079. Siehe Botschaft HFG, 8079, zudem 8055. Botschaft HFG, 8080 (Hervorhebung Demko). Botschaft HFG, 8080. Ebenso Eckhardt (Fn. 14), 211.
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prüfen, ob und welche ethischen und rechtlichen Masstäbe das HFG für Humanforschungen aufstellt und insbesondere, ob das HFG dabei auch inhaltlich hinreichend klar und umfassend genug geregelt ist, um Gefährdungen von Würde und Persönlichkeit, wie sie mit ((neuro)enhancementbezogener) Forschung am Menschen einhergehen, wirksam begegnen zu können. Bereits das Lesen des Art. 118b BV und des HFG offenbart eine eingegangene Verbindung von Recht und prinzipienethischen Ansätzen, wie sie von den Bioethikern Beauchamp und Childress ausgeformt worden sind.23 Der Bezug auf die vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik in Gestalt des Respekts vor der Autonomie von Personen (respect for autonomy), des Nichtschadens (nonmaleficence), des Wohltuns (beneficence) und der Gerechtigkeit (justice) wird zudem in der Botschaft zum HFG ausdrücklich hergestellt.24 So richtig und zu begrüssen es ist, dass das HFG die Rückbindung zur Ethik herstellt und die verschiedenen bioethischen Prinzipien in rechtliche Bestimmungen umzusetzen und hier zu konkretisieren sucht, so vorschnell und falsch ist jedoch die Annahme, allein schon mit diesen ethischen Prinzipien „mittlerer Ebene“25 eine hinreichende Lösung für die sich im Zusammenhang mit der Forschung am Menschen stellenden Fragen gefunden zu haben. Denn ohne eine inhaltliche Ausfüllung und inhaltliche Spezifizierung jener Prinzipien besteht die Gefahr, dass sich die an der Prinzipienethik geübte Kritik auf die rechtlichen Bestimmungen des HFG überträgt und diesen dann ebenso wie der Prinzipienethik (zu recht) entgegengehalten wird, dass sie nicht mehr als „ein Rohmaterial …, ein konzeptionelles Gerüst“26 darstellen, das sich noch dazu als vage und offen für das (u. U. auch missbräuchliche) Hineininterpretieren verschiedenster Interessen und Intuitionen erweist sowie zu einem oberflächlichen und mechanischen Gebrauch jener vier Prinzipien einlädt.27
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Siehe dazu etwa die Beiträge in Oliver Rauprich/Florian Steger (Hg.), Prinzipienethik in der Biomedizin, Moralphilosophie und medizinische Praxis, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2005; zu diesen Prinzipien im Zusammenhang mit Neuroenhancement siehe etwa Roland Kipke, Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn: mentis Verlag, 2011, 283 ff. Siehe im Einzelnen Botschaft HFG, 8058 ff.: „… Aus ethischer Sicht stellen sich im Zusammenhang mit der Forschung am Menschen grundsätzliche Fragen … Daneben ist auch über Aspekte zu befinden, die einer Abwägung bedürfen … In der Regel werden zur Beantwortung solcher Fragen die vier klassischen Prinzipien der biomedizinischen Ethik herangezogen. Es sind dies: ‚Autonomie‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Schadensvermeidung‘ und ‚Fürsorge‘ … Die Stärke des auf diesen Prinzipien der biomedizinischen Ethik abgestützten Ansatzes besteht darin, dass bei der Beurteilung konkreter Probleme auf unterschiedliche Aspekte Rücksicht genommen werden kann …“ (8058, Hervorhebung „Autonomie“, „Gerechtigkeit“, „Schadensvermeidung“, „Fürsorge“ im Original; übrige Hervorhebung Demko). Zu den Vorteilen und Nachteilen solcher „Theorien mittlerer Ebene“ vgl. Bettina SchöneSeiffert, Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2007, 24 ff. („Theorien, Prinzipien und Einzelfallurteile“), eine Auseinandersetzung mit dem Konzept von Beauchamp und Childress findet sich dort insbesondere auf den Seiten 32 ff.; zu den Unklarheiten solcher Versuche einer theorieunabhängigen Prinzipiensammlung vgl. auch Marcus Düwell, Bioethik – Methoden, Theorien und Bereiche, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2008, 92 ff. Oliver Rauprich, Prinzipienethik in der Biomedizin – Zur Einführung, in: Rauprich/Steger (Fn. 23), 17. Siehe zu dieser und weiterer Kritik etwa Rauprich (Fn. 26), 17 ff.
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1.2.2 Die rechtlichen Kriterien der Autonomie, Gerechtigkeit und Nutzen-Risiko-Abwägung Das Prinzip des Respekts vor der Autonomie von Personen (respect for autonomy) hat im HFG mit den Bestimmungen zur Einwilligung nach hinreichender Aufklärung in Art. 7 und Art. 16 HFG seine besondere Konkretisierung gefunden. Deutlich hebt die Botschaft hervor, dass der Mensch niemals nur als Mittel zum Zweck missbraucht werden dürfe (Verbot der Instrumentalisierung), und betont ist „die Forderung nach Autonomie …, d. h. nach einer freiwilligen und informierten Einwilligung als Grundvoraussetzung für die Rechtmässigkeit einer medizinischen Handlung im Allgemeinen und eines Forschungsprojekts im Besonderen“.28 Das bioethische Prinzip der Gerechtigkeit (justice), das schon für sich in heterogener Weise mit verschiedensten materiellen und prozeduralen (Unter-)Kriterien zu einer fairen Verteilung von Nutzen und Lasten verbunden ist und infolge dessen nach einer systematischen und inhaltlichen Ausformung verlangt,29 findet im HFG seinen Anknüpfungspunkt in Art. 6 HFG zur Nichtdiskriminierung. Die erforderliche inhaltliche Konkretisierung jenes heterogenen ethischen Prinzips der Gerechtigkeit ist durch die rechtlichen Regelungen allein des Art. 6 HFG (sowie die Ausführungen in der Botschaft30) nicht zu genüge hergestellt und es bleibt zu hoffen, dass die Ethikkommissionen bei ihrer Beurteilung zukünftiger Forschungsvorhaben hier hinreichend genaue Massstäbe sowie materielle und prozedurale Leitlinien aufstellen. Eine solche Vagheit von Bestimmungen des HFG ist des Weiteren bei dem ebenso für die ethische und rechtliche Beurteilung von Forschungen am Menschen wichtigen, ja – neben dem Kriterium des Respekts vor der Autonomie der Person ebenso – grundlegenden Kriterium der Nutzen-Risiko-Abwägung und dem Verbot eines Missverhältnisses zwischen Nutzen und Risiken/Belastungen zu erkennen.31 Mit den Kriterien der Nutzen-Risiko-Abwägung und des Missverhältnis-Verbots, welche sich in Art. 12 und Art. 15 II HFG wiederfinden, nimmt das HFG auf die ethischen Prinzipien des Nichtschadens (nonmaleficence) und des Wohltuns (beneficence) Rückgriff32 und sucht danach, diesen ethischen Prinzipien rechtlichen Ausdruck und rechtliche Konkretisierung zu verleihen: Die Risiken und Belastungen für die teilnehmende Person müssen so gering wie möglich gehalten werden (Art. 12 I HFG) und die voraussichtlichen Risiken und Belastungen für die teilnehmende Person dürfen nicht in einem Missverhältnis zum erwarteten Nutzen des Forschungsprojekts stehen (Art. 12 II HFG, zudem Art. 15 II HFG). Zwar werden in der Botschaft erste Konkretisierungen angesprochen, indem etwa auf die Unterscheidung zwischen Forschungen mit und ohne erwarteten direkten Nutzen für die teilnehmende Person, auf 28 29 30 31
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Botschaft HFG, 8058 (Hervorhebung Demko); dazu auch Schweizer (Fn. 11), 27 f. Siehe dazu näher Rauprich (Fn. 26), 21. Dazu näher Botschaft HFG, 8059. Siehe auch die Betonung in der Botschaft HFG, 8059 f.: „Aus den wohl grundlegendsten ethischen Prinzipien – dem Verbot, Böses zu tun, und dem Gebot, Gutes zu tun – leiten sich für den Gesundheitsbereich die beiden ethischen Prinzipien der Schadensvermeidung und der Fürsorge ab. Nebst der Sicherstellung des selbstbestimmten Entscheids der Versuchsperson (Autonomie) ist die Abwägung von Nutzen und Risiken, die ein Forschungsprojekt mit sich bringt, zentral …“ (Hervorhebung Schadensvermeidung und Fürsorge im Original; übrige Hervorhebung Demko); Schweizer (Fn. 11), 28: „der Konkretisierung bedarf “. Siehe auch ausdrücklich Botschaft HFG, 8059 f.
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den zu beachtenden Zusammenhang mit dem ethischen Prinzip der Autonomie und dem Erfordernis einer Einwilligung sowie auf die besondere Problematik der urteilsunfähigen Personen verwiesen wird.33 Eine hinreichend genaue Klärung der inhaltlichen Bedeutung und inhaltlichen Reichweite – und hier auch der Frage eines restriktiven oder extensiven Verständnisses – der Begriffe Nutzen, Risiko und Belastung gibt das HFG (und gibt auch die Botschaft) leider ebenso wenig wie hinreichend klare Vorgaben zu der vorzunehmenden Nutzen-Risiko-Abwägung und dem hier zu beachtenden Missverhältnis-Verbot,34 so dass sich die ebenso schon für die ethischen Kriterien des Nichtschadens (nonmaleficence) und des Wohltuns (beneficence) bestehenden Unbestimmtheiten betreff inhaltlichem Gehalt, Umfang und Abwägung bei den vom HFG gewählten rechtlichen Begriffen Nutzen, Risiko und Belastung fortsetzen.35 Zwar wird – zum einen in Art. 15 I, II HFG und zum anderen in Art. 118b II lit. d BV – das Erfordernis des Schutzes der teilnehmenden Person hervorgehoben, doch ist auch dies ein vager Begriff, der – ausser der Anbindung an den Schutz von Würde und Persönlichkeit als obersten Leitmassstab des HFG in Art. 1 Abs. 1 HFG – nicht näher erkennen lässt, was im Einzelnen unter diesen Schutz fällt und was nicht. Ebenso helfen die in Art. 4 HFG gewählten Begriffe Interesse und Wohlergehen des einzelnen Menschen zur inhaltlichen Konkretisierung nicht weiter, setzt sich doch auch hier die Frage nach ihrer genauen inhaltlichen Bedeutung und Reichweite und einem eher engen oder eher weiten Begriffsverständnis fort. Nicht nur überhaupt für die ethische und rechtliche Bewertung von Forschung am Menschen, sondern insbesondere für (neuro)enhancementbezogene Forschung erweist sich diese ungenügende inhaltliche Konkretisierung des HFG als misslich: Denn bei letzterer geht es nicht um krankheitsbezogene Forschung, die sich zumindest an dem (wenn auch selbst wiederum nicht gänzlich klaren) Begriff der Gesundheit orientieren kann, sondern es geht um Forschung am gesunden Menschen zu dessen Verbesserung/Veränderung, wobei sich hier dann fragt, welche Art und welcher Umfang von Verbesserungen/Veränderungen eines gesunden Menschen solche zum Wohlergehen, zum Nutzen des Menschen sind und welche eher der Risiko-, Belastungsbzw. Schadensseite zuzuordnen sind.36 Ein enges Begriffsverständnis von Wohl bzw. Nutzen einerseits und Schaden bzw. Risiko/Belastung andererseits, das nach einer Anbindung nur oder überwiegend an die Gesundheit der an der Forschung teilnehmenden Person sucht und/oder nur auf ein aktuelles oder kurzfristiges physisches oder psychisches Wohlgefühl oder umgekehrt ein physisches oder psychisches Unbehagen (sei es etwa in Form von Schmerzen oder Leiden) abstellt, würde der erforderlichen umfassenden ethischen und rechtlichen Bewertung (neuro)enhancementbezogener Forschung nicht gerecht.37 Denn gerade bei (neuro)enhancementbezogener Forschung geht es um (zu erforschende) Selbstgestaltungen des Menschen, die in 33 34 35
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Näher dazu Botschaft HFG, 8060 f. Siehe auch Eckhardt (Fn. 14), 213 zu fehlenden Vorgaben in den geltenden Gesetzen und Richtlinien. Siehe auch Eckhardt (Fn. 14), 212 f. zur Frage des Verständnisses des Nutzen-Begriffs und der dort gezogenen Schlussfolgerung, dass „Forschungsprojekte mit Enhancern generell fremdnützig sind …“ und „… prinzipiell nicht an urteilsunfähigen Personen durchgeführt werden dürfen“. Siehe zum Verständnis des Nutzen-Begriffs etwa die Auslegung von Eckhardt (Fn. 14), 212 f. Siehe ebenso die Kritik an einem verengten Begriffsverständnis von Wohltun und NichtSchaden bei Kipke (Fn. 23), 284.
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das höhere Ziel eines „glücklich(er)en“ Lebens, eines „gelingenden“ im Sinne von sich selbst verwirklichenden und seine Lebenspläne umsetzenden Lebens eingestellt sind,38 was neben der Einbindung (positiver und negativer) kurzfristiger physischer und psychischer Auswirkungen der Forschung auch nach einem weiten sowie langfristigen Blick auf das Leben, die vielfältigen Lebensaspekte und die Lebensvorstellungen der teilnehmenden Person insgesamt verlangt. Gerade dieser erforderlich anzulegende weite Bewertungsmassstab lässt die Bewertung von (neuro)enhancementbezogener Forschung wiederum nicht einfacher werden, denn es stellt sich nicht nur die Frage, was zu einem glücklich(er)en, einem sinnerfüllten Leben zu zählen ist – schon dies allein kann nicht in allgemeingültiger Weise, sondern nur von jedem Einzelnen für sich selbst beurteilt werden –, sondern es kommt die Frage hinzu, was von diesem weiten Bewertungsmassstab allein in eine ethische Bewertung fällt und was von diesem in eine auch rechtliche Bewertung (nach dem HFG) aufzunehmen ist und überhaupt aufgenommen werden darf.39 1.2.3 Die Aufgaben der Ethikkommission zwischen Recht und Ethik Die besondere Brisanz, die sich im Zusammenhang mit der Nutzen-Risiko-Abwägung mit Blick auf deren genaue inhaltliche Bedeutung und Reichweite sowie mit Blick auf das Verhältnis zwischen einer ethischen und einer rechtlichen Bewertung einer ((neuro)enhancementbezogenen) Forschung am Menschen stellt, wird ebenso sichtbar bei den den Ethikkommissionen vom HFG zugewiesenen Aufgaben. Aus Art. 45 Abs. 2 S. 2 und Art. 51 Abs. 1 S. 1 HFG geht hervor, dass es Aufgabe der Ethikkommissionen ist zu überprüfen, „ob die Forschungsprojekte und deren Durchführung den ethischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Anforderungen dieses Gesetzes entsprechen“. Nach Art. 51 Abs. 2 HFG ist den Ethikkommissionen zudem eine Beratung von Forschern möglich „insbesondere zu ethischen Fragen“.40 Den Ethikkommissionen kommt für die Bewilligung von ((neuro)enhancementbezogenen) Forschungshaben und bei der hierfür erforderlichen Nutzen-Risiko-Abwägung eine grosse Verantwortung und mangels hinreichend klarer rechtlicher Vorgaben auch ein grosser Auslegungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu.41 Zumindest solange, wie keine gemeinsamen Leitlinien für einen schweizweit einheitlichen oder zumindest harmonisierten Umgang der Ethikkommissionen bei der Bewertung von (neuro-)enhancementbezogener Forschung erstellt sind, besteht – gerade im Bereich des (Neuro-) Enhancement, das in der Gesellschaft sehr unterschiedlich beurteilt wird – die Gefahr einer mehr oder weniger bewussten Einfärbung der Beurteilung einer Ethikkommission durch subjektive Ansichten, Intuitionen und Wertungen und damit einhergehend die Gefahr einer uneinheitlichen Bewertungs- und Bewilligungspraxis der Ethikkommissionen.42
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Zu Glück, Selbstverwirklichung, Lebensplan siehe auch Kipke (Fn. 23), 202 ff., 263 ff. Zur Frage von „moralische(n) oder gar rechtliche(n) Verbote(n) des Neuro-Enhancements“ auch Kipke (Fn. 23), 285; zur Unterscheidung zwischen dem „Menschen im Recht“ und dem „Menschen in der Ethik“ siehe unter 2. sowie zur Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Bewertungskriterien im Bereich des HFG unter 3.2. Hervorhebung Demko. Dazu auch Eckhardt (Fn. 14), 214. Siehe dazu auch Eckhardt (Fn. 14), 214.
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Stützt sich das HFG zwar auf verschiedene bioethische Prinzipien und ist diese Rückbindung des Rechts an die Ethik auch zu begrüssen, so lässt das HFG mit seiner Ethik und Recht nebeneinander stellenden Formulierung von den insbesondere „ethischen und rechtlichen Anforderungen dieses Gesetzes“ (Art. 45 Abs. 2 S. 2, Art. 51 Abs. 1 S. 1 HFG) doch offen, in welchem genauen Verhältnis Ethik und Recht bei den einzelnen Bestimmungen des HFG stehen: Ist es nur die Ethik, die Eingang auch in das Recht – in die Rechtsbestimmungen des HFG – gefunden hat, die von den Ethikkommissionen bei der Bewertung von Forschungsvorhaben zu beachten ist? Oder sind von den Ethikkommissionen bei der Bewertung von Forschungshaben auch ethische Kriterien heranzuziehen, die nicht in das Recht (das HFG) eingeflossen sind, und wenn, welche sollen und dürfen dies sein? Handelt es sich, wie es der Begriff der Ethikkommissionen auf den ersten Blick nahezulegen scheint, tatsächlich um Prüfungen (nur) ethischer Kriterien oder geht es für die Frage einer rechtlichen Bewilligung eines Forschungsvorhabens nach dem Humanforschungsgesetz nicht vielmehr um die Prüfung rechtlicher Voraussetzungen des HFG, in die zwar ethische Kriterien eingeflossen sind (bzw. sein können), welche aber ihrerseits wiederum ohne eine Aufnahme in das Recht (die rechtlichen Bestimmungen des HFG) für eine (Rechts-)Bewilligung von Forschungsvorhaben nicht genügen würden?43 1.2.4 Zum Erfordernis der Unterscheidung zwischen Recht und Ethik (auch in der Humanforschung) Jener zwischen Ethik und Recht differenzierende Blick ist wichtig, ist doch nicht alles, was unter ethischer Bewertung als gut zu heissen oder als nicht gut zu heissen erscheint, automatisch und in gleicher Weise auch vom Recht gestattet oder verboten. Ethische Kriterien und Bewertungen können in das Recht einfliessen und hier ihren (rechtlichen) Ausdruck finden, so dass ethische und rechtliche Bewertungen miteinander konform gehen oder sich zumindest einander annähern. Besteht in diesem Fall eine Übereinstimmung oder zumindest Annäherung zwischen Recht und Ethik, so kann in anderen Fällen Ethik über das Recht hinausgehen und nicht vom Recht integriert werden: Recht kann hier dann einen im Vergleich zur Ethik viel engeren Kreis an rechtlich Erlaubtem ziehen und sich der Bewertung von Lebenssachverhalten (wie hier den Forschungsvorhaben) nur in engeren Grenzen und nur zu ausgewählten Fragen widmen, so dass sich ein kleinerer Kreis an rechtlichen Regelungen einem über diesen hinausgehenden grösseren Kreis an ethischen Regelungen gegenüber stehen sieht.
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Zur Einordnung der Ethikkommissionen im Überschneidungsbereich von Recht und Ethik ausführlich Marion Albers, Die Institutionalisierung von Ethikkommissionen. Zur Renaissance der Ethik im Recht, in: Recht und neue Technologien, hg. v. Alexander Ruch, Zürich: Schulthess, 2004, 99 ff.; Bijan Fateh-Moghadam/Gina Arzeni, Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes: Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von ForschungsEthikkommissionen, in: Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, hg. v. Silja Vöneky et al., Berlin u. a.: Springer, 2009, 115 ff.; Kurt Seelmann, Ethik und Recht in Ethikkommissionen – Rechtsphilosophische Betrachtungen, in: Rechtliche Grundlagen der Beratung von Forschungsvorhaben, hg. v. Ethikkommission der Albert-LudwigsUniversität Freiburg, Freiburg i. Br.: Universitätsverlag, 2009, 11 ff.; siehe auch zur Aufnahme ethischer Kriterien in das Recht (das HFG) die Formulierung in der Botschaft HFG, 8077 f.
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Dieses Zusammenwirken von, aber auch die Unterscheidung zwischen Ethik und Recht gilt es in besonderem Masse für die Bewertung von Forschungen am Menschen zu beachten und auch die Bewertung von (neuro)enhancementbezogener Forschung verlangt danach, zwischen einer rechtlichen Zulässigkeit nach dem HFG und einem ethischen Für-Gut-Heissen zu differenzieren:44 Denn denkbar sind einerseits (zu erforschende) Selbstverbesserungen/-veränderungen, die nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich zu missbilligen (und nach dem HFG zu verbieten) sind,45 sowie andererseits solche, die sich zwar unter ethischen Aspekten hinterfragen und kritisieren, sich jedoch unter rechtlichen Gesichtspunkten (des HFG) nicht verbieten lassen.46 Geht es im HFG – wie es Art. 118b BV und Art. 1 Abs. 1 HFG sichtbar machen – um den Schutz des Menschen in der Forschung und ist das HFG von einer engen Verbindung, aber auch zu beachtenden Unterscheidung von Recht und Ethik geprägt, so fragt sich, wovor und inwieweit ein „Mensch“ in der Humanforschung eigentlich durch das Recht einerseits und die Ethik andererseits geschützt werden soll (und darf)? Angesprochen ist die Frage nach dem „Menschenbild in der Humanforschung“, wobei hier genauer zu differenzieren ist zwischen einerseits dem zu suchenden Menschenbild, das dem HFG als einem vom Recht zu schützenden Menschenbild zugrundeliegt, und andererseits dem von der Ethik zu schützenden Menschenbild. Zwischen beiden, dem „Menschen im Recht“ und dem „Menschen in der Ethik“ kann es im Bereich der Humanforschung und insbesondere bei (neuro)enhancementbezogener Forschung zum einen Überschneidungen und einen Gleichklang geben, kann es zum anderen – infolge des im Verhältnis zum grösseren ethischen Bewertungskreis kleineren Bewertungskreis des Rechts (HFG) – aber auch zu Unterschieden kommen. Die damit angesprochene Suche nach dem Menschenbild, das den ethischen und rechtlichen Bewertungen im Bereich der Humanforschung zugrundeliegt, ist dabei keine solche, die sich allein bei Forschungen am Menschen stellt, sondern ist vielmehr eingestellt in die übergeordnete Suche nach „dem Menschen“, wie sie Gegenstand der philosophischen Anthropologie ist. Anthropologische Fragestellungen zum Wesen des Menschen in den Blick nehmend, soll unter Einbezug dieser im folgenden versucht werden, Konturen eines Bildes vom „Menschen im Recht“ und „Menschen in der Ethik“ im Bereich der Humanforschung zu entwickeln.47 Was an einem Menschen wovor zu schützen ist und was insofern in die normative Schutzausrichtung einerseits des Rechts (des HFG) und andererseits der Ethik fällt – dieser Frage gilt es nachfolgend und unter besonderer Konzentration auf die (neuro)enhancementbezogene Forschung nachzugehen. Den (oben aufgezeigten) Unbestimmtheiten einzelner Regelungen des HFG sollen auf diese Weise inhaltliche Konkretisierungen an die Seite gestellt und es sollen erste materielle Grundlinien für die ethische und rechtliche Bewertung von ((neuro)enhancementbezogener) Forschung entwickelt werden.
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Siehe hierzu auch die Unterscheidung in 3.2.1 – 3.2.3 einerseits und 3.2.4 andererseits. Siehe dazu im Einzelnen unter 3.2.1 – 3.2.3. Siehe dazu im Einzelnen unter 3.2.4. Siehe im Einzelnen unter 2. und 3.
Humanforschung und Neuroenhancement im Kontext von Ethik, Anthropologie und Recht
2. DAS BILD
VOM
„MENSCHEN
IM
RECHT“
UND VOM
„MENSCHEN
IN DER
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ETHIK“
2.1 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE SUCHE NACH DEM MENSCHENBILD Die Frage danach, was „der Mensch ist“, was Natur und Wesen des Menschen ausmachen, lässt sich als Grundfrage der philosophischen Anthropologie kennzeichnen.48 In einem „empirisch informierte(n), systematische(n) Nachdenken über den Menschen“49 reflektiert sie über das menschliche Selbstverständnis und hat „Charakter und die Grenzen der Menschenbilder als Möglichkeiten der Selbstdeutung“50 zu ihrem Gegenstand. Dabei geht es einer „richtig verstandene(n)“51 – im Sinne einer die im Laufe der Zeit sich verändernden und die aktuellen Verhältnisse des menschlichen Seins und Lebens in sich aufnehmenden – philosophischen Anthropologie nicht um eine „Ist“-Festschreibung, nicht um eine rein-deskriptive „Feststellung und Festsetzung“ von Natur und Wesen des Menschen,52 sondern Bedingungen der Möglichkeit einer „angemessenen Rede über den Menschen“53 sind ihr Klärungsgegenstand. Für diesen fliessen nicht nur Veränderungen und Fortschritte des menschlichen Lebens und neu hinzukommende wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem – wie sie etwa mit den Neurowissenschaften und mit neuen Erkenntnissen zum Funktionieren des Gehirns und der Gene des Menschen einhergehen und daher für die neuroenhancementbezogene Forschung relevant sind – in die anthropologische Grundfrage ein.54 Vielmehr wird der Mensch in dessen Gesamtheit und in dessen verschiedenen, Mensch und Leben betreffenden Aspekten betrachtet und es wird die ihn kennzeichnende Verbindung von Natur- und Kulturwesen in den Blick genommen,55 sich auf der Suche nach dem menschlichen Selbstverständnis und dem Menschenbild dabei leiten lassend von der Frage nicht nur nach dem „Ist“ des Menschen, sondern vielmehr nach dem, was der Mensch sein soll,56 d. h. „wie er als Mensch leben kann und soll“.57 Die Frage danach, was der Mensch als Mensch ist und was er als Mensch sein soll(te), ist gerade im Zusammenhang mit künstlichen Eingriffen in den Menschen, wie sie mit einer Medikalisierung und Technisierung des Menschen – sei es über Psychopharmaka, künstliche Körper- oder Gehirnimplantate, genverändernde Eingriffe oder nicht zuletzt mit sog. Mensch-Maschinen-Wesen als schon jetzt ausge-
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Vgl. näher Heilinger (Fn. 5), 407. Heilinger (Fn. 5), 407. Oliver Müller, Neurotechnologie und Menschenbild, Anmerkungen zu den anthropologischen Reflexionsfiguren ‚Homo faber‘ und ‚Cyborg‘, in: Müller/Clausen/Maio (Hg.) (Fn. 5), 484, siehe im Einzelnen 483 ff. Müller (Fn. 50), 483. Siehe dazu auch Heilinger (Fn. 5), 407; Müller (Fn. 50), 483. Müller (Fn. 50), 484. Dazu Heilinger (Fn. 5), 407. Siehe näher Heilinger (Fn. 5), 409 f.; dazu auch näher unter 3.1. Dazu näher Thomas Zoglauer, Die Technisierung des Gehirns. Muss sich der Mensch zwischen Natur und Technik neu verorten?, in: Müller/Clausen/Maio (Hg.) (Fn. 5), 466. Müller (Fn. 50), 484; Ulrich Körtner, Forschungsethik und Menschenbild in Geschichte und Gegenwart, in: Körtner/Kopetzki/Druml (Fn. 11), 3: „nicht länger nur Rekonstruktion, sondern Konstruktion des Menschen“ (Hervorhebung im Original).
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sprochene Zukunftsvisionen58 – einhergehen,59 von grosser Relevanz: Es ist diese sich an die Ethik im Allgemeinen und die Bioethik im Besonderen richtende Frage nach dem, wie wir uns als Mensch wollen und wie wir sein (und uns als Mensch entsprechend schützen) sollen, die uns im Leben überhaupt und speziell in der Humanforschung – und hier insbesondere bei der (neuro)enhancementbezogenen – die (Frage-)Richtung für den ethischen Umgang mit uns als Mensch anzeigt sowie den Menschen eine Selbst-Reflexion über sich und eine Stellungnahme zu sich und ihrem „Als-Mensch-Sein-Sollen“ abverlangt.60 Was der Mensch sein soll und sein darf sowie eng damit verbunden die in der (neuro)enhancementbezogenen Forschung sich stellende Frage, wie viel „Künstliches“ mit dem Menschen als „Natur“-Wesen verbunden werden darf oder nicht, wird dabei in Abhängigkeit von dem Blick auf das Selbstverständnis des Menschen als nur oder eher Naturwesen oder Kulturwesen jeweils unterschiedlich ausfallen und auch zu anderen Bewertungen des Gut-Heissens oder Ablehnens von (neuro)enhancementbezogener Forschung führen.61 In den Blick zu nehmen ist von Anthropologie und Ethik die sich im Menschen einende Verbindung von Natur- und Kulturwesen. Sichtbar gemacht – wenn auch jeweils mit einer anderen Blickrichtung auf den Menschen – ist diese Verbindung sowohl in der Lehre Gehlens vom „Menschen als Mängelwesen“, welcher wegen mangelnder Einpassung in seine Umwelt die Kultur zur Kompensation dieses Mangels braucht,62 als auch in der Auffassung Plessners, der den Menschen gerade nicht als ein defizitäres Wesen ansieht, sondern umgekehrt als ein solches, zu dem das Kulturschaffen als ein ihn besonders auszeichnendes Merkmal gerade gehört, ist der Mensch nach Plessner doch „von Natur aus künstlich“.63 Das Sichtbarmachen des Menschen als Natur- und Kulturwesen, das sich auch in der Ansicht Heilingers von der „Koevolution menschengemachter Kultur und biologischer Natur des Menschen“ wiederfindet,64 zeigt seine eigentliche Brisanz und Schwierigkeit bei der Suche danach, was genau wir an uns als (natürlich) Gewachsenem und zugleich (künstlich) Gemachtem dergestalt gestalten, verbessern und verändern dürfen,65 dass wir einerseits gerade durch solche Selbstgestaltungen Mensch sein können – gehört das Uns-selbst-Verändern doch gerade zur „Natur des Menschen“ – und dass wir andererseits aber auch trotz solcher Selbstgestaltungen Mensch (sind und) bleiben. Zuspitzung findet diese Frage nach dem Mensch-Sein(-Sollen) sowohl durch als auch 58 59 60 61 62
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Dazu etwa Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 130; Zoglauer (Fn. 56), 463 ff.; Müller (Fn. 50), 479 ff. Zur Medikalisierung und Technisierung siehe etwa Synofzik (Fn. 5), 320 f. Näher dazu auch Müller (Fn. 50), 282 f.; siehe zudem Körtner (Fn. 57), 1 ff. zur Forschungsethik als angewandter Anthropologie. Ebenso Müller (Fn. 50), 483. Siehe näher Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Teilband 1 und 2, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1993; vgl. dazu auch Baltes (Fn. 5), 343 f.; Zoglauer (Fn. 56), 465. Siehe näher Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: Walter de Gruyter, 1965; vgl. dazu auch Baltes (Fn. 5), 343 f.; Körtner (Fn. 57), 8 f. Siehe dazu im Einzelnen Heilinger (Fn. 5), 407 ff. Siehe zu Gewordenem und Gemachtem näher Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschliche Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2005; dazu auch Bohlken/Thies (Fn. 4), 113.
Humanforschung und Neuroenhancement im Kontext von Ethik, Anthropologie und Recht
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trotz Selbstgestaltungen, -verbesserungen und -veränderungen in den Neurowissenschaften und beim Neuroenhancement, geht es hier bei Eingriffen in und/oder Einflussnahmen auf das Gehirn – sei es etwa über Psychopharmaka oder Implantate66 – nicht um Einwirkungen auf irgendein, sondern auf das „Organ über allen Organen“,67 auf die „zentrale Steuerungsinstanz menschlichen Daseins“68, welche mit Psyche, Geist, Bewusstsein eines Menschen, mit dessen (Willens-)Freiheit, Selbstbestimmung und Identität, mit Gedanken, Gefühlen und Charakter eines Menschen und nicht zuletzt mit der Persönlichkeit sowie dem „Ich“ und „Selbst“ eines Menschen aufs Engste verknüpft ist,69 weshalb auch von „eine(r) ‚ethische(n) Sonderstellung‘ des Gehirns“70 gesprochen wird. Wird beim Neuroenhancement (und darauf bezogener Forschung) mithin auf das zugegriffen, das ganz überwiegend mit dem verbunden wird, was den Menschen als ein bewusstes, freies, selbstbestimmtes und von Geist, Gedanken und Gefühlen begleitetes „Ich“ ausmacht – und ist es ja gerade dies, was uns besondere Sorge hinsichtlich neuroenhancementbezogener Eingriffe in den Menschen bereitet –, so fragt sich, wo wir die ethischen Grenzen solcher Einwirkungen sehen und ebenso, was wir als „zwingendes Minimum“ unseres Mensch-Seins (und Mensch-Sein-Wollens und -Sollens) durch das Recht (hier das Humanforschungsrecht) als geschützt ansehen möchten. Dies führt zurück zu der oben aufgeworfenen Frage nach dem zu schützenden „Menschen in der Ethik“ und „Menschen im Recht“ und zu der Suche, welches Bild vom durch Recht zu schützenden Menschen sich im Humanforschungsrecht offenbart, zeigt doch ein solches an, was am Menschen als einem Menschen trotz zum Menschen gehörender Selbstgestaltungen als „Nicht-Anzutastendes“ anzusehen und vom Recht entsprechend zu schützen ist. 2.2 VOM RECHT ENTWICKELTE MINDESTKONTUREN EINES BILDES DES „MENSCHEN IM RECHT“ Wie oben dargestellt, stellen Art. 118b Abs. 1 S. 1 BV und das HFG (Art. 1 Abs. 1) den Schutz von Würde und Persönlichkeit des Menschen in der Forschung in den obersten Rang und knüpfen damit an die Achtung und den Schutz der Menschenwürde an, wie sie in Art. 7 BV an erster Stelle der Grundrechte verankert ist. Das Bild vom „Menschen im Recht“ mit dieser seiner Menschenwürde als einem Rechtsbegriff in Zusammenhang zu setzen, lässt danach fragen, ob ein solcher verrechtlichter Menschenwürdebegriff einem Menschen unabhängig oder abhängig von bestimmten 66
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Siehe dazu auch Baltes (Fn. 5), 341 f.; Joachim Boldt/Giovanni Maio, Neuroenhancement. Vom technizistischen Missverständnis geistiger Leistungsfähigkeit, in: Müller/Clausen/Maio (Hg.) (Fn. 5), 383 f. Dieter Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006, 274 (Hervorhebung im Original). Baltes (Fn. 5), 341. Siehe dazu Baltes (Fn. 5), 340 ff.; Boldt/Maio (Fn. 66), 383 f.: „… dass man sich mittels Neuroenhancement in der Art und Weise, wer und wie man als Person ist, verändert … Frage nach den ethischen Grenzen der direkten technischen Gestaltung der Identität der eigenen Person“ (384, Hervorhebung Demko); Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 274; Katja Crone, Personale Identität als Orientierung bei Eingriffen ins Gehirn, in: Clausen/Müller/Maio (Fn. 5), 123. Boldt/Maio (Fn. 66), 384.
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körperlichen und/oder geistigen Merkmalen, Eigenschaften oder Fähigkeiten Würde zuspricht.71 Dies ist eine Frage, welche sich interessanterweise schon zu früheren Zeiten im Zusammenhang mit dem Personenbegriff sowie mit dem Begriff des subjektiven Rechts einerseits und der Rechtspflicht, Zurechnung, Verantwortung – auf welche wiederum gerade auch im Zusammenhang mit dem Neuroenhancement Rückgriff genommen wird – andererseits stellte und welche daher erkenntnisreiche Grundlinien auch für die Konturen des verrechtlichten Menschenwürdebegriffs vorzeichnen.72 Wenn an dieser Stelle die Entwicklung des Personenbegriffs sowie des Begriffs des Rechtssubjekts und der Rechtspflicht/Verantwortung auch nicht in ihren Einzelheiten dargestellt werden kann,73 so lässt sich doch sagen, dass diese Begriffe – wenn auch in der Entwicklungsgeschichte in unterschiedlicher und wechselnder Weise – nicht das Mensch-Sein als solches für sich genügen liessen, sondern an verschiedene körperliche und/oder geistige bzw. mentale Anschlusskriterien anbanden. Dabei in der Geschichte auch das „menschliche Wesen“, die „menschliche Natur“ anführend74 – was gerade für die Diskussion des (Neuro-)Enhancement interessant ist, wird doch auch hier immer wieder auf die „Natur des Menschen“ und dessen „Natürlichkeit“
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Dazu eingehend Kurt Seelmann, Menschenwürde, Schutz des „moral agent“ oder des „moral patients“? in: Integratives Rechtsdenken – Im Diskurs mit Philippe Mastronardi, Eine Festgabe, hg. v. Rainer Schweizer/Florian Windisch, Zürich/St. Gallen: Dike Verlag, 2011, 34 ff. Siehe dazu Seelmann (Fn. 71), 35 ff.; ders., Personalität und Zurechnung von der Aufklärung bis zur Philosophie des Idealismus, in: „Toujours agité – jamais abattu“, Festschrift für Hans Wiprächtiger, hg. v. Marianne Heer et al., Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, 2011, 575 ff.; Hans Hattenhauer, „„Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs“, JuS (1982), 405 ff.; instruktiv insbesondere die Beiträge in Dieter Sturma (Hg.), Person, Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie, Paderborn: mentis Verlag, 2001; siehe aus diesen Beiträgen etwa Ludwig Siep, Der Begriff der Person als Grundlage der biomedizinischen Ethik: Zwei Traditionslinien, in: Sturma (Fn. 72), 445: Personenbegriff als „Grundlage der normativen Prinzipien von Autonomie und Würde“ (Hervorhebung Demko); Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt: WGB, 2006, 85: „Träger der Menschenwürde ist … personal“ (Hervorhebung Demko) zu bestimmen, „Personenwürde“ (Hervorhebung im Original); Philippe Andrea Mastronardi von Les Bayards, Der Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde in der Schweiz. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der Grundrechte, Berlin: Duncker & Humblot, 1978; Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, hg. v. Josef Isensee/Paul Kirchhof, Heidelberg: C. F. Müller Verlag, 2004, § 22, Rn. 47, 51 zur Verbindung von Menschenwürde und Person; siehe zudem Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 53 ff., 58 ff.; Franz Mechsner, Die Freiheit der Person als wissenschaftliches Basiskonzept, in: Die Aktualität des Seelenbegriffs, Interdisziplinäre Zugänge, hg. v. Georg Gassner/ Josef Quitterer, Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh, 2010, 105 ff.; siehe zudem zur Entstehung und Entwicklung des Begriffs der Rechtsperson Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, hg. v. Joachim Bohnert et al., Berlin: Duncker & Humblot, 2001, 319 ff.; zur Frage, wie Person und Menschenwürde bei Kant zusammenhängen, siehe Joachim Hruschka, „Die Würde des Menschen bei Kant“, ARSP 88 (2002), 463 ff.; zur Herkunft des Persönlichkeits- ebenso wie des Würdebegriffs aus dem Begriff der Ehre siehe Heinz Holzhauer, Zur Vorgeschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in: Recht der Persönlichkeit, hg. v. Hans-Uwe Erichsen/Helmut Kollhosser/Jürgen Welp, Berlin: Duncker & Humblot, 1996, 51 ff. Siehe zu dieser Entwicklung näher die Angaben in Fn. 72. Siehe etwa Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1765, 3. Kapitel, § 2, entnommen bei Seelmann (Fn. 71), 36: „menschliches Weesen … menschlicher Natur“.
Humanforschung und Neuroenhancement im Kontext von Ethik, Anthropologie und Recht
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Rückgriff genommen75 – waren es neben körperlichen Anschlusskriterien (wie etwa menschliche Form, Gestalt und Antlitz) vor allem verschiedene mentale Kriterien, wie Vernunft, Wissen und Willenssteuerung, Freiheit des Willens, Autonomie sowie Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, die besondere Hervorhebung fanden.76 Über diese hinaus formten sich aber auch weitere mentale Kriterien für das Person-Sein, das Rechtssubjekt-Sein und die Rechtspflicht/Verantwortlichkeit aus, die im Zusammenhang etwa mit einem individuellen Interesse, mit Wünschen, einem dafür erforderlichen Ich- oder Selbstbewusstsein, mit Selbstreflektion, mit Kontinuitätsbewusstsein, einer Konsistenz und Kontinuität des eigenen Ichs,77 mit subjektiver Erlebnisfähigkeit, moralfähiger Individualität, mit individueller Erinnerung und diachronem Bewusstsein seiner selbst sowie mit personaler (und hier auch zeitübergreifender) Identität, einem Mit-Sich-Selbst-Identisch-Sein78 und einem Selbstverständnis seiner selbst als das im Zeitablauf „ein- und dasselbe“ Wesen79 stehen.80 Angesprochen sind damit mentale, an geistige Merkmale und Fähigkeiten anknüpfende Anschlusskriterien, die Gesichtspunkte wie (u. a.) Autonomie, freier Wille, Identität, Authentizität, Integrität und Individualität in den Blick rufen und in den Blick gerade auch des verrechtlichten Menschenwürdebegriffs rücken, wird doch von diesem das Bild eines „Menschen im Recht“ als einem gerade freien, autonomen und vernünftigen Menschen geprägt,81 den es darüber hinaus in seiner Selbstachtung82 sowie in seiner Identität, Authentizität, Integrität und Individualität zu schützen gilt.83 75 76 77 78 79
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82 83
Siehe dazu auch unter 3.1. Siehe dazu im Einzelnen Seelmann (Fn. 71), 34 ff.; siehe auch Tiedemann (Fn. 72), 43 f., 85. Dazu mit Bezug auf Locke näher Seelmann (Fn. 72), 578 f. Dazu näher mit Bezug auf Locke Seelmann (Fn. 72), 578 f. sowie 577 zum Identitätskapitel. Dazu Seelmann (Fn. 72), 579: „Subjektivität im Sinne der Reflexion auf sich als ein Kontinuum im (Selbst-)Bewusstsein, um das Wissen also, dass man im Prinzip gestern derselbe war, der man heute ist“. Siehe dazu insgesamt und im Einzelnen Seelmann (Fn. 71), 38 ff. Siehe auch BVerfGE (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) 45, 187, C. II.: „Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen … das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“; BVerfGE 49, 286, B. I. 2. a): „daß der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann. Art. 2 Abs. 1 GG (Grundgesetzes für die Bondesrepublik Deutschland) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die freie Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte …“ (Hervorhebung Demko); Wolfram Höfling, in: Grundgesetz Kommentar, hg. v. Michael Sachs, München: C. H. Beck Verlag, 2011, Art. 1, Rn. 35: „Prozess möglichst autonomer Selbstdarstellung“ (Hervorhebung im Original); siehe zu Menschenwürde und Autonomie auch etwa Thomas Gutmann, „Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff “, Reprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Münster 2010/7, 5: Die Menschenwürdenorm als „Grundnorm personaler Autonomie“; zur Problematik der dadurch bei Kant notwendigen Ausgrenzung von Menschen aus dem Kreis der autonom Handelnden vgl. ders., „Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition“, Reprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Münster 2010/2, insbesondere 3 ff. Dazu Seelmann (Fn. 71), 43 f. Siehe dazu etwa Höfling (Fn. 81), Art. 1, Rn. 35 ff. zur Wahrung personaler Identität und psychischer, seelischer, intellektueller Integrität, siehe auch Rn. 37 zur Individualität und dem je eigenen Menschenbild: „gegen funktionalistische Konditionierung, gegen uniformierende Wesensbestimmung“; Häberle (Fn. 72), § 22, Rn. 47 ff., 52 zur Identität, zur Menschenwürde als die „gewachsene und wachsende Biographie des Verhältnisses Staat-Bürger … des Verhältnisses Staat/Gesellschaft-Bürger“ (Rn. 52), „individuell konstituierter Persönlichkeit“ (Rn. 52); Adalbert Podlech, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe
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Sich an diesen für den Rechtsbegriff der Menschenwürde wichtigen Anschlusspunkten ausrichtend, fragt sich, ob das dergestalt in seinen Mindestkonturen vorgezeichnete Bild des „Menschen im Recht“ ein solches sein könnte, das sich als normativ leitendes ebenso im Humanforschungsrecht wiederfindet und ob sich mittels dieser Anschlusspunkte zugleich materielle Massstäbe und Kriterien für den rechtlichen Schutz des Menschen in der ((neuro)enhancementbezogenen) Forschung aufstellen lassen. Nachfolgend bleibt daher zu untersuchen, ob sich mit Hilfe der Kriterien der Autonomie, Identität, Authentizität, Integrität sowie Individualität Anschlusspunkte für ein durch Recht (hier durch das HFG) zwingend zu schützendes „Minimum“ unseres Mensch-Sein-Sollens finden lassen, aus denen sich entsprechende rechtliche Grenzen für neuroenhancementbezogene Forschung – welche diese „Mindestkonturen“ des sollenden Mensch-Seins verletzt – ableiten. Bevor auf diese Kriterien einzugehen ist, sei aber zunächst ein kurzer Blick auf den Begriff der „Natur des Menschen“ gerichtet, welcher nicht nur in der Geschichte des Personen- und Rechtssubjekt-Begriffs angeführt wird,84 sondern immer wieder Eingang auch in die Neuroenhancement-Diskussion findet. 3. DER SCHUTZ DES „MENSCHEN IM HUMANFORSCHUNGSRECHT“: IM HUMANFORSCHUNGSRECHT VERANKERTE MATERIELLE MINDESTKRITERIEN FÜR DIE (RECHTLICHE) BEWERTUNG VON (NEUROENHANCEMENTBEZOGENER) FORSCHUNG AM MENSCHEN 3.1 „NATUR DES MENSCHEN“ ALS TAUGLICHER ANKNÜPFUNGSPUNKT FÜR EIN DURCH DAS HUMANFORSCHUNGSRECHT AUSZUFORMENDES BILD EINES „MENSCHEN IM RECHT“? So häufig im Zusammenhang mit (Neuro-)Enhancement und überhaupt der Bioethik auf die „Natur des Menschen“ zurückgegriffen wird, so häufig folgt oft auch eine Ablehnung der „Natur des Menschen“ als geeignetes Kriterium einer ethischen Bewertung von Selbstgestaltungen, -verbesserungen und -veränderungen des Menschen.85 Es ist zwar richtig, dass sich aus dem Begriff der menschlichen Natur als solchem keine – und noch dazu keine einzig mögliche – Lösung für die Bewertung von menschlichen Selbstgestaltungen ableiten lässt, ist dieser Begriff selbst doch
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Alternativkommentare, Bd. I, hg. v. Rudolf Wassermann, Neuwied/Frankfurt: Luchterhand, 1989, Art. 1 Abs. 1, Rn. 34 zur Wahrung menschlicher Identität und Integrität; BVerfGE 45, 187, C. II: „muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben“, „jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert“, unverlierbare Würde des Menschen als Person“, „selbstverantwortliche Persönlichkeit“, individueller und sozialer Existenz des Menschen“; BVerfGE 49, 286, B. I. 2. a): „schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird“, siehe zudem unter A. I.: „personalen Selbstverständnisses“; siehe auch Tiedemann (Fn. 72), 91 f. Siehe dazu Fn. 74. Siehe in diesem Zusammenhang etwa Bohlken/Thies (Fn. 4), 112; Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 106 ff.; zu Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Natürlichkeit zudem Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 79 ff.; Franz-Josef Bormann, Die Natur des Menschen als Grundlage der Moral? Zur Relevanz des Naturbegriffs für die Bio- und Neuroethik, in: Clausen/ Müller/Maio (Fn. 5), 13 ff.; Müller (Fn. 5), 188 ff., 193 ff.; van den Daele (Fn. 6), 110; Synofzik (Fn. 5), 318 f.; Kipke (Fn. 23), 275 f.
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schon mit zahlreichen Mehrdeutigkeiten verknüpft und wird (noch dazu auf jeweils unterschiedliche Weise) mit einer grossen Vielzahl unterschiedlicher Aspekte menschlichen Seins verbunden, von denen (eher oder ausschliesslich) einmal der eine Aspekt – sei es die Veränderbarkeit, Wandelbarkeit, das Gemachte des Menschen als dessen „Natur“ –, einmal der andere Aspekt – sei es das Gewordene, Unveränderbare, eine gewisse Festigkeit des Menschen als dessen „Natur“ – Betonung findet.86 Ebenso ist es richtig, dass aus einem Sein unserer menschlichen Natur (wie immer wir dieses auch verstehen) nicht in einem Automatismus auf ein Sollen unserer menschlichen Natur und wie wir uns unseren Umgang mit dieser gestatten, geschlossen werden kann und darf.87 Zu beachten bleibt vielmehr der qualitative Ebenen-Wechsel bzw. Ebenen-Sprung, der sich zwischen der Seins- und der Sollensebene vollzieht bzw. genauer gerade und nur durch eine – sich von der Seinsebene zwar inspirieren lassen könnende, aber nicht von dieser „zwingend vorbestimmte“ – bewusste Entscheidung des Menschen in Hinblick auf die Sollensebene zu vollziehen ist,88 d. h. in Hinblick darauf, welche Arten und Mittel der Formung und Veränderung des Menschen man sich zu gestatten bereit bzw. nicht bereit ist. Gibt der mehrdeutige und inhaltlich facettenreiche Begriff der menschlichen Natur auch keine eindeutige Lösung für die Bewertung von Selbstgestaltungen her, so ist es dennoch zu vorschnell, ihn deshalb in der Diskussion um die Gutheissung oder Ablehnung menschlicher Selbstgestaltungen in Gänze als schlicht nichtssagend zu verwerfen.89 Dies nicht nur deshalb, weil der Umstand, dass wir uns bei gefährlich erscheinenden Eingriffen in unser MenschSein häufig schon intuitiv auf den Naturbegriff berufen,90 uns zu einem vertiefenden Hinsehen und Nachprüfen auffordert und dies uns möglicherweise anzeigen könnte, dass wir mit dem herbeigerufenen Naturbegriff (bewusst/unbewusst) eine Art „Wunsch nach einem Schutz“ unserer selbst und dessen, was wir in unserem Mensch-Sein als bedroht empfinden und deshalb einem normativen Schutz unterstellen möchten, verbinden könnten. Doch was ist es genau, das wir mit dem von uns herbeigerufenen Naturbegriff an unserem Mensch-Sein trotz aller Veränderbarkeit des Menschen und einem entsprechenden Veränderungswunsch bewahren und schützen wollen und sollen? Bzw. – in den Worten Birnbachers – welche bestimmten einzelnen Aspekte der Natur, die „(n)icht die Natur, sondern der Mensch“91 festlegt, sollen es sein, die vom Menschen auf die normative Schutzebene des Sollens gehoben werden? Gerade ein Naturbegriff, der beide Seiten des Menschen – dessen „gewordene“ und eine gewisse Dauerhaftigkeit bzw. Festigkeit aufzeigende Seite einerseits und 86 87 88 89
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Dazu etwa Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 145 ff.; Heilinger (Fn. 5), 412. Zur den Missverständnissen in Bezug auf den „naturalistischen Fehlschluss“ siehe näher Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 44 ff. Siehe auch Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 46: „normative(n) Setzung“. Siehe zudem aber auch die von Birnbacher zu recht angeführten und erforderlich vorzunehmenden Differenzierungen, die bei der Heranziehung des Naturbegriffs zu berücksichtigen sind, im Einzelnen Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 42 ff. Mit Hinweisen auf intuitive Einwände gegen Neuroenhancement und eine „tief verwurzelte(n) dualistische(n) Grundintuition“ (S. 356, Hervorhebung im Original) siehe etwa Bettina SchöneSeifert, Neuro-Enhancement: Zündstoff für tiefgehende Kontroversen, in: Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, hg. v. Bettina Schöne-Seiffert et al., Paderborn: mentis Verlag, 2009, 354 ff. Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 79.
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dessen „gemachte“, veränderbare, wandelbare und formbare Seite andererseits – in sich aufnimmt, zeigt zum einen auf, dass wir uns als „von Natur aus“ wandelbare Wesen verändern können und (wenn wir dies wollen) auch sollen können. Ein ebensolcher Naturbegriff zeigt zum anderen aber auch auf, dass es uns bei unseren Selbstverbesserungen nicht um eine „Aufhebung“ unseres Mensch-Seins gehen soll, sondern darum, dass wir trotz aller von uns gewollten und gesollten Veränderungen Mensch bleiben (sollen), d. h. darum, dass wir uns auch mit und trotz der gewollten und gesollten Selbstverbesserungen in unserem – ebenso von uns zu „unserer Natur“ gezählten – „Wesenskern“ als Mensch wahren und schützen (sollen).92 Aber was genau ist es, das diesen „Wesenskern“ des Menschen kennzeichnet, den wir trotz aller uns auf der Sollensebene gestatteten Selbstverbesserungen wahren und (durch Recht) schützen sollen? Genauer – da es uns hier nicht um eine deskriptive SeinsBeschreibung des „Wesenskerns“ des Menschen geht –: Welche Momente könnten einen durch das Recht zu schützenden normativen „Wesenskern“ des Menschen ausmachen und konstituieren? Die Tür zu dieser Frage hat der das „Gewordene“ und „Gemachte“ in sich aufnehmende Naturbegriff, so wie er hier verstanden und eben dargelegt wurde, zwar geöffnet – eine Beantwortung jener Frage kann jedoch nicht einzig durch den Naturbegriff geleistet werden. Vielmehr ist hierfür auf den verrechtlichten Menschenwürdebegriff zurückzugreifen, nicht jedoch, weil er auf der Seinsebene (angeblich) zur Natur des Menschen gehört – dies tut er als ein normativer Begriff gerade nicht. Vielmehr deshalb, weil wir den verrechtlichten Menschenwürdebegriff auf der Sollensebene als einen für den Menschen und dessen Schutz höchsten Wertbegriff anlegen, dem Menschen seine Würde (normativ) „zusprechen“ im Sinne von „zuerkennen“ und mit dieser Würde-Zuschreibung93 einen (rechtlich-)normativen Schutzanspruch „auf höchster Ebene“ (die Würde des Menschen ist „unantastbar“) verbinden.94 Was genau lässt sich nun aus dem verrechtlichten Menschenwürdebegriff für einen zu schützenden „Wesenskern“ – verstanden in einem normativen Sinne – des Menschen als Menschen (im Recht) herleiten, den es mit allen und trotz aller Selbstverbesserungen des Menschen (sowie darauf gerichteter Forschungen) zu schützen gilt? Und welche Bedeutung haben diese menschenwürdebegründeten Mindestkonturen des „Menschen im Recht“ sodann als materielle Mindestkriterien für die (rechtliche) Bewertung von (neuroenhancementbezogener) Forschung am Menschen?
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Zu beachten bleiben hier dann natürlich die Schwierigkeiten, die genaue Bedeutung dieses „Wesenskerns“ mangels Einigung über die ihn ausmachenden Bedingungen im Einzelnen bestimmen zu können, siehe dazu auch Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 180 ff.; siehe zudem Ludger Honnefelder, Die ethische Dimension moderner Hirnforschung, in: Deutscher Ethikrat (Fn. 6), 87 ff.: „sein Ich in seinem Kern zu verändern“ (87), „was wir als gewordene Natur festhalten und was wir an ihr verändern wollen“ (88), „… „Kern der Person“ …“ (89). Siehe auch Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 43: Würde als „etwas Zugesprochenes … Würdenorm“ (Hervorhebung Demko). Siehe auch BVerfGE 45, 187, C. II.: „Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar“ (Hervorhebung Demko).
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3.2 MENSCHENWÜRDE UND AUS DEM VERRECHTLICHTEN MENSCHENWÜRDEBEGRIFF ABGELEITETE ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR EIN DURCH DAS HUMANFORSCHUNGSRECHT AUSZUFORMENDES UND ZU SCHÜTZENDES BILD EINES „MENSCHEN IM HUMANFORSCHUNGSRECHT“ Unser Blick auf den verrechtlichten Menschenwürdebegriff hat uns mit den Kriterien der Autonomie, Identität, Authentizität, Integrität sowie Individualität Anschlusspunkte für ein durch Recht (hier durch das HFG) zwingend zu schützendes „Minimum“ unseres Mensch-Sein-Sollens und des durch Recht-Geschützt-Seins an die Hand gegeben, aus denen sich entsprechende rechtliche Grenzen für neuroenhancementbezogene Forschung erarbeiten lassen.95 In welchem Masse und Umfang aus diesen menschenwürdebegründeten Schutzkriterien nun für das HFG konkrete materielle (Mindest-)Leitkriterien für den Umgang mit dem Menschen in der Forschung folgen, kann aus Platzgründen zwar nicht im Einzelnen beantwortet, jedoch sollen erste wichtige Grundrichtungen vorgestellt werden, die es in zukünftigen Forschungsarbeiten zu vertiefen gilt. 3.2.1 Autonomie des Menschen Wie aufgezeigt, hat der Schutz der Autonomie des in die Forschung einwilligenden Menschen im HFG (Art. 7 und Art. 16 HFG) eine besondere und explizite Hervorhebung gefunden und konkretisiert worden ist damit das, was auch vom verrechtlichten Menschenwürdebegriff und seinem Schutz eines sich durch Vernunft auszeichnenden und in seiner Autonomie zu achtenden Menschen besondere Betonung findet.96 Die Autonomie des Menschen in der Forschung gewinnt dabei – in Gestalt von dessen Einwilligung in die Forschung – nicht nur als Voraussetzung für Forschungsvorhaben, sondern ebenso als Gegenstand der Forschung am Menschen an Relevanz: Eine (neuroenhancementbezogene) Forschung, die – neben dem Ziel von Selbstverbesserungen gar das Ziel hat oder – das im Rahmen der Nutzen-RisikoAbwägung zu prüfende Risiko in sich birgt, dass die Autonomie des sich an der (auf Selbstverbesserung ausgerichteten) Forschung beteiligten Menschen beeinträchtigt oder aufgehoben wird, muss sich als eine unzulässige und durch das HFG zu verbietende Forschung erweisen.97 95
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Zu den Schwierigkeiten und notwendig differenzierenden Begründungen, ob und inwiefern sich aus der Identität, Authentizität und Integrität rechtliche Grenzen neuroenhancementbezogener Forschung erarbeiten lassen (oder nicht) siehe die näheren Angaben unter 3.2.2; insofern insbesondere zum Authentizitätsbegriff siehe etwa Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 123 ff.; umfassend Janßen (Fn. 6); Johann Ach, Improving Human Performance? Skeptische Anmerkungen zur Idee einer „Verbesserung“ menschlicher Leistungsmerkmale durch konvergierende Technologie, in: Clausen/Müller/Maio (Fn. 5), 159 f.; Müller (Fn. 5), 199 ff.; Tiedemann (Fn. 72), 91 f., 94 f.; van den Daele (Fn. 6), 111; siehe auch Dietmar Mieth, Der (gehirnlich) steuerbare Mensch – Ethische Aspekte, in: Deutscher Ethikrat (Fn. 6), 104 zur Menschenwürde als „absolute(r) Grenze“; Hennig Rosenau, Steuerung des zentralen Steuerungsorgans – Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn, in: Deutscher Ethikrat (Fn. 6), 79 zum Würdeverstoss bei Steuerung und Determinierung eines Menschen durch einen Dritten. Siehe dazu die Angaben in Fussnote 81; zudem Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 132. Siehe zu Fragen von Autonomie, Selbstbestimmung und individueller Verantwortung beim Neuroenhancement Ach (Fn. 95), 160; Davinia Talbot, Tiefenhirnstimulation und Autonomie, in: Müller/Clausen/Maio (Fn. 5), 165 ff.; Marco Stier, Das Handeln in den Zeiten der
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3.2.2 Identität und Integrität des Menschen Stellt sich die Wahrung der Autonomie als eine (ethische und) rechtliche Mindestgrenze für neuroenhancementbezogene Forschung dar, so steht eine solche Grenzziehung aber auch mit weiteren menschenwürdebegründeten Schutzkriterien in Zusammenhang, erweist sich hier in ihrer Reichweite und Begründung aber teils als schwieriger: Die personale Identität ist vom Rechtsbegriff der Menschenwürde erfasst, aufgrund der Weite und Unschärfe98 des Identitätsbegriffs verlangt dieser mit Blick darauf, der neuroenhancementbezogenen Forschung eine Grenze ziehen zu können, jedoch nach einer näheren Bestimmung sowie nach einer (etwa durch die Ethikkommissionen) zu leistenden Festlegung auf die für das HFG als relevant angesehenen Identitätskriterien: Zwischen der numerischen, die Frage nach ein- und derselben Person betreffenden Identität und der psychologischen, die Persönlichkeit betreffenden Identität unterscheidend,99 ist einer Forschung mit dem Ziel oder Risiko, dass der an der Forschung beteiligte Mensch nach dem Forschungseingriff ein „Anderer“, also nicht mehr ein- und dieselbe Person wie vor dem Eingriff ist, als unzulässig zu bewerten. Dies allein schon deshalb, weil die in die Forschung einwilligende Person (A) angesichts einer sich nur auf eigene individuelle Güter beziehenden Einwilligungsbefugnis nicht wirksam in die Schaffung einer neuen Identität der anderen Person (B) einwilligen kann und die neu geschaffene Person (B) wiederum nicht in ihre Schaffung eingewilligt hat.100 Schwieriger ist es hingegen bei Veränderungen der Persönlichkeit des in die Forschung einwilligenden Menschen, die – etwa bei angestrebten Verbesserungen von Eigenschaften, wie Schüchternheit, bestimmter Gefühls- oder Gemütsregungen oder Denkweisen – gerade Ziel von neuroenhancementbezogener Forschung sein oder als Risiko mit dieser verbunden sein können. Die Spannweite von Veränderungen von persönlichkeitsprägenden Merkmalen ist hier gross und kann von Veränderungen nur einzelner Persönlichkeitsmerkmale bis hin zu Veränderungen der Gesamtheit von Persönlichkeitsmerkmalen reichen, wobei sich dann jedoch fragt, ob letzteres nicht in die Nähe eines bzw. in eine vorzunehmende Gleichstellung mit einem Personen- bzw. Wechsel(s) der numerischen Identität rückt, mit dem Ergebnis, dass sich auch die die Persönlichkeit eines Menschen im „grossen Masse“ – ein selbst wieder vager, wertungsbedürftiger Begriff – verändernde Forschung als unzulässige erweisen würde.101 Doch an welche Kriterien für die Persönlichkeit und Persönlichkeitsveränderung sollte das HFG hier anknüpfen und ab welcher Quantität und/oder Qualität an Persönlichkeitsveränderungen sollte entsprechenden Forschungen eine rechtliche Neurotechnologie, Von der Technisierung des Gehirns zur Technisierung der Verantwortung, in: Müller/Clausen/Maio (Fn. 5), 276 ff.; Zoglauer (Fn. 56), 474: „‚Meta-Autonomie‘“ (Hervorhebung im Original). 98 Ebenso Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 282. 99 Siehe in Anlehnung an Birnbacher im Einzelnen Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 274 ff.; Synofzik (Fn. 5), 321 ff.; vgl. zudem die Ausführungen von Crone (Fn. 69), 125 ff. zur personalen Identität; Ach (Fn. 95), 159; Tiedemann (Fn. 72), 91 f., 94 f. 100 Dazu auch Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 281; van den Daele (Fn. 6), 111; Mieth (Fn. 95), 101 zu Identität und Idemität. 101 Zu den Abstufungen der Persönlichkeit eines Menschen sowie zu einem möglichweise bestehenden Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Person siehe instruktiv Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 275 ff., 280 f.
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Grenze seitens des HFG gezogen werden? In welchem Masse fliessen hier etwa das Identitätsbewusstsein, die Erinnerungsfähigkeit, die subjektive Erlebnisfähigkeit, das biografische und das im Laufe seiner Lebenszeit mit sich selbst Identisch-Sein und sich Identisch-Fühlen sowie ebenso die einen Menschen prägende Vielfalt an Gedanken- und Gefühlsweisen ein? Ein materielles Leitkriterium, an dem sich eine rechtliche Grenzziehung von neuroenhancementbezogener Forschung möglicherweise ausrichten könnte und das sich sowohl im Zusammenhang mit der Identität, der Authentizität sowie der Integrität eines Menschen als bewertungsentscheidend erweist, könnte dabei sein, ob und welche Auswirkungen von einer auf die Verbesserung/Veränderung von einzelnen Merkmalen und Fähigkeiten eines Menschen ausgerichteten Forschung auf die Gesamtheit des Menschen ausgehen, d. h. ob und wieweit das Verbessern/Verändern einzelner Wesensmerkmale eines Menschen dessen Wesen insgesamt beeinflusst, verändert bzw. manipuliert. Zu beachten ist dies bei Eingriffen etwa ins Gehirn stets deshalb, weil – geht man davon aus, dass alles Einzelne mit dem Gesamten untrennbar zusammenhängt102 – selbst bei Eingriffen, die nur bestimmte einzelne Wesensmerkmale verbessern möchten, (zumindest im Stadium der Forschung) nie auszuschliessen ist, dass jene einzelnen neuen Wesensmerkmale von dem „Gesamten“ des Wesens eines Menschen u. U. nicht harmonisch integriert werden kann und der Mensch im Anschluss an eine künstlichen Manipulation einzelner Wesensmerkmale sozusagen im Gesamten geistig-seelisch „nicht mehr seinen Takt“ findet bzw. sich nicht mehr „in seinem Takt befindet“.103 Dieses Erfordernis des Mit-sich-im Takt-Seins und des harmonisch und lebensbegrüssend Sich-Einfügens und Sich-Verbindens aller einzelnen Wesenselemente in das/mit dem Gesamte(n) der persönlichkeitsausmachenden Wesenheit eines Menschen kommt als wichtiges Moment gerade auch bei der (physischen und psychischen) Integrität des Menschen als einem weiteren Aspekt des verrechtlichten Menschenwürdenbegriffs zum Ausdruck,104 welche hier gerade eine innere Unversehrtheit, ein „Ganz-Sein und Ganz-Bleiben“ – im Sinne von Vollständigkeit, aber auch im Sinne von harmonischem Auf-einander-Abgestimmt-Sein – trotz Selbstverbesserungen und -veränderungen einzelner Wesensmerkmale des Menschen anspricht. 3.2.3 Veränderbarkeit des Menschen, Einflussnahme auf die Gene und auf die menschliche Gattung, Individualität des Menschen Zu den eben angesprochenen Gesichtspunkten kommen weitere, mit dem verrechtlichten Menschenwürdebegriff in Verbindung stehende Anschlusspunkte hinzu, die für den rechtlichen Schutz des Menschen in der Forschung relevant sind, welche (aus Platzgründen) aber nur kurz angesprochen werden können: Gerade, weil es zur Natur des Menschen gehört, dass dieser wandel- und veränderbar ist und auf der Grundlage dessen, dass diese Veränderbarkeit und das Sich-Verändern-Können auch auf der (rechtlichen) Sollensebene als zu Schützendes angesehen wird, ist solchen 102 Siehe auch Crone (Fn. 69), 123 zur komplizierten Vernetzung von Hirnregionen. 103 Siehe dazu auch etwa Ach (Fn. 95), 163 f.; Birnbacher (Fn. 67), Bioethik, 280 f. zur Veränderung einiger individuell bedeutsamer Gehirnfunktionen: „Mischperson“ (281). 104 Siehe auch der Bezug des HFG auf die Integrität des Menschen in der Botschaft HFG, 8046: „mit dieser Forschung stets einhergehenden Gefährdung der physischen und psychischen Integrität“ (Hervorhebung im Original); Tiedemann (Fn. 72), 119 ff.; siehe zum Schutz der Integrität auch die Angaben in Fussnote 83.
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Humanforschungen durch das HFG eine rechtliche Grenze zu ziehen, die das Ziel und/oder das Risiko haben, dass diese Veränderbarkeit und das Sich-Verändern-Können des Menschen infolge neuroenhancementbezogener Eingriffe verloren gehen und der nun bezüglich bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten verbesserte Mensch auf diesen „neuen, verbesserten“ Zustand „festgelegt“ ist.105 Wie bei der Autonomie, die auf der Sollensebene vom Recht als zu schützen angesehen wird und durch Forschungen daher nicht beeinträchtigt werden darf, so ist es ebenso die auf der Sollensebene als zu schützen angesehene Veränderbarkeit des Menschen, die durch selbstverbessernde Forschungen als solche nicht in Frage gestellt werden darf, was für Ethikkommissionen etwa im Zusammenhang mit Bewertungen von rückgängig oder nicht rückgängig zu machenden Forschungseingriffen und solchen mit nur vorübergehenden oder dauerhaften Folgen eine Rolle spielt.106 Ebenso sind rechtliche Grenzen bei neuroenhancementbezogenen Forschungen zu ziehen, die mit Geneingriffen und -manipulationen mit Folgen für die Nachkommen des in die Forschung Einwilligenden verbunden sind.107 Für die durch das HFG zu ziehenden rechtlichen Grenzen sind zudem Forschungseingriffe in den Blick zu nehmen, die sozusagen eine Aufhebung des Menschen im Sinne der Menschengattung und deren Ersatz durch eine andere Nachfolgegattung zum Gegenstand haben: Nicht nur kommen für die rechtliche Grenzziehung auch hier die Begründungsmuster zum Zuge, die wir beim Wechsel der numerischen (Personen-)Identität sowie der Autonomieaufhebung infolge von Forschungseingriffen betrachtet haben, sondern zudem würden solche Forschungseingriffe keinen den Menschen „Mensch bleiben lassenden“, wenn ihn auch als Mensch verbessernden/verändernden Charakter besitzen, sondern vielmehr einen den Menschen als Menschen gattungsmässig gerade zerstörenden Charakter.108 Nicht zuletzt sind solchen Humanforschungen rechtliche Grenzen zu ziehen, die mit einer Einschränkung oder Aufhebung der Individualität und damit der Einzigartigkeit, Besonderheit und Andersartigkeit eines Menschen verbunden sind, d. h. solchen neuroenhancementbezogenen Forschungen, die infolge einer (u. U. gar missbräuchlich-manipulativen) Auswahl von bestimmten, von den Forschern als „besonders gut“ empfundenen menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten mit der Gefahr verbunden sind, dass die um diese Eigenschaften/Fähigkeiten verbesserten/veränderten Menschen nunmehr in ihrem Wesenskern stromlinienförmig, gleich, uniform und damit austauschbar und ersetzbar sind.109 Nicht nur, dass es zum Mensch-Sein gehört, dass es jeden Mensch in dieser seiner Wesenheit „nur 105 Zur „Festgestelltheit“ des Menschen auch instruktiv Heilinger (Fn. 5), 415 ff.; Tiedemann (Fn. 72), 138 zum Sich-neu-Erfinden-Können der Person und deren Offenheit; Höfling (Fn. 81), Art. 1 Rn. 36 f. zum offenen Wesen und der Unabgeschlossenheit des Menschen. 106 Dazu etwa Ach (Fn. 95), 163 f. 107 Zu Natürlichkeitsargumenten im Bereich der Reproduktionsmedizin siehe Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 138 ff. 108 Dazu instruktiv Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 169 ff., dort auch zum Posthumanismus und der Frage, ob die Gattungsgrenze tatsächlich überschritten werden soll oder nicht; Ach (Fn. 95), 161 mit der Frage, ob der Selbstverbesserungsanspruch das Überschreiten der Gattungsgrenze einschliesst; Heilinger (Fn. 5), 415. 109 Dazu etwa Ach (Fn. 95), 159; Heilinger (Fn. 5), 415, 417 zur Gefahr der Vereinheitlichung des Menschen; Höfling (Fn. 81), Art. 1, Rn. 37 zur Individualität und dem je eigenen Menschenbild: „gegen funktionalistische Konditionierung, gegen uniformierende Wesensbestimmung“ (Hervorhebung Demko); zum Konformitätsdruck in der Gesellschaft – der als solcher für
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einmal“ gibt, sondern zudem mit Blick auf den Ebenenwechsel zur Sollensebene, nach der es zum Schutz des verrechtlichten Menschenwürdebegriffs auch gehört, dass sich der Mensch (trotz Selbstveränderungen/-verbesserungen) in der Bewahrung seiner Individualität mit deren Einzig- und Andersartigkeit geschützt sieht,110 sollten rechtliche Grenzziehungen für individualitätsaufhebende Forschungen auch von HFG erfasst werden. 3.2.4 Der Ethik zugewiesene Bewertungskriterien ausserhalb des verrechtlichten Menschenwürdebegriffs Jene, mit der Autonomie, Identität, Authentizität, Integrität und Individualität zusammenhängende neuroenhancementbezogene Forschungen sind es, die die Frage nach einer vom HFG zu ziehenden rechtlichen Grenze aufwerfen, da ebensolche Forschungen das Bild vom „Menschen im Recht“, wie es als vom Recht zu schützendes vom verrechtlichten Menschenwürdebegriff vorgezeichnet ist, zu verletzen drohen. Neuroenhancementbezogenen Forschungen hingegen, die jene Mindestkonturen des menschenwürdebegründeten „Menschen im Recht“ nicht berühren, d. h. ausserhalb des verrechtlichten Menschenwürdebegriffs stehen und von diesem nicht erfasst werden, lassen sich durch das Recht (hier das HFG) keine Grenzen ziehen, sondern stehen, wenn auch „nur“, so aber jedenfalls, im Blickfeld der ethischen Auseinandersetzung und Bewertung, um durch eine solche das Bild des „Menschen in der Ethik“ ausformen zu können, d. h. das Bild davon, wie wir uns als Menschen und uns in unserem Zusammenleben als Menschen wollen und unter einem ethisch-normativen Anspruch als geschützt ansehen können sollen. Zu solchen, nur durch die Ethik zu beantwortenden Fragen gehören etwa neuroenhancementbezogene Forschungen, die Verbesserungen/Veränderungen von bestimmten kognitiven Fähigkeiten, wie ein Steigern der menschlichen Seh- oder Hör- oder anderer Sinnesleistungen oder der Gedächtnisleistungen, zum Gegenstand haben, soweit diese keinen Einfluss auf die oben angeführten Mindestkonturen des (vom Recht) geschützten Menschen haben (, was seinerseits durch die Ethikkommissionen zu prüfen wäre). In den Bereich der Ethik gehört aber auch die Frage, ob der Leistung an sich, der Arbeit als solcher, die von einem Menschen zum Erreichen der angestrebten Verbesserung/Veränderung erbracht werden sollte, ein eigenständiger Wert zuzusprechen ist und ggf. welcher.111 Und nicht zuletzt ist – soweit der Bereich der vom verrechtlichten Menschenwürdebegriff vorgezeichneten Mindestkonturen des Menschen (im Recht) nicht berührt ist – die Beurteilung, was zum Glück und zu einem gelingenden Leben zählt sowie, inwiefern für ein solches entweder künstliche Selbstgestaltungen durch Neuroenhancement oder durch den Menschen selbst erarbeitete Selbstformungen als besser anzusehen sind, 112 Gegenstand einer rein ethischen Betrachtung und kann letztendlich nur von jedem Menschen individuell und für sich selbst beantwortet werden. eine rechtliche Grenzziehung aber noch nicht genügen dürfte, dennoch aber in die ethische Bewertung einzufliessen hat – siehe Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 116 f. 110 Siehe dazu die Angaben in den Fussnoten 83 und 109. 111 Dazu auch Kipke (Fn. 23), 271, 276; Bohlken/Thies (Fn. 4), 112 f.; van den Daele (Fn. 6), 112. 112 Dazu etwa Kipke (Fn. 23), 275, 263 ff.; Birnbacher (Fn. 4), Natürlichkeit, 112 ff.; zur Frage von Perfektionierung versus Imperfektibilität auch Bohlken/Thies (Fn. 4), 113; siehe zudem van den Daele (Fn. 6), 114; Honnefelder (Fn. 92), 93.
HIROKAZU KAWAGUCHI, OSAKA KOMMENTAR
ZU
PAOLO BECCHIS BEITRAG
AUS JAPANISCHER
SICHT
Lieber Paolo, mit großem Interesse habe ich Dein Referat und die folgende Diskussion verfolgt. Leider konnte ich bei der Diskussion keine Frage stellen. So danke ich Dir dafür, dass Du mir die Gelegenheit gegeben hast, Deinen Beitrag zu kommentieren. Weil Du auch an der japanischen Diskussion über den Hirntod interessierst bist, möchte ich die neuere Situation in Japan kurz zusammenfassen. Zuerst zur aktuellen Entwicklung der Organtransplantationsgesetzgebung: Wie Du schon weißt, ließ das erste japanische Organtransplantationsgesetz vom 16. Juli 1997 die Frage offen, ob der Begriff des Hirntods mit demjenigen des menschlichen Todes gleichzusetzen ist. Nach der herrschenden Meinung1 beinhaltet das Gesetz gleichzeitig zwei Todesbegriffe, nämlich das Hirntod-Konzept bei der Organtransplantation und das HerzKreislauf-Konzept in allen übrigen Fällen. Ich finde diese Theorie zwar pragmatisch, aber logisch widersprüchlich – was man als „typisch japanisch“2 bezeichnen dürfte.3 Jedoch hatte diese „typisch japanische“ Kompromisslösung einen großen Nachteil für die Befürworter der Organentnahme bei Hirntoten: Extrem strenge Erfordernisse für die Entnahme, namentlich dass neben der schriftlichen Einwilligung des Verstorbenen auch der fehlende Widerspruch der Angehörigen nötig war. Deswegen gab es auch nach Inkrafttreten des Gesetzes für die Organentnahme bei Hirntoten nur weniger als 10 Fälle pro Jahr. Aus diesem Grund hat der japanische Gesetzgeber mit einer Reform im Jahr 20004 die erwähnten Einwilligungserfordernisse gelockert. Nun legitimierte er auch die Organentnahme ohne schriftliche Einwilligung des möglichen Organspenders. Wenn also ein Verstorbener in die Organspende weder eingewilligt noch diese abgelehnt hat, erlaubt das geänderte Organtransplantationsgesetz die Organentnahme auch allein aufgrund der Zustimmung der Angehörigen. Das ist m. E. mit einer Selbstbestimmungslösung nicht vereinbar, weil die Einwilligung des Verstorbenen nicht delegierbar ist. Eher verstärkt der japanische Gesetzgeber das Familienmodell. 1
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Die sog. Wahlmöglichkeitstheorie hinsichtlich des Todesbegriffs (noushi-sentaku-setu), vgl. Hirokazu Kawaguchi, Strafrechtliche Probleme der Organtransplantation in Japan, Freiburg i. Br.: edition iuscrim, 2000, 88 f.; Vgl. auch Akiko Ichihara, „Das Recht der Transplantationsmedizin in Japan – Aktuelle Entwicklung“, MedR (2012), 500–502, 502. Eine „eigenartige vermittelnde Lösung“ nennt Makoto Ida (ders., Strafrechtliche Probleme der Todesbestimmung in Japan, in: Rechtliche und ethische Fragen der Transplantationstechnologie in einem interkulturellen Vergleich, hg. v. Hirokazu Kawaguchi/Kurt Seelmann, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2003, 107–115, 112) aus der Sicht der Befürworter des Hirntod-Konzepts das Gesetz. Was man auch eine „topische“ Lösung nennen könnte. Ichihara (Fn. 1), 502 f.; Yuri Yamanaka, Warum ist die Organentnahme in Japan so schwierig?, in: Festschrift Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, hg. v. Manfred Heinrich et al., Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter, 2011, 1623–1642, 1637 ff.; Hirokazu Kawaguchi, Beginn und Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes in Japan, in: Das vierte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, hg. v. Jan C. Joerden et al., Poznan!: Wydawnictwo Poznan!skie, 2011, 152–164, 161 ff.
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Hirokazu Kawaguchi
Theoretisch problematisch ist vor allem5 die Begründung des Gesetzes hinsichtlich des Hirntodes: Eigentlich behaupteten die Abgeordneten, welche die Gesetzesänderung vorgeschlagen hatten, dass der Hirntod als eigentlicher Tod des Menschen allgemein anerkannt wird. Logisch betrachtet bedeutet dies, dass das Hirntod-Kriterium nicht nur im Fall der Organentnahme von Hirntoten zum Zweck der Organtransplantation, sondern auch in allen anderen Fällen gilt. In der parlamentarischen Diskussion wurde aber erstaunlicherweise betont, dass das Hirntod-Kriterium nur in Organentnahmefällen gültig sei, weil sich der Anwendungsbereich des Gesetzes auf die Organtransplantation beschränke, so dass in allen anderen Fällen das konventionelle Kriterium (nach der sog. Drei-Symptome-Theorie6) gelte.7 So bestehen nun zwei verschiedene Todesbegriffe und -kriterien in Japan gleichzeitig, was ich theoretisch unerklärbar finde. Nun möchte ich Deine Ansicht kommentieren: Du hast sehr überzeugend dargelegt, dass der Hirntodbegriff wegen der Notwendigkeit der Organtransplantation erfunden wurde. Vielleicht hat der japanische Gesetzgeber Farbe bekannt, wenn er das Hirntod-Kriterium nur im Kontext der Organtransplantation für anwendbar hält. Auch bin ich mit Dir völlig einig, dass die herkömmlichen Begründungen des Hirntod-Konzepts überholt sind.8 Auch aus der Sicht des „President’s Council on Bioethics“9 in den USA stimmt die Grundkonzeption der Gesamthirntodtheorie, nämlich die biologische Integralfunktion des Gehirns,10 nicht mehr. Der „Council“ versucht die Gesamthirntod-Konzeption neu zu begründen. Er definiert das fundamentale Merkmal des Lebens als „das Werk der Selbsterhaltung“ durch „Interaktion (commers)“ mit der Umwelt.11 Dies sei dann nicht mehr der Fall, wenn der Betroffene nicht mehr spontan atme oder wenn er kein Bewusstsein mehr habe.12 In Japan gibt es unter Strafrechtlern einen Befürworter der Neubegründung des „Council“: Saeki13 hält sie für „einigermaßen überzeugend“ und vertritt – anders als der japanische Gesetzgeber – die „einheitliche“ Gesamthirntodtheorie. Dagegen kritisiert mein japanischer Lehrer Nakayama, den Du in Japan bei Deinem Vortrag in Osaka kennengelernt hast und der leider am 31. Juli 2011 gestorben ist, dass in dieser Neubegründung „medizinische bzw. biologische“ Argumente mit „philosophischen“ vermischt würden.14 Damit meint er vielleicht, dass die „Interaktion mit der Um5 6 7
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Über die anderen Punkte vgl. Kawaguchi (Fn. 4), 164. Vgl. Kawaguchi (Fn. 1), 87. Kousei-roudou-sho (Ministerium für Gesundheit und Arbeit [Hg.]), Chikujo-kaisetsu Zoukiishokuho (Kommentar zum Organtransplantationsgesetz), Tokyo: Chuohoki, 2012, 39. Vgl. Noriyuki Nishida, Keiho-kakuron (Strafrecht BT), Tokyo: Kobundo, 2012, 12. Vgl. Ralf Stoecker, „Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland“, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Beiheft 8 (2009), 41–59, 44. The President’s Council on Bioethics: Controversies in the Determination of Death: A White Paper by the Presiden’ts Council on Bioethics, Washington, D. C., 2008. (Abrufbar unter http://bioethics. georgetown.edu/pcbe/reports/death/index.html) Kritisch dagegen schon Kawaguchi (Fn. 1), 90 ff. The President’s Council on Bioethics (Fn. 9), 60: „Determining whether an organism remains a whole depends on recognizing the persistence or cessation of the fundamental vital work of a living organism—the work of self-preservation, achieved through the organism’s need driven commerce with the surrounding world“. Zusammenfassend The President’s Council on Bioethics (Fn. 9), 89 ff. Hitoshi Saeki, Hogaku-kyoshitsu Nr. 357, 113–119, 115. In seinem Blog vom 5. Februar 2011 (http://knakayam.exblog.jp/15871338/). Dort kündigte
Kommentar zu Paolo Becchis Beitrag aus japanischer Sicht
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welt“ durch die Atmung und diejenige durch das Bewusstsein auf einem ganz anderen Niveau stehen und man sie nicht als Alternativen betrachten könne. Ich finde die erwähnte Neubegründung schon deswegen nicht überzeugend, weil der „Council“ nicht erklärt, warum die Interaktion mit der Umwelt durch die Atmung (d. h. der Austausch des Kohlenstoffdioxids durch Sauerstoff, der für die Gewebe und Zellen lebenswichtig ist) spontan sein müsse. „Interaktion“ mit der Umwelt findet doch auch dann statt, wenn die spontane durch die künstliche Beatmung ersetzt wird. Professor Neumann sagte in der Diskussion, dass man eine neue Begründung für das Gesamthirntod-Konzept finden könne. Dem amerikanischen „Council“ ist dies m. E. nicht gelungen.15 So bleibt das Gesamthirntod-Konzept für mich theoretisch nicht akzeptabel. Deine Kritik dagegen finde ich sehr überzeugend. Trotzdem hältst Du Organentnahme von Menschen, bei denen das irreversible Koma festgestellt wurde, für möglich. Ich bin auch dieser Meinung, halte aber Deine Begründung für etwas problematisch. Du hast ja am Ende des Referats gesagt, dass der Arzt, der zur Organentnahme schreitet, den Patienten, bei dem das irreversible Koma festgestellt ist, nicht töte, sondern dessen Leben noch für kurze Zeit verlängere; der Arzt brauche dafür einen guten Grund. Ich glaube natürlich auch, dass der Arzt für die Lebensverlängerung einen guten Grund braucht. Aber die Verlängerung des Lebens ist strafrechtlich keine tatbestandmäßige Tötungshandlung. Nehmen wir folgenden Fall an: Arzt A, der an Patient P1 die Organentnahme zum Zweck der Transplantation zu Patient P2 vornehmen will, verlängert das Leben von P1. Dann kommt B, der diese Organentnahme verhindern will, und tötet P1 vor der Operation durch einen Messerstich. In diesem Fall würdest Du wohl die Tatbestandsmässigkeit der Tötung durch B, der keine Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe hat, bejahen und ihn bestrafen, obwohl die Verlängerung des Lebens von P1 durch A einen guten Grund hat. Dann aber müsstest Du annehmen, dass die Organentnahme, die durch aktives Tun zu Herz- und Atmungsstillstand führt, auch eine tatbestandmäßige Handlung wäre. Es handelte sich dann nicht um einen Tatbestandmäßigkeitsausschluss, sondern um einen Rechtfertigungsgrund, wie ich in meiner Dissertation vertreten hatte.16 Ich möchte Dich auch fragen, ob die Einwilligung des Sterbenden unerlässlich ist oder die Einwilligung der Angehörigen genügt, um den „guten“ Grund zu bejahen. Ich würde mich über Deine Antwort freuen. Mit herzlichen Grüßen Dein Hirokazu
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er an, eine kritische Rezension des White Paper by the President’s Council on Bioethics (Fn. 9) zu schreiben, die aber wegen seines Todes leider nicht veröffentlicht wurde. Kritisch auch Alan Shewmon, Brain Death: Can It Be Resuscitated? The President’s Council’s white paper is brave but flawed, Hastings Center Report, 39, 2 (2009), 18 ff.; Takeshi Oba, Inochi no rinri (Ethik des Lebens), Kyoto: Nakanishiya-shuppan, 2012, 222 ff. Kawaguchi (Fn. 1), 91 f.
MIKE BACHER, LUZERN* „VON DEN ERSTEN UND DEN LETZTEN DINGEN“ – DER ÜBERGANG VOM LEBEN IN DEN TOD IN DEN VORSTELLUNGEN DER INNERSCHWEIZER BEVÖLKERUNG There are more things in heaven and earth, / Than are dreamt of in your philosophy. / (Shakespeare, Hamlet, I.5.167)
1. VORREDE
UND METHODISCHER
ANSATZ
Um den fragilen Übergang zwischen Leben und Tod ranken sich zahlreiche juristische Fragestellungen, die sich nicht ohne weiteres auf Grundlage einer rein dogmatisch orientierten Rechtswissenschaft lösen lassen. Dieses Spannungsfeld wird innerhalb dieser Disziplin mehrheitlich unbestritten als Betätigungsfeld der Rechtsphilosophie betrachtet. Allerdings zeigt sich die Rechtsphilosophie zu diesem sensiblen Thema nicht als Einzelkämpferin, sondern versucht ihren Erkenntnishorizont im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit, u. a. mit der Theologie und der Medizin, zu erweitern. Dies war nicht zuletzt auch ein wesentlicher Aspekt im Rahmen der Tagung über „Ethik und Recht in der Bioethik“ an der Universität Luzern. Neben der Rechtsphilosophie i. e. S. beschäftigt sich auch die Rechtliche Volkskunde mit Fragen an den Rändern der etablierten Rechtwissenschaft. Als Schnittstelle zwischen Recht, Geschichte/Volkskunde und Theologie ist sie geradezu prädestiniert, die Frage nach den Vorstellungen des Todes innerhalb spezifischer Bevölkerungskreise zu analysieren. Denn gerade im medizinischen Spannungsfeld zwischen Hirn- und Herztod, der von den Verwandten, wie auch vom Patient selber, in schwierigen Momenten wichtige Entscheidungen abverlangt, dürfen diese Vorstellungen nicht unterschätzt werden. Auch wenn kollektive Vorstellungen in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäss weniger Bedeutung besitzen, als dies in vergangenen Epochen der Fall war, schwingen entsprechende Vorstellungen auch jetzt noch mit und beeinflussen unsere Denkstrukturen. Für einen verantwortlichen Arzt kann deshalb das weltanschauliche Umfeld, in welchem der Patient aufwuchs und sich bewegte, für die Abschätzung eines mutmasslichen Patientenwillens nicht unerheblich sein.1 Allerdings gestaltet sich eine Annäherung an diese Vorstellungen aus wissenschaftlicher Sicht nicht einfach. Während für die Untersuchung gegenwärtiger Vorstellungen Soziologische Methoden im Vordergrund stehen, sind für die Erforschung von kontinuierlichen Vorstellungen über die letzten Generationen hinweg * 1
Ich danke den Herren Dr. Remigius Küchler (Sarnen) und Pfr. Karl Imfeld (Kerns), sowie Frau Emma Th. Furrer (Lungern) für ihre wertvollen Hinweise bei der Erarbeitung dieses Aufsatzes. Vgl. hierzu die in diesem Band enthaltenen Aufsätze von Roberto Andorno und Markus Zimmermann-Acklin.
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methodische Vorgehensweisen schwieriger zu fassen. Gerade die klassischen Quellen der Geschichtswissenschaft sind hier nur bedingt aussagekräftig: sei es, dass sie für diese komplexen Fragen am Lebensende nur wenig Informationen beinhalten, sei es, weil die spärlichen Informationen zu stark aus dem Kontext gerissen sind. Allerdings wird seit dem 19. Jh. in der Forschung die Möglichkeit diskutiert, über den Rechtsgehalt von Sagen Aussagen zu machen und damit vorherrschende Meinungen in der Bevölkerung zu ergründen. Tatsächlich sind Recht und Gerechtigkeit in den – häufig zu transzendentalem Bezug verpflichteten – Sagen häufige Themen, die für Studien nicht unergiebig sind. Dass diese Vorstellungen auch Bezüge zum normativ geltenden Recht besitzen, und damit Interdependenzen bestehen, konnte ebenfalls nachgewiesen werden.2 Die nachfolgende Studie – die sich geographisch auf das Gebiet von Obwalden, Nidwalden und Luzern beschränkt – möge deshalb zeigen, wie solche über Jahrhunderte gewachsenen und tradierten Vorstellungen erforscht und im Rahmen der Bioethik zur Verfügung gestellt werden können. In erster Linie wird für das vorliegende Werk auf die 1862/65 publizierte Sagensammlung des Luzerners Alois Lütolf (1824–1879) abgestellt.3 Daneben werden noch vereinzelt weitere, jüngere Sammlungen aufgenommen, um einen Untersuch der Vorstellungen bis in die Gegenwart zu ermöglichen. Die Problematik der Quellenkritik, namentlich die Frage, ob die publizierten Sagen auch effektiv das Denken im Volk repräsentieren, darf dabei nicht ausser Acht gelassen werden. Eine breite Diskussion kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Allerdings lassen die (ausgiebigen) Forschungen um die Lütolf ’sche Sagensammlung erkennen, dass der Quellenwert und Rückverfolgbarkeit der publizierten Sagen tendenziell hoch ist.4 In vermehrtem Masse gilt dies für die Publikationen von Pfr. Karl Imfeld (geb. 1931)5 und Hanspeter Niederberger (1952–2000)6, die zu grossen Teilen auf Erzählungen basieren, die sie in den Obwaldner Gemeinden Kerns resp. Giswil direkt in Gesprächen gesammelt haben. Schliesslich wurden aus dem Nachlass Lütolfs auch Sagen direkt bearbeitet, die ihm zugesandt wurden und auch noch die Namen der Erzähler und weitere Einzelheiten für die Kontextualisierung nennen, verwendet. An erster Stelle ist hier die Sagensammlung von Kaplan Josef Ignaz Imfeld (1809–1874) zu nennen, der ab 1841 in Bürglen bei Lungern als Kaplan fungierte und eine Sammlung zusammentrug, die er Lütolf sandte.7
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Mike Bacher, Das Recht in den Sagen Obwaldens, (mit einem Vorwort von Paolo Becchi), Halle a. d. Saale: Peter Junkermann Verlag, 2011, 62. Alois Lütolf, Sagen, Bräuche und Legenden aus den fünf Orten, Luzern: Schiffmann, 1862/65. Claudio Hüppi, Alois Lütolf: Leben und Werk, Ein Beitrag zur schweizerischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Winterthur: Keller, 1961; Eduard Hengartner, Alois Lütolf, in: Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz, hg. von Rudolf Schenda, Bern/Stuttgart: Verlag Paul Haupt, 1988, 309–330. Karl Imfeld, Alig hends gseid – Sagen aus Kerns, Sarnen: Nussbaum Verlag, 1986. Hanspeter Niederberger, Giswiler Sagen, Sarnen: Eigenverlag, 1984. (Unpublizierte) Sagensammlung von Kaplan J. I. Imfeld im Nachlass Lütolfs: BB Ms.249a.4° Lütolf, Alois, Material-Sammlung zu Märchen, Sagen, Hexengeschichten, Sitten, Bräuche, Sprichwörter in der Schweiz. I [–II], 1850–1870, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern.
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2. GRUNDSÄTZLICHE VORSTELLUNGEN Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Feststellung, dass die menschliche Seele gemäss den ausgewerteten Sagen unsterblich ist. Der seit der Antike sich entwickelnde Leib-Seele-Dualismus hat somit im Volksgeist unbestritten Eingang gefunden. Aus rechtlicher Sicht hat dies die Konsequenz, dass damit die Seele nicht nur den Körper „überlebt“, sondern sich auch für die zu Lebzeiten getätigten Sünden zu verantworten hat. Dieser Gedankengang führt zu zwei weiteren Folgerungen: – –
Begangene Fehler (Sünden) sollten möglichst noch zu Lebzeiten rückgängig gemacht resp. wiedergutgemacht werden. Ein Tod im Angesicht der Sünde ist möglichst zu vermeiden. Sofern dies nicht geschah, so ist die Seele dazu verpflichtet, nach dem Tode für das begangene Unrecht zu büssen resp. kann ihren „Frieden“ (im weitesten Sinne) nicht finden, solange das Unrecht andauert.
Das Bild der Sage geht also von einem Konzept der ausgleichenden Gerechtigkeit aus: Auf eine unrichtige Tat muss entweder eine direkte Wiedergutmachung erfolgen, oder dann (häufig mit ersterem kombiniert) eine Strafe, welche die Gerechtigkeit wenigstens wiederherstellt, indem sie symbolischen Reinigungscharakter besitzt. 3. ARTEN
DER
WEITERLEBENS
UND DER
WIEDERGUTMACHUNG
3.1 WIEDERGUTMACHUNG IM ANGESICHT DES TODES Bei Vergehen gegen bestimmte Personen kennt die Sage regelmässig die Option, dass die Tat von der betroffenen Person verziehen werden kann. Ein solches Verzeihen gleicht das getane Unrecht wieder auf. Es verwundert daher nicht, dass in den hier untersuchten Rechtsvorstellungen das Verzeihen im Angesicht des Todes, d. h. unmittelbar vor dem Ableben, eine wichtige Rolle einnimmt. Denn das Sterben im Zustand der Schuld führt für die Seele des Verstorbenen zahlreiche Konsequenzen mit sich (worauf weiter unten eingegangen wird). Rechtshistorisch ist dies in mehreren Obwaldner Fällen der Frühen Neuzeit fassbar, etwa anhand eines Rechtsstreits vor dem Obwaldner Geschworenengericht am 16. Juli 1578. Es ging hierbei um die Anerkennung der auf eigener Liegenschaft lastenden Restschuld von 200 Pfund. Der Verstorbene, Beat Schäli, hatte auf dem Totenbett diese Schuld bestritten. Das Gericht konstatiert, dass Schäli „lestlich jm dottbett das uff sÿn end gnomen das me dan ein eid jst“.8 Es stellte also fest, dass eine Aussage im Angesicht des Todes mehr Wert sei als ein Eid und deshalb die Forderung nicht bestehe, d. h. die Kinder Schälis nicht zur Zahlung dieser Schuld verpflichtet seien. Dieses Denken manifestierte sich auch in der kirchlichen Organisation: so lautete ein Passus der Verkündformel noch um 1960 in den Obwaldner Pfarreien, mit welcher jeweils der Beerdigungsgottesdienst eingeleitet wurde: „Der Verstorbene lässt alle um 8
Protokoll des Geschworenengerichts (Bd. III) vom 16. Juli 1578. Nr. 2174. Staatsarchiv Obwalden. Eine ähnlich starke Rechtskraft im Falle einer Aussage von Todes wegen wird auch im selben Protokollband im Urteil Nr. 2571 vom 14. Februar 1584 zugemessen. Die Nummerierung der Protokolle entspricht der von Dr. Remigius Küchler erstellten Abschrift des Gerichtsprotokolls.
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Verzeihung bitten, die er im Leben beleidigt oder ihnen Unrecht angetan hat, so wie auch er allen verziehen hat.“9 Dass es sich hierbei nicht um eine blosse Formel handelt, sondern dass dieser Wunsch im Denken der Bevölkerung tief verankert war, zeugen mehrere Sagen. Allerdings muss die Vergebung ehrlich gemeint und gewollt sein. Ein Vergebung nur der Höflichkeit halber besitzt keine Wirkung. Eindrücklich wird dies in einer um 1900 durch den Giswiler Josef Schäli gesammelte Sage thematisiert: „In der Gemeinde Giswil, östlich vom Rothorn, liegt eine überaus „stotzige“ Alp, welche unter dem Namen „Staffel“ allgemein bekannt ist. Vor noch nicht gar langen Jahren alpete hier ein lebensfrischer Knecht, der als Besorger eines ansehlichen, zwei alten Jungfern gehörenden Viehstandes über den Sommer angestellt war. Eine solch’ steile Sommerweide bringt aber für einen gewissenhaften Knecht manche Sorge mit sich, mit der auf ungefährlichen Triften nicht gerechnet werden muss. Es ist also an solchen Orten notwendig und gebräuchlich, die gefährlichsten Abhänge einzuzäunen; eine solche Einzäunung ist unter dem Namen „Fallhag“ hierzulande allgemein bekannt. – Aus Bequemlichkeit und jugendlichem Mutwillen unterliess aber unser Knecht die Vorsichtsmassregel der Erstellung eines „Fallhages“, mit der spöttischen Begründung: „der St. Wendel und der St. Antoni müssen auch etwas zu tun haben, und das lb. Vieh beschützen“. Aber schon am ersten Tage fiel die schönste, beste Kuh vom ganzen Sennten in eine grausige Tiefe und zerschellte zu einer blutigen Masse. Den Dienstgeberinnen verheimlichte der Knecht seine Nachlässigkeit und ersann als Grund ihres Schadens eine ganz unschuldige Ausrede. – Kaum ein Jahr nach diesem Vorkommnis erkrankte der lebensstarke Mann, und als es mit ihm zum Sterben kam, verlangte er seine letztjährigen Dienstherrinnen zu sehen. Sie kamen, und er erzählte ihnen die Ursache des Schadens und bat sie um Verzeihung. Diese wollten aber nichts von Vergebung wissen, bis der Herr Kaplan, ein noch heute in der Schwändi in gutem Andenken gebliebener Geistlicher ernstlich in sie drang, dass man einem mit dem Tode ringenden Menschen vorbehaltlos verzeihen solle. Die alten Jungfern willigten schliesslich ein. Allerdings wurde bereits im kommenden Sommer auf der Alp Staffel, dort wo die Kuh abgestützt war, ein unheimliches Jammern und Stöhnen vernommen. Dem herbeigerufenen Kaplan teilte der Geist – es war der verstorbene, unvorsichtige Knecht – mit, dass ihm nun nach seinem Tode vom Herrn verordnet sei, „die Kuh auf dem Rücken wieder hinaufzutragen auf die Weide, und zwar so oft, bis der Schaden bei Angster und Heller abbezahlt sei. Jedesmal trage er mit der entsetzlichen Last einen halben Heller des Schadens ab.“10
Damit verbunden ist auch das Sakrament der letzten Ölung resp. (seit dem II. Vatikanischen Konzil) die Krankensalbung.11 Es gehört(e) zu den wichtigsten Pflichten eines Priesters, Sterbenden beizustehen, und ihnen im Angesicht des Todes die Beichte abzunehmen und die letzte Ölung zu spenden. Dabei blieb der Priester möglichst bis zum Ableben bei der sterbenden Person, gemeinsam mit Angehörigen und Freunden, die zusammen den Rosenkranz beteten und ihn so auf seinem „letzten Gang“ begleiteten. Dementsprechend stellt Karl Imfeld zu den Sterbensritualen in Obwalden fest: „Im Frieden mit Gott und mit sich sterben zu dürfen, war das, was man eine gute Sterbestunde nannte. Das Gebet schuf eine gewisse Ruhe und war für den Sterbenden und für die Angehörigen eine Hilfe“.12 Ein Ableben, ohne vorher die Sterbesakramente und (nach tätiger Reue durch die Beichte) die Absolution für die Sünden empfangen zu haben, wird als Unglück für die Seele des Verstorbenen gewertet. 9 10 11
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Karl Imfeld, Volksbräuche und Volkskultur in Obwalden, Kriens/Luzern: Brunner Verlag, 2006, 228. Franz Niderberger, Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, 3. A., Zürich: Edition Olms, 1989, 225 f. Die am 04.12.1963 verabschiedete „Konstitution über die heilige Liturgie (Sacrosanctum Concilium)“ ersetzte den bisherigen Begriff „Letzte Ölung“ durch „Krankensalbung“ und signalisierte damit, dass die Salbung nicht ausschliesslich Sterbenden zukomme, sondern Kranken überhaupt. Die neue Praxis wurde mit der „Apostolischen Konstitution Sacram Unctionem Infirmorum“ am 30.11.1972 durch Papst Paul VI. approbiert. Imfeld (Fn. 9), 218.
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3.2 WIEDERGUTMACHUNG NACH DEM TOD Sofern nun die Wiedergutmachung nicht zu Lebzeiten erfolgte, musste diese nach dem Tode gleichsam „nachgeholt“ werden. Beispielhaft für eine direkte Wiedergutmachung nach dem Tode sind die Sagen um die sogenannten „Marchsteinversetzer“. Es handelt sich hierbei um Personen, die zu Lebzeiten Marchsteine (Grenzmarken) zu ihren Gunsten versetzt haben. Diese sind nach dem Tode dazu verurteilt, so lange zu wandeln, bis die Marchen wieder an die richtige Stelle gesetzt werden. Dazu ist zumeist die Hilfe von lebenden Menschen nötig, welche die wandelnden Seelen der Verstorbenen sehen und auf ihre Wünsche eingehen können. Dies zeigt sich an folgendem Exempel: Zu einer Zeit, als die Kernser noch arme Leute gewesen sind, haben sie den Schwandern die schönsten Alpen am Kernserberg verkauft. Ein Schwander hat eine solche Alp erben können und heimlich die Grenzsteine (Marchsteine) versetzt. Einmal hat nachts ein Älpler den Tierarzt holen müssen. (Bei weitem) nicht zuunterst in der Alp ist ihm ein steinalter Mann begegnet. Er hat feurige Schuhe angehabt und einen schweren Stein vor sich hergetragen und bei jedem Schritt gesagt: „Wo tue ich ihn hin? Wo tue ich ihn hin?“ Da sagte der andere zu ihm: „So tue ihn (dort) hin, wo du ihn genommen hast!“ Der Alte hat den Stein noch zwei, drei Schritte (weiter) nach oben getragen und ihn fallen lassen. Dort ist der Marchstein wieder auf der alten March (= Grenze). Den Mann mit dem Stein hat man später nie mehr gesehen.13
Dank der Antwort des Älplers konnte die Arme Seele erlöst werden. In anderen Sagen ist eine aktive Handlung von Seiten des Lebenden erforderlich. Zentral ist hierbei der Gedanke der Wiederherstellung des rechtlichen Zustandes. So lange der widerrechtliche Zustand andauert, die Schuld nicht gesühnt ist, kann der Verstorbene die Seligkeit nicht erlangen. Charakteristisch für dieses Denken ist auch folgende Notiz aus Obwalden: Wenn eine neue Mode in Kleidern in eine Gemeinde kommt, sei es durch eine Schneiderin oder einheimische oder fremde Jungfrau, so kann die Person, welche diese neue Mode aufbringt und anfängt, nicht erlöst und selig werden, bis diese Mode wieder aufgegeben ist.14
3.3 SYMBOLISCHE WIEDERGUTMACHUNG Die „symbolische Wiedergutmachung“ hingegen ist zwar zuweilen mit der Wiederherstellung verknüpft, besitzt aber eine weitere Komponente: Neben oder anstatt der Wiederherstellung tritt zusätzlich das Element auf, wonach die Seele bis zu einem gewissen Zeitpunkt überhaupt „büssen“ muss. Hier tritt der Gedanke des reinigenden Fegefeuers, der sich (nach den Forschungen Jacques Le Goffs) im Wesentlichen gegen Ende des 12. Jh. in Mitteleuropa etablierte, besonders stark zu Tage.15 Die Seele ist zwar nicht, wie dies bei anderen Sagen zuweilen erwähnt wird, endgültig zur Höllenstrafe verdammt, doch ist sie auch noch nicht bereit, um selig zu werden. Sie müsse deshalb zunächst eine „Reinigung“ durchmachen, um schliesslich vor dem Angesicht Gottes zu bestehen. Obschon dieser Reinigungsprozess theologisch mehr im Sinne einer Bewusstwerdung und Reue verstanden wurde, lassen sich 13 14 15
Imfeld (Fn. 5), 84. Lütolf (Fn. 3), 554. Jacques Le Goff, La naissance du purgatoire, Paris: Gallimard, 1981.
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seit dem Spätmittelalter im Volksglauben materielle Vorstellungen dieser Strafen finden. Sie setzen voraus, dass die Seele in der Lage ist, Schmerzen zu empfinden. Neben der naheliegenden Vorstellung des Purgatoriums in Form eines peinigenden Feuers tritt in unseren Sagenbeständen das „Wandeln“ besonders hervor: Die Seele muss bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Erden erscheinen und auf ihre Erlösung warten. Dabei kann sie an einen festen Ort gebunden resp. gebannt sein, oder ihre Strafe besteht gerade darin, nach einem bestimmten Verlauf zu wandeln. Für letzteres ist etwa die Giswiler Erzählung vom wandelnden Förster charakteristisch: Der Balzi-Frideli erzählte, er sähe jeweils am Freitagabend den alten (verstorbenen) Förster selig die Grenzen entlang wandeln. Der Förster hielt früher Geheimsitzungen zur Richtigkeit von Grenzmarchen ab. Vielleicht hat er damals falsch ausgesagt.16
Eine besondere „Spezialität“ von Sagen in hochalpinen Gegenden ist die Vorstellung, dass die Armen Seelen zur Strafe für ihre Sünden in die Gletscher gebannt seien und dort wandeln müssten. Angesichts dessen, dass die vergletscherten Bereiche der Alpen bis ins 18. Jh. als unwirtliche und gefährliche Gegenden tendenziell gemieden wurden, dürfte dies den strafenden Charakter besonders betont haben. Für unsere Untersuchungsregion, die mit Ausnahme des Hochtales von Engelberg keine Gletscher aufweist, hat sich immerhin eine frühe Sage, um die Mitte des 19. Jh. durch Kaplan Imfeld aufgezeichnet, erhalten: Geister müssen wandeln auf Schneebergen, im Eyse, Gletscher, und ewigen Schnee. N. Halter von Lungern, Krämer und Ankenträger (Butterverkäufer) nach Luzern (…) ging einst, wie oft, mit einer schweren Bürde Butter durch die Zoller-Allmend (…) da begegnete ihm eiligen Schrittes und mit einem Reisebündelchen unter dem Arm seine gewohnte Wirthin aus Luzern. Der Ankenträger fragt verwundert: Frau! Wo wollt ihr hin? – Und rasch antwortete sie, hindeutend auf die Gletscher-Berge von Berner Oberland, dort auf jene Berge hinauf um meine Sünden abzubüssen. –, ging vorüber und verschwand. – Als der Ankenträger tags drauf in der Stadt Luzern ankam, und sein gewohntes Wirtshaus betrat, fand er seine Wirthin todt, und die Stunde ihres Todes traf mit dem Begegnen auf der Zoller-Allmend zusammen. Diese Geschichte machte noch viele Jahre nachher in Lungern und Sarnen viel Redens, denn man kannte die Wahrheitsliebe dieses Mannes.17
Von der Bannung in den Gletscher berichtet für die Region Obwalden/Nidwalden einzig noch die Sage vom Pfaffenhaufen, wo ein verwegener Mönch als Strafe für eine leichtsinnige Wette in die Gletscher und Klüfte des Jochpasses (ob Engelberg) gebannt sei.18 Die Länge dieser Strafe ist unterschiedlich; der erwähnte Zeitpunkt kann ein festgesetzter Termin resp. eine variable Frist sein, oder auch bis zum jüngsten Tag andauern. Letzteres ist etwa beim Giswiler Sagenkreis um Hensli Müller der Fall.19 Der festgesetzte Termin lässt sich in den Sagen meist relativ genau bestimmen. Bemerkenswert ist dies bei einer durch Hanspeter Niederberger gesammelten Erzählung, die ihm durch den „Bänzbiob“ (Josef Schrackmann, 1920–1988) erzählt wurde. 16 17
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Mündliche Mitteilung von Zeno Bacher, Giswil, 20.08.2009. Im Anschluss daran bringt Kaplan Imfeld noch zwei weitere Beispiele, die dem obigen ähneln. Nicht uninteressant ist dabei die zweite Erzählung, wonach dasselbe dem Grossvater des Kaplans – dem Sarner Melchior Imfeld – passiert sei, der in Frankreich Söldner war und auf der Reise zu seinem Regiment der (soeben verstorbenen) Wirtin begegnete, die in die Berge von Grenoble unterwegs gewesen sei. Zur Quelle siehe Fn. 7. Lütolf (Fn. 3), 167. Louis Stockmann, „Sagen und Volksmeinungen in Obwalden“, Monat-Rosen des Schweizerischen Studenten-Vereins, 36 (1891/92), 360 f.
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Dieser habe in seiner Kindheit jeweils einen Verstorbenen gesehen, der als „Resbueb“ identifiziert wurde. Jener habe früh Suizid begannen, und als Strafe müsse er so lange wandeln, wie er alt geworden wäre. Viele hätten erzählt, dass ihm angesichts der langen Zeit, die er wandeln musste, wohl ein hohes Alters zuteil geworden wäre. Der variable Termin schliesslich hängt davon ab, wann ein bestimmtes Ereignis eintritt resp. wann eine lebende Person es vermag, einen Geist zu erlösen. Der Beispiele, wie ein Geist erlöst werden kann, gibt es viele.20 Hier wird (wie beim obigen Exempel zum Marchsteinversetzer) eine bestimmte Handlung benötigt, damit die Seele erlöst werden kann. Abschliessend sei deshalb hierfür ein Beispiel gegeben: Der Besitzer einer Alp im Entlebuch hat selbe immer verlehnt, aber kein Lehenmann blieb lange darauf, alle starben vor Schrecken und Grauen wegen des Geistes, der daselbst umging. Zuletzt wollte niemand mehr die Alp bewirthen und sie blieb verödet. Da kam mal Einer zum Eigenthümer und sprach: „Ich will schon auf die Alp gehen, es fürchtet mich nicht.“ Darauf jener: „Wenn du dort wohnen kannst, will ich die Alp dir schenken.“ Der Andere zog auf. Alsbald kam der Geist in schwarzer Gestalt und machte ihm den Gatter auf, damit das Vieh hineinkönne. Von nun an war der Geist immer bei ihm im Stall beim Melken, in der Scheuer, auf der Alp, bei Tisch, ohne mit ihm zu essen, sogar im Bett, ohne mit ihm zusammenzukommen und ein Wort zu ihm zu reden. Zuerst graute es dem Senne doch. Aber nach und nach verging ihm die Furcht und er gewöhnte sich an ihn. Zugleich bemerkte er an dem schwarzen Gespenst, dass es nach und nach zu „weissen“ anfing, zuerst beim Kopf und dann immer weiter hinab, bis es zuletzt ganz weiss war. Dann fiel es zusammen und wurde zu Asche. Da schlug der Mann darauf und bald flog eine weisse Taube auf. Später kam der Geist nochmal und dankte dem Manne, dass er endlich ihn erlöst, nachdem seine Vorgänger dies nicht konnten, sondern schnell aus Furcht und Schrecken vor ihm gestorben seien. Er sei nun ein Kind der Seligkeit, und der ihn erlöst, werde es auch werden. (Hr. Pfr. Melliger nach Lucerner Schnittern im Freien Amt.).21
4. WIRKUNG –
VON DEN LETZTEN
DINGEN
Ziel dieser ganzen Handlungen ist es schliesslich, dass die Seele „erlöst“ werden kann resp. „selig“ wird. Was sich genau hinter diesen Begriffen verbirgt, kann zumeist nicht aus den Sagen selber, sondern aus dem entsprechenden konfessionellen Kontext heraus verstanden werden. Hintergrund ist die katholische Heilslehre, deren Kern die christliche Heilsbotschaft ist: Mit der Auferstehung Christi wurde die Menschheit erlöst. Die Überwindung des Todes öffnete gleichsam die Pforte zur Erlösung. Allerdings folgt nach dem Tode nicht eo-ipso die Erlangung der Seligkeit. Hierfür ist, nach den Vorstellungen des Volkes, eine endgültige „Reinigung“ notwendig, die von zu Lebzeiten begangene Sünden reinigt. Je besser der Lebenswandel war, und vor allem je mehr im Hinblick auf den Tod an Vergehen „gesühnt“ war, desto eher durfte darauf gehofft werden, dass das anschliessende Fegefeuer kurz gehalten werde. Dazu halfen, neben dem hauptsächlichen Beitrag durch den Verstor20
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Neben den Sagen ist auch bemerkenswert, dass es aktuell anscheinend nicht wenige „Geisterbanner“ o. ä. gibt, welche sich auch ohne finanzielles Entgelt bereit erklären, mit den Armen Seelen zu kommunizieren und ihnen zu helfen. Beispielhaft ist hierbei der gebürtige Engelberger „Sam“ Hess (geb. 1951). Die Schilderungen seiner gegenwärtigen Erlebnisse erinnern strukturell stark an die in den Sagen geschilderten Wahrnehmungen und Situationen. Vgl. Pier Hänni, Wanderer in zwei Welten. Sam Hess – Begegnungen mit Totengeistern und der anderen Dimension des Lebens, Aarau/München: AT Verlag, 2010. Lütolf (Fn. 3), 171 f.
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benen selber, auch Ablässe und Messen, welche dem Verstorbenen zugutekommen sollen. Diese entfalten ihre Wirkung gerade auch dann, wenn der Verstorbene sein „persönliches“ Fegefeuer noch auf Erden abbüssen muss. Diese Vorstellungen sind wesentlich geprägt durch die christliche Heilsbotschaft, im Besonderen der Eschatologie. Mit der Inkarnation Gottes auf Erden in der Gestalt des Jesus Christus hat der Prozess eines neuen Reich Gottes begonnen, und wird mit der Wiederkehr Christi zur Entfaltung kommen. Zentrales Element ist hierbei bei letzterem die Auferstehung der Toten und deren Beurteilung durch das Jüngste Gericht. Ungeachtet der theologischen Diskussionen, ob das Jüngste Gericht über die Menschheit im Kollektiv oder für jeden individuell abgehalten wird, ist in den Sagen unverkennbar, dass diese tendenziell Züge einer individuellen Verantwortung kennen. Von zentraler Bedeutung ist das Jüngste Gericht, weil es darüber entscheidet, ob die Person im Rahmen der Auferstehung am neuen Reich Gottes (d. h. dem „Himmel“) teilhaftig wird, oder in der Hölle landet und deren Seele damit unwiederbringlich verloren ist. Somit hat das Jüngste Gericht auch die Funktion einer letztinstanzlichen Gerichtsbarkeit, welche die absolute Gerechtigkeit symbolisiert. Nicht wenige Forschungen im Bereich der Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde weisen auf die – heute oft missverstandene – reiche Symbolik hin, die diese Vorstellung entfaltet hat. So etwa in der Farbverwendung bei Gerichtsgebäuden: Rot war das Symbol der weltlichen Gerichtsbarkeit, während Blau für die geistliche Gerichtsbarkeit stand. Zu erinnern sei etwa an die „blauen Gerichtssteine“, auf denen die Richter mit ihren roten Mänteln sassen. Diese sollten die Richter daran erinnern, dass ob ihnen noch ein weiterer, höherer Richter thronte, der ihre Entscheide nochmals mit absoluten Gerechtigkeitsmassstäben messen werde, weshalb es ihr Bestreben sein müsse, möglichst gerechte Urteile zu fällen. Eine in Obwalden untersuchte Ausprägung dieses Rechts zur hohen Gerichtsbarkeit sind die „roten Häuser“. Vom 16. bis ins 18. Jh. besassen die Landammänner, in ihrer Funktion als oberste Richter Obwaldens, das Recht, ihre Häuser rot zu bemalen. Mehr als ein Dutzend solcher Häuser sind dokumentiert und zeigen eindrücklich die Symbolik auf, derer sich das sinnfällige Recht bediente.22 Besonders eindrücklich findet sich dieser Gedanke des Jüngsten Gerichts als letzte Gerechtigkeitsinstanz in der „Vorladung ins Tal Josaphat“. Gemäss dem Alten Testament ist das Tal Josaphat – welches die Überlieferung in Jerusalem geographisch zwischen dem Tempelberg und dem Ölberg platziert – der Ort, an dem Gott am Jüngsten Tage richten wird. Diese „Vorladung“ besteht nun darin, dass eine Person, die (ihres Erachtens) zu Unrecht verurteilt wurde resp. ihr Recht vor Gericht nicht erlangen konnte, ihre Richter resp. ihren Kontrahenten ins Tal Josaphat einlädt. Der Begriff „Tal Josaphat“ ist hierbei gleichbedeutend mit dem Jüngsten Gericht. Nicht selten wird diese Verwünschung im Angesicht des Todes ausgesprochen; mehrere Sagen berichten davon, wie der Herausgeforderte binnen einer gewissen (kurzen) Frist verstarb. Diese Ladung ist auch rechtshistorisch mehrfach überliefert. Für Luzern etwa im Falle eines Straftäters, der 1559 den urteilenden Schultheiss, der ihn wegen Ketzerei zum Tode verurteile, ins Tal Josaphat lud.23 Oder in einem Ver22 23
Walter Zünd, „Die roten Landammänner-Häuser in Obwalden vor 1800“, Kultur- und Denkmalpflege in Obwalden 2008–2009, 6 (2011), 39–61. Richard Van Dülmen, Theater des Schreckens: Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit, München: Beck, 1995, 59.
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hör von 1684, wo ebenfalls ähnliche Verwünschungen ausgesprochen wurden.24 Auch in Obwalden sind mehrere Fälle dieser Ladung bekannt. So hatte sich der Zweifache Rat am 19. April 1563 mit Hans Frunz zu befassen, der u. a. auch „ethlich jn dz thall Josafatt“ geladen habe.25 Bemerkenswert ist ein Fall aus dem Jahr 1589. Der Säckelmeister Konrad Schmid hatte gegen Joachim Bürgi aufgrund einer Forderung geklagt. Dieser bestritt allerdings die Forderung und lud den Kläger vor das „Dallosenvatt“ ein, worauf jener vor den Zweifachen Landrat Obwaldens gegen Bürgi gelangte. Der Rat entschied, dass Bürgi widerrufen müsse und verbot ihm, künftig den Kläger oder eine andere Drittperson vor das Gericht Gottes zu zitieren: (…) wan er denn seckelmeÿster Schmidt dahin wie obenn gemelt in das Tallosenvett geladenn habe, jnne selbig gentzlich entschlache undt jnne derselbigen cittierung ledig erlasse; solliches gegenn jme fürthin ouch glich gegen jemandz gebruchen welle.26
5. FAZIT Der Tod in den Vorstellungen Obwaldens (und Luzerns) ist eingebettet in die christliche Eschatologie der vier letzten Dinge: Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle. Diese Glaubensgrundsätze wurden – wie die Sagen zeigen – auch im Volksbewusstsein rezipiert. Der Tod wird nicht als ein absolutes Ende angesehen, sondern als Übergang in das Jenseits. Dieses ist allerdings nicht vollständig vom Diesseits abgekoppelt, sondern weist Übergänge und direkte Bezugnahmen auf. So müssen die Armen Seelen als Konsequenz für Sünden, die sie zu Lebzeiten begangen haben, diese entsprechend auch im Diesseits büssen. Erst die „Begleichung“ resp. „Einsicht“ der eigenen Schuld ermöglicht es, sich ganz von „dieser Welt“ zu lösen, um schliesslich das Jüngste Gericht bestehen zu können und die immerwährende Seligkeit zu erlangen. Die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten führte dazu, dass diese Vorstellungen – gerade auch in Bezug auf die gelebte Glaubenspraxis und dem dahinterstehenden Wissen – auch in Gegenden wie der Innerschweiz nicht mehr flächendeckend und vorbehaltlos als allgemeingültig angenommen werden können. Allerdings dürfen diese Grundgedanken, die über Jahrhunderte auch das Denken breiter Bevölkerungsschichten prägten, nicht ohne weiteres übergangen werden. Entsprechend konstatiert auch Karl Imfeld: Die heimische Sagenwelt beruht auf einer ganzen Palette von Vorstellungen, die unabhängig von Alter und Stand untergründig heute noch vorhanden sind. Wer modern denkt, gibt es einfach nicht zu. Die einen haben vor den armen Seelen Angst, sie könnten ihre Ruhe nicht gefunden haben, zurückkehren und sich beson-
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Carl Rüttimann/Jost Schobinger, Erwähnung „Ladung ins Tal Josaphat“ (1684), Staatsarchiv Luzern: Fach 6 (Kriminaljustiz), COD 4585. Protokoll des Geschworenengerichts (Bd. II) vom 19. April 1563. Nr. 1647. Staatsarchiv Obwalden. Abgedruckt in: Remigius Küchler, „Das Protokoll des Fünfzehnergerichts Obwalden 1550–1571“, Der Geschichtsfreund: Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz, 150 (1997), 421 f. Protokoll des Geschworenengerichts (Bd. III) vom 9. März 1589. Nr. 3070. Staatsarchiv Obwalden.
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Mike Bacher ders nachts unangenehm bemerkbar machen. Die Angst um das Heil der armen Seelen und die Angst vor den armen Seelen gehen Hand in Hand.27
Auch die obigen Beispiele aus der Wende des 20./21. Jh. zeigen auf, dass die traditionellen Vorstellungen durchaus durch Erzählungen mitschwingen können. So dürfte etwa der Gedanke, dass „etwas“ noch nicht bereinigt ist, sei es von Seiten der Patienten oder deren Angehörigen, unterschwellig bei nicht wenigen Entscheiden in schwierigen Situationen mitschwingen. Auch wenn dieser Gedanke nicht bewusst ausgesprochen (oder auch nur bewusst angedacht) wird, darf er in einer konkreten Situation nicht unterschätzt werden. Eine Reduktion der (ärztlichen) Entscheidungspflicht auf das technisch machbare resp. das ethisch wünschbare – in welcher Form auch immer – dürfte hier kaum zu befriedigenden Lösungen führen. Vielmehr sind die verantwortlichen Personen gefordert, mit der nötigen Sensibilität an das Thema heranzugehen und das weltanschauliche Umfeld des Patienten mit zu berücksichtigen. Mit der Vergewisserung dieses gedanklichen Hintergrunds und dem Ansprechen möglicher daraus entspringenden Sorgen und Ängste kann die Rechtliche Volkskunde somit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der medizinischen Praxis bei komplexen Fragen am Lebensende liefern.
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Imfeld (Fn. 9), 187.
PHILIPPE AVRAMOV, GENÈVE LA « CHIRURGIE DES GÈNES »: À L’EUGÉNISME LIBÉRAL
UNE THÉRAPIE OUVRANT LA VOIE
L’homme peut bien sûr se servir des autres humains comme des instruments à son service; il fera par exemple usage de leurs mains, de leurs pieds et même de toutes leurs forces. Pourvu qu’autrui y consente, il peut donc utiliser ce dernier à ses fins personnelles. Emmanuel Kant, Leçons d’éthique
INTRODUCTION Depuis une dizaine d’années, la thérapie génique, c’est-à-dire le remplacement d’un gène défectueux tout entier par un gène sain, connaît un nouvel essor.1 Les chercheurs affinent leur procédé en s’attaquant désormais précisément à la portion malade du gène, afin de lui greffer une prothèse idéale comportant un acide désoxyribonucléique (ADN) non muté.2 Cette technique connue sous l’appellation de chirurgie des gènes agit directement sur la séquence malade.3 La prothèse d’ADN ainsi greffée est « une véritable reprogrammation du génome »,4 permettant le traitement de maladies telles que la mucoviscidose. Par ailleurs, les chercheurs se sont rapidement aperçus des perspectives proposées par une telle technique chirurgicale, notamment en ce qui concerne la prévention de maladies, telles que les maladies héréditaires ou le cancer. En effet, les constats des cancérologues et des spécialistes de la mort cellulaire sont sans appel: la grande majorité des cancers se manifestent après la période de reproduction de l’espèce tant animale qu’humaine.5 La nature, dans un souci de continuité de l’espèce, privilégie donc nos fonctions reproductives en dépit de la longévité. Cette nouvelle forme de chirurgie offre la possibilité de déjouer les ‹ plans naturels › en anticipant la dégénérescence de portions de gènes à travers leur remplacement. Les séquences servant de remplaçants dans le génome des patients sont issues de sujets sains. L’on peut alors considérer le patient traité comme le descendant d’une pluralité de parents géniteurs. Le choix d’intervenir par 1 2
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Pour une description des différents modes de thérapie génique, voir notamment Damian König, Le droit face à l’éthique dans le domaine des thérapies géniques, Berne: Staempfli, 2002, 117 ss. Pour une définition de « gène », « génome », « ADN », « ARN », voir le Glossaire des termes scientifiques chez Magali Franceschi, Droit et marchandisation de la connaissance sur les gènes humains, Paris: CNRS, 2004, 211 ss. Egalement, Alex Mauron, « Le ‹ tournant génomique’ et le débat éthicojuridique sur la génétique », Revue de droit suisse 117 (1998), 372. Marina Cavazzana-Calvo et al., « Gene therapy of human severe combined immunodeficience (SCID)-X1 Desease », Science 5466 (288–2000), p. 669 ss; James C. Paterson, Genetic turning points. The ethics of human genetic intervention, Michigan/Cambridge: William B. Eerdmans Publ. Company, 275 ss. Sandrine Cabut/Philippe Chambon, « La chirurgie répare les gènes », Science & Vie 1092 (sept. 2008), 48. Interview de Claude Ameisen dans Sandrine Cabut/Philippe Chambon, « La chirurgie répare les gènes », Science & Vie 1092 (sept. 2008), 54.
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une thérapie très en amont d’une maladie peut grâce à la chirurgie des gènes être un moyen de contourner l’art. 119 al. 2 let. a Cst6 en modifiant à la fois un phénotype récessif et toute une descendance humaine. En théorie, seule les changements introduits dans les cellules germinales peuvent se répercuter sur la génération suivante. Or, il est démontré que certaines altérations sur les cellules somatiques comportent les mêmes effets sur les germinales.7 Ainsi, « la crainte principale avec la thérapie génique est qu’elle pourrait être utilisée dans le cadre d’une amélioration ou d’une reconstruction de l’être humain »,8 ce qui ne manque pas de soulever de nouvelles questions bioéthiques. Elles pointent toutes vers un eugénisme libéral9 qui, dans les années à venir, peut être exploité par les laboratoires pharmaceutiques et de recherche médicale10. Ainsi, du fait que la chirurgie des gènes puisse provoquer un effet eugéniste, certains principes en bioéthique, tels que le principe d’autonomie, de consentement et de responsabilité intergénérationnel, pourraient ne plus êtres respectés. Il convient alors d’examiner cette nouvelle technique thérapeutique à la lumière desdits principes. 1. LES
PRINCIPES DE LA BIOÉTHIQUE ET LA RÉGELEMENTATION SUR LES THÉRAPIES
GÉNIQUES
Le terme bioéthique apparaît pour la première fois en 1971 dans l’écrit d’un oncologue américain11. Cette science naît logiquement de l’éthique médicale12 dans le courant du 20e siècle, puisque les plus grands succès médicaux qui ont su changer la condition humaine et les perspectives de la vie sur terre ont eu lieu en ce temps.13 La bioéthique, portant sur des questions en lien avec les biotechnologies et la recherche sur le vivant en général, est composée par les différents domaines de l’éthique: le clinique, la recherche et le publique14. La fonction de la bioéthique est 6 7 8 9
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Art. 119 al. 2 let. a Cst (RS 101): « toute forme de clonage et toute intervention dans le patrimoine génétique de gamètes et d’embryons humains sont interdites ». Marc Lappé, Ethical issues in manipulating the human germ line, in: Bioethics. An Anthology, Helga Kuhse/Peter Singer (2nd ed.), Malden: Blackwell, 2006, 198–199. Annexe 1 au Code de déontologie médicale suisse, 4. Julian Savulescu, Genetic Interventions and the ethics of enhancement of human beings, in: The oxford hanbook of bioethics, Bonnie Steinbock (ed.), NY/Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, 517; Jonathan Glover, Questions about some uses of genetic engineering, in: Bioethics. An anthology, Helga Kuhse/Peter Singer (2nd ed.), Malden: Blackwell, 191 ss. Olivier Guillod, « Préface », Revue de droit suisse 117 (1998), 369, où il précise que l’anticipation des maladies grâce à la lecture de nos gènes entraînera la convoitise des différents laboratoires de recherche. Cette convoitise provoquera l’accélération des thérapies géniques pratiquées, d’abord somatiques puis germinales. Potter van Reusselaer, Bioethics, Bridge to the future, Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 1971. Maurice A. M. de Wachter, Origine et nature de la bioéthique, in: Bioéthique: de l’éthique au droit, du droit à l’éthique, Colloque international, Lausanne 17–18.10.1996, Zurich: Schulthess, 231; Gilbert Hottoi, Qu’est-ce que la bioéthique?, Paris: P. U. F, 2004, 12. Noëlle Lenoir/Bertrand Mathieu, Les normes internationales de la bioéthique, Que sais-je, Paris: PUF, 1998, 7: « La bioéthique renvoie aux règles de conduite qu’une société s’assigne afin de faire face aux difficultés ou aux dilemmes nés des avancées des sciences de la vie. Il s’agit de garder en toute circonstance ‹ le sens de l’humain › ». Damian König, Le droit face à l’éthique dans le domaine des thérapies géniques, Berne: Staempfli,
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double. Elle se focalise sur la recherche de consensus dans le cadre du bien-être des individus en société, et sur la réflexion dans le rapport entre scientifique et patient. Ainsi, issue de la recherche biomédicale, la bioéthique se dote de principes majeurs tels que l’autonomie, la justice, la bienfaisance, et la relation thérapeutique: « Bioethics is the branch of applied ethics with studies practices and developments in the biomedical field ».15 Tous ces principes appellent à une approche interdisciplinaire pour trouver des solutions aux problèmes en bioéthique – le but étant de parvenir à un équilibre entre la nature et le développement scientifique.16 Le fait que la bioéthique renvoie à une réflexion, c’est-à-dire à une sagesse accompagnatrice du progrès scientifique, implique qu’elle vise à prévenir des dérives comme celles commises durant la deuxième guerre mondiale17. En effet, le Code de Nuremberg de 1947 est le premier18 outil juridique international et majeur en lien avec la recherche sur l’être humain.19 Le code pose les dix règles fondamentales à observer pour satisfaire aux concepts moraux, éthiques et légaux en matière d’expérimentation sur l’homme. Ces règles vont être le fer de lance à l’Association Médicale Mondiale, créée également en 1947 et qui émet des recommandations à l’égard des médecins ainsi que des médecins-chercheurs sous forme de déclarations.20 En outre, les règles codifiées en 1947 serviront d’inspiration au Pacte international pour
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2002, 41 ss; Geneviève Augendre, Ethique et droits des patients, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence Azoux-Bacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 293: « L’éthique n’est pas une science, c’est une réflexion évolutive qui ne prétend pas à l’universalité mais recherche un équilibre aussi harmonieux que possible entre la morale et la société, entre l’âme et l’environnement ». Walters LeRoy, Bioethics as a field of ethics, in: Contemporary issues in bioethics, Belmont: Wadsworth, 1978, 49. Gilbert Hottoi, Qu’est-ce que la bioéthique?, Paris: P. U. F, 2004, 17: « La bioéthique va de la forêt amazonienne aux cellules souches embryonnaires. Elle est interdisciplinaire créée et développée sous l’impulsion de médecins, de biologistes, théologiens, philosophes, juristes, psychologues, sociologues, politologues […]. »; Erich Jantsch, Vers l’interdisciplinarité et la transdisciplinarité dans l’enseignement et l’innovation, in: L’interdisciplinarité. Problèmes d’enseignement et de recherche dans les universités, Paris: O. C. D. E, 1972, 98 ss; Maurice A. M. de Wachter, Origine et nature de la bioéthique, in: Bioéthique: de l’éthique au droit, du droit à l’éthique, Colloque international, Lausanne 17–18.10.1996, Zurich: Schulthess, 238. Bernard Kanovitch, Les expériences médicales dans les camps nazis, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence Azoux-Bacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 245 ss. Pour les principes de l’humanité antérieures à 1939, voir notamment le Préambule de la Convention de La Haye de 1899 concernant les lois et coutumes de la guerre sur terre (RS 0.515.111): « les populations et les belligérants restent sous la sauvegarde et sous l’empire des principes du droit des gens, tels qu’ils résultent des usages établis entre nations civilisées, des lois de l’humanité et des exigences de la conscience publique ». Egalement, la Première Convention de Genève du 22.8.1864 pour l’amélioration du sort des militaires blessés dans les armées en campagne (RS 0.518.12); Pour un résumé sur la science des gènes au 19e siècle, voir FrançoisNoël Gilly, Ethique et génétique, Paris: Ellipses, 2001, 81; Caire Ambroselli, Le Comité d’éthique, Paris: P. U. F., 1990, 23. Geneviève Augendre, Ethique et droits des patients, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence AzouxBacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 298; François-Noël Gilly, Ethique et génétique, Paris: Ellipse, 2001, 69 ss; Alex Mauron, Les fondements éthiques du droit médical, in: Médecin et droit médical. Présentation et résolution de situations médico-légales, Dominique Bertrand et al. (3e éd.), Genève: Médecine & Hygiène, 2009, 28. Voir notamment la Déclaration d’Helsinki de 1964; la Déclaration de Tokyo de 1975.
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les droits civils et politiques de 1966,21 de même qu’aux législateurs nationaux.22 La bioéthique va ainsi progressivement se construire autour de déclarations émanant d’organisations non gouvernementales,23 de normes régionales24 et universelles.25 S’agissant des mécanismes de régulation des thérapies géniques, la plupart des pays européens ne disposent pas d’une loi spécifique en la matière, mais renvoient aux lois sur les médicaments ou sur la recherche en lien avec l’être humain.26 En Suisse, il n’existe pas de loi propre aux thérapies géniques. Toutefois, l’art. 119 al.1 let.a Cst stipule que « toute forme de clonage et toute intervention dans le patrimoine génétique des gamètes et d’embryons humains sont interdites ». Cela implique que la thérapie génique germinale est prohibée. Il ressort une heuristique de la peur provoquée par la possibilité de transmettre une modification génétique à la descendance. Seuls les thérapies géniques somatiques agissant sur les cellules du même nom dans l’intention de guérir ou de prévenir une maladie sont autorisées. Les lois le plus récentes sur la recherche sur l’être humain27 témoignent de cette mise en garde contre un phénomène de scientifique apprenti sorcier.28 Elles endossent un rôle protecteur à l’égard de la descendance humaine, tout en insistant sur la dignité de celle-ci.29 La possibilité qu’un changement génétique radical puisse perturber la conception même de l’humain est une crainte éthique liée à l’identité de l’individu.30 En ce sens, l’Académie suisse des sciences médicales émet des conditions cumulatives pour qu’un traitement de thérapie génique somatique soit légalement 21 22
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Art. 7 (RS 0.103.2): « Nul ne sera soumis à la torture, ni à des peines ou traitements cruels, inhumains ou dégradants ». Pour la Suisse, voir l’art. 119 Cst (RS 101); Loi sur la procréation médicalement assistée (LPMA, RS 814.90); Avis émanant du Comité National d’Ethique (CNE); Ruth Reusser, Die schweizerische Rechtsordnung – ein Beispiel für Regelungsansätze in Etappen, in: Das genetische Wissen une die Zukunft, hg. v. Ludger Honnefelder et al., Berlin: De Gruyter, 2003, 237 ss. Voir la Déclaration de Manille de l’Organisation Mondiale de la Santé de 1981 pour la recherche biomédicale impliquant des sujets humains. Voir notamment le droit élaboré dans le cadre de l’Union européenne: les Directives 90/210/ CEE relative à l’utilisation confinée de microorganismes génétiquement modifiés; 90/220/CEE relative à la dissémination volontaire d’organismes génétiquement modifiés dans l’environnement; 90/279/CEE concernant la protection des travailleurs contre les risques liés à l’exploitation des agents biologiques au travail. Outre le Pacte de 1966, voir notamment la Déclaration universelle des droits de l’homme des Nations Unies de 1948; la Déclaration universelle sur le génome humain et les droits de l’homme de l’Unesco de 1997; la Résolution de la cinquantième Assemblée mondiale de la santé sur le clonage dans la reproduction humaine de 1997, etc. Pour une compilation des différents textes en droit international de la bioéthique, voir Noëlle Lenoir/Bertrand Mathieu, Le droit international de la bioéthique (textes), Paris, P. U. F., 1998. Pour un bref tour d’horizon européen, voir Damian König, « Les mécanismes de régulation des thérapies géniques », Revue de droit suisse 117 (1998), 421. Loi sur l’analyse génétique humaine de 2004 (RS 810.12); Loi sur la recherche sur l’être humain adoptée en 2011 (entrée en vigueur prévue pour 2013); Loi genevoise sur la santé de 2006 (K 1 03). Dominique Lecourt, Prométhée, Faust, Frankenstein. Fondements imaginaires de l’éthique, Paris: Synthélabo, 1996. Convention pour la protection des droits de l’homme et de la dignité de l’être humain à l’égard des applications de la biologie et de la médecine de 1997 (RS 0.810.2). Hille Haker, Genetische Diagnostik und die Entwicklung von Gentests: Reflexionen zur ethischen Urteilsbildung, in: Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, hg. v. Ludger Honnefelder/Dietmar Mieth, Berlin/NY: De Gruyter, 2003, 186–189.
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approuvé. L’Académie suisse souhaite ainsi éradiquer l’ensemble des recherches ayant comme but la procréation de sujets sains dans l’intention d’améliorer la race humaine.31 En plus de la nécessite à ce que la Commission fédérale pour la sécurité biologique32 examine le procédé scientifique et technique et donne son approbation,33 il est primordial que: « les risques [soient] dans un rapport raisonnable comparés aux chances de guérison et de soulagement et à la gravité de la maladie. En particulier, le risque d’une modification involontaire des cellules germinales comme effet secondaire doit être maintenu aussi bas que possible et être pondéré de manière adéquate. Les personnes concernées ou leurs représentants légaux ont été suffisamment informés sur la nature du traitement envisagé et sur les risques possibles et ils ont donné librement leur consentement en vue du traitement, en toute connaissance de cause »34.
L’on constate que les principes fondamentaux de la bioéthique,35 que sont le principe de bienfaisance et d’autonomie s’analysent en parallèle avec le devoir d’information,36 d’une part et l’intention de ne pas nuire issue du serment d’Hippocrate d’autre part.37 Ce sont justement ces deux principes bioéthiques qui vont être soumis à rude épreuve avec la chirurgie des gènes. 2. LES
PRINCIPES DE LA BIOÉTHIQUE À L’ÉPREUVE DE LA MÉDECINE PRÉDICTIVE
Avec la fin de la transcription totale du génome humain en 2003 – « der heilige Gral der Biologie »38, la cartographie génétique de l’être humain fut enfin révélée au 31
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Annexe 1 au Code de déontologie médicale suisse, 5 ss; Bernice Elger/Axel Mauron, Tests génétiques: aspects éthiques et juridiques, in: in: Médecin et droit médical. Présentation et résolution de situations médico-légales, Dominique Bertrand et al. (3e éd.), Genève: Médecine & Hygiène, 2009, 256. RO 1997 6. Il convient de préciser que le rôle des différents comités d’éthique est d’évaluer la conformité des protocoles de recherche avec l’être humain avec les normes juridiques, éthiques ou techniques. Ces comités sont institués dans le cadre des hôpitaux, facultés universitaires, associations de médecins ou par l’Etat. Voir l’art. 28–30 LPMA (RS 810.11); Olivier Guillod, Le rôle des comités nationaux d’éthique, in: Bioéthique: de l’éthique au droit, du droit à l’éthique, Colloque international, Lausanne 17–18.10.1996, Zurich: Schulthess, 257 ss, 273: « Les Comités Nationaux d’Ethique servent à clarifier les questions, les intérêts en jeu, les conséquences immédiates et lointaines pour l’Homme et son environnement de l’évolution des sciences et de la société ». Annexe 1 au Code de déontologie médicale suisse, § 3.6–7, 6. Guy Durand, Introduction générale à la bioéthique. Histoire, concepts et outils, Québec: Fides, 2005, 187. Le devoir d’information découle à la fois du droit public (art. 10 al.2 Cst; art. 46 Loi genevoise sur la santé) et du droit privé (art 27 ss CCS, RS 201; art. 97/394 COS, RS 220).; ATF 66 II 34, ATF 113 Ib 420, ATF 117 Ib 197, ATF 120 Ib 411; Dominique Manaï, Les droits du patient face à la biomédecine, Berne: Staempfli, 2006, p. 75 ss. Pour une réflexion de l’éthique et déontologique issue du serment d’Hippocrate, voir notamment Guy Durand, Introduction générale à la bioéthique. Histoire, concepts et outils, Québec: Fides, 2005, 21– 24; Alex Mauron, Les fondements éthiques du droit médical, in: Médecin et droit médical. Présentation et résolution de situations médico-légales, Dominique Bertrand et al. (3e éd.), Genève: Médecine & Hygiène, 2009, 26; Dominique Manaï, Droit médical et bioéthique: quelles relations ?, in: L’arbre de la méthode et ses fruits civils, Denis Piotet/Denis Tappy (éd.), Genève: Schulthess, 55. Ruth Reusser, Die schweizerische Rechtsordnung – ein Beispiel für Regelungsansätze in Etappen, in: Das genetische Wissen une die Zukunft, hg. v. Ludger Honnefelder et al., Berlin: De Gruyter, 2003, 239.
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grand public39. Cet « horoscope génétique »40 offre plusieurs scénarios aux chercheurs, parmi lesquelles figure le diagnostic prédictif de maladies génétiques dégénératives41. De cette façon, des maladies héréditaires telles que le cancer du sein ou des intestins, de même que toute maladie neurodégénérative (Alzheimer, Huntington) touchant une même lignée d’individus peuvent désormais être diagnostiquées avant leur déclenchement42. Il va sans dire que le diagnostic génétique médical suscite un grand intérêt de la part des entreprises pharmaceutiques pour le développement des médicaments ou techniques de traitement agissant par anticipation. En ce sens, la médecine et la recherche sur l’homme s’est transformée, ce qui agit sur le principe d’autonomie du sujet d’une part, et sur le principe de bienfaisance d’autre part.43 Les analyses génétiques et désormais l’avancée dans les thérapies géniques permettent d’acquérir un savoir dont le patient tiendra assurément compte dans son choix de soins tout au long de sa vie.44 La possibilité de recourir à une chirurgie des gènes témoigne de l’angoisse à être porteur d’une pathologie, ce qui pousse à consommer des soins avant même d’être déclaré malade. La carte génétique se retourne ainsi contre son détenteur. En effet, la décision de procéder à un traitement en tant que malade qualifié d’« asymptomatique »45 n’est plus uniquement individuelle, car derrière se profilent les tiers – parents et proches. Ainsi, chaque individu n’est plus sur le plan génétique et thérapeutique considéré comme une entité prise à part, mais s’insère dans une histoire d’apparentés.46 Le conflit d’intérêt entre membres d’une même lignée naît avec la connaissance du génome, et se conforte d’avantage dans la chirurgie des gènes. Cette dernière permet d’écarter la maladie en guise de prévention pour la descendance du sujet. Or, les scientifiques sont formels: avec la chirurgie des gènes il devient possible de modifier un génotype pour les générations à venir.47 Autrement dit, bien que l’on agisse sur les cellules 39 40 41
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Ivan Noble, Human genome finally complete, BBC News Online (14.4.2003). Jean Martin, « Le droit de tirer profit de ses caractéristiques personnelles, notamment génétiques, est-il illimité? », Journal international de bioéthique 4 (7–1996), 299. Pour une liste des avantages que la connaissance parfaite du génome peut apporter, voir Jörg Schmidtke, Gentests. Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Interpretation, in: Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, hg. v. Ludger Honnefelder/Dietmar Mieth, Berlin/NY: De Gruyter, 2003, 169 ss. Jörg Schmidtke, Gentests. Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Interpretation, in: Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, hg. v. Ludger Honnefelder/Dietmar Mieth, Berlin/NY: De Gruyter, 2003, 170. Gilbert Hottoi, Qu’est-ce que la bioéthique?, Paris: P. U. F, 2004, 15, où il précise qu’avant la découverte de l’ADN, le principal d’intérêt pour la médecine était le coeur, car il était considéré comme le centre des fonctions physiologiques humaines. Or, désormais, l’intérêt des chercheurs s’est reporté sur les gènes. Dominique Manaï, Les droits du patient face à la biomédecine, Berne: Staempfli, 2006, p. 415, où les investigations en lien avec la génétique sont qualifiées de « médecine de prédisposition ». Terme employé par Domnique Manaï, Les droits du patient face à la biomédecine, Berne: Staempfli, 2006, p. 416. Voir l’art. 4 Déclaration universelle des droits de l’homme des Nations Unies de 1948; la Déclaration universelle sur le génome humain et les droits de l’homme de l’Unesco de 1997, qui précise que le génome et l’information qui peut en être issue concerne également l’entourage d’un individu. Sandrine Cabut/Philippe Chambon, « La chirurgie répare les gènes », Science & Vie 1092 (sept. 2008), 56.
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somatiques, il n’est pas impossible que la transformation se répercute sur la descendance. La thérapie génique devient la tentation d’un eugénisme en guise de prévention, afin d’offrir les conditions les plus favorables à la procréation de sujets sains. La bioéthique renvoie avec le principe d’autonomie à la responsabilité qu’un individu encourt à l’égard de la prochaine génération. Il est donc possible d’imposer une technologie à une personne en devenir. L’individu fait le choix d’une chirurgie de ses gènes, car il dispose de la liberté individuelle. Pour contrebalancer la liberté individuelle, la thérapie génique choisie devrait répondre au principe de la conservation des options pour le prochain être.48 Toutefois, en préférant agir en vertu du principe de précaution, l’individu marginalise la part d’inconnu. La chirurgie des gènes agit sur l’autodétermination des générations futures, pouvant même avoir un impact sur l’environnement .49 Il n’est donc pas certain que le principe d’autonomie soit respecté et préservé avec la chirurgie des gènes. Outre le principe d’autonomie, le principe de ne pas nuire est également soumis à rude épreuve à travers cette méthode thérapeutique. La possibilité d’anticiper en médecine doit se conformer au principe de non nuisance. Autrement dit, il convient à ce que le médecin ou le chercheur fournisse une information suffisante, précisant les risques et bénéfices d’une telle chirurgie des gènes.50 Les risques se rapportent au vecteur viral qui va implanter la bonne séquence génétique dans la cellule du sujet. Ce vecteur a une tendance aux infections,51 de même qu’à l’enclenchement de cancers.52 Ainsi, le fait de vouloir prévenir un cancer qui peut-être ne s’enclenchera jamais, peut mener à un effet contraire. Sur un plan bioéthique, l’on peut se demander si le droit de ne pas connaître son propre génome renforce d’avantage le principe de bienfaisance ou de non nuisance ?53 Le droit de ne pas savoir sa séquence génomique peut s’appliquer essentiellement dans les cas où il n’existe pas de traitement curatif ou préventif et ainsi donner la priorité à l’exception thérapeutique.54 48
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Pour le principe de la conservation des options dans les soins s’agissant des générations futures issues de la thérapie génique, voir § 6 Déclaration d’Inuyama de 1990; Damian König, Le droit face à l’éthique dans le domaine des thérapies géniques, Berne: Staempfli, 2002, 186–187. Noëlle Lenoir/Bertrand Mathieu, Les normes internationales de la bioéthique, Que sais-je, Paris: PUF, 1998, 11–13. Voir The Gelsinger Case dans, Rick Weiss/Deborah Nelson, « Teen dies undergoing experimental gene therapy », Washington Post (29.9.1999), où l’on relate le cas de Jess Gelsinger, 18 ans, comme étant le premier cas de décès suite à une thérapie génique somatique, alors que les expérimentations sur cette thérapie ont commencé environ 10 ans auparavant. Déjà en 1975, un moratoire avait été demandé par 140 scientifiques contre les expériences d’ADN recombinant: Nicolas Chevassus-au-Louis, « Un moratoire sur le génie génétique », Libération (6.11.2007). C’est le cas du HIV qui peut être du à une mutation du gène CCR5 à travers la volonté de prévenir une maladie: Sandrine Cabut/Philippe Chambon, « La chirurgie répare les gènes », Science & Vie 1092 (sept. 2008), 56. Anders Nordgren, Responsible genetics. The moral responsibility of geneticists for the consequences of human genetics research, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, 2001, 175: « However, if the clinical risks can be expected to be minor, somatic gene therapy should be allowed. This is something that the principle of beneficience demands ». Tuija Takjala, « The right to genetic ignorance confirmed », Bioethics 19 (2005), 492 ss; Juha Räikkä, « Freedomm and a right (not) to know, Bioethics 12 (1998), 49 ss; Alex Mauron, « Médecine prédictive et destinées individuelles: La tension entre équité et justice sociale », Journal international de bioéthique 7 (1997), 304–310. Art. 10 Convention sur les droits de l’homme et la biomédecine de 1964, ainsi que l’Art. 5 let.c
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Il convient de relever que la prévention d’une maladie en vertu du principe de bienfaisance peut se justifier en lien avec le lieu de travail du patient.55 Cela ouvre la voie à la discussion portant sur l’obligation à subir une thérapie génique en vertu de l’emploi et aux discriminations qui peuvent en découler. Finalement, l’on peut retenir que la chirurgie des gènes provoque deux anomalies bioéthiques. En premier, le principe d’autonomie individuelle contenu dans l’auto nomos – autrement dit, le fait de se donner à soi-même ses propres lois, prend le dessus sur l’autonomie de la personne future.56 Puis, le principe de bienfaisance – bene facere, ne semble que partiellement respecté, puisque la chirurgie des gènes peut se révéler dévastatrice pour l’individu traité. 3. CHIRURGIE
DES GÈNES ET EUGÉNISME
La pratique de la chirurgie des gènes ouvre la voie à un eugénisme libéral,57 car fondé sur une part volontariste de l’individu à modifier son génome, il risque de répercuter ce remodèlement sur les générations futures.58 L’eugénisme libéral semble s’inscrire dans la continuité de l’ère de l’eugénisme esthétique; chirurgie du corps, stéroïdes, hormones de croissance, créatine, etc.59 Bien que l’art. 119 al.2 let b Cst60 donne une valeur immaculée au génome humain, et lui offre une protection quasi religieuse, l’eugénisme a existé et existe à l’heure actuelle.61 En Grèce durant l’Antiquité, l’enfant était à sa naissance tel un
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Déclaration universelle sur le génome humain et les droits de l’homme de l’Unvesco de 1997, qui prévoient un droit à l’ignorance en vue du respect du principe de bienfaisance.; Dominique Manaï, Les droits du patient face à la biomédecine, Berne: Staempfli, 2006, p. 427 ss. Art. 12 Convention sur les droits de l’homme et la biomédecine de 1964, qui interdit des tests génétiques à l’embauche, sauf s’ils poursuivent un but de santé pour la personne concernée.; Dominique Manaï, Les droits du patient face à la biomédecine, Berne: Staempfli, 2006, p. 434 ss. Guy Durand, Introduction générale à la bioéthique. Histoire, concepts et outils, Québec: Fides, 2005, 228; L’on peut aussi se demander à qui appartient le génome; au sujet, au chercheur, à l’entreprise scientifique? Pour un débat autour de cette question, voir Georges B. Kutukdjian, La déclaration universelle sur le génome humain et les droits de l’homme, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence Azoux-Bacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 98; Charles Joye, Génome humain, droit des brevets et droit de la personnalité: étude d’un conflit, Zurich: Schulthess, 2002. Idée émise et soutenue par Nicholas Agar, Liberal eugenics: in defence of human enhancement, Oxford: Blackwell, 2004. Julian Savulescu, Genetic Interventions and the ethics of enhancement of human beings, in: The oxford hanbook of bioethics, Bonnie Steinbock (ed.), NY/Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, 517; Jonathan Glover, Questions about some uses of genetic engineering, in: Bioethics. An anthology, Helga Kuhse/Peter Singer (2nd ed.), Malden: Blackwell, 517, où l’auteur distingue strictement avec l’« eugénisme nazi » qui implique une modification obligatoire du génome avec des phénotypes précis à la clé. En ce sens, Adolf Hitler, Mein Kampf, Ludwig Lore (transl.), NY: Stackpole, 1939, 281, 338–339. Julian Savulescu, Genetic Interventions and the ethics of enhancement of human beings, in: The oxford hanbook of bioethics, Bonnie Steinbock (ed.), NY/Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, 517; Jonathan Glover, Questions about some uses of genetic engineering, in: Bioethics. An anthology, Helga Kuhse/Peter Singer (2nd ed.), Malden: Blackwell, 518. « Le patrimoine génétique et germinal non humain ne peut être ni transféré dans le patrimoine germinal humain ni fusionné avec celui-ci. » (RS) 101. François-Noël Gilly, Ethique et génétique, Paris: Ellipses, 2001, 50.
La « chirurgie des gènes »: une thérapie ouvrant la voie à l’eugénisme libéral
223
animal examiné par le père. L’approbation de ce dernier était synonyme de « conformité » avec la nature et lui ouvrait les portes de la communauté humaine. L’eugénisme se traduisait par une sélection visant à éradiquer volontairement des caractères jugés handicapant, tout en privilégiant ceux qui semblaient culturellement favorables. Plus proche de nous, le diagnostic anténatal de la trisomie 21 est pratiqué et permet d’arrêter une grossesse. Par ailleurs, les femmes des ethnies Goran dans le désert du Ténéré choisissent d’accoucher à l’écart du village. Leur retour avec l’enfant est un signe de santé. A l’heure actuelle, l’eugénisme peut être atteint par une méthode invasive ciblant certaines parties du génome, sans passer par la phase naturellement sélective. Ainsi, la chirurgie des gènes offre un moyen technologique pour « jouer à Dieu » en agissant sur l’évolution de l’espèce: « Humans are doing what only God should do ».62 Ce qu’offre la chirurgie des gènes insuffle par analogie le même rêve que le diagnostic prénatal chez les parents: « [le rêve de] la toute-puissance sur la santé et la normalité des êtres humains, ainsi que l’éradication de toutes les maladies génétiques et pourquoi pas de toute marginalité » ?63 En ce sens, le principe de dignité tel que défendu par les instruments internationaux en bioéthique est remis en cause. L’Eglise catholique entrevoit un aspect mercantile et un désir égoïste du progrès à tout prix avec cette nouvelle thérapie qui pourrait faire basculer, outre la dignité,64 également les concepts bibliques de l’humanité: notamment, l’amour du prochain65 et l’égalité entre les êtres.66 En effet, la vie est un don que l’on ne maîtrise pas, mais qui implique une part de responsabilité individuelle. Avec la thérapie des gènes, l’homme devient maître de la vie et relègue en arrière-plan sa responsabilité.67 Il semble qu’avec cette nouvelle forme de chirurgie, l’homme considère la création divine comme inachevée et souhaite mener celle-ci à sa finalité.68 Or, Jésus fit 62
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Anders Nordgren, Responsible genetics. The moral responsibility of geneticists for the consequences of human genetics research, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, 2001, 175; Paul Ramsey, Fabricated man: The ethics of gentic control, New Haven: Yale Univ. Press, 1978, 151: « Human beings should not play God before they have learned to be human beings and when they are human beings they will not want to play God ». François Dutheil, La bioéthique et le Vatican, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence Azoux-Bacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 199. Jean-Paul II, « Discours à l’académie pontificale des sciences du 28.10.94 », Libreria Editrice Vaticana (1994): « Toute action sur le génome doit s’effectuer dans le respect absolu de la spécificité de l’espèce humaine, de la vocation transcendantale de tout être de et de son incomparable dignité. Le génome représente l’identité biologique de chaque sujet; plus encore, il exprime une part de la condition humaine de l’être voulu par Dieu pour lui-même, grâce à la mission confiée à ses parents ».; Toutefois, la Bible parle bien de résurrection et transformation du corps humain, voir 1. Corinthiens, 15: 42–44. Pour une discussion autour de ces passages, voir James C. Paterson, Genetic turning point. The ethics of human genetic intervention, Michigan/Cambridge: William B. Eerdmans Publ. Compagny, 2001, 280. Mathieu, 5:43. Luc, 10:13, 10:28, où il est question du principe du Bon Samaritain et donc du secours fraternel mutuel. François Dutheil, La bioéthique et le Vatican, in: Bioéthique, bioéthiques, Laurence Azoux-Bacrie (dir.), Bruxelles: Bruylant, 2003, 207. James M. Gustafson, « Basic ethical issue in the bio-medical fields », Soundings 52 (1970), 178; James M. Gustafson, Genetic engineering and the normative view of the human, in: Ethical issues in biology and medicine, Preston N. Williams (ed.), Cambridge: Schenkman, 1973, 46 ss.
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Philippe Avramov
le choix d’accepter et d’adopter les hommes tels qu’ils sont.69 Il n’y a par conséquent pas d’argument pour écarter de la famille humaine tant ceux qui auront procédé à une modification génétique que ceux qui en seront issus.70 Ainsi, la chirurgie des gènes transcende le status quo du génome tel que connu. Il devient possible de cibler des mutations et de les éradiquer sur plusieurs générations, ce qui est un signe d’une nouvelle forme d’évolution. La technologie s’invite aux côtés de la nature pour proposer une métamorphose de l’homme: « If natural mutations can be beneficial without a compensation loss, why should artificially induced ones not be so too » ?71 Dans ce cas, il serait égoïste de souhaiter que la prochaine génération ressemble en tout point à la précédente – mêmes traits, mêmes pathologies. Cet eugénisme doit être libéral et non « sauvage » sous forme d’un supermarché proposant également des choix ethniques. L’Etat doit alors intervenir pour protéger contre toutes formes de discrimination. CONCLUSION L’émergence des nouvelles technologies médicales en lien avec l’anticipation des maladies génétiques héréditaires ou dégénératives provoquent de nouvelles questions en bioéthique. Alors qu’en général, la nature sélectionne sans se soucier de l’environnement dans lequel les individus évolueront, ceux qui sont les plus fertiles malgré leur lot d’anomalies génétiques, d’ici quelques années la médecine pourra inverser cette tendance. La chirurgie des gènes donnera naissance à des enfants qui correspondent au mieux à l’état environnemental qui les entoure, en ciblant ainsi ceux qui ont les meilleures chances de succès.72 A l’évidence, la ratio est le facteur fondamental qui nous distingue encore des animaux. Mais ce facteur pourrait être le prochain objectif des chercheurs mettant en place une « psychosurgery ».73 En effet, leur optimisme en la science peut à terme redéfinir l’Homme. La bioéthique, à travers ses principes fondamentaux, devra alors plus que jamais se soucier de l’équilibre entre la nature entourant l’individu et son développement.
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Mathieu, 12:46–50; Luc, 8:19–21; Pour une discussion autour de ces passages, voir James C. Paterson, Genetic turning point. The ethics of human genetic intervention, Michigan/Cambridge: William B. Eerdmans Publ. Compagny, 2001, 292. L’histoire des Etats-Unis a connu la discrimination raciale avec un but eugéniste avant la première guerre mondiale, notamment en contrôlant la démographie par ethnie et l’immigration des personnes de couleur: « First Eugenic Congress », The New York Times (25.7.1912); Paul B. Popenoe/Roswell H. Johnson, Applied eugenics, NY: Macmillan, 1918, 301; Kenneth Ludmerer, Genetics and american society: a historical approach, Baltimore: John Hopkins Univ. Press, 1972, 84. Jonathan Glover, Questions about some uses of genetic engineering, in: Bioethics. An anthology, Helga Kuhse/Peter Singer (ed.), Malden: Blackwell, 2006, 191. Julian Savulescu, Genetic Interventions and the ethics of enhancement of human beings, in: The oxford hanbook of bioethics, Bonnie Steinbock (ed.), NY/Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, 530. James C. Paterson, Genetic turning points. The ethics of human genetic intervention, Michigan/Cambridge: William B. Eerdmans Publ. Company, 277.
AUTORENVERZEICHNIS / LISTE
DES
AUTEURS
Andorno, Roberto: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Matthias Mahlmann am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Avramov, Philippe: Assistant au département d’histoire du droit et des doctrines juridiques et politiques à l’Université de Genève, Secrétaire de l’ASPDS depuis 2009. Bacher, Mike: Assistent am Lehrstuhl für Rechts- und Staatsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Becchi, Paolo: Ordinarius für Rechts- und Staatsphilosophie an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Genua und Luzern. Bondolfi, Alberto: Honorarprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Genf. Demko, Daniela: Privatdozentin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie; Lehrbeauftragte an den Universitäten Luzern und Basel. Elger, Bernice: Professeur adjointe au Centre Universitaire de Médecine légale à Genève, Universitätsprofessor am Institut für Bio- und Medizinethik an der Universität Basel. Guillod, Olivier: Professeur ordianaire de droit civil et de droit de la santé à l’Université de Neuchâtel, Directeur de l’Institut de droit de la santé. Kawaguchi, Hirokazu: Professor für Strafrecht an der School of Law der Kansai Universität, Osaka Maio, Giovanni: Universitätsprofessor für Medizinethik am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg i. Br. Manaï, Dominique: Professeur ordinaire au département de droit civil à l’Université de Genève, enseignements de droit biomédical, droits de la personnalité, introduction au droit, philosophie du droit et la relation thérapeutique et le droit. Rütsche, Bernhard: Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Leiter des Zentrums für Recht und Gesundheit der Universität Luzern. Seelmann, Kurt: Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Basel.
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Autorenverzeichnis / Liste des Auteurs
Winiger, Bénédict: Professeur ordinaire à l’Université de Genève, enseignements de droit romain, droit civile européen et philosophie du droit, Président de l’ASPDS depuis 2009. Zimmermann-Acklin, Markus: Lehr- und Forschungsrat für Sozialethik am Departement für Moraltheologie und Ethik der Universität Fribourg.
a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e
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beihefte
Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand-Fachverlag erschienen.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–079x
69. Elspeth Attwooll / Paolo Comanducci (Hg.) Challenges to Law at the End of the 20th Century: The Sources of Law and Legislation Proceedings of the 17th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Bologna, 16th–21st June 1995 Volume 3 1998. 250 S., kt. ISBN 978-3-515-07073-7 70. Marijan Pavcnik / Gianfrancesco Zanetti (Hg.) Challenges to Law at the End of the 20th Century: Legal Systems and Legal Science Proceedings of the 17th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Bologna, 16th–21st June 1995 Volume 4 1997. 149 S., kt. ISBN 978-3-515-07074-4 71. Rolf Gröschner / Martin Morlok (Hg.) Rechtsphilosophie und Rechts dogmatik in Zeiten des Umbruchs Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie vom 26.–28. September 1996 in Jena 1997. 222 S., kt. ISBN 978-3-515-07076-8 72. Morigawa Yasutomo (Hg.) Law in a Changing World: Asian Alternatives Proceedings of the 4th Kobe Lectures being the first Asia Symposium in Jurisprudence, Tokyo and Kyoto, 10th and 12th October 1996 1998. 164 S., kt. ISBN 978-3-515-07262-5 73. Peter Strasser / Edgar Starz (Hg.) Personsein aus bioethischer Sicht Tagung der Österreichischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 29.–30. November 1996 in Graz
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Anderheiden / Pasquale Policastro (Hg.) Interdisciplinary Research in Juris prudence and Constitutionalism 2012. 267 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09941-7 Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.) Gleichheit und Universalität Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern 2012. 315 S., kt. ISBN 978-3-515-10067-0 Bénédict Winiger / Matthias Mahlmann / Philippe Avramov / Peter Gailhofer (Hg.) Recht und Verantwortung / Droit et responsabilité Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 11.–12. Juni 2010, Universität Zürich / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 11–12 juin 2010, Université de Zurich 2012. 206 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10066-3 Thomas Bustamante / Oche Onazi (Hg.) Global Harmony and the Rule of Law Proceedings of the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009. Vol. 1 2012. 133 S., kt. ISBN 978-3-515-10081-6 Thomas Bustamante / Oche Onazi (Hg.) Human Rights, Language and Law Proceedings of the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009. Vol. 2 2012. 192 S., kt. ISBN 978-3-515-10082-3 Yasutomo Morigiwa / Hirohide Takikawa (Hg.) Judicial Minimalism – For and Against Proceedings of the 9th Kobe Lectures. Tokyo, Nagoya, and Kyoto, June 2008 2012. 99 S., kt. ISBN 978-3-515-10136-3
133. Thomas Bustamante / Carlos Bernal Pulido (Hg.) On the Philosophy of Precedent Proceedings of the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009 Volume 3 2012. 144 S., kt. ISBN 978-3-515-10150-9 134. Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.) Zurechnung und Verantwortung Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September 2010 in Halle (Saale) 2012. 184 S., kt. ISBN 978-3-515-10180-6 135. Carsten Bäcker / Sascha Ziemann (Hg.) Junge Rechtsphilosophie 2012. 214 S., kt. ISBN 978-3-515-10268-1 136. Ulfrid Neumann / Klaus Günther / Lorenz Schulz (Hg.) Law, Science, Technology Plenary lectures presented at the 25th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Frankfurt am Main, 2011 2012. 173 S., kt. ISBN 978-3-515-10328-2 137. Winfried Brugger / Stephan Kirste (Hg.) Human Dignity as a Foundation of Law Proceedings of the Special Workshop held at the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Beijing, 2009 2013. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-10440-1 138. Philippe Avramov / Mike Bacher / Paolo Becchi / Bénédict Winiger (Hg.) Ethik und Recht in der Bioethik / Ethique et Droit en matière de Bioéthique Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 11.–12. Mai 2012, Universität Luzern / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 11–12 mai 2012, Université de Lucerne 2013. 226 S., kt. ISBN 978-3-515-10436-4
Am Anfang und am Ende des Lebens stehen zahlreiche Fragen, die in den Grenzbereichen zwischen Recht, Philosophie und Theologie zu kontroversen Diskussionen führen. Nicht nur diese Disziplinen, sondern auch die (medizinische) Praxis sieht sich hier regelmäßig mit Problemen konfrontiert. Einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand bieten die Referate der Tagung „Ethik und Recht in der Bioethik“ an der Universität Luzern: Sie beleuchten Themen von der Präimplantationsdiagnostik über die Reproduktionsmedizin und die Forschung am Menschen bis hin zum Hirntod und zur Organtransplantation, zu Sterbehilfe und Patientenverfügungen.
De nos jours, l’on se pose de nombreuses questions en corrélation avec le début et la fin de la vie humaine. Ces questions fondamentales situent (souvent) le débat théorique aux frontières de plusieurs disciplines dont le droit, la philosophie et la théologie. Mais aussi la pratique notamment médicale est directement concernée. Le colloque « Ethique et Droit en matière de Bioéthique » qui s’est déroulé à l’Université de Lucerne donne un aperçu actuel de la recherche: les orateurs ont abordé des thèmes tels que le diagnostique génétique préimplantatoire en lien avec la médecine de reproduction, la recherche sur l’homme dans sa période de fin de vie, ainsi que la mort cérébrale et l’euthanasie, la transplantation d’organes ou encore les directives anticipées.
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ISBN 978-3-515-10436-4
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7835 1 5 1 04364