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German Pages 367 [368] Year 2020
Katja Weidner Erzählen im Zwischenraum. Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Christiane Witthöft
99 (333)
De Gruyter
Erzählen im Zwischenraum Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert
von
Katja Weidner
De Gruyter
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
ISBN 978-3-11-068013-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068098-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068105-5 ISSN 0946-9419 Library of Congress Control Number: 2020935877 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für meine Großeltern
Vorwort Erzählen im Zwischenraum ist das Ergebnis vieler Gespräche, etlicher Versuche und Entwürfe und nicht zuletzt eine Überarbeitung meiner Dissertationsschrift, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden und im Frühjahr 2018 verteidigt worden ist. Für die kontinuierliche Förderung meines Studiums bin ich dem Max-Weber-Programm Bayern, und für die großzügige Promotionsförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes zum Dank verpflichtet. Das Abschlussstipendium des LMU GraduateCenters hat dankenswerterweise den zeitnahen Abschluss der Arbeit erlaubt. Der VG WORT danke ich für den Druckkostenzuschuss und den Herausgeber*innen Ernst Osterkamp und Christiane Witthöft für die bibliographischen Anregungen, Hinweise und die freundliche Aufnahme in die Reihe. Von allen Menschen, die meine Arbeit während der letzten Jahre begleitet haben, seien nur einige wenige genannt. Unter ihnen möchte ich besonders Marc-Aeilko Aris danken: für die unbedingte Begeisterungsfähigkeit, mit der er mir vom ersten Semester an entgegengetreten ist, für seine ansteckende Freude am lateinischen Text und an der Spekulation, dafür, dass er mir das Mittelalter eröffnet und mich an seinem Seminar aufgenommen hat, für alles, das ich von ihm lernen durfte, und natürlich auch für die Erstbetreuung meiner Dissertation. Frank Bezner danke ich für jedes einzelne unserer Gespräche, sei es in München, Berkeley oder Freiburg, für seine Anregungen und Kritik, für seine intellektuelle Neugierde und Offenheit, seinen besonderen Blick auf die mittellateinische Literatur, von dem ich immer wieder aufs Neue lerne, und natürlich für die Übernahme der Zweitbetreuung. Beate Kellner danke ich für die herzliche Aufnahme in ihr außergewöhnliches und stets inspirierendes mediävistisches Oberseminar, ihre Einladungen in das Kloster Scheyern und auf Frauenchiemsee, für die Übernahme des Drittgutachtens und ihre Hilfe bei allem anderen. Von Herzen danken möchte ich auch meinen Freund*innen und meiner Familie, die bei der Korrekturlektüre und in etlichen Gesprächen entscheidende Anmerkungen gegeben haben – darunter besonders Eva Bauer, Eva von Contzen, Oskar Czendze, Magdalena Graf, Monika Isépy, Leoni Orendi, Benedikt Pichl und Lars Reuke. Für ihre Anregungen, Hinweise und Ideen danke ich Maximilian Benz, Matthias Egeler, Rossana Guglielmetti, Andreas Hammer, Niklaus Largier, Kurt Roessler und Horst Schneider. Auch sei an
VIII Vorwort dieser Stelle noch einmal unseren studentischen Hilfskräften in Freiburg, Justus Berthold und Linda Forstmann, für ihre unermüdliche Unterstützung gedankt, und in München den Mitarbeiter*innen des Campuslieferdienstes der UB, ohne die die Arbeit niemals in dieser Form entstanden wäre. Am Münchener mittellateinischen Seminars danke ich insbesondere Anna Kalischek für ihre Hilfe beim Altfranzösischen und Stefan Müller, der mit seiner schonungslosen Kritik den Zwischenort verhindern konnte. Zuletzt und doch vor allen anderen danke ich Julian Birkmaier, der mich während der letzten Jahre so geduldig ertragen, begleitet und bestärkt hat, meinen Großeltern Horst und Waltraud Felber, denen ich dieses Buch widmen möchte, für ihre bedingungslose Unterstützung vom ersten Semester an, und – für seinen Beitrag, der schwerlich trefflicher zu beschreiben ist als mit den Worten Goethes –: dem Hündlein, das den Siebenschlaf/So treulich mit geschlafen. Sölden i. Brsg., im April 2020
Katja Weidner
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Die Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1 Die Seereise des Hl. Brendan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2 Diskursdimensionen der Insel als immanenter Jenseitsraum . . 43 2.2.1 Die Narratologie der Anderwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.2.2 Die Transzendenz von Meer und Wüste . . . . . . . . . . . . . 58 2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung . . . . . . . . 71 2.3.1 Kulturelle Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.2 Die Gradualität der Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.3.3 Inseln zwischen Immanenz und Transzendenz . . . . . . . 84 2.3.4 Zurück in der Welt: Funktionalisierungspotentiale . . . . 119 2.4 Die Zwischenrauminseln im 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 128 3 Die Höhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.2 Diskursdimensionen der Höhle als immanenter Jenseitsraum . . 165 3.2.1 Die Pforte in die Anderwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3.2.2 Grab, Geburt und Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.2.3 Die Höhle der anachoretischen Weltabkehr . . . . . . . . . . 180 3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.3.1 H.s Theorie körperlichen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.3.2 Die Topographie des Zwischenraums . . . . . . . . . . . . . . . 203 3.3.3 Grenzen der Darstellbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3.3.4 Der TPSP als Zisterziensererzählung . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.4 Die körperliche Parodie Peters von Cornwall . . . . . . . . . . . . . . 229 4 Der Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.1 Die Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘ . . . . . . . . . . . . . 236 4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum 241 4.2.1 Die Topologie des irdischen Paradieses . . . . . . . . . . . . . 242 4.2.2 Die Transgressionsdynamik des Phoenix . . . . . . . . . . . . 251 4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.3.1 Zwischen Kloster und Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
X Inhaltsverzeichnis 4.3.2 Erzählen vom Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4.3.3 Der Zwischenraum als Lektüreerfahrung . . . . . . . . . . . . 279 4.3.4 Exkurs: Die Semantik des Gartens als Zwischenraum . 289 4.4 Die Verortung des Zwischenraums im Kloster . . . . . . . . . . . . . 301 5 Ein Epilog: das Kloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Ausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Verzeichnisse und Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Handschriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls emisit eum Dominus Deus de paradiso voluptatis ut operaretur terram de qua sumptus est eiecitque Adam et conlocavit ante paradisum voluptatis cherubin et flammeum gladium atque versatilem ad custodiendam viam ligni vitae (Gen 3, 23–24)1
Erzähltes Jenseits – eine Genealogie Mit der Vertreibung Adams und Evas wird die Pforte zum Paradies verschlossen und der Zugang zum Baum des Lebens durch Cherubim und Flammenschwert versperrt. Über das Sündenfallnarrativ wird neben der Trennung von Diesseits und Jenseits damit auch die grundlegende Unzugänglichkeit des jenseitigen Raumes erzählt: Sobald der Baum des Lebens außerhalb der Reichweite Adams und Evas liegt, wird mit der Realität eines möglichen Todes eine Differenz von Diesseits und Jenseits konstituiert und es entsteht eine strukturelle Dynamik, in deren Konsequenz das menschliche Schicksal nach dem Tod erst Erzählgegenstand werden kann. So beginnt auch die einflussreichste mittelalterliche Sammlung von Jenseitsberichten,2 das vierte Buch der Dialogi Gregors des Großen, mit diesem Narrativ:
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[Da schickte Gott, der Herr, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim wohnen und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.] Der lateinische Text ist zitiert nach der Vulgata, Weber und Gryson 52007. Alle Primärtexte folgen in ihrer Schreibweise der jeweilig zitierten Edition. Die Übersetzung der Vulgata stammt hier und im Folgenden, wenn nicht anders festgelegt, aus der EÜ (2016). Lateinische Zitate werden im Folgenden immer auch von einer deutschen Übersetzung begleitet. Diese Übersetzungen werden, soweit möglich, aus deutschen Komplettübersetzungen zitiert, in den übrigen Fällen stammen die Übersetzungen von der Verfasserin. In den Fällen, in denen die lateinischen Zitate selbst Zitate der Vulgata erhalten, orientiert sich deren Übersetzung wiederum an der EÜ (2016). Zur Verbreitung der Dialogi vgl. Vogüé 2013 [1979], besonders S. 141–143.
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1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls Postquam de paradisi gaudiis, culpa exigente, pulsus est primus humani generis parens, in huius exilii atque caecitatis quam patimur aerumnam uenit, quia peccando extra semetipsum fusus iam illa caelestis patriae gaudia, quae prius contemplabatur, uidere non potuit.3 [Nachdem der Stammvater des Menschengeschlechtes infolge seiner Schuld aus dem Paradies der Wonne verstoßen war, kam er in dies Elend der Blindheit und Verbannung, das wir erdulden müssen; denn durch die Sünde kam er ganz von sich selbst und konnte die Freuden des himmlischen Vaterlandes, die er vordem geschaut, nun nicht mehr sehen.]4
Nach dem Sündenfall, so Gregor, ist der Zustand Adams defizitär. Mit der räumlichen Entfremdung vom paradiesischen Urzustand geht ein erheblicher Erkenntnisverlust einher – hier das Paradies mit den himmlischen Freuden, dort der Bereich eines nunmehr irdischen Menschen, der nun in seiner Defizienz gefasst werden muss: ‚Nicht mehr‘ im Paradies ist er sich selbst entfremdet (extra semetipsum).5 Mit dieser Grenzziehung wird eine Exklusions- und Transgressionsdynamik funktional, aus der sowohl endzeit liche Vollendung und zeitliche Defizienz als auch die exklusive Differenz von Diesseits und Jenseits (vorerst) unumstößlich gesetzt werden;6 wie für Adam sind mit dem Sündenfall auch für die ihm nachfolgenden Menschen die paradiesischen Freuden verschlossen. Im Moment dieser Grenzziehung eröffnet sich ein mediales Problem. Das Paradies – jenseitig und verschlossen – kann ab diesem Zeitpunkt nur mehr vermittelt erfahren werden. Adam mag um das Paradies noch unmittelbar wissen, aber alle Menschen nach ihm haben einzig mittelbaren Zugang: Ex cuius uidelicet carne nos in huius exilii caecitate nati, audimus quidem esse caelestem patriam, audimus quidem esse caelestem patriam, audimus eius ciues angelos Dei, audimus eorundem an-
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Gregor der Große, Dialogi, IV, 1, 1–3, hier und im Folgenden zitiert nach der Edition Vogüé 2013 [1980]. Funk 1933, S. 185. Gregor der Große, Dialogi, IV, 1, 4. Diesseits und Jenseits meinen im christlichen Diskurs dabei sowohl spatial als auch temporal gedachte Räume, die durch den liminalen Moment des irdischen Todes des Menschen, wie er nach dem Sündenfall zur Notwendigkeit wird, unterschieden sind. Diese Zeiträume vor und nach dem Tod werden als zwei Bereiche gedacht, die einander wesentlich ausschließen, vgl. Greschat 2005. Entweder begrenztes Diesseits oder unendlich gedachtes Jenseits: Beide Bereiche sind voneinander (vorerst) streng geschieden. Ihre Figurierung ist dabei über verschiedene Narrative bestimmt, die sich aus Bibel, Apokryphen und Jenseitserzählungen speisen und das Jenseitige entsprechend markieren. Neben der Johannesapokalypse ist hier vor allem die Paulus-Apokalypse zu nennen, deren Einfluss die Jenseitstopographie nachhaltig prägen sollte. Zur Jenseitstopographie der Paulus-Apokalypse vgl. Copeland 2007 und Bradshaw Aitken 2003, zu ihrem Einfluss auf spätere Literatur Adamik 2007. Vgl. außerdem Adamik 2003 zur Petrus-Apokalypse. Zur Gestaltung des apokalyptischen Jenseitsraumes in einem breiteren kulturellen Zusammenhang vgl. Bremmer 2014.
1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls
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gelorum socios spiritus iustorum perfectorum, sed carnales quique, quia illa inuisibilia scire non ualent per experimentum, dubitant utrumne sit quod corporalibus oculis non uident.7 [Wir, die wir aus seinem Fleische in der Finsternis dieser Verbannung geboren sind, haben davon gehört, daß es ein himmlisches Vaterland gibt, haben gehört, daß die Engel Gottes seine Bürger sind; wir haben gehört, daß die Genossen dieser Engel die Seelen der Gerechten und Vollkommenen sind. Die fleischlichen Menschen aber, die diese unsichtbare Welt nicht aus Erfahrung kennen, zweifeln, ob das auch wirklich existiere, was sie mit ihren leiblichen Augen nicht sehen können.]8
Dem Menschen, der im Zustand der Verbannung geboren ist und damit kein Paradies mehr kennt, das er in seiner Erinnerung aufrufen könnte, muss das ‚überirdische‘ Paradies erzählt werden. Er kann wieder und wieder von ihm hören (audimus/audimus/audimus/audimus), es jedoch im Zustand seiner irdischen Entfremdung nicht mehr selbst erfahren. Das anaphorische „(wir) haben gehört“ (audimus) geht jedem Wissen um das Paradies seit dem Sündenfall notwendigerweise voraus. Die Körperlichkeit des Menschen, wiewohl sie über die fleischliche Abstammung von Adam den genealogischen Rückbezug auf das Paradies und somit den göttlichen Schöpfer erlaubt,9 erweist sich als Defizit: Die „leiblichen Augen“ (corporales oculi) scheitern modal an ihrem Gegenstand, der „unsichtbaren Welt“ (inuisibilia). Dem Menschen fehlt nicht nur das prälapsarische Wissen, das Adam noch hatte, und das über den Weg der fleischlichen Abstammung nicht weitergegeben werden konnte. Gerade die Körperlichkeit, die der Mensch über das „Fleisch“ unmittelbar mit Adam teilt (ex carne – carnales), versperrt dem Menschen in seiner Nachfolge räumlich wie epistemologisch den Blick zurück. Solange er in diesem Zustand verweilt, müssen die inuisibilia des Paradieses außerhalb seiner eigenen Erkenntnismöglichkeiten bleiben. Die epistemologische Beschränkung des Menschen wie sein Zweifel an dem, was seine Erkenntnisfähigkeit übersteigt, ist dabei auch im positiven Sinne allerdings an seine Fleischlichkeit gebunden, denn es ist mit der Fleischlichkeit ein zeitlich begrenzter Modus, der den Blick zurück versperrt.10 Generell bleibt die Zugänglichkeit im entkörperten Zustand durchaus möglich, sei es über eine außerkörperliche Offenbarung oder in einer nachkörperlichen eschatologischen Zukunft. 7 8 9 10
Gregor der Große, Dialogi, IV, 2, 10–16. Funk 1933, S. 185. Vgl. Gen 2,14; 2,21; 2,23. Liest man carnales quique prädikativ als ‚fleischlich aber zweifeln die Menschen‘ wird der Zusammenhang offenbar, vgl. die französische Übersetzung des Paul Antin: „Nés de sa chair dans la cécité de cet exil, nous entendons bien parler de la céleste patrie, de ses citoyens les anges de Dieu, des esprits des justes parfaits qui vivent avec eux, mais tous ceux qui sont charnels sont dans le doute sur l’existence de ce qui échappe à leurs yeux corporels, car ils ne peuvent connaître l’invisible par expérience.“ (Vogüé 2013 [1980], S. 19).
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1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls
Die Transzendenz des Jenseits, seine Positionierung außerhalb und eben ‚über‘ der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, wird in diesem Narrativ, auf das sich nach Gregor dem Großen auch weitere Jenseitserzählungen berufen werden,11 auf die Vertreibung Adams zurückgeführt. Der Mensch wird über seine Defizienz relational zu einem (vergangenen wie künftigen) Paradieszustand dimensioniert und seine Körperlichkeit zugleich problematisiert. Damit begründet die Erzählung des Sündenfalls zugleich die Notwendigkeit eines neuen Erzählens. Der ‚blinde‘ Mensch, dem die Erfahrung des Jenseits verwehrt bleiben muss, kann und muss sich an den Berichten derer orientieren, denen Einblick gewährt worden ist: Quisquis autem in hac credulitate adhuc solidus non est, debet procul dubio maiorum dictis fidem praebere, eisque iam per Spiritum sanctum inuisibilium experimentum habentibus credere.12 [Wer aber in diesem Glauben noch nicht fest ist, der muß ohne Zweifel den Worten der Vollkommenen Glauben schenken und sich auf jene verlassen, die durch den Heiligen Geist schon eine Erfahrung von den unsichtbaren Dingen besitzen.]13
An die Stelle der eigenen Erfahrung tritt die Anderer, die diese im Vorgriff auf eine implizite paradiesische Zukunft „schon“ (iam) machen durften. Das mittelbare Wissen um das Jenseitige tritt an die Stelle des unmittelbaren, eigenen. Das erzählte Jenseits wird deshalb notwendig, weil es den notwendigen Zweifel des fleischlichen Menschen durch Wissen, das über ihn und seine Erkenntnismöglichkeiten hinausgeht, auszuräumen vermag.14 Über diese Genealogie der Jenseitserzählung ist auch ihre spezifische Modalität notwendigerweise bestimmt. Sie ist, wie zu zeigen sein wird, von einer Reihe von Begrenzungs- und Beschränkungsmechanismen getragen, die die inhärente Inkommensurabilität ihrerseits auf narratologischer Ebene verhandeln – und zu denen nicht zuletzt auch die Erzählung im Zwischenraum zu zählen ist, als Erzählmodus immanenter Jenseitigkeit. Es ist dieses besondere narratologische Phänomen, das in der folgenden Untersuchung an drei aus-
Vgl. exemplarisch Vita secunda sancti Brendani abbatis, 2, zitiert nach der Edition Plummer 1968/2. In Variation dieses Narrativs kann auch auf die durch Christus eröffnete Rückkehr verwiesen werden, vgl. Visio Thurkilli (nach der Edition Schmidt 1987, hier S. 14): Sowohl durch Adam als auch durch Christus ist die irdische Inkommensurabilität des Jenseitigen zu Ist-Zeit und Ist-Raum markiert, entweder in Referenz auf die Genealogie dieser Differenz oder auf eine Endzeit, die diese Differenz auflösen wird. 12 Gregor der Große, Dialogi, IV, 5, 40–43. 13 Funk 1933, S. 186. 14 Das Narrativ des Sündenfalls als strukturelle Voraussetzung für die und innerhalb der Gattung der Jenseitserzählungen hat meines Wissens noch keine größere Aufmerksamkeit erfahren, wiewohl seine diskurshistorische Rolle immer wieder zentraler Angriffspunkt der Forschung ist, vgl. etwa Greenblatt 2017. Zu den sprachtheoretischen Implikationen des Sündenfallnarrativs vgl. Jager 1993. 11
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gewählten Texten – der Navigatio S. Brendani (NSB), dem Tractatus de purgatorio S. Patricii (TPSP) und der Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘ – in drei spezifischen narratologischen Konfigurationen aufzeigt werden wird: Die Prämisse eines alteritären Jenseits, wie sie der Sündenfall im Diskurszusammenhang notwendigerweise voraussetzt, wird hier über die Erzählung immanenter Jenseitsräume unterlaufen und bleibt doch narratologisch bestimmendes Moment. Zur Transzendenz der Jenseitserzählung Mit dem Sündenfallnarrativ werden Diesseits und Jenseits mit Transzendenz – im Sinne von Unverfügbarkeit – und Immanenz – als kategorial Verfügbares – analog gesetzt; das unverfügbare Jenseits wird zum Gegenstand der Erzählung. Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Dynamik wird für die Jenseitserzählung im Allgemeinen und für die immanente Jenseitserzählung im Besonderen ein Transzendenzbegriff notwendig, der den immanenten Jenseitsraum, wie ihn die untersuchten Texte zum Gegenstand haben, nicht a priori ausschließt und die nuancierte Auseinandersetzung der Erzählung mit einem inkommensurablen Jenseits beschreibbar macht. Grundsätzlich werden unter ‚Transzendenz‘ zwei Aspekte gefasst:15 Das absolut Unverfügbare, Göttliche auf der einen und der Prozess des graduellen Übersteigens auf der anderen Seite.16 Für das Verständnis der ‚Transzendenz‘ als Absolutes einerseits ist eine „räumliche Vorstellung von zwei Welten“ prägend, „nach der die T. als striktes Jenseits zwar Grund des von ihm Abhängigen, jedoch selbst nicht mit den kategorialen Formen des Diesseits zu erfassen ist.“17 Das (metaphysische) Jenseits, das hier gemeint ist, entspricht allerdings dezidiert nicht dem erzählten Jenseits. Diese absolute Transzendenz übersteigt die immanenten Kategorien von Mensch und Text und ist von diesen entsprechend absolut unabhängig zu denken. Der Text kann auf sie verweisen, sie darstellen oder erzählen, bleibt aber notwendigerweise außerhalb seiner kategorialen Möglichkeiten. Trotzdem ist diese kategoriale, ‚absolute‘ Transzendenz immer wieder literaturwissenschaftlichen Analysen gerade des ‚Heiligen‘ zugrunde
15 Im mittelalterlichen Verständnis von transcendens tritt eine weitere signifikante Bedeutung hinzu: das ‚Transzendentale‘, vgl. Aertsen 2012, 17–21. Das moderne Verständnis von ‚Transzendenz‘, wie es im Sinne eines graduellen Erkenntnisprozesses auch der folgenden Untersuchung zugrunde liegt, ist neuplatonisch und wird das erste Mal bei Augustinus formuliert. Für die philosophischen Grundlagen dieses Begriffes vgl. Aertsen 2012, S. 21–25. 16 Vgl. Danz 2005, Sp. 551. 17 Danz 2005, Sp. 551.
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gelegt worden.18 Nach einem differenztheoretischen Modell ist Transzendenz hier zunächst das Unverfügbare, Ununterschiedene. Sie kann narrativ nicht abgebildet werden, eine Erzählung von ihr muss notwendigerweise a priori scheitern. Die einzige Möglichkeit, die diese strikte Trennung von Transzendenz und Immanenz (und damit immanentem Text) für die Narration offenlässt, ist die Medialisierung von Geschehenem – „eine Geschichte vom Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz, von ihrem Wirksamwerden in der Geschichte.“19 Ein solcher Transzendenzbegriff ist für das Verständnis von Jenseitserzählungen und die Beschreibung Analyse ihrer Darstellungsmodi problematisch. Im Sinne der ‚absoluten‘ Transzendenz ist das Denken einer strikten Differenz zwischen dem immanenten Text und einer ‚Transzendenz‘ zwar wichtig, aber sie verstellt den Blick auf etwaige Nuancierungen: Das ‚Jenseits‘ der Jenseitserzählungen ist zweifellos für Protagonisten wie Leser verfügbar, wenn es auch in seiner relativen Unverfügbarkeit erzählt wird. Eine statische Differenz, die Repräsentation erlaubt aber eine gegenseitige Ausschließlichkeit von Immanenz und Transzendenz als narratives Ausgangsprinzip denkt, ist für die literarische Gattung der Jenseitserzählungen damit unzureichend. Sie muss von dem dynamischen Verständnis einer erzählbaren relativen Transzendenz (im Sinne von Transzendierung) begleitet werden, denn gerade der relative epistemologische wie räumliche Fortschritt der Protagonisten ließe sich sonst nicht in seinen Abstufungen beschreiben. Demgegenüber ist das graduell-relative Verständnis von ‚Transzendenz‘ andererseits, welches allgemeiner „die Erfahrung des die Endlichkeit Überschreitenden“20 bedeutet, für die literaturwissenschaftliche Analyse ergiebiger. Insofern, als die in discours wie histoire 21 zu transzendierende ‚Endlichkeit‘ literarisch-kulturell codiert ist, ist die Art und Weise dieser graduellen Transzendenz variabel und in literaturwissenschaftlichen Kategorien beschreibbar.22 In diesem Sinne kann ‚Transzendenz‘ im Zusammenhang mit
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Einschlägig sind hier die Arbeiten von Peter Strohschneider, vgl. etwa 2002, hier S. 113: „Im legendarischen Text ragt nicht Transzendenz substanziell in die Immanenz herein, sondern dieser weist umgekehrt über die Grenzen der Immanenz hinaus auf ein ganz Anderes, auf die radikale Negation aller Immanenz: auf die von allen Unterscheidungen unterschiedene Sphäre des Nichtunterschiedenen. In kategorialer Differenz zu dieser von ihm bezeichneten Transzendenz ist der legendarische Text selbst stets etwas Immanentes.“ Entsprechend kann auf das transzendent gedachte Heil im Heiligentext nur mittelbar verwiesen werden, der Text „repräsentiert [es] ‚bloß‘ im Modus der symbolischen Verweisung“. In seiner Nachfolge vgl. etwa exemplarisch Hammer 2015, S. 3–10. 19 Strohschneider 2002, S. 114. 20 Figl 2005, Sp. 549. 21 Vgl. Genette 32010, vgl. auch Anm. 95. 22 Vgl. Figl 2005, Sp. 548–549.
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den Jenseitserzählungen als räumliches wie epistemologisches Überschreiten der diesseitigen Begrenzungen gedacht werden. Diese immanenten Begrenzungen sind hinsichtlich der Körperlichkeit, der Erkenntnisfähigkeiten, der weltlichen Räumlichkeit codiert, verhandelbar und können in ihrer Art und Weise untersucht werden. Der relative Transzendenzbegriff ermöglicht es so, den Prozess epistemologischer Transzendenz eben in Relation auch räumlich zu denken – wie es die Jenseitserzählungen schließlich tun. Wie in den folgenden Kapiteln aufgezeigt werden wird, bleibt dieses graduell-relative Verständnis von Transzendenz bei der Untersuchung von Jenseitserzählungen mit der Konzeption einer absoluten, kategorialen Transzendenz verbunden: Der Prozess der Transzendenz (als Transzendieren) nämlich ist in den Jenseitserzählungen gerade durch die Vorstellung einer absoluten Transzendenz semantisiert. Es ist die Unverfügbarkeit des Göttlichen, die als ‚Jenseits‘ verräumlicht und entsprechend abgebildet wird. Damit wird ‚Diesseits‘ zwar transzendiert, aber auch das erzählte Jenseits bleibt in Differenz zur absoluten Transzendenz ein Immanentes, das nur in Relation graduell ‚Jenseits‘ sein kann. Jenseitserzählungen verhandeln absolute Transzendenz, indem sie eine verräumlichte, relative Transzendenz erzählen, deren abstraktes Ziel und notwendiges Scheitern über die Vorstellung der kategorialen, letztgültig absoluten Transzendenz dynamisiert ist.23 Nur mit diesem Verständnis von Transzendenz wird eine Analyse der Eigenheiten des Jenseitserzählens in ihrer Dynamik möglich: Es ist zwar ein Erzählen, das die Transzendenz zum Verhandlungsgegenstand hat. Als solche ist diese Transzendenz aber notwendigerweise – epistemologisch und räumlich relational als Transzendieren gedacht – nicht als differenztheoretisch absolut. Epistemologischer und letztlich räumlicher Fortschritt der Jenseitserzählung müssen unter dem Aspekt der Entwicklung und zugleich in Auseinandersetzung mit Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit des Transzendenten gedacht werden: ‚Transzendenz‘ ist hier Verhandlungsgegenstand. Der Prozess des Transzendierens ist immer über ein letztlich unverfügbares göttliches Jenseits begrenzt, das als Ziel eines Annäherungsprozesses zugleich semantisch wie narratologisch die Jenseitserzählung entscheidend bestimmt. 23
Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen müssen Diesseits und Jenseits als sich ausschließende raumzeitliche Bereiche einer spezifischen historischen Semantik dezidiert von den Kategorien ‚immanent‘ und ‚transzendent‘ geschieden werden – wenn sie auch in Einzelfällen deckungsgleich gedacht sein mögen. Allgemein werden im Folgenden zu diesem Zweck die Adjektive ‚transzendent‘ und ‚immanent‘ zur Beschreibung eines relativen Verhältnisses verwendet, wenn nicht über die Absolutheit auf die kategoriale Transzendenz abgezielt wird. ‚Transzendenz‘ in ihrer absoluten Bedeutung wiederum wird konsequent damit nicht für räumliches Jenseits oder einen erkennbaren bzw. erzählbaren Gegenstand verwendet, sondern einzig als semantisches Direktiv des relativ transzendenten Gegenstandes bzw. des transzendierenden Erkenntnisprozesses.
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Zwischen diesem absolut Unverfügbaren und dem diesseitigen Ausgangspunkt des Protagonisten entspannt sich die bilaterale Dynamik der Jenseitserzählung. Paulus und die Grenzen der Jenseitsschau Jenseitserzählungen, wie sie also vor dem Hintergrund dieser Differenz aus verfügbarem Diesseits und unverfügbarem Jenseits entstehen, verhandeln immer notwendigerweise die Frage ihrer eigenen Kommensurabilität in Anbetracht des jenseitigen Gegenstandes. Der Mensch ist exkludiert und das Jenseits ihm damit relativ transzendent. Es übersteigt seine Erkenntnisfähigkeiten, da es mit Mitteln, die ihm als diesseitigem, defizitärem Menschen zukämen, eben nicht zugänglich ist – oculus, auris und cor des Menschen scheitern.24 Als Paulus so im zweiten Korintherbrief von Jenseitserfahrungen berichtet, versieht er diese mit verschiedenen Inkommensurabilitätsmarkie rungen: scio hominem in Christo ante annos quattuordecim sive in corpore nescio sive extra corpus nescio Deus scit raptum eiusmodi usque ad tertium caelum et scio huiusmodi hominem sive in corpore sive extra corpus nescio Deus scit quoniam raptus est in paradisum et audivit arcana verba quae non licet homini loqui.25 [Ich kenne einen Menschen in Christus, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde; ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es. Und ich weiß, dass dieser Mensch in das Paradies entrückt wurde; ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, weiß ich nicht, nur Gott weiß es. Er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen darf.]
Was im Jenseits etwa genau gesehen worden ist, lässt Paulus dezidiert offen. Ob die Jenseitsschau im Modus der Körperlichkeit oder Außerkörperlichkeit erfolgt ist, vermag er nicht zu sagen. Modus und Gegenstand sind für den Apostel transzendent, selbst die arcana verba, die modal fassbar waren, dürfen nicht wiedergegeben werden. Das zurückhaltende Schweigen des Paulus wird Mitte des dritten Jahrhunderts26 von der Erzählung der Paulus24
25 26
Vgl. 1. Kor 2,9: sed sicut scriptum est quod oculus non vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascendit quae praeparavit Deus his qui diligunt illum. [Nein, wir verkünden, wie es in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.] 2. Kor 12,2–4. Die ältesten Fassungen, griechisch bzw. ägyptisch, sind bereits im dritten Jahrhundert ägyptischen Christen bekannt, die erste lateinische Fassung entsteht vermutlich im fünften bzw. sechsten Jahrhundert, vgl. Silverstein und Hilhorst 1997, S. 11–12.
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Apokalypse narrativ gefüllt. Die vollständige Jenseitsschau bleibt dabei allerdings selten und auch hier nicht ungebrochen.27 Obwohl der Jenseitsbericht das Jenseits zum Gegenstand und seine Vermittlung zur Aufgabe hat, sind auch ihm Grenzen der Vermittelbarkeit gesetzt. Die Jenseitserfahrung des Berichtenden ist nicht nur selbst immer Ausdruck einer göttlichen Gnade,28 sie ist als solche beschränkt. Die Schau des gesamten Jenseits ist die Ausnahme, in der Regel erfährt der Visionär oder Jenseitsreisende eine Form einer faktischen oder erkenntnistheoretischen Grenze: Auf der Grundlage der Jenseitsschau des Drythelm, wie sie Beda Venerabilis in seiner Historia ecclesiastica beschreibt,29 konstituiert sich innerhalb der Gattung der Jenseitserzählungen schon früh ein schematisches Erzählen, das dem Reisenden Einblick in Hölle und himmlisches Paradies selbst verwehrt und nur ‚mittlere‘, purgatoriale und mit Abstrichen paradiesische Bereiche offenbart.30 Die eigentliche Inkommensurabilität einer immanenten Erfahrung von (absoluter) Transzendenz wird über Beschränkungseffekte sprachlicher, räumlicher wie erkenntnistheoretischer Natur als relative Transzendenz erzählt. Erzählungen, deren Protagonisten himmlisches Paradies und Hölle erleben dürfen, erfahren oft andere Beschränkungen wie die Erfahrung/ Schau nur aus der Entfernung,31 blendende Helligkeit32 oder verschlossene Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, 23, 14, falls nicht anders angegeben hier und im Folgenden zitiert nach der Edition Lehner und Nix 2018, S. 185: Non solum autem visus, verum etiam scientia dabatur ei insolita ita, ut non esset sibi opus interrogare amplius aliqua, sed omnia sciebat apte et integre. quecumque volebat. [„Aber es wurde ihr nicht nur der Ausblick gewährt, sondern es wurde ihr auch ungewöhnliches Wissen gegeben, sodass sie nichts weiter erfragen musste, sondern korrekt und vollständig alles wusste, was auch immer sie (wissen) wollte.“] Selbst hier jedoch bleibt der Seele der buchstäblich letzte Zutritt verwehrt: Visio Tnugdali, 21, 5: Et angelus ait: „Placet quidem, ut videas et audias illos, sed non intrabis ad eos.“ [„Und der Engel sagte: ‚Es ist zwar erlaubt, dass du jene sehen und hören kannst, aber du darfst nicht zu ihnen eintreten.‘“ Lehner und Nix 2018, S. 177]. 28 Vgl. exemplarisch Gregor der Große, Dialogi, IV, 5, 42. 29 Vgl. Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, V, 12, ediert bei Crépin et al. 2005. 30 Vgl. Zaleski 1987, S. 31–34. 31 Vgl. exemplarisch Visio Thurkilli, S. 33, Z. 2–4 der Edition Schmidt 1978: Eine Musik aus dem Himmel ertönt auf dem Berg der Freude, wodurch eine Form transzendenter Jenseitserfahrung zwar möglich ist, aber eben nur mittelbar akustisch: que celestis armonia in templum illud e celis demissa ita omnes quadam suavitatis dulcedine interius demulcet ac refovet […] [„Diese überirdische Harmonie, die vom Himmel herab in dieser Kirche erschallt, erfreut und erquickt alle in ihrem Inneren durch ihre Süße […].“ Schmidt 1987, S. 75]. 32 Vgl. exemplarisch S. Bonifatii et Lulli epistolae, 10, zitiert nach Tangl 1916, S. 12, Z. 14–18: Illas itaque animas et istius gloriosae civitatis muros, ad quam post transitum fluminis festinabant, tam magna inmensi luminis claritate et fulgore splendentes esse dixit, ut, reverberatis oculorum pupillis, pro nimio splendore in eos nullatenus aspicere potuisset. [„Diese Seelen nun, sagte er, und die Mauern dieser glanzvollen Stadt, zu der sie nach dem Übergang über den Strom eilten, leuchteten in einer solchen Klarheit und Helligkeit eines unermeßlichen Lichtes, daß er, weil seine Augensterne 27
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Tore.33 Manche Protagonisten dürfen oder können das Gesehene nicht erzählen.34 Literarizität und Sprache sind dem transzendenten Gegenstand nicht adäquat und der Vermittlungsfähigkeit einer Jenseitserzählung damit entsprechende Grenzen gesetzt. Ebenfalls verbreitet ist das Motiv des Jenseitsreisenden, der den paradiesischen Raum nicht verlassen will,35 jedoch notwendigerweise wieder in den Raum des Diesseits zurückkehren muss.36 Wo, wie in der Visio Tnugdali, eine absolute Jenseitsschau erzählt wird,37 handelt es sich um eine explizite Nahtoderfahrung.38 Die Entkörperung erweist sich immer wieder als Bedingung der Schau,39 wie auch etwa im Fall der Paulus-Apokalypse.40 Die üblicherweise entkörperte41 Jenseitsschau greift einer Endzeit voraus, bis zu der die Visionäre notwendigerweise der immageblendet waren, wegen des allzustarken Glanzes sie überhaupt nicht ansehen konnte.“ Rau 1968, S. 37, Z. 36–41]. 33 Vgl. exemplarisch Visio Baronti monachi Longoretensis, 11–12, zitiert nach der Edition Krusch 1910. 34 Vgl. exemplarisch Gregor von Tours, Libri historiarum X, VII, 1, zitiert nach der Edition Krusch und Levison 1951, S. 326, Z. 1–4. Für weitere Beispiele vgl. Easting 2007, S. 78–85. 35 Vgl. Zaleski 1987, S. 136–150. 36 Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, 26, 1–3. 37 Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, 23, 14. 38 Vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, 1, 13: per trium dierum et noctium spacium iacuit mortuus [„lag er für die Zeitspanne von drei Tagen und Nächten tot da“, Nix und Lehmann 2018, S. 75]; Visio Tnugdali, 1, 25–26: Et tunc verbotenus corpus exanime continuo corruit, ac si nullatenus spiritus antea fuisset. Assunt signa mortis: crines cadunt, frons obduratur, cecantur oculi, nasus acuitur, pallescunt labia, mentum cadit et universa corporis membra rigescunt. [„Und dann stürzte der leblose Körper sofort wortwörtlich zusammen, als wenn keinesfalls ein Geist zuvor dort gewesen wäre. Die Anzeichen des Todes sind auszumachen: Die Haare fallen aus, die Stirn wird hart, die Augen werden wächsern, die Nase wird spitz, die Lippen erblassen, das Kinn fällt ein und alle Glieder des Körpers erstarren.“ Lehner und Nix 2018, S. 77–79]. Eine Nahtoderfahrung erzählt etwa auch Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, V, 12, 2: Namque ad excitationem uiuentium de morte animae quidam aliquandiu mortuus ad uitam resurrexit corporis, et multa memoratu digna quae uiderat narrauit. [„Denn zur Erweckung der Lebenden vom Tod der Seele kehrte jemand, der einige Zeit körperlich tot war, ins körperliche Leben zurück und berichtete viele denkwürdige Dinge, die er gesehen hatte“; Spitzbart 21997, S. 463–464]. 39 Vgl. exemplarisch S. Bonifatii et Lulli epistolae, 10, zitiert nach der Edition Tangl 1916, S. 8, Z. 21: abiecto terre¸ne velamine carnis [„nach Entfernung der Hülle irdischen Fleisches“, Rau 1968, S. 31, Z. 22–23]. 40 Die einzige Ausnahme von dieser Vorstellung der Entkörperung stellt für die Tradition der Paulus-Apokalypse die Fassung des Pariser Codex (Paris, Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631) dar, wie ihn die Edition Silverstein und Hilhorst 1997 synoptisch aufführt, Paulus-Apokalypse, Paris, 3 (S. 68, Z. 15–16): Qui dum in [cor]pore essem qua raptus sum usque ad tercium celum […] [Während ich in dem Leib war, in dem ich bis in den dritten Himmel entrückt wurde […]]. Vgl. außerdem Paulus-Apokalypse, Paris, 46 (Silverstein und Hilhorst 1997, S. 164, Z. 15). Das Merkmal der Körperlichkeit teilt der Pariser Codex mit der koptischen Fassung, vgl. Benz 2013, S. 123. 41 Einfacher, als alle entkörperten Jenseitserfahrungen aufzuzählen, scheint es zu sein, auf den Sonderstatus der körperlichen zu verweisen, vgl. dazu Byrne 2016, S. 89.
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nenten Diesseitigkeit verhaftet bleiben müssen. Der defizitäre Zustand des Menschen und damit die gesetzte Ausgangsdifferenz von zugänglichem immanentem Diesseits und unzugänglichem transzendentem Jenseits werden immer wieder reaktualisiert und bleiben bestehen. Die Möglichkeit einer körperlichen Jenseitsreise, die Paulus offen lässt – sive in corpore sive extra corpus nescio Deus scit 42 – wird demgegenüber nur selten narrativiert, so dass es auch über die Modalität der Jenseitserfahrung bei einer Form letzter Beschränkung bleibt. Der wesentlichen Differenz zwischen Diesseits und Jenseits – als Bereich, in dem das irdische Körperliche, qua Tod als notwendiger Schwelle, keinen Platz haben kann – wird durch die Entkörperung entsprechend Rechnung getragen. Was geschieht nun allerdings, wenn diese Jenseitserfahrung in corpore vollzogen und erzählt wird? Was, wenn nicht die Repräsentanz einer jenseitigen Transzendenz erzählt werden soll, sondern das Eintreten eines immanenten Reisenden in ein eigentlich transzendentes Jenseits? Gegenstand der folgenden Untersuchung sind vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen mit der NSB, dem TPSP sowie ‚Mönch und Vöglein‘ gerade Erzählungen, die diese Inkommensurabilität, wie sie in Referenz auf das Sündenfallnarrativ in der Gattung der Jenseitserzählung verhandelt wird, herausfordern. Alle drei handeln in verschiedenen Räumen – Insel, Höhle und Wald – die Möglichkeit immanenter Jenseitserfahrungen spatial aus und müssen durch die explizite Körperlichkeit ihrer erzählten Jenseitserfahrung signifikant von der Großzahl der Jenseitserzählungen unterschieden werden. Durch diese Körperlichkeit nämlich, so wird zu zeigen sein, entstehen eine Reihe von Komplikationen für den entsprechenden Modus der Erzählung, die sich in Erzählmodus selbst wie in ihrer Rezeption niederschlagen. Trotz dieser exklusiven Besonderheit, einem prägenden Merkmal in Erzählung und Rezeption, hat die teils reiche Forschungsliteratur diesen Aspekt größtenteils als unerhebliche Varianz abgetan und sowohl NSB als auch TPSP verhältnismäßig unproblematisiert unter die anderen Jenseitsberichte eingeordnet.43 Obwohl alle drei zu untersuchenden Texte und ihre einzelnen 42
2. Kor 12,3 [ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es]. 43 Vgl. Rüffer 1999, S. 290: „Das einzig wirklich Bemerkenswerte gegenüber anderen Visionen sind der irdische Einstieg und die Tatsache, daß der Bericht nicht einer Vision oder e inem Traum entsprang, sondern daß ein einfacher Erdenbürger ohne weiteres in diese Unterwelt hinabsteigen konnte.“; Zaleski 1987, S. 26–42. Eine Ausnahme stellt die Untersuchung Aisling Byrnes (2016) dar: Sie erkennt und untersucht die Körperlichkeit des TPSP als zentralen Aspekt in ihren Konsequenzen für die Erzählweise des Textes insofern, als sie hier einen besonderen Legitimationsbedarf ausmacht und ihn in den Paratexten nachzeichnet, vgl. Byrne 2016, S. 76–80. Allerdings sieht sie die narratologischen Konsequenzen der kör-
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Fassungen die Zugänglichkeit eines ‚Jenseits‘ im Modus der Körperlichkeit denken, obwohl gerade dieser Aspekt der Erzählungen in allen Fassungen beibehalten wird, und obwohl gerade dieser Aspekt in seiner Rezeption entweder nachdrücklich affirmiert oder ebenso nachdrücklich negiert wird (und damit immer wieder zum signifikanten Merkmal erklärt wird), hat dieser Umstand in der Forschungsliteratur als bestimmender Impuls der Erzählungen bisher praktisch keine Aufmerksamkeit erfahren. Dabei hat diese immanente Zugänglichkeit eine ganze Reihe von Implikationen, deren Relevanz sich über die einheitliche Inszenierung eines spezifischen Erzählmodus in allen drei Erzähltraditionen nachzeichnen lässt. Die Vorstellung einer immanenten Jenseitsräumlichkeit wirft Fragen der Körperlichkeit auf, des Lebens bzw. des Todes des jenseitsreisenden Protagonisten, und nicht zuletzt stellt sich, wie beim irdischen Paradies, das Problem möglicher Kartographierung und damit verbriefter Repetierbarkeit. Die Vorstellung eines immanenten Jenseitsraumes bedingt in der Erzählung selbst eine besondere Dynamik, führt aber ebenso in der Rezeption zu einer entsprechenden Verhandlung der erzeugten Paradoxie. Eine Untersuchung dieser Texte, die die Relevanz der Körperlichkeitsfrage und des immanenten Jenseitszugangs bei der Ausarbeitung der einzelnen Erzählungen zurückstellt, übersieht, dass sie gerade bezüglich dieser immanenten Jenseitigkeit (als zentralem Merkmal der Erzählung) bereits im Mittelalter selbst kritisiert worden sind. Schon früh ist ein Bewusstsein der Besonderheit dieses Merkmales nachweisbar. Die Visio Thurkilli etwa, die sich in ihrer prefatio in eine breite Tradition von Jenseitserzählungen einreiht, erwähnt an exponierter Stelle den TPSP, dieser erzähle als einziger inmitten lauter Visionsberichte von einer körperlichen Erfahrung (oculis carneis).44 Mögen diese Texte in der folgenden Rezeption affirmativ umgeschrieben werden oder parodierende Auseinandersetzung erfahren: Die immanente Jenseitigkeit der Erzählungen ist oft der Ansatzpunkt oder zumindest zentraler Bestandteil ihrer Rezeption und muss damit in ihrer Problematik zweifelsohne als historisch betrachtet werden.45 Mit der Fokussierung auf
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perlichen Erzählprämisse dezidiert nicht in der Erzählweise der Binnenerzählung: „Although the Tractatus’s approach, particularly its bodily journey into the afterlife, is very original, the imagery of the afterlife realms […] is standard fare“ (S. 89). Einen Schwerpunkt auf die körperliche Reise hinsichtlich der Immanenz ihrer Räume setzt in ihrer Untersuchung auch Julia Weitbrecht, (2011, hier S. 185–194). Ihre Untersuchung jedoch konzentriert sich auf den Zwischenstatus der Räume und Figuren in der späteren mitteldeutschen ‚Reise‘-Fassung. Visio Thurkilli, zitiert nach der Edition Schmidt 1978, S. 3 [„mit den leiblichen Augen“, Schmidt 1987, S. 17]. Entsprechend finden sich auch Handschriften, die die drei Erzählungen in verschiedenen Kombinationen miteinander überliefern: So enthält beispielsweise die Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 60 (15. Jahrhundert) neben der anfänglichen Historienbibel (ff. 1ra–100va), die mit einer Illustration gerade die Begrenzung des Pa
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diese textinhärente Problemstellung wird damit nicht zuletzt auch die Parallellektüre von Texten möglich, die wie beispielsweise ‚Mönch und Vöglein‘ üblicherweise nicht zu Jenseitsreisen gezählt werden.46 Der übergreifende Erzählmodus, angesichts der impliziten Inkommensurabilität notwendigerweise problematisch, rückt in den Vordergrund. Der immanente Jenseitsraum Die Inkommensurabilität, wie sie auf Grundlage des Sündenfallnarrativs zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen transzendentem Gegenstand und immanenter Modalität gedacht wird, bedarf einer narrativen Entsprechung innerhalb der Jenseitserzählung, um die notwendige Differenz aufrechterhalten zu können. Zumeist geschieht dies hinsichtlich der Modalität der Jenseitserfahrung. Das Jenseits bleibt insofern transzendent, als es mit den immanenten Mitteln des irdischen Menschen nicht erfassbar ist – der Protagonist kann es nicht (im epistemologischen Sinne) körperlich erleben, seine Sinneswahrnehmungen stoßen an ihre Grenzen. Stattdessen bedarf es außergewöhnlicher Modalitäten wie etwa der visio. ‚Jenseits‘ (im Sinne der kulturellen Codierung) bleibt es insofern, als es nicht körperlich (im Sinne von verkörpert-lebendig) betretbar ist. Mithilfe dieser Markierungen kann die zugrundeliegende Differenz aufrechterhalten werden, damit die notwendige Binarität mit dem Schritt in das Paradies nicht kollabiert und das Jenseits zu einem Ort unter vielen, zu einem einfachen Diesseits wird. Solange dementsprechend Jenseitsreisen in medialen Modi wie der Vision erzählt werden, ist dies mit Blick auf die Differenz von Diesseits und Jenseits also verhältnismäßig unproblematisch. Das Jenseits bleibt transzendent, im Diesseits eigentlich inkommensurabel, doch der mittelbaren Erfah-
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radieses nach der Vertreibung Adams und Evas ausstellt (f. 4r), sowohl ‚Brandans Reise‘ (ff. 157ra–184r) als auch das ‚Fegfeuer des hl. Patricius‘ (ff. 145ra–156vb). Auch Subiaco, Biblioteca del Monumento Nazionale del Monastero di Santa Scolastica, 292 (CCLXXXVI) enthält neben der NSB eine Fassung des TPSP (vgl. Orlandi und Guglielmetti 2014, S. CXLIII). Zu nennen sind außerdem der Codex Troyes, Médiathèque du Grand Troyes, Fonds ancien 1876, mit sowohl der NSB (ff. 58v–77v) als auch dem Purgatorium (ff. 81v–99r) sowie Reims, Bibliothèque d’Étude et du Patrimoine, 1393 (K. 798) (vgl. Orlandi und G uglielmetti 2014, S. CXLII). Ein weiteres Beispiel wäre London, British Library, Egerton 1117, wo der lateinischsprachige TPSP (ff. 195–196b), verkürzt, zusammen mit einer Fassung von ‚Mönch und Vöglein‘ (f. 186v) überliefert ist. Die Handschrift ist nicht einsehbar, die Folierung deshalb für den TPSP zitiert nach Ward und Herbert 1893, S. 464–465, für ‚Mönch und Vöglein‘ nach Herbert 1909. Eine solche Parallellektüre ist die Ausnahme, etwa auf der Basis eines motivischen Ansatzes – „tiempo y gozo eterno“ – als Merkmal eschatologischer Erzählungen bei Filgueira Valverde 1982.
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rung weniger Auserwählter „die […] eine Erfahrung von den unsichtbaren Dingen besitzen“ (inuisibilium experimento habentibus)47 unter Einschränkungen zugänglich. Das allerdings ändert sich, sobald die Erzählungen Jenseitserfahrungen aus der Perspektive ihrer immanenten Zugänglichkeit narrativieren: Bei den drei zu untersuchenden Erzählungen landet der irische Abt Brendan im Zuge einer Seereise auf der terra repromissionis, der Ritter Owein findet in einer Höhle das Purgatorium und ein Mönch erfährt im Wald das Paradies. All dies vollzieht sich im Modus der Körperlichkeit, alle Protagonisten scheinen zu leben, und doch erleben sie Jenseitiges. Mithilfe der begrifflichen Paare Transzendenz und Immanenz sowie Diesseits und Jenseits wird für diese Erzählungen in den folgenden Einzeluntersuchungen mit dem Begriff der immanenten Jenseitserfahrung operiert, wie sie hier innerhalb eines Raumes erfolgt, der sich als immanenter Jenseitsraum strukturiert. Grundsätzlich beschreiben die meisten Jenseitserzählungen eine Analogie von Immanenz und Transzendenz mit dem begrifflichen Paar Diesseits und Jenseits. Die Zugänglichkeit des Jenseitigen ist aus immanenter Perspektive relational transzendent, das Diesseits dagegen der Bereich, in dem immanente Kategoriensysteme wirksam werden. Der Raum des Jenseitigen, wie ihn seine diskursive Konfiguration kennzeichnet, ist dabei auch insofern transzendent, als er im christlichen Denken über die liminale Markierung des Todes abgegrenzt ist und seine Zugänglichkeit aus dem Diesseits, in lebendiger Form, nicht erlaubt ist. Zugehörigkeit zum Diesseits, in corpore, schließt die Kommensurabilität des Jenseits kategorial aus. Zumindest im Prinzip. Bei Brendan, bei Owein und bei dem Mönch ist diese Transzendenz des Jenseitigen herausgefordert, dieses Modell gilt für die untersuchten Texte nicht. Die irreversible relative Transzendenz des Jenseitigen, wie sie sich auch in der Überkörperlichkeit bestimmen lässt, jenseits der Schwelle von Leben und Tod, ist hier aufgehoben. Die Protagonisten der immanenten Jenseitserzählungen betreten es, lebendig, körperlich, und verlassen es auch wieder. Die Opposition von immanentem Diesseits und transzendentem Jenseits wird dadurch in Frage gestellt. Die Erzählungen, so wird zu zeigen sein, verhandeln damit gerade die göttlich-absolute Transzendenz, indem sie die relative Transzendenz des Jenseitigen und damit die göttliche absolute Transzendenz in der Negation reaktualisieren. Die notwendige überkörperliche Transzendenz des Jenseitsraumes wird in der Erzählung zugunsten einer immanenten Körperlichkeit und einer immanent zugänglichen Räumlichkeit aufgelöst. Trotzdem sind auch sie insofern Jenseitsräume, als sie über semantische Felder, Kategorien und Funktionalitäten ein Jenseits markieren. Sie sind im47
Gregor der Große, Dialogi, IV, 5, 42–43, Übersetzung Funk 1933, S. 186.
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manent, weil dieses ‚Jenseits‘ zugleich in seiner (notwendigen) Transzendenz zugunsten einer immanenten Zugänglichkeit herausgefordert wird. Die conditio sine qua non des Jenseits, nämlich erst nach dem Tod erreichbar zu sein, muss der Vorstellung einer immanent-räumlichen Zugänglichkeit weichen. Der immanente Jenseitsraum, wie ihn verschiedene Texte erzählen, ist damit der Versuch, eine Überlagerung zu denken, die als solche zutiefst paradox ist; ein Jenseits, das immanent zugänglich ist und doch Jenseits bleiben soll; ein Jenseits, das trotz der immanenten Zugänglichkeit seine wesentliche Transzendenz nicht verlieren soll. Wie kann ein Text dieses Paradox in der Erzählung produktiv machen? Die Lösung der drei Texte, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt, ist die narrative Konfiguration einer räumlichen Überlagerung, die diese Paradoxie produziert, bricht und die grundlegende Inkommensurabilität dadurch wieder reaktualisiert. In dieser Konstruktion wird die Brüchigkeit eines immanenten Jenseitsraumes durch einen Erzählmodus abgebildet, der diese eigentliche Inkommensurabilität in ihrer Widersprüchlichkeit zu erzeugen und widerzuspiegeln vermag. Das Transzendente eines immanenten Jenseitsraumes bleibt hier insofern erhalten, als in letzter Konsequenz die Faktizität des immanenten Jenseitsraums in seiner Problematik immer wieder aufgezeigt, gebrochen und reaktualisiert wird. Es entwickelt sich eine ästhetische Dynamik, die die Inkommensurabilität eines immanenten Jenseitsraumes markiert und damit als ‚immanente Transzendenz‘48 abbilden kann. Prominenter Vertreter einer immanenten Jenseitsräumlichkeit und struktureller Vorläufer dieser Dynamik im allgemeinsten Sinne ist das (irdische) Paradies. In spezifischen Diskursen ist es sowohl in gewisser Weise immanent zugänglich als auch zugleich innerhalb einer Jenseitstopographie funktional.49 Wie das Paradies der Genesis genau zu interpretieren sei, wird in der westlichen Auslegungstradition erst von Augustinus ‚geklärt‘.50 Er 48
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Mit ‚immanenter Transzendenz‘ meine ich hier und im Folgenden die Paradoxie des Darstellungsinteresses einer ‚absoluten Transzendenz‘ (vgl. S. 5–8) im immanenten Medium. Dieses Darstellungsunterfangen, das notwendigerweise scheitern muss, steht nichtsdestotrotz im Hintergrund des Inkommensurabilitätsgedankens und semantisiert demgemäß die narrativen Brüchigkeiten wie Heterochronie oder räumlicher Heteromorphie. Zu nennen wäre auch ‚Jerusalem‘, wo der anagogische Verweis auf die himmlische civitas Dei immer auch aufscheint (vgl. Howard 1980, S. 12–13; Auffarth 2002, S. 77–83). Jerusalem als historische und endzeitliche ‚Stadt‘ jedoch legt nicht die Grundlage der Diskurstradition, wie das für das irdische Paradies nachweisbar ist, die gerade das Immanente und Transzendente, das Diesseitige und Jenseitige im Raum verhandelt. Die widerstreitenden Interpretationen, bei dem Paradies handele es sich um eine Allegorie (Philo/Origenes, vgl. Gilchrest 2013, S. 86–98, zu Philo besonders S. 93–94, zuletzt Boersma 2017, S. 27–30) oder um einen historisch-literalen Raum (Epiphanius von Salamis, vgl. Dechow 1988 zu seiner Positionierung gegen Origenes) werden von Augustinus zugunsten einer Differenzierung aufgelöst, vgl. Scafi 2006, S. 36–43. Zur westlichen Auslegungstradition vor Augustinus vgl. Grimm 1977, S. 44–54, außerdem Kabir 2001, S. 23–30.
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systematisiert in Anlehnung an die drei Himmel des Paulus (2. Kor 12) drei Modi der Jenseitsschau, denen jeweils drei verschiedene paradisi gegenüberstehen: Der visio corporalis entspricht der paradisus corporalis Adams und Evas, der visio spiritualis der paradisus spiritualis (hier denkt er die Seelen der geretteten Märtyrer), der visio intellectualis der paradisus paradisorum, der als dritte Stufe ontologisch different gedacht wird.51 Diese Auslegung wird strukturbildend. Die Rezeption der Überlegungen des Augustinus, wie sie sich in verschiedenen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen durch seine vielen Werke zur Exegese der Genesis ziehen, ist allerdings eklektisch.52 Der Begriff des paradisus paradisorum wird erst in der Scholastik rezipiert53 und es ist hauptsächlich seine (eigentlich im Rahmen einer ontologischen Systematisierung gedachte) realhistorische Positionierung des Paradieses, die zitiert wird.54 Zudem wird ausgehend von Augustinus eine Zweiteilung von irdischem und himmlischem Paradies gedacht,55 die sich in der erzählten Jenseitstopographie entsprechend niederschlägt.56 Eine Reihe von Jenseitserzählungen narrativiert so gerade in Folge des Augustinus – wenn auch „unaugustinisch“57 – die Zugänglichkeit des irdischen Paradieses und formuliert damit eine absolute Immanenz, wie sie letztlich auch die Kartographierung des Paradieses begründen kann.58 Das Paradies der Genesis wird so über Augustinus mittelbar zu einem radikal 51 Vgl. Grimm 1977, S. 69–70. Damit lösen sich vormalige Widersprüche wie die des Tertullian, der das irdische Paradies als praerogativa martyrum [Vorrecht der Märtyrer] für die Patriarchen, Propheten und Märtyrer begreift (bzw. für deren Seelen, animae) und zugleich ein körperliches Leben von Adam und Eva im Paradies denkt, vgl. Grimm 1977, S. 44–45. 52 Zur Rezeption der drei Visionen des Augustinus vgl. Keskiaho 2015, S. 137–216. 53 Vgl. Grimm 1977, S. 71. 54 Vgl. Scafi 2010, besonders S. 213–214. 55 Vgl. Isidor von Sevilla, Liber differentiarum II, 12, 1–4, zitiert nach der Edition Sanz 2006: Quae sit differentia paradisorum. Vnus est terrenus paradisus, ubi primorum hominum corporaliter uita extitit, alter caelestis, ubi animae beatorum, statim ut a corpore exeunt, transferuntur, atque, digna felicitate laetantes, expectant receptionem corporum suorum. [Was der Unterschied der Paradiese ist. Das eine ist das irdische Paradies, wo das Leben der ersten Menschen in körperlicher Weise stattgefunden hat, das andere das himmlische, wohin die Seelen der Seligen, sobald als sie sich vom Körper trennen, versetzt werden und, freudig über das verdiente Glück, die Aufnahme ihrer Körper erwarten.] Nach dem Schema des Augustinus entspräche hier der paradisus caelestis dem paradisus spiritualis. 56 Vgl. beispielsweise das Schema der Vision des Drythelm (Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, V, 12), welches Carol Zaleski (1987) unter der Bezeichnung der „Drythelm line“ als strukturbildend für eine weite Gruppe von Jenseitsberichten nachweist (S. 31 bzw. S. 33). 57 Grimm 1977, S. 71. 58 Vgl. Scafi 2006, S. 44: „Augustine’s literal reading of Genesis provided a new synthesis […], creating the conditions for understanding the Garden of Eden as a specific place and sanctioning the belief in an earthly paradise that led later scholars to place the Garden of Eden on maps of the world. Ironically, the medieval geography of the earthly paradise was only a by-product of Augustine’s main theological concerns.“
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immanenten Raum, der zwar als Teil einer Jenseitstopographie fungiert, aber trotzdem in seiner immanenten Zugänglichkeit verhandelt wird. Über Augustinus, wenn auch nicht durch Augustinus, wird das Paradies der Genesis als immanenter Jenseitsraum aufgefasst, der immer auch ein separates, absolut transzendentes Jenseitiges (im Sinne eines paradisus paradisorum) mitreflektiert. Sobald das irdische Paradies im Sinne seiner irdisch-immanenten Zugänglichkeit und ein ‚himmlisches‘ Paradies in seiner ontologischen Differenz aufgefasst wird, ergeben sich eine Reihe ganz konkreter Fragen, die in den Topographien der Jenseitserzählungen in ihren Komplikationen entsprechend verhandelt werden: Wo muss man etwa Henoch und Elija denken, die beide lebendig entrückt worden sind?59 Wie ist das Verhältnis des Aufenthaltsortes der Märtyrer zum irdischen Paradies?60 Überhaupt, wie sieht es mit der Körperlichkeit oder Entkörperung dieser Figuren aus?61 Die Einblendung des paradiesischen Raums in den Bereich der irdischen Immanenz strukturiert die Fragen vor, die daraufhin Jenseitserzählungen im Allgemeinen und Erzählungen von immanenten Jenseitsräumen im Besonderen zu verhandeln suchen. Entsprechend diesem Muster, auf der Grundlage der Spannungen der Bibel, der Bibelexegese, der Apokryphen und vorausgehender Jenseitsberichte, erzählen die drei zu untersuchenden Primärtexte immanente Jenseitsräume. Die räumliche (absolute) Exklusion eines ‚Jenseits‘ wird in den immanenten, also den kategorial zugänglichen Raum projiziert und das Resultat in seinen erkenntnis- und medientheoretischen Komplikationen ausgehandelt. Was bedeutet es, einen Raum, der nicht nach immanenten Kategorien gedacht werden kann, in der Immanenz zu denken und entsprechend zugänglich zu erzählen? Erzählen im Zwischenraum Um die strukturell notwendige Inkommensurabilität des Jenseitigen weiterhin aufrechterhalten zu können, bedienen sich die genannten Texte eines besonderen Erzählmodus, der im Folgendem mit dem Begriff des ‚Zwischen-
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60 61
Vgl. Gen 5,24 zu Henoch: ambulavitque cum Deo et non apparuit quia tulit eum Deus [Henoch ging mit Gott, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen.], sowie 2. Kön 2,1 zu Elija: cum levare vellet Dominus Heliam per turbinem in caelum ibant Helias et Heliseus de Galgalis [An dem Tag, da der Herr Elija im Wirbelsturm in den Himmel aufnehmen wollte, ging Elija mit Elischa von Gilgal weg.] Vgl. zudem S. 133–134. Vgl. S. 110–119. Vgl. Kapitel 3.3.3.
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raums‘ gefasst werden soll.62 Dieser ‚Zwischenraum‘ meint dabei einen Modus der räumlichen Figurierung von immanenter Transzendenz63 (also der verfügbaren Unverfügbarkeit) in all ihrer Inkommensurabilität, wie er sich gerade auch in der Erzählung immanenter Jenseitsräume manifestiert. Die erzählte Transzendenz ist dabei streng graduell-relativ gedacht, so dass die theoretische Beschreibung eines Annäherungsprozesses im und über den Raum als ‚Transzendierung‘ möglich wird. ‚Zwischen‘-Raum ist er insofern, als eine paradoxale Position zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Immanenz und Transzendenz abgebildet wird, in einem Raum, der gleichzeitig auf beide Pole verweist und sie wieder negiert. Diesseits und Jenseits, zwischen denen eigentlich eine exklusive Differenz gedacht ist, werden im Zwischenraum überblendet. Auch für den Fall des immanenten Jenseitsraumes konfiguriert sich so ein ‚Zwischen‘ und damit eine ästhetische Dynamik, die in der strikten, statischen Differenz eigent62
In Anlehnung an Michel De Certeau (1988, S. 218) spreche ich nicht von ‚Ort‘ sondern von ‚Raum‘. ‚Ort‘ hieße, einen Schwerpunkt auf die Stabilität des Ortes in Unabhängigkeit seiner Erfahrung zu legen, als „momentane Konstellation von festen Punkten“. ‚Raum‘ demgegenüber jedoch versteht De Certeau als ein „Geflecht von beweglichen Elementen“, „ein Ort, mit dem man etwas macht“. Im Sinne dieses relationalen Verständnisses von ‚Raum‘ gegenüber dem statischen ‚Ort‘ konstituiert sich der Zwischenraum – ein bloßer Ort, etwa eine Insel, wird zum Zwischenraum. Zum schwierigen Gegenüber dieser beiden Begriffe in Philosophie und Forschungsgeschichte vgl. Harrington 2004, S. 10. Als allgemeine Beschreibungskategorie räumlicher Relationen ist der Begriff des ‚Zwischenraums‘ natürlich nicht neu, wird jedoch zumeist ohne weitere semantische Bestimmungen verwendet, zu nennen wäre in diesem Zusammenhang etwa der Sammelband Wirth 2012, der mit ‚Zwischenraum‘ als übergreifender Leitkategorie operiert. Jan-Dirk Müller (2007, S. 272–316) hat den ‚Zwischenraum‘ als Beschreibungskategorie höfischer Öffentlichkeit in höfischer Epik vorgeschlagen. Bei Untersuchungen der Erzählräume, welche auch im Folgenden untersucht werden sollen, wurde die semantische wie erzählmodale Zwischenposition bis jetzt jedoch nicht unter diesem Gesichtspunkt untersucht, vgl. zuletzt die Forschungsüberblicke des Handbuchs Renz und Hanauska 2018, hier besonders zu „Anderswelten“ (Judith Klinger), „Himmel, Hölle“ (Maximilian Benz), „Insel“ (Horst Brunner), „Höhle, Grotte“ (Andreas Hammer), „Insel“ (Horst Brunner) sowie „Wald, Lichtung, Rodung, Baum“ (Anna-Lena Liebermann). Wo die semantische Differenz als „Übergang“ im Sinne einer zwischenräumlichen Doppelrelation wahrgenommen wird („Meer, Ufer“ – Schmid und Hanauska 2018, S. 421, mit Verweis auf Kohnen 2011, S. 90) erfährt diese in der Regel nur wenig weitere theoretische Reflexion. Der Versuch einer semantischen Unterfütterung des Begriffes wird gerade im Rahmen der Erfurter ‚RaumZeit‘-Forschung unternommen, ein entsprechender Sammelband soll im Jahr 2020 erscheinen. 63 Gemäß der begrifflichen Definition (S. 5–6) handelt es sich hier in der Darstellungsweise um ‚relativ-graduelle Transzendenz‘, da eine absolute Transzendenz nicht narrativ abgebildet werden kann. Diese relativ-graduelle Transzendenz allerdings ist, wie bereits deutlich gemacht, über die Vorstellung einer absoluten Unverfügbarkeit semantisiert: Die Inkommensurabilität, die wieder und wieder reaktualisiert wird, ist in letzter Konsequenz nur auf Grundlage eines absoluten Transzendenzbegriffes denkbar. Die Transzendenz als Transzen dierung ist damit kulturell nicht nur durch die zu überschreitende Endlichkeit, sondern auch die letztlich unüberschreitbare Endlichkeit codiert.
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lich stillgestellt ist. In der Narration geschieht dies über die Einrichtung eines eingegrenzten Sonderraumes und seiner entsprechenden Semantisierung als ein ‚Zwischen‘ – sowohl in Relation zur ‚Ausgangswelt‘ der Erzählung als auch in Relation zu einem transzendenten Jenseitigen. Damit ergeben sich drei notwendige Strukturmerkmale, die eine Differenzierung des Zwischenraums von Erzähldynamiken aus anderen diskursiven Kontexten erlauben. Als Strukturmerkmal I kann dabei die Konfigurierung eines Sonderraumes über verschiedene Momente der Zugangsregulierung gelten. Das kann über physische Begrenzungen, personelle Einschränkungen oder aber über eine Ritualisierung der Transgression geschehen. An der so erzählten Grenze entwickelt sich eine Exklusionsdynamik, die eine wesentliche Differenz des Sonderraums zum Ausgangsraum erzeugt. Strukturmerkmal II ist die Semantisierung dieses Raumes in Relation zum Ausgangsraum. Die wesentliche Differenz des Sonderraums wird in Relation beschrieben, wie das bei utopischer Motivik64 beispielsweise über die Negation lebensweltlicher Übel, das Motiv des relativen Überflusses, etc. geschieht. Der Begriff des ‚Wunderbaren‘ als im allgemeinsten Sinne „Deformierung der natürlichen, normalen Welt“65 wäre ein weiteres Beispiel für diese relationale Dynamik. Der relevante Aspekt ist dabei immer die Referenz auf geläufige, ‚normale‘ Kriterien der erzählten Welt außerhalb des Sonderraumes. Diese Ausgangswelt, im Weiteren ‚Normwelt‘ genannt, beschreibt eine Realität, die innerhalb des Sonderraumes entsprechend modifiziert wird. Sie ist das semantische Direktiv des Sonderraums, das erst in Referenz auf und Differenz zu dieser Normwelt den Sonderraum als Ausnahme figurieren kann. Über Zugangsbeschränkungen von Seiten der Normwelt und semantische Differenzierung in Relation zu ihr werden auf diese Weise Ausnahmeräume erzählt. Strukturmerkmal I und II machen jedoch noch keinen Zwischenraum aus. Wie zu zeigen sein wird, finden sich beide Merkmale prominent etwa auch innerhalb der Konfiguration der keltischen Anderwelt. Höhlen, Inseln, aber auch dunkle Häuser oder Seen sind in diesen Diskursfeldern Zugang zu bzw. identisch mit der Anderwelt und weisen entsprechende Semanti64
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Im Begriff des „utopischen Motivs“ folge ich Marek Winiarczyck 2011, S. 11–12: Er unterscheidet diese von politischen Utopien wie beispielsweise der Atlantis-Beschreibung des Platon, um in ihrer Funktion keine strukturelle Ähnlichkeit von etwa utopisierender locus amoenus-Topik mit Utopien zu postulieren. Wiewohl die pragmatische Abgrenzung zu poli tischen Utopien in der folgenden Untersuchung im Hintergrund steht, scheint diese Begrifflichkeit doch für die Beschreibung der Relationalität bestimmter Motive am tauglichsten zu sein. Zur mittelalterlichen Utopie vgl. zuletzt Lochrie 2016, hier findet sich auf S. 1–6 ein allgemeinerer Forschungsüberblick bezüglich der Begrifflichkeit ‚Utopie‘ gerade im Zusammenhang mit mittelalterlichem Erzählen. Le Goff 1990, S. 58.
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sierungen als ‚anders‘ auf. Die elysischen Felder und Inseln der Seligen beispielsweise, die, wie immer wieder bemerkt worden ist, motivisch starke Ähnlichkeiten zum christlichen Paradies aufweisen,66 entsprechen in ihrer Konfiguration ebenfalls diesen beiden Kriterien. Es ist das Strukturmerkmal III, welches einen solchen Ausnahmeraum von dem Erzählmodus ‚Zwischenraum‘ zu unterscheiden vermag. Der Zwischenraum ist nicht nur in Richtung der Normwelt abgegrenzt. Es ist immer auch eine zweite Begrenzung formuliert, die ihn zum funktionalen Erzählmodus des paradoxalen immanenten Jenseitsraumes macht: Der Zwischenraum konfiguriert eine zweite Grenze in Richtung eines transzendenten Jenseitigen. Er verweist nicht nur auf die immanent diesseitige Normwelt, sondern zugleich auf ein absolut transzendentes Jenseits – das entsprechend nicht mehr räumlich gedacht werden kann. Er ist als ein ‚Zwischen‘ im strengen Sinne, eingeschrieben zwischen den Polen der absoluten Transzendenz und der Immanenz, zwischen Diesseits und Jenseits, und wird entsprechend als solches ästhetisch dynamisiert.67 Wunder, die in diesem Zwischenraum wirksam werden, sind Zeichen transzendenter Wirksamkeit, und nicht nur Abweichungen der Normwelt. Sie sind über die absolute Transzendenz semantisiert, so dass Kategorien von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in Frage gestellt und dezidiert ‚Jenseitiges‘ vermittelt werden kann.
Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIV, 6, 8, zitiert nach PL 82, Sp. 73–728C, die Heraushebung folgt der Edition: „Fortunatae insulae vocabulo suo significant omnia ferre bona, quasi felices, et beatae fructuum ubertate. […] unde gentilium error, et saecularium carmina poetarum, propter soli fecunditatem, easdem esse Paradisum putaverunt.“ [„Die Inseln der Seligen kennzeichnen mit ihrem Namen, dass sie alle Güter besitzen, gleichsam glücklich und selig durch den Reichtum an Früchten.“ Übersetzung Lenelotte Möller 2008, S. 532]. Vgl. außerdem Tertullian, Apologeticum, 47, 13, zitiert nach der Edition Dekkers 1954: Et si paradisum nominemus, locum diuinae amoenitatis recipiendis sanctorum spiritibus destinatum, maceria quadam igneae illius zonae a notitia orbis communis segregatum, elysii campi fidem occupauerunt. [„Und wenn wir vom Paradies sprechen, einem Ort göttlicher Schönheit, der dazu bestimmt ist, die Geister der Heiligen aufzunehmen, und durch eine Art Zaun – den bekannten Feuergürtel – von der Kenntnis des gewöhnlichen Erdkreise abgesondert ist, haben schon die Elysischen Gefilde den Glauben in Beschlag genommen.“ Georges 2015, S. 277]. 67 Dynamisierung meint dabei das Bewegungsmuster, das in der Verhandlung des inkommensurablen Gegenstandes entsteht. Sie wird insofern als ‚ästhetisch‘ aufgefasst, als sie eine Auseinandersetzung des Texts im Gegenüber mit dem Rezipienten anlegt und ermöglicht – im Fall des Zwischenraums in Form von doppelläufigen Strukturen. ‚Historische‘ Dynamisierung meint im Unterschied dazu die Dynamik im Gegenüber von Text und bestimmten Diskursen des historischen Entstehungs- und Funktionalisierungskontexts. 66
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Abgrenzung des Zwischenraummodells Über dieses dritte Merkmal unterscheidet sich das Zwischenraummodell grundlegend von den meisten anderen raumtheoretischen Modellen, die eine selbstreflexive Brüchigkeit, wie sie mit der zu verhandelnden Inkommensurabilität einer ‚immanenten Transzendenz‘ eingeschrieben ist, zumeist nicht beschreibbar machen.68 So ist auch etwa das Heterotopiemodell Michel Foucaults nicht ausreichend, um mit seiner Hilfe die besonderen narratologischen Mechanismen (hoch-)mittelalterlicher immanenter Jenseitsdarstellungen adäquat fassen zu können.69 Angesichts ihrer Andersartigkeit zur Normwelt und innerhalb der Erzählung doch realer, und zugleich eingeschränkter Zugänglichkeit könnte man durchaus bei Ausnahmeräumen nach Strukturmerkmal I und II auch von einer ‚Heterotopie‘ im Sinne Michel Foucaults sprechen, denn grundsätzlich mag der Zwischenraum auch eine Reihe von Merkmalen mit der Heterotopie teilen.70 Foucault definiert die Heterotopie im Unterschied zu der Utopie als
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Ich gehe nur auf ausgewählte Raumkonzepte ein, zu narratologischen Raum- und Räumlichkeitskonzepten allgemein vgl. den umfassenden Forschungsbericht von Katrin Dennerlein 2009, S. 13–47. Von Seiten der Jenseitserzählforschung selbst wurden, wiewohl das generelle Darstellungsproblem einer immanenten Transzendenz auch im Raum als solches erkannt und beschrieben wurde, größere Anstrengungen unternommen, philosophische von literarischen Konzepten abzugrenzen, als diese mediale Paradoxie in ihrer Spannung produktiv zu machen, vgl. etwa die Monographie zur „Jenseitsästhetik“ von Verena Olejniczak Lobsien (2012, S. 403). Sie geht diesen Weg im letzten Kapitel natürlich auch nicht ohne Grund, sondern um die literarischen Texte vor den Vorwürfen etwa philosophischer Inkonsequenz zu schützen (S. 402–409). (Diesem Vorwurf öffnet sie allerdings möglicherweise selbst die Türe, wenn sie ihr Kapitel „Jenseitsästhetik und Topopoetik“ mit einer philosophiehistorischen Einleitung beginnen lässt, hier S. 403–406.) Analog formuliert auch Silvan Wagner (2015, S. 13) im Bereich der Narratologie des Raumes in der laikalen Literatur des Mittelalters eine klare Grenze in Richtung der Metaphysik. Die Gefahr, literarische Dynamiken über einen zu engen philosophischen Begriff von etwa metaphysischer Transzendenz einzuschränken, falsch zu bewerten oder gar in eine Rechtfertigungsschleife zu kommen, soll in vorliegender Arbeit insofern umgangen werden, als sowohl mit einem absoluten als auch einem graduellen (über relative ‚Endlichkeit‘ kulturell codierten und beschreibbaren) Begriff von Transzendenz operiert werden wird. Das ermöglicht die Argumentation einzig aus dem literarischen Text, ohne etwa zeitgenössische metaphysische Diskussionen relativierend hinzuziehen zu müssen. Die narrative Spannung ist damit literaturwissenschaftlich greifbar. Auch im Raum kann auf diese Weise – mit dem metaphysischen Begriff undenkbar – eine Dynamisierung von Inkommensurabilität gedacht werden. 69 Eine Untersuchung jenseitiger ‚Heilsräume‘ auch der Brendan-Tradition mit einer ausgeweiteten Heterotopie-Begrifflichkeit schlägt Julia Weitbrecht (2011, S. 142–154) vor. 70 Vgl. Foucault 1984.
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1 Einleitung: Jenseits des Sündenfalls gleichsam Gegenorte [contre-emplacements] […], tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders [absolument autres] sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu Utopien als Heterotopien [hétérotopies] bezeichnen.71
In diesem Sinne versteht Foucault Heterotopie als den Raum, der, anders als der Nicht-Ort Utopie, nicht allein in einem „Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft“72 steht. Stattdessen kann er, verwirklicht, in ein Gegenüber zu den Orten der Welt treten. Er meint damit Räume, die, wie das Kino oder der Garten, mehrere Räume in einem abbilden. Diese Räume figurieren Brüche entgegen des ‚normalen‘ Zeitverlaufes, wie beispielsweise Bibliotheken Zeit ‚akkumulieren‘, und weisen eine Form der Zugangsregulierung auf, wie etwa das Gefängnis.73 Wie die Arbeit auch für den Zwischenraum postulieren wird, sind diese Heterotopien dabei über verschiedene Diskurse ‚kulturell‘ bestimmt: die Heterotopie des Friedhofs unterliegt im Zuge einer neuen Vorstellung von ‚Krankheit‘ oder dem zunehmenden Wegfallen eines Auferstehungsglaubens einem semantischen und strukturellen Wandel.74 Zudem entwickeln auch die Heterotopien Foucaults ‚Funktionalisierungspotentiale‘ und üben „gegenüber dem übrigen Raum eine Funktion“ aus (die nach Foucault entweder illusorischer oder kompensatorischer Art sein kann).75 Jedoch bleibt das zentrale Merkmal der Heterotopie ihre tatsächliche Verwirklichung in der Welt. Altenheim, Schiff, Bordell sind insofern Heterotopien, als sie als reale Räume in ein Verhältnis zum gesellschaftlichen Raum als Ganzes treten. Sie mögen abgegrenzt, heteromorph bezüglich ihrer Raumstruktur und in ihrer Zeitlichkeit sein, sie sind aber vor allem real. Der Zwischenraum hingegen ist ein Modell, das primär einen Erzählmodus beschreibt und die spezifische ästhetische Dynamik, die bestimmte Erzählungen angesichts einer Spannung aus Immanenz und Transzendenz, Dies- und Jenseits entwickeln. Dabei entspricht die Modellierung des Sonder- bzw. Ausnahmeraumes in ihrer Realisation (natürlich nur) innerhalb der narrativen Welt durchaus dem Modell der Heterotopie. Der Zwischenraum ist insofern heterotop, als 71
Foucault 2005, S. 935. Die französischen Entsprechungen sind zitiert nach Foucault 1984. 72 Foucault 2005, S. 935. 73 Vgl. Foucault 2005, S. 938–940. 74 Vgl. Foucault 2005, S. 937–938. 75 Vgl. Foucault 2005, S. 941.
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er ein reales Gegenüber des restlichen Raums darstellt: als Insel, als Höhle, als Wald. Allerdings ist die Semantisierung dieses Ausnahmeraumes wesentlich different von der Normwelt, weil er nicht nur heterotopes Gegenüber einer erzählten Normwelt ist. Vielmehr ist er als immanenter Jenseitsraum ontologisch anders: Im begrenzten Zwischenraum wird, in Form beispielsweise diverser Wunder, ‚Transzendentes‘ wirksam. Sowohl die jenseitige Semantisierung als auch die immer wieder verhandelte Frage der Inkommensurabilität von immanenter Transzendenz schreiben dem Zwischenraum eine Spannung ein, die im Modell der Heterotopie nicht gedacht werden kann. Weder eine absolute Transzendenz noch ein graduelles Transzendieren ist über die Heterotopie denkbar. Der Zwischenraum ist kein realer Raum, der ‚einfach anders‘ ist, sondern eine Verhandlungsweise der grundlegenden ontologischen Differenz von Diesseits und Jenseits. Momente wie die Heterochronie der Heterotopie mögen sich hier zwar auch finden lassen, diese Heterochronie allerdings ist in einer kategorialen Brüchigkeit begründet, wie sie im realen, nicht-erzählten Raum eines Gefängnisses nicht denkbar ist. Auch mag es heteromorphe Momente geben, diese Unterschiede des Zwischenraums zur erzählten Normwelt jedoch sind kategorialer Natur, in der Spannung des Transzendenzbegriffs begründet und insofern von einer weit radikaleren Konsequenz als die Heterotopie, wie sie Foucault als gesellschaftliches Modell beschreibt. Der Zwischenraum ist nicht einzig aus einer einfachen Differenz gedacht. Er ist zwischen zwei Polen wirksam, die ihn wesentlich bestimmen und eine Spannung erzeugen, die in einer räumlichen Dynamik verhandelt wird. Diese räumliche Dynamik mag in ihrer Strukturierung der Heterotopie teils ähneln, ist allerdings in letzter Konsequenz über die Immanenz/Transzendenz-Spannung grundlegend verschieden: Der Zwischenraum ist keine ‚Realität‘. Als dynamisches Narrativ verhandelt er die Inkommensurabilität der eigenen Literarizität, der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, wie sie sich angesichts des Gegenstands einer immanenten Jenseitigkeit notwendigerweise präsentiert. Bezüglich der Abbildung von Transzendenz im und am Raum sind Theorien wie die des ‚mythischen Raumes‘ von Ernst Cassirer vergleichbar, die über die Kategorie der „Heiligkeit“ eine zugrundeliegende Verweisstruktur des (heiligen) Raumes auf seine Wirksamkeit innerhalb einer transzendenten („magisch-mythischen“) Ordnung denken.76 Einen weiteren strukturellen Nutzen für das Zwischenraummodell bringt auch der mythische Raum Cassirers allerdings insofern nicht, als er diese Einschreibung des Raumes in eine transzendente Verweisstruktur in seinen Konsequenzen und 76 Vgl. Cassirer 82015, S. 495.
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Brüchigkeiten nicht weiter ausformuliert und natürlich ebenso wenig in ihrer potenziellen Dynamik narratologisch fruchtbar macht. Michail Bachtin wiederum denkt zwar in seinem Chronotopos den Raum in narratologischer Abhängigkeit von der Zeit als weiterer Kategorie des Erzählens77 und damit dynamisch, und dieses dynamische Gegenüber könnte man wohl auch in seiner Semantisierung durch eine absolute Transzendenz begreifen. Allerdings ginge so die Möglichkeit verloren, das Gegenüber des Chronotopos und des komplexen Transzendenzbegriffs selbst in seiner Dynamik zu fassen, wie es für die Untersuchung von Jenseitsräumen und ihre Spannungspotentiale notwendig zu sein scheint. Der relationale Aspekt des Erzählens im Zwischenraum gegenüber einerseits der immanent-diesseitigen Position wie andererseits der als absolut gedachten Transzendenz fiele über die alleinige Beschreibung der immanenten Jenseitsräume als ‚Chronotopoi‘ ebenfalls weg. Das dynamische raumzeitliche Gegenüber, obschon auch im Zwischenraum manifest, wird immer wieder über die impliziten wie expliziten Transzendenzvorstellungen dynamisiert und ist als solches im Zusammenhang der Jenseitserzählungen nicht von ihnen unabhängig decodierbar. Als ähnlich schwierig für die Analyse der Spannung immanenter Jenseitsräume erweist sich das Raummodell Michel De Certeaus. Das Konzept von ‚Bewegungsraum‘,78 wie er es entwirft, denkt den Raum aus der Handlung und nicht in einer semantischen, ontologischen oder anderweitig qualitativen Differenz.79 Selbst wenn man die Erfahrung des Raumes durch die Protagonisten der Erzählung jedoch einfach als Bewegung auf einer graduell transzendenten Achse begreifen würde, wäre sie in ihrer dynamischen Relation zu dieser graduellen Transzendenz mit seinem Modell nicht beschreibbar. Der immanente Jenseitsraum ist, narratologisch betrachtet, nicht nur ein „Ort, mit dem man etwas macht“80 – sich in ihm bewegen –, sondern ein Ort, mit dem etwas von Seiten der dynamisierenden Transzendenz gemacht wird und der daraus, narratologisch betrachtet, selbst ‚etwas macht‘. Als Modell, das die Kategorien von Immanenz und Transzendenz im Raum zu verhandeln sucht, ließe sich der Zwischenraum am ehesten auf 77 Vgl. Bachtin 42017, S. 7: „Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos [Hervorhebung der Ausgabe] (‚Raumzeit‘ müsste die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. […] Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen.“ 78 Zur Debatte um den ‚Bewegungsraum‘, mit dem Michel De Certeaus Raumkonzept gefasst wird, vgl. zuletzt Krämer 2018, S. 22. 79 Vgl. De Certeau 1988, S. 217–220. 80 Vgl. De Certeau 1988, S. 218, die Hervorhebung entstammt der Ausgabe.
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der Grundlage der kultursemiotischen Überlegungen Jurij Lotmans beschreiben. Während Foucaults Heterotopie zwar ein relational gebrochenes, ‚anderes‘ Gegenüber von Heterotopie und Normwelt denkt, aber die Semantisierung dieses Raumes als transzendent ‚jenseitig‘ mit den entsprechenden kategorialen Konsequenzen in seinem Ansatz eines sozial realisierten Raumes nicht zu erlauben scheint, reflektiert Lotman ein allgemeines Bedingungsverhältnis von Kultur und eben auch diskursiver Räumlichkeit. Er weist nach, inwiefern menschliche Kulturmodelle in binären räumlichen Relationen organisiert sind: etwa auch über die Relation Diesseits/Jenseits.81 Zwar beschreibt Lotman wie Foucault keinen Raum im Spannungsfeld einer immanenten Transzendenz, jedoch könnte ein Transzendenzbegriff in diesem Modell als eine entsprechende künstlerische ‚Ausgestaltung‘ beschrieben werden. Die Inkommensurabilitätsmomente, Momente der Apophase, Heteromorphie, Heterochronie müssten als einzelne „Raumtyp[en]“82 begriffen werden, die sich eben in einer spezifischen Differenz zur Normwelt figurieren.83 Auch diese raumtheoretischen Überlegungen Lotmans können jedoch einen dritten Raum, wie ihn der Zwischenraum modelliert, nicht zureichend beschreiben. Lotmans Modell bleibt prinzipiell binärer Natur, und eine Relation des Raumes in Richtung eines immanenten Diesseits und zugleich eines transzendenten Jenseits mag zwar über die Annahme eines kulturellen Spannungsfeldes im Zwischenraum beschreibbar sein, jedoch geriete gerade die Verschränkung von immanentem Diesseits und transzendentem Jenseits im Zwischenraum als semantisierendes Direktiv aus dem Blick. Die Inkommensurabilität des Zwischenraums ist nicht einzig einer lichen Metasprache geschuldet, die sich aus dem Gegenüber von christ Transzendenz und Immanenz speist, sie erzeugt gerade in Auseinandersetzung mit diesem Gegenüber im erzählten Raum Inkommensurabilität, indem sie beide Pole wirksam macht, überlagert, und in der Überlagerung aussetzt. Der Zwischenraum ist dynamisch, und durch die entsprechende Dynamisierung beider Pole gekennzeichnet, die nicht zuletzt auch die Literarizität des Zwischenraums im Jenseitsraum (temporär) aufzulösen vermag.84 81 Vgl. Lotman 1974b, S. 343, ähnlich auch Baak 1983. 82 Lotman 1974a, S. 210. 83 Vgl. zum Raumtypen der „Märchenwelt“, Lotman 1974a, S. 210: „Die Märchenwelt ‚zieht‘ den Raum des Alltäglichen ‚an‘. Aber offensichtlich ist ihr dieser nicht auf den Leib geschneidert: er zerreisst, sitzt schlecht, wirft Falten“. 84 Er realisiert dabei, was man mit Homi Bhabha (2012) als einen ‚Dritten Raum‘ beschreiben könnte: einen Raum, der sich zwar in der Differenz zu den binären Polen erzählt, jedoch letztlich als eine paradoxale Überlagerung von Transzendenz und Immanenz begriffen werden muss. Bhabha spricht hier von einem „Überlappen und De-plazieren (displacement) von Differenzbereichen“ (S. 2) außerhalb der eigentlichen Binarität, in dem Inkommensurables verhandelt werden kann. Gerade das Gedankenmodell des ‚Überlappens‘ steht im Hintergrund der folgenden Überlegungen.
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Der Zwischenraum schreibt sich so durch die Erzählung eines immanenten Jenseitsraumes in eine inkommensurable Spannung ein und produziert sie zugleich. Er konfiguriert ‚immanente‘ Räume – Inseln, Höhlen, Wälder –, die allerdings im selben Moment auf ihre Jenseitigkeit verweisen. Er macht diesseitig zugänglich, was eigentlich per definitionem transzendent ist. In der Narration wird dieser Spannung durch relationales Erzählen Rechnung getragen: Beide Pole werden negiert und affirmiert, und der Zwischenraum konstituiert sich als ‚weder – noch‘. Er ist nicht mehr immanentes Diesseits, aber eben auch noch nicht transzendentes Jenseits. Er ist weder nach immanenten Kategorien vollständig fassbar, noch gilt in ihm transzendente Unterschiedslosigkeit. Der Mönch von ‚Mönch und Vöglein‘, um nur ein Beispiel zu nennen, erlebt zwar beim Gesang des Vogels eine relative Beschleunigung des immanenten Zeitverlaufes, jedoch keine absolute Zeitlosigkeit, wie sie im transzendenten Sinne zu denken wäre; und doch überschreiten die Erfahrungen der Protagonisten im immanenten Jenseitsraum ihre immanente Erkenntnisfähigkeit. Über räumliche Grenzen zu einem letzten, absolut transzendenten Jenseitigen, die Problematisierung der Körperlichkeit des Reisenden, aber auch durch apophatische Momente der Inkommensurabilität von Sprache oder menschlichem Erkenntnisvermögen wird das Defizit markiert, das aus der immanenten Perspektive in einem jenseitigen Raum offenbar werden muss.85 Der Zwischenraum ist so ‚nicht mehr‘ immanentes Diesseits, ‚noch nicht‘ transzendentes Jenseits und zugleich in der Paradoxie der immanenten Jenseitsräumlichkeit zutiefst inkommensurabel. Die Faktizität eines immanenten Jenseitsraumes, also eines im immanenten Raum, im immanenten Körper, betretbaren Raumes jenseitiger Semantik und transzendenter Wirksamkeit, muss die Kategorien des immanenten Besuchers immer auch übersteigen, um ‚Jenseits‘ zu bleiben. Diese entsprechend strukturnotwendige Markierung der Inkommensurabilität seines Gegenstandes übernimmt der Zwischenraum in seiner spezifischen ästhetischen Dynamisierung. Erzählen im Modus des Zwischenraums meint in dieser Hinsicht nichts Anderes als die Narrativierung von Inkommensurabilität.
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Damit ist dezidiert nicht von einer Art wechselseitigem Perspektivwechsel, einer „wechselseitigen Durchdringung und Teilhabe“ die Rede, wie ihn etwa Verena Oljenczak Lobsien (2012, S. 405) als jenseitsästhetisches Moment beschreibt: Ich denke den Begriff der Perspektive aus meinem Begriff von gradueller Transzendenz.
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Potentiale kulturwissenschaftlicher Narratologie Über den Erzählmodus des Zwischenraums wird es möglich, im einzelnen Raumnarrativ86 (Insel/Höhle/Garten) den inkommensurablen Gegenstand als solchen dynamisch darzustellen. Denkbar, erzählbar und letztlich auch funktionalisierbar, so die leitende methodische Prämisse, wird die Dynamisierung der Räume im ‚Zwischenraum‘ dabei erst über ihre Dimensionierung innerhalb verschiedener Diskurszusammenhänge. Diesem Zusammenhang ist natürlich das spezifische – diskursiv bestimmte – Verständnis von Transzendenz geschuldet, welches die Dynamik der untersuchten Erzählungen entscheidend beeinflusst. Die narratologischen Konfigurationen des Zwischenraums auf einer Insel, in einer Höhle oder auch in einem Wald sind aber immer auch Teil ganz spezifischer diskursiver Zusammenhänge. Bei der Insel ist das etwa die besondere Erzählräumlichkeit der Insel im Kontext der peregrinatio oder der keltischen Anderwelterzählungen, bei der Höhle werden bestimmte räumliche Konfigurationen von Geburt, Grab und Wiedergeburt wirksam, im Wald sind es Erzähltraditionen des irdischen Paradieses. Um die spezifische Diskursivität des Erzählmodus am einzelnen Raum aufzuzeigen, wird sich die folgende Untersuchung vor dieser methodischen Prämisse besonders auch den raumspezifischen Diskursdimensionen widmen. Die Zwischenraumerzählung erweist sich so als narratologische Antwort auf eine Verweltlichung von ‚Jenseitsräumen‘, wie sie lange vor NSB, TPSP oder ‚Mönch und Vöglein‘ erzählmodal ausgehandelt und doch im zwölften Jahrhundert ganz spezifisch erzählt wird. Um diese Historizität des Erzählmodus ‚Zwischenraum‘ theoretisch fassen zu können, knüpft die Arbeit an eine zentrale Prämisse der „historischen Narratologie“ an: „jede ihren Gegenständen adäquate narratologische Phänomenologie ist eine historische“.87 Im Sinne des Untersuchungsgegen86
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„Narrativ“ meint hier und im Folgenden nach Wolfgang Müller-Funk ( 22008) in Abgrenzung zur Erzählung eine „Kategorie, die auf das Muster abzielt“ (S. 25). Eine entsprechende Fokussierung auf ausgewählte Muster der Erzählung, im Gegensatz zur prozessualen Narration, erlaubt ihre Vergleichbarkeit und ihre strukturelle wie funktionelle Untersuchung im Verhältnis zur Narration sowie vorausgegangener strukturähnlicher Narrative in anderen Diskursen. Hübner 2015, S. 16. Wie allerdings auch Gert Hübner zeigt, bedeutet ‚historisch‘ im Sinne einer historischen Narratologie immer eine forschungspolitische Abgrenzung hinsichtlich der allgemeinen Narratologie (besonders S. 11–17). Das Problem des universalistischen Begriffes der ‚Narratologie‘ am historischen Gegenstand bzw. der Historizität eines universalistischen Begriffs ist zentrales Moment dieses Forschungsdiskurses, vgl. grundlegend etwa Haferland und Meyer 2010, besonders S. 3–6 und 429–444, sowie zuletzt Contzen 2018, S. 26–27. Aus der Perspektive einer mediävistischen Literaturwissenschaft sind Erzähltechniken natürlich immer insofern ‚historisch‘, als sie Ergebnis eines spezifischen historischen
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standes – einer Erzähltechnik im diskursiven Zusammenhang – und der Prämisse der Kulturalität allerdings bedient sie sich konkret der Methoden und Zugänge der „kulturwissenschaftlichen Narratologie“.88 Unter ‚kulturwissenschaftlicher Narratologie‘, wie der Name bereits suggeriert, wird das Gegenüber, Miteinander und Schnittpunkte von kulturund erzählwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen und Methoden gefasst. Gemeint ist damit die „Narrativität von Kulturen“89 einerseits – und damit die Viabilität narratologischer Kategorien für die Untersuchung einer Kultur, die ‚erzählt‘ ist –, andererseits eine „Kulturalität des Narrativen“,90 also […] die von der strukturalistischen Narratologie systematisch ausgeblendete Frage, inwiefern Erzählungen und die sie konstituierenden Elemente (z. B. bestimmte Plotmuster, bevorzugt verwendete Erzählformen, lineare oder zyklische Zeitstrukturen) selbst kulturell und variabel – also kulturspezifische Phänomene sind.91
Auf Grundlage der Prämisse der „Kulturalität“ wird damit gerade eine kulturelle und entsprechend historische Bedingtheit der Erzählmuster und -strukturen zum Gegenstand narratologischer Forschung.92 Narrative wie Erzählmodalitäten93 werden in ihrer Historizität untersuchbar – sowohl bezüglich ihrer kulturellen Dimensionierung als auch bezüglich möglicher Funktionalisierungspotentiale rückwirkend im kulturellen Zusammenhang. Dieser kulturelle Rahmen wird im Folgenden zugunsten eines primär diskurshistorischen Ansatzes relativ eingegrenzt. ‚Diskurs‘ meint dabei einen spezifischer Zusammenhang von Aussagen und Textualitäten, die sich einem „gemeinsamen Redegegenstand“94 auf eine Bedingungsgefüges sind und nur in ebendiesem Zusammenhang untersucht werden können. Moderne Begriffe andererseits erweisen sich hier zumeist als unzulänglich, weshalb der so notwendige Blick vom universalistischen Begriff auf den historischen Text mindestens zu Spannungsmomenten, wenn nicht gar zu verkappt teleologischen Argumentationen führen muss. Diese Implikationen sollen für die folgende Untersuchung, die am Text in seiner spezifischen diskursiven Historizität die historische Erzähltechnik herausarbeiten will, vermieden werden. 88 Vgl. Nünning 2014. Zum Problem der verhältnismäßigen Unabhängigkeit von Erzählforschung und Kulturwissenschaft, auf deren Grundlage Ansgar Nünning die Notwendigkeit dieser kulturwissenschaftlichen Narratologie herausarbeitet, vgl. besonders S. 15–26. Im Hintergrund dieses methodischen Ansatzes steht der Begriff des ‚kulturellen Narrativs‘, wie ihn Wolfgang Müller-Funk (22008) geprägt hat. Für die Literaturwissenschaft ist dieser Begriff bis dato nur von marginalem Interesse, eine der wenigen Ausnahmen stellt etwa Friedrich 2014, S. 268 dar. 89 Nünning 2014, S. 27. 90 Nünning 2014, S. 27. 91 Nünning 2014, S. 27. 92 Zu dem semiotischen Begriff der ‚Kultur‘, der diesem Ansatz zugrunde liegt, vgl. Nünning 2014, S. 28 sowie Müller-Funk 22008, S. 17–20. 93 Vgl. Nünning 2014, S. 29–30. 94 Titzmann 1989, S. 51–55.
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gemeinsame, regulierte Weise nähern.95 Der Redegegenstand der untersuchten Primärtexte wäre hier etwa im Allgemeinen das ‚Jenseits‘. Unter „Regularitäten der Rede über diesen Gegenstand“96 fiele beispielsweise als „Formationsregel“97 die inhaltliche Annahme einer göttlich-absoluten Transzendenz oder von Diesseits und Jenseits als Leitdifferenz; „Formulierungsregel“98 wäre die übliche Referenz auf die Modalität der Vision im Rahmen der Jenseitserzählungen. Implizit ist dabei ein differenzierter Referentialitätsbegriff: „Wissensreferenz“, das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Texten und kulturellem Wissen, das sie voraussetzen, verhandeln und auf das sie ihrerseits Einfluss nehmen (etwa das Konzept der peregrinatio); „Systemreferenz“, die Bezugnahme auf „– von anderen Texten abstrahierbare – Systeme“ (etwa ‚Anderwelterzählung‘); und zuletzt „Textreferenz“, die in verschiedener Weise modellierte (intertextuelle) Bezugnahme eines Textes auf einen anderen Text.99 Nicht zuletzt schreiben sich die untersuchten Texte so auch über eine diskursinhärente Intertextualität (beispielsweise die Johannes-Apokalypse) in einen gemeinsamen Diskurs ein, so dass sich die diskursintegrative Sprechweise sowohl auf der Ebene von Wissens- und System- aber auch von Textreferenzen konstituiert. Die spezifische Relationalität des Diskurses zu anderen Diskursen, wie sie als drittes Merkmal des Diskurses vorgeschlagen wurde,100 ist konstitutiv besonders aus der Perspektive der Rezeption relevant, insofern etwa über eine regulierte Weise der Systemreferenzierung ein Diskurs etwa in seiner Regularität in weiteren Diskursen relational abgebildet werden. Anders gesagt: Diskurse sind auch deshalb Diskurse, da sie als Diskurse rezipiert werden. Ein Beispiel im Untersuchungszusammenhang wären hier die Wüstenvätererzählungen.
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Ich folge damit Michael Titzman (1989), der den Diskursbegriff über seinen Begriff des ‚kulturellen Wissens‘ mit einer Theorie der Referentialität verbindet und so im losen Rückgriff auf Michel Foucault (etwa 162013 oder 141997) eine überzeugende Terminologie für das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Text und Diskurs anbietet: der Diskurs als die „Rahmenbedingung der Entstehung von Vorstellungen, Erkenntnissen, Reden, Verfahren und Gesellschaftlichkeitsformen einer Zivilisation“, als ihr „konstitutionelles Fundament [Heraushebung V. B.]“ (Biti 2001, S. 167). Mit Diskurs ist also im Folgenden nicht, wie der narratologische Ansatz der Arbeit erwarten lassen könnte, der discours-Begriff Gérard Genettes ( 32010). An den wenigen Stellen, wo seine Begrifflichkeit der methodologischen Präzision wegen notwendig wird, ist dies entsprechend markiert. 96 Titzmann 1989, S. 52. 97 Titzmann 1989, S. 52. 98 Titzmann 1989, S. 52. 99 Vgl. Titzmann 1989, S. 54: Einzig die Textreferenz ist dabei Kategorie der Intertextualität. 100 Vgl. „Relationen zu anderen Diskursen“ als drittes Merkmal bei Titzmann 1989, S. 51–55, hier S. 53.
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Eine auf dieser Grundlage diskursorientierte Untersuchung des ‚Zwischenraums‘ erlaubt es, die spezifische Historizität des Erzählmodus als Ausprägung einer diskursinhärenten Redeweise fassen zu können. Die gemeinsame narratologische Regularität vereint alle drei untersuchten narratologischen Konfigurationen – Insel, Höhle, Wald – insofern, als sie eine spezifische Antwort auf das Problem der Leitdifferenzen von Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz darstellen. Sie alle nähern sich dem Gegenstand des immanenten Jenseits auf dieselbe narratologische Weise. Übergreifend nehmen sie dabei – in unterschiedlichen Ausprägungen – wissens- und systemreferentiellen Bezug auf den Diskurs der Wüstenväterliteratur mit seiner eigenen Konfiguration des immanent Jenseitigen; für die einzelnen Figurationen in Insel, Höhle, Wald werden zudem Diskursdimensionen wirksam, die das einzelne Raumnarrativ auf eine spezifisch regulierte Weise zum Redegegenstand haben. Mithilfe des diskursanalytischen Ansatzes und auf Grundlage der Kulturalitätsprämisse der kulturwissenschaft lichen Narratologie wird die Historizität eines zunächst diskursspezifischen Erzählmodus somit zum Untersuchungsgegenstand – und der textanalytischen Methode zugänglich. Der Kulturalität des Erzählmodus ‚Zwischenraum‘ – wie er im einzelnen Raumnarrativ ‚immanente Transzendenz‘ verhandelt, ‚immanentes Jenseits‘ erzählt – wird sich die folgende Arbeit demgemäß diskurshistorisch nähern. Der Erzählmodus wird in seiner kulturellen Bedingtheit verstanden, selbst semantisiert als „‚sedimentierter‘ Inhalt“,101 so dass seine Historizität kulturwissenschaftlich narratologisch im Gegenüber von Erzählmodus und Diskurs festgemacht werden kann. Die einzelnen immanenten Jenseitsräume sind in der Hinsicht kulturell dimensionierte Narrative, als sie, nach Lotman, als ‚Verschmelzung‘ von kulturellen Diskursen und räumlichen Kategorien gedacht werden müssen. Der raumdynamische Erzählmodus, wie er sich aus dem narrativen Muster und dem kulturell dimensionierten Darstellungsinteresse ergibt, ist Produkt seiner Diskurse. Wesentlich für die Analyse werden vor diesem Hintergrund gerade die Diskursfelder sein, die die relevanten Raumnarrative mit einem ähnlichen Darstellungsinteresse erzählen. Dimensionierung – Konfiguration – Diskursivierung Demgemäß wird Argumentation über einen Dreischritt erfolgen, dessen Notwendigkeit in der Kulturalitätsprämisse der kulturwissenschaftlichen Narratologie begründet ist. Schematisch ähnelt dieser Dreischritt dem 101 Nünning 2014, S. 30.
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Modell, das mit der Begrifflichkeit Paul Ricœurs102 für das Zusammenspiel von Narrativ und Kontext/Kultur vorgeschlagen wurde: Die außerliterarische Bezogenheit und Vorformung literarischer Texte sind zu fassen als „Präfiguration“; die Auswahl und spezifische Ausformung in Bezug auf diese außerliterarische Wirklichkeit als „Konfiguration“; die Rückwirkung dieser narrativen Konfigurationen auf die außerliterarische Welt als „Refiguration“.103 Ein primär textanalytischer, diskurshistorischer Ansatz grenzt dieses Schema zwar hinsichtlich des Kulturbegriffes ein, ändert aber nichts an dem impliziten Dreischritt, der nicht zuletzt schließlich an der Kulturalität des Narrativs bzw. des Erzählmodus entwickelt ist. Um das Schema für die diskurshistorische Analyse zu öffnen, sollen die Mechanismen der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration aus diesem Grunde also unter der Annahme der Kulturalität des raumdynamischen Erzählmodus im Verhältnis von Diskurs und Erzählmodus untersucht werden. Für die Einzelkapitel ‚Insel‘, ‚Höhle‘ und ‚Wald‘ bedeutet dieser methodische Ansatz einen einheitlichen Untersuchungsverlauf: Die typologische Differenzierung nach den einzelnen Raumnarrativen ‚Insel‘, ‚Höhle‘ und ‚Wald‘ ist dabei selbst der Kulturalitätsthese geschuldet, denn die Diskurse, die den Erzählmodus im Einzelnen dimensionieren, sind differenziert typologisch. Modus und Narrativ der Zugänglichkeit und des Aufenthalts wie auch die rückwirkenden Funktionalisierungspotentiale variieren innerhalb dieser Raumtypen, weshalb sie notwendigerweise in ihrer referentiellen Ausgestaltung und ihrer spezifischen Kulturalität different behandelt werden. Nach jeweils einer Einführung in den primärliterarischen Untersuchungsgegenstand und seine Forschungsgeschichte wird in einem ersten Schritt der Erzählmodus ‚Zwischenraum‘ auf typologisch differenzierte Weise diskursiv dimensioniert. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich die spezifische Kulturalität des Raumnarratives. Welche Diskurse denken etwa im Raumnarrativ ‚Insel‘ generell die Wirksamkeit immanenter Transzendenz, narratologisch die Erzählbarkeit von immanentem Jenseits? Gesprochen wird, um die Implikationen von statischer Referentialität zu vermeiden und zugunsten einer diskurstheoretischen Terminologie zu öffnen, statt der „Präfiguration“ von diskursiver Dimensionierung. Im Zuge dessen argumentiert die Arbeit bezüglich der Diskurse grundsätzlich mit Wissensreferenzen oder aber Systemreferenzen. Diese Argumentation unterscheidet sich grundlegend von der der Einzelanalysen, wo im Zusammenhang mit der Frage, wie genau sich die narrative Inszenierung der Präfigurationen konfiguriert, insbesondere Textreferenzen eine Rolle spielen.
102 Vgl. Ricœurs 22007. 103 Vgl. Nünning 2014, S. 32.
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In einem zweiten Schritt wird – im ‚konfigurativen‘ Sinne – der raumdynamische Erzählmodus des einzelnen Textes untersucht, allerdings auch im Zusammenhang mit möglichen Funktionalisierungspotentialen innerhalb ausgewählter Rezeptionsgemeinschaften. Aus der Perspektive des jeweils gewählten Primärtextes ist das die spezifische Konfiguration des kulturellen Erzählmodus, wie er sich immer im kulturellen Bedingungsgefüge offenbart. Der (schematisch gedachte) ‚Rück‘-Bezug des Erzählmodus auf den kulturellen Entstehungskontext lässt sich dabei nicht unabhängig von seinen impliziten Funktionalisierungspotentialen denken – es ist schließlich gerade das besondere Potential einer kulturwissenschaftlichen Narratologie, Narrative und Erzählmodi über die Kulturalität in einem möglichen beidseitigen Bedingungszusammenhang zum kulturellen Kontext zu begreifen. Ein letzter und diskursanalytisch notwendiger dritter Schritt – die Diskursivierung – schließlich widmet sich der Frage, wie dieser (raumdynamische) Erzählmodus weiter diskursiv rezipiert wird, und inwiefern er selbst auf weitere Diskurse, Texte und Erzählmodalitäten Einfluss nimmt und dimensionierend wirken kann. Diese weitere Diskursivierung erfolgt affirmierend, subversiv oder modifizierend, in jedem Fall in Auseinandersetzung mit der über den Erzählmodus für das Raumnarrativ behaupteten Darstellungsvalenz immanenter Jenseitsräumlichkeit. Mithilfe dieses methodischen Dreischrittes soll damit die Modalität einer Erzählung von immanenter Jenseitsräumlichkeit gerade in ihrer kulturellen Bedingtheit und in ihrer spezifischen Historizität untersucht werden. Durch diese kulturwissenschaftlich-narratologische Forschungsperspektive unterscheidet sich die vorliegende Arbeit trotz des typologischen Aufbaus nicht nur von allgemein jenseits-narratologischen, sondern auch von konkreter von raumtypologischen Forschungsarbeiten. Zu den primären Texten bzw. Textgruppen ist bisher keine Untersuchung zu der kulturell-diskursiven Dimensionierung ihrer Räumlichkeit unternommen worden. Zwar untersuchen einzelne Studien ihr Verhältnis zu und ihr Entstehen aus bestimmten Diskursen, sie nehmen ihren Ausgangspunkt allerdings nur selten in der Raumdynamik,104 sondern vielmehr allgemein in der explizierten Dynamik ‚immanenter Transzendenz‘.105 Untersuchungen zu Diskurszusammenhän104 Ausnahmen stellen Weitbrecht 2011, S. 183–194 (eine Untersuchung der NSB aus der Dynamik der peregrinatio, die Konsequenzen für den einzelnen Inselraum jedoch werden hier nicht näher untersucht) und Girón-Negrón 2003 dar (eine Einordnung des Gartens von ‚Mönch und Vöglein‘ in die Hoheliedexegese, die zentrale Funktionalität einer Raumdynamik über den mariologischen Verweis hinaus wird allerdings nicht untersucht). Die generelle Frage nach einer geographischen des Jenseits in ausgewählten Texten stellt die noch immer zentrale Forschungsarbeit zur Jenseitsvision von Claude Carozzi (1994), S. 279–297. 105 Vgl. Benz 2013, S. 182–192, in Auseinandersetzung mit dem TPSP.
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gen einzelner Raumnarrative gibt es grundsätzlich immer wieder,106 und auch die komparatistische Analyse ist in ausgewählten Zusammenhängen unternommen worden.107 Der Ansatz einer kulturwissenschaftlichen Narratologie schränkt die Breite der zu untersuchenden Primärdiskurse im Verhältnis zu diesen, aber auch topologischen Ansätzen,108 jedoch deutlich ein.109 Die meisten typologischen Arbeiten begreifen den jeweiligen Raum als ideengeschichtlich zu fassendes „Wahrnehmungs- und Ordnungsschema“,110 um die Pluralität der Räumlichkeiten in den Vordergrund zu stellen,111 diskursiv geordnete Untersuchungen bleiben jedoch die Ausnahme.112 Andere Forschungsarbeiten, die mit einem Einzelphänomen, etwa dem Bruch der Zeitlichkeit arbeiten, lesen ihr Primärkorpus zwar auf der Grundlage einer diskursprägenden Spannung, verankern diese jedoch nicht in spezifischen Raumnarrativen.113 Als eine kulturwissenschaftlich-narratologische Unter106 Vgl. etwa Blumenberg 1979 zu Seereise bzw. Schiffbruch als Daseinsmetapher. 107 Vgl. Classen 2015. 108 Vgl. Curtius 112010. 109 Obwohl sich auch unter dem allgemeinen Begriff der Insel, der Höhle oder des Waldes Traditionslinien mit entsprechend fruchtbaren ideengeschichtlichen Ergebnissen nachzeichnen lassen, sind die ausgewählten Raumnarrative in ihrer immanenten Jenseitsräumlichkeit von ganz besonderen Diskursen dimensioniert. Die Höhle des Zyklopen Polyphem (vgl. Homer, Odyssea, IX, 216–218, zitiert nach der Edition Thiel 1991) wie sie die Odyssee Homers zeichnet, ist nach den skizzierten Strukturmerkmalen beispielsweise ein Sonderraum. Keineswegs ist dieser aber innerhalb einer Spannung von Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz wirksam. Als Narrativ, das so weder strukturierend wirksam wird noch als Teil eines Diskurses auftritt, der zu einer Umwertung des Höhlennarratives innerhalb der genannten Spannung führt, findet es folglich keinen Eingang in die Untersuchung. Die locus amoenus-Topik dagegen strukturiert die spätantike Darstellung des irdischen Paradieses vor und ist insofern untersuchungsrelevante Diskursdimension, die idealisierte Landschaftsdarstellung zu einem Narrativ der Jenseitserzählung werden lässt. 110 Bendemann et al. 2016, S. 13. 111 Vgl. Ireton und Schaumann 2013; Classen 2012; Edmond und Smith 2003. 112 Eine dieser Ausnahmen stellt die Untersuchung von George Williams (1962) dar. Er unternimmt den Versuch einer Ideengeschichte von ‚wilderness‘ und ‚paradise‘ im Mittelalter und untersucht die Grundprinzipien und Modifikationen dieser ‚Räumlichkeiten‘ innerhalb verschiedener Diskurse. Diese Untersuchungsmethode bringt ihn vom Alten Testament über mystische Diskurse hin zur Neuzeit. Sein Fokus allerdings ist weniger die Spatialität von ‚wilderness‘ und ‚paradise‘ als vielmehr die allgemein metaphorische Bedeutung im Rahmen der einzelnen Diskurse. Ähnlich denkt auch Sebastian Sobecki (2008) das Meer als ‚mythopoetischen Agens‘, das in seiner Ausformung von seiner historischen Funktion bestimmt ist. Sobeckis Primärkorpus ist zwar sehr weit gefasst, allerdings liegt der Schwerpunkt seiner Untersuchung gerade auf der Abhängigkeit des „myth“ (S. 6) als einem „fully translatable aetiological narrative“ von seinem historischen Kontext. Das entspricht methodisch der kulturellen Dimensionierung, von der ich bei den einzelnen Raumnarrativen ausgehen möchte. Zuletzt sei auch Egeler 2017 zu nennen, wo der Raum der Insel unter dem Gesichtspunkt seiner ideengeschichtlichen Entwicklung, eben auch als ‚paradiesischer Raum‘ nachverfolgt wird. 113 Vgl. Krüger 2018; Shaw 2012; Filgueira Valverde 1982.
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suchung versteht sich die folgende Untersuchung demgegenüber als ein Annäherungsversuch an die spezifische historische Kulturalität eines raumdynamischen Erzählmodus, der ‚immanente Jenseitsräumlichkeit‘ zu erzählen versucht. Der Zwischenraum im 12. Jahrhundert Im konkreten Fall der drei zu untersuchenden Primärerzählungen wird dieses methodische Vorgehen auch deshalb möglich, da alle drei parallel untersuchten Texte einen gemeinsamen kulturell-diskursiven Hintergrund teilen. Sie alle entstammen dem zwölften Jahrhundert oder haben, wie die NSB, hier einen Überlieferungsschwerpunkt über die zunehmende Verbreitung und über die Entstehung neuer modifizierender Fassungen. Die Räume, innerhalb derer in diesen Erzählungen die narrative Dynamik wirksam wird, sind alle schon lange vor dem zwölften Jahrhundert als Heilräume innerhalb eines anachoretischen Gestus der Weltabkehr diskursiv dimensioniert. Für die diskursive Dimensionierung dieser Räume (Insel, Höhle, Wald) sind es Diskurse mit dem Gegenstand der keltischen Anderwelt, des monastischen Gestus der peregrinatio oder auch des locus amoenus, die das Verhältnis der spezifischen Orte zu ihrem transzendenten Darstellungsgegenstand verhandeln und damit die Erzählmodalität des Zwischenraumes in ihrem Raumnarrativ vorstrukturieren. Die Höhle der Wüstenväter, im irischen Raum die Insel, auf dem Kontinent der Wald: All diese Räume sind dabei primär im Zusammenhang anachoretischer Impulse figuriert, als zeitweiliges Ziel einer Wanderbewegung im Exil der Welt. Über die kulturellen Dimensionen dieser Räume (bezogen auf ihre immanente Jenseitsräumlichkeit) offenbaren sich so auch Traditionslinien, die von den Wüstenvätern nach Irland führen und von dort aus mit Strukturen, Motiven und Konfigurationen der irischen Anderwelt eine ganz spezifische Heilsräumlichkeit auf den Kontinent tragen. Zweifelsohne werden dabei Diskursüberlagerungen manifest, die in den kulturellen Raumnarrativen der jeweiligen Erzählungen entsprechend ausformuliert werden. Die Dimensionen bestimmter Raumkonzepte werden so vor verschiedenen Projektionsflächen variiert und erzählen doch immer im Modus der Zwischenräumlichkeit die einzelnen Räume als immanente Jenseitsräume. Es ist diese Dimensionierung, die die Grundlage der Konfiguration des Erzählmodus im kulturell-diskursiven Bedingungsgefüge anlegt.114 Die kul114 Die historischen Zusammenhänge, innerhalb derer die Texte wirksam werden, sind außerhalb dieses kulturell-diskursiven Bedingungsgefüges von nur untergeordnetem Interesse; das zwölfte Jahrhundert dient als integrative Kategorie der spezifizierenden Abgrenzung
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turellen Narrative können innerhalb verschiedener Diskursfelder des zwölften Jahrhunderts eingeordnet werden, wo sie spezifische Dynamisierungspotentiale entwickeln. Im Hintergrund steht hier etwa die Etablierung neuer Orden im Zuge der Klosterreform:115 Deren Wettstreit untereinander und mit den etablierten Orden führt zu einer „Blütezeit der Gründungsliteratur im dritten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts“,116 die sich im dreizehnten Jahrhundert mit dem Aufkommen der Bettelorden wiederholt. Mit den Kreuzzügen erwächst die Notwendigkeit, Konzepte wie das des miles Christianus zu verhandeln.117 Die Gattung der Jenseitserzählungen und Visionsberichte, im zwölften Jahrhundert sehr beliebt gerade für die Behauptung jenseitigen Heilsanspruchs der neuen Orden, handelt neue Jenseitstopographien aus.118 Die NSB etwa wird hinsichtlich dieses Bedingungsgefüges in einem Spannungsfeld zwischen irischen peregrini und benediktinischer stabilitas loci historisch dynamisiert und der TPSP schreibt sich in einen Diskurs ein, der den Zisterziensern eine außerordentliche jenseitige Geltung (als Vermittler jenseitigen Wissens von einem besonderen jenseitigen Heilsanspruch) begründen will. Bei einzelnen Fassungen von ‚Mönch und Vöglein‘ ist es gerade eine besondere Gebets- und Lektürepraxis des Klosters, die als conditio sine qua non eines Jenseitszugangs präsentiert wird und damit eine außerordentliche, exklusive Legitimation für das monastische Leben produzieren kann. Die narratologische Konfiguration des immanenten Jenseitsraumes und seine Funktionalisierung im Sinne einer gerichteten Einschreibung innerhalb bestimmter Diskurse gehen Hand in Hand. Diese Zusammenhänge lassen sich über die strukturelle Hybridität der kulturwissenschaftlichen Narratologie insofern fassen, als sie konsequent ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis von Kultur und Narrativ, von Narrativ und Diskurs zum Untersuchungsgegenstand erklärt: Der kulturelle Erzählmodus ist Produkt seiner Diskurse, greift aber ebenfalls in diese Diskurse modifizierend ein. Nicht zuletzt wird so manifest, wie sich ein eigener Diskurs um die Verweltlichung immanenter Jenseitsräume entwickelt, dem dieser Erzählmodus in Form der Einzeltypologien zugeschrieben werden zu späteren diskursiven Komplikationen des Erzählmodus und der synoptischen Analyse der Diskursivierung. Die Erzähltraditionen werden zwar in bestimmten, auch historischen Zusammenhängen wirksam, außerhalb von diesen Funktionalisierungspotentialen allerdings verzichtet die Arbeit auf einen historischen Aufriss: Die Argumentation geht in ihrem Referentialitätsbegriff von den Texten und Diskursen aus und entwickelt ihre Kategorien wissensund systemreferentiell, nicht aus der Perspektive historischer Gefüge. 115 Vgl. unter dem Aspekt des Zisterzienserordens Rüffer 1999, S. 45–53. 116 Wesjohann 2012, S. 9 117 Vgl. Wenzel und Wenzel 2007, hier besonders S. 105–106. 118 Vgl. Le Goff 21990, S. 157–284. So problematisch der Gedanke einer „Geburt des Fegefeuers“ im zwölften Jahrhundert, so ist die Signifikanz des zwölften Jahrhunderts für die Jenseitserzählung doch unbestritten.
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muss. Realhistorische Räume verbinden sich mit als immanent erzählten Jenseitsräumen. Es werden Karten geschrieben, Pilgerpraktiken und institutionelle Zugangsriten etabliert. Der Zwischenraum, Erzählmodus immanenter Jenseitsräumlichkeit in aller literarischen Inkommensurabilität, wird in seiner Paradoxie nicht nur zum Gegenstand weiterer Diskurse, sondern findet auch Eingang in die reale Lebenswelt. Die Untersuchung wird aus diesem Grunde, nachdem der raumdynamische Erzählmodus in seiner dimensionierten und dimensionierenden Kulturalität aufgezeigt worden ist, mit einem Ausblick enden: Es ist der Ausblick auf das Kloster, welches als erzählter Ausgangspunkt der immanenten Jenseitsreisen zumeist bereits eine regulierende Sonderrolle innerhalb der Erzählungen innehatte, der das diskursanalytische Potential des Forschungsansatzes perspektiviert. So kann schließlich aufgezeigt werden, wie auf der Grundlage der Diskurstraditionen, die die Konfiguration der immanenten Jenseitsräume als ‚Zwischenräume‘ dimensioniert hatten, ab dem zwölften Jahrhundert ein neues Selbstverständnis des Klosters erzählt zu werden vermag: Das Kloster gerade in zisterziensischen Diskursen ist nicht mehr nur conditio sine qua non eines immanenten Jenseits außerhalb seiner selbst. Die immanent-jenseitige Raumdynamik des Jenseitsdiskurses verbindet sich stattdessen direkt mit dem Raumnarrativ Kloster und einer spezifisch monastischen Spiritualität. Insel, Höhle und Wald, so wird zu zeigen sein, dimensionieren als kulturelle Narrative immanenter Jenseitsräumlichkeit damit eine klösterliche Inszenierung, die das Kloster selbst zum immanenten Jenseitsraum erzählt – über die Dynamik des Zwischenraums.
2 Die Insel Seit dem sechsten Jahrhundert machen sich irische Mönche wie Columbanus von Luxeuil im atlantischen Ozean auf die Suche nach einer spirituellen Einsamkeit bei Gott.119 Dieses desertum, für die frühchristlichen Mönche der Spätantike noch in der Wüste, wird nun in und um Irland auf Inseln gefunden. Während in der Bibel der Inselraum noch von nur untergeordneter Rolle war,120 wird ihm im Zuge dieser kulturellen Translation als desertum eine zunehmende Bedeutung zugewiesen. Das Meer übernimmt die strukturelle Funktion der Wüste, in dem in klarer Abgrenzung zum eigenen Mikrokosmos das Unbekannte, das Wunderbare, das Unerklärliche erzählt werden kann.121 Hinsichtlich dieser ontologischen Alterität stellen sich der Erzählung notwendigerweise Fragen etwa der räumlichen Zugänglichkeit zu oder der spezifischen Erfahrungsmodalitäten auf dem Inselraum. Sobald die Insel als integraler Teil dieser spirituellen Meereswüste begriffen wird, entwickelt sich eine räumliche Erzähldynamik, wie es sie für das kulturelle Inselnarrativ vorher nicht gab.
2.1 Die Seereise des Hl. Brendan Zu einer Zeit, als im Rahmen der Klosterreform von Gorze von den benediktinischen Abteien St.-Evre und Gorze in Lothringen und St. Maximin in Trier Reformideen im ganzen Reich Verbreitung fanden122 und die iro-
119 Vgl. Angenendt 1990, S. 212–222. 120 Eine der wenigen Ausnahmen ist die Insel Patmos als der Schauplatz der Johannesoffenbarung (Offb 1,9), vgl. dazu Boxall 2016. 121 Vgl. Eliade 1991, S. 37–38: „At the limits of this closed world begins the domain of the unknown, of the formless. On this side there is ordered – because inhabited and organised – space; on the other, outside the familiar space, there is the unknown and dangerous regions of the demons, the ghosts, the dead and of foreigners – in a word, chaos or death or night.” Diese Form des Alteritätsdiskurses in Bezug auf das Meer ist nicht genuin irischer Natur sondern findet sich bereits in der Bibel (vgl. Gen 1,2, Hiob 26,7 sowie Offb 21,1, weiterhin McGinn 1994, S. 156–137) und in der griechischen und römischen Antike (vgl. dazu S obecki 2008, S. 25–47). Nach derselben Logik werden auch gerade Ursprungsmythen, also neben dem Ende der Welt auch ihr Anfang, im Meer erzählt, vgl. Gillis 2004, S. 7. 122 Vgl. zur Klosterreform Nightingale 2001, hier S. 1–3.
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2 Die Insel
schottische Mission, die seit dem sechsten Jahrhundert großen Einfluss auf den Kontinent hatte, zur Ansiedlung von Iroschotten in ganz Mitteleuropa führte,123 entsteht auf dem Kontinent, vermutlich in der Reichsabtei St. Maximin in Trier, die älteste erhaltene Handschrift124 der Navigatio S. Brendani (NSB).125 Diese Erzählung, die „Seefahrt des Hl. Brendan“, berichtet von dem irischen Abt Brendan, der mit 17 Mitbrüdern vom Kloster Clonfert aufbricht, um die terra repromissionis sanctorum126 zu suchen. Nach sieben Jahren zyklischer Reise, auf der die Reisegruppe auf verschiedenste wunderbare Inseln und Figuren trifft, finden sie das gelobte Land endlich, um nach verhältnismäßig kurzem Aufenthalt wieder nach Irland zurückzukehren und von den erlebten Abenteuern zu erzählen.
123 Vgl. Angenendt 1990, S. 212–222. 124 Zu einer Einordnung dieser Handschrift (London, British Library, Add. 36736) vgl. Selmer 1949, S. 178, hier auch Anm. 8. Zur Handschriftenüberlieferung der NSB vgl. die noch immer relevanten Aufsätze von Carl Selmer (1943 – ein hypothetischer Versuch, den Weg irischen Erzählgutes in das Lothringen des zehnten Jahrhunderts zu erklären – und 1949). Letzterer thematisiert die geographische und chronologische Verbreitung der Handschriften von Lothringen auf dem übrigen Kontinent. Carl Selmer vertritt angesichts der kontinentalen Überlieferung die These, der Text sei in iroschottischen Kreisen auf dem Festland entstanden. Dezidiert gegen diese Überlegung spricht sich Giovanni Orlandi aus, der die Ursprünge in Irland nachzuweisen versucht, vgl. Orlandi 2006, S. 221–228. Einen umfassenden Versuch, die Überlieferungsgeschichte offenzulegen, unternimmt Mackley 2008, S. 248–250 im Appendix „The genealogy of the manuscripts…“. Nicht zuletzt bieten auch Selmer 1959, S. XXVI–XLIX und Orlandi und Guglielmetti 2014, S. CCXXXII–CCLI vor ihren Editionen entsprechende Stemmata und Überblicke. Zur verkomplizierenden Kontamination der Überlieferung vgl. weiterhin Guglielmetti 2014b. 125 Für einen ersten Überblick in die Erzähltradition der Seefahrt des Hl. Brendan vgl. die Lexikonartikel Hennig 1983 und Intorp 1979, besonders auch Orlandi 1993 und Haug 1978. Detailreicher und mit anderer Schwerpunktsetzung die Einführungen bei Orlandi und Guglielmetti 2014, S. XIII–CXXXII; Iannello 2013, S. 3–133; Bartoli 1993, S. 13–30, und Strijbosch 2000, S. 1–26. Ein kurzer Einblick in die Forschungsgeschichte findet sich bei Jacobsen 2000, S. 65–67. Eine raumtheoretische Analyse der Inseln in der NSB hat bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht stattgefunden. 126 NSB, 1, 31. Soweit nicht anders vermerkt, wird die NSB nach der kritischen Edition von Orlandi und Guglielmetti 2014 zitiert, die editio maior Rossana E. Guglielmettis (2017), die einen erweiterten Apparat aufweist, dient der Ergänzung. Die Kapitelzählung der Editionen sind mit der Edition Carl Selmers (1959) analog, statt einer Zeilenzählung setzt diese Edition Sinnabschnitte. Während Selmer 18 Handschriften kollationiert, berücksichtigt die Edition Giovanni Orlandis (welche nach seinem Tod von Guglielmetti fertiggestellt wurde) alle bis dato bekannten Handschriften. Angesichts der vollen Überlieferungsbreite konnte so nachgewiesen werden, wie alle Textzeugen (R. Guglielmetti weist fünf Familien zu) von einem Archetypen ω abhängen. Dieser wiederum weist selbst Auslassungsfehler und lacunae auf und könnte möglicherweise aus Irland auf den Kontinent gelangt sein (vgl. Orlandi und Guglielmetti 2014, S. CXCII–CCII).
2.1 Die Seereise des Hl. Brendan
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Wann – und letztlich auch wo – diese Erzählung erstmals entstanden ist, ist anhand der überlieferten Handschriften nicht zu rekonstruieren. Die Datierung neuerer Forschungen variieren zwischen dem achten und dem zehnten Jahrhundert,127 wobei es sich bei der genannten Handschrift in St. Maximin mit Sicherheit nicht um die erste Verschriftlichung handelt. Weiter erschwert wird die Ursprungsfrage durch drei separate und zugleich recht verworrene Traditionsstränge. Neben der NSB – mit ihren 125 vollständigen Handschriften,128 Fragmenten und unzähligen vulgärsprachlichen Übersetzungen die am weitesten verbreitete Version129 – finden sich die irisch-lateinische Vita/Betha Brenainn und eine mittelfränkische ‚Reise‘-Fassung (Reise). Bei der Vita, verfasst wohl nicht vor 1092,130 handelt es sich um eine Version, die von der NSB als verhältnismäßig unabhängig gelten kann131 und für eine narratologische Untersuchung der NSB deshalb von untergeordnetem Interesse ist. Die Reise dagegen, selbst in drei Redaktionen überliefert, die unabhängig voneinander auf ein mittelfränkisches Original von ca. 1150 verweisen dürften,132 geht vermutlich mit der NSB auf eine beiden Texten
127 Vgl. Orlandi 1993, Sp. 1063–1064. Carl Selmer datiert die NSB in die erste Hälfte des zehnten Jahrhunderts (Selmer 1959, S. XXVIII), Giovanni Orlandi sieht ihre Anfänge im neunten Jahrhundert (1968, S. 72–73), während David Dumville Orlandis Bezug des Ausdrucks christianorum persecutio auf die Überfälle der Wikinger widerlegt und für eine frühe Datierung vor dem dritten Viertel des achten Jahrhunderts plädiert (1988, S. 102, entsprechend auch Carney 1963, S. 43), Rossana E. Guglielmetti spricht von der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts (2014b). Jonathan M. Wooding plädierte zuletzt für das erste Drittel des neunten Jahrhunderts (2014, S. 96). Die Datierung der NSB bleibt so reine Konjektur. Stichhaltig scheint neben der unumstößlichen Handschriftenüberlieferung – nicht vor dem zehnten Jahrhundert – einzig die Überlegung zu sein, dass der verklausulierte Eingang der NSB einen Autor mit irischem Hintergrund und entsprechend ein verständiges, ebenfalls iroschottisches Publikum nahelegt, vgl. Orlandi 1968, S. 138–140. Peter Jacobsen (2000, hier S. 94–95) schlägt mit der Gründung Clunys 910 als einziger einen terminus post quem vor, indem er die in der NSB beschriebene Zeichensprache als einen Reflex der Praxis in Cluny interpretiert. 128 Vgl. Burgess und Strijbosch 2000, S. 13, mit Verweis auf Giovanni Orlandi. Die neueste Edition (editio maior) von Rossana E. Guglielmetti (2017, eine ausführliche Beschreibung der Handschriften hier S. 3–140) verzeichnet 142 Handschriftenzeugen. 129 Eine der wenigen Hypothesen zur Ursache der weiten Verbreitung der NSB entwickelt Guglielmetti 2016b. 130 Vgl. Hennig 1983. 131 Vgl. Haug 1989, S. 380, hier auch besonders Anm. 8. 132 Vgl. Haug 1978, Sp. 987. Eine spätere Datierung vertritt Barbara Haupt 1995, S. 343 bzw. Haupt 1996 auf Grundlage der Abhängigkeiten zwischen der Reise und dem Straßburger Alexander. Ausgehend von einer Datierung des Straßburger Alexanders um das Jahr 1170 und mit Blick auf die ältere Tradition des Straßburger Alexanders nimmt Haupt eine Abhängigkeit der Reise vom Alexander an und datiert erstere somit auf nach 1170.
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gemeinsame Vorstufe zurück,133 die möglicherweise von dem irischen Immram Curaig Máele Dúin abhängig ist.134 Der Erzählgegenstand, ihre intertextuellen Abhängigkeiten und die Art und Weise der Verbreitung auf dem Festland sprechen für eine enge Verbindung der NSB mit Irland. Es gibt hier schon früh Zeugnisse der Erzähltradition: Bereits in der Vita Columbae des Adomnán von Iona (7./8. Jahrhundert) tauchen erste Hinweise auf Brendan auf,135 der Columba hier auf der Insel Hinba trifft. Das Martyrologium von Tallaght (8./9. Jahrhundert) spricht von einem „Auszug der Klostergemeinschaft Brendans“ (egressio familie Brendini).136 In der Irish Litany of Pilgrim Saints (ca. 900) wird von einem Besuch Brendans auf der ‚Katzeninsel‘, seiner Suche nach dem Land der Verheißung in Begleitung von 60 bzw. 150 Mönchen, sowie von seinen Begegnungen mit Einsiedlern und Heiligen berichtet.137 Die deutlich früheren Datierungen gegenüber der ersten erhaltenen Handschrift legen damit einen vermutlich mündlichen Ursprung im irischen Raum nahe.138
133 Vgl. dazu Haug 1989, S. 384. Walter Haug stützt hier seine These, die NSB und die Reise seien über einen gemeinsamen Vorläufer voneinander abhängig, durch den Immram Curaig Máele Dúin. Weiterhin finden sich hier auch nützliche Episodenüberblicke zur NSB (S. 381– 382, mit Kapitelzählung nach Selmer 1959) und zur Reise (S. 382–384, mit jeweiligem Verzeichnis der Zitation und Abweichungen der drei Redaktionen). Zu dem Zusammenhang der Versionen vgl. zudem Haug 2005, hier besonders S. 44–48. Als Ergänzung zu Haug 1989 wiederholt Walter Haug hier seine These von der Abhängigkeit der NSB und der Reise von einer gemeinsamen Vorstufe, ergänzt dies jedoch mit Bemerkungen zum Verhältnis der verschiedenen Reise-Redaktionen. 134 Vgl. Haug 1989, S. 390–396: Walter Haugs These lautet, dass NSB und Reise über eine Vorstufe der NSB (* NSB-Vorstufe) miteinander zusammenhängen. Sowohl als auch NSB basierten auf dieser * NSB-Vorstufe. Diese Vorstufe wieder sei nun abhängig von einer Vorstufe des erhaltenen Curaig Maíle Dúin, genannt *Maelduin–Vorstufe. Die Abhängigkeit verliefe dann von der *Maelduin-Vorstufe hin zu einer * NSB-Vorstufe, die wiederum die Basis für NSB und Reise bildet. 135 Vgl. Adomnán von Iona, Vita Columbae, 3, 17, 3–9, zitiert nach der Edition von Anderson und Anderson 2002 [1961]: ALIO IN TEMPORE iiii. ad sanctum visitandum Columbam monasteriorum sancti fundatores de Scotia transmeantes in Hinba eum invenerunt insula; quorum inlustrium vocabula Comgellus mocu-Aridi, Cainnechus mocu-Dalon, Brendenus mocu-Alti, Cormac nepos Leathain. [„Zu einer andern Zeit kamen vier heilige Klostergründer von Irland her, um den Hl. Columba zu besuchen, und fanden ihn auf der Insel Hinba. Die Namen der angesehenen Männer waren Comgell moccu Aridi, Cainnech moccu Dalon, Brénden moccu Alti und Cormac, ein Enkel des Léthán.“, Klüppel 2010, S. 167]. 136 Martyrology of Tallaght, XI Kal. Apr., ediert bei Best und Lawlor 1931, vgl. Dunn 1921, S. 400. 137 Vgl. Litany of Irish Saints-II, 15; 16; 19, zitiert nach der Zählung von Hughes 1959. Es findet sich hier auch ein Verweis auf die Ausfahrt Brendans zum Land der Verheißung. Für den originalsprachlichen Text vgl. Plummer 1925, S. 60–67, hier 62–63. Zur Datierung vgl. Sanderlin 1975. 138 Zu der herausragenden Bedeutung der Mündlichkeit für das frühmittelalterliche Irland vgl. Johnston 2013, S. 21, die die Heterogenität der irischen Literaturlandschaft – zwei Spra-
2.1 Die Seereise des Hl. Brendan
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Wie die Abhängigkeitsverhältnisse von NSB und Reise bereits angedeutet haben, steht die NSB – wie die beiden anderen Erzähltraditionen, die Vita und die spätere Reise – in enger Abhängigkeit zu nicht nur spätantikem und biblischem, sondern auch keltischem Erzählgut. Dieses bildet neben den Wüstenvätererzählungen (der Vita S. Pauli des Hieronymus, der Vita Macarii Romani, der Vita Onuphrii und der Historia monachorum des Rufinus) und apokryphen Texten wie etwa der Visio Pauli/der Paulus-Apokalypse oder auch der Vita Adae et Evae den intertextuellen Kontext und die system- und wissensreferentielle Grundlage,139 auf der die NSB entstanden sein muss.140 Mit dem Protagonisten Brendan referiert die Erzählung nicht zuletzt auf eine historische irische Figur, die im Jahr 483 in Irland, nahe des heutigen Tralee, geboren und 577 bzw. 583 in Clonfert gestorben sein soll.141 Angesichts der späten Nachweisbarkeit der NSB im insularen Bereich – nicht vor 1100142 – muss jedoch trotzdem davon ausgegangen werden, dass die eigentliche Verschriftlichung auf dem Kontinent erfolgt sein muss. Wie gelangte also eine irische Erzählung auf den Kontinent, und wieso erfuhr sie eine so rasche Verbreitung? Von St. Maximin in Trier aus kommt die NSB nach Süddeutschland und Österreich, aber auch in die angrenzenden französischsprachigen Gebiete, um sich dann im zwölften Jahrhundert entlang des Rheins sowie in den Norden Deutschlands und in die Niederlande auszubreiten.143 Eine mögliche Erklärung liefert ein erneuter Blick auf die historischen Gegebenheiten des zehnten Jahrhunderts: Im Jahre 591 sei Columbanus – so berichtet es die Vita Columbani144 des Jonas von Bobbio – mit einer Reihe von Mitbrüdern auf eine Seereise gegangen, wie es Brendan in der späteren Erzählung tun sollte. Aus dieser Seereise, die dem irischen Modell der peregrinatio pro amore Christi145 entspricht und damit einen der ersten Anfänge des irischen Wandermönchtums beschreibt, erwuchs eine große iroschot-
chen, hohe Illiteralität, mangelnde Zentralorganisation – zu einer bestimmenden Kategorie erklärt. 139 Vgl. zum Diskursbegriff der Arbeit S. 28–29. 140 Vgl. Orlandi 1993, Sp. 1063–1064. 141 Vgl. Hennig 1983. 142 Vgl. Orlandi 1993, Sp. 1063. 143 Vgl. Selmer 1949, S. 179, die entsprechenden Handschriften sind in den Anmerkungen 9–11 aufgeführt. Vgl. außerdem Selmer 1949, S. 148 für eine weitere (geographische wie chronologische) Verortung zumindest der Handschriften, die Carl Selmer seiner Edition zugrunde legt. 144 Zitiert nach der Edition von Krusch 1905, S. 148–224. 145 Vgl. Angenendt 1982, S. 52–56, dessen Aufsatz auf die Auswirkungen der peregrinatio auf die Klostergründungen auf dem Festland zielt. Zur peregrinatio im irischen Raum vgl. den Überblick bei Johnston 2013, S. 42–50.
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tische Mission auf dem europäischen Festland. In Nachahmung Christi146 gaben die sogenannten Scotti peregrini alle sozialen Bindungen zur Heimat auf und vertrauten sich auf der (See-)Reise einzig der Führung Gottes an. Eine Gruppe dieser Wandermönche suchte die terra deserta, die Abgeschiedenheit im Ozean, eine andere wie Brendan die terra repromissionis, wieder andere hatten missionarische Motive für ihre Reise. Nachdem Columbanus, zweifelsohne ein Vertreter der letzten Gruppe, an die Küste Britanniens gelangt war, stießen er und seine Begleiter während ihrer peregrinatio durch Frankreich über den Bodensee nach Italien eine erste große iroschottische Klostergründungswelle an, als deren Resultat ungefähr 300 neue Klöster entstehen sollten.147 Diese Iroschotten könnten so den irischen Erzählstoff Brendans auf den Kontinent und nach Lothringen gebracht haben und die Autorschaft eines Iroschotten würde entsprechend das Auftauchen irischen Erzählguts auf dem Festland erklären.148 Carl Selmers Überlegung, die NSB mag von einem Scottus peregrinus namens Israel Episcopus verfasst worden sein149 ist zwar mittlerweile widerlegt,150 an einem Verfasser aus wenigstens iroschottischem Milieu führt allerdings kein Weg vorbei. Dafür spräche auch schließlich die maßgebliche Beteiligung der Iroschotten an der erwähnten Klosterreform von Gorze,151 die zu einer Verbreitung der Ideen St. Maximins geführt hatte, wie sie die Handschriftenüberlieferung der NSB illustriert. Für die folgende Analyse der kulturellen Erzählmodalität der NSB eröffnen sich so verschiedene Problemfelder. Als funktioneller Teil einer Meereswüste werden die Inselnarrative der NSB sowohl über einen anachoretischen Diskurs als auch über das irische Konzept der Anderwelt kulturell dimensioniert. Es wird sich also die Frage stellen, inwiefern die Raumnarrative der Brendan-Tradition in Abgrenzung zu Inselbeschreibungen anderer Diskurse eine neue Erzähldynamik mit sich bringen, die eine Neuinterpreta146 Vgl. Columbanus von Luxeuil, Epistulae, 4, 6, zitiert nach der Edition von Walker 1957: [H]aec est enim veritas evangelii, ut veri Christi crucifixi discipuli eum sequantur cum cruce. Grande exemplum ostensum est, grande sacramentum declaratum est: Dei filius voluntarius (oblatus est enim quia ipse voluit) crucem ascendit ut reus, relinquens nobis, ut scriptum est, exemplum, ut sequamur vestigia eius. [Das nämlich ist die Wahrheit des Evangeliums, dass wahre Schüler des gekreuzigten Christi ihm im Kreuze folgen. Bedeutend ist der offenbarte Weg, bedeutend das kundgegebene Sakrament: Der Gottessohn bestieg freiwillig (geopfert nämlich wurde er, weil er es selbst wollte) das Kreuz und hinterließ uns so – wie es geschrieben ist – ein beispielhaftes Vorbild, damit wir seinem Weg folgen.] 147 Vgl. Angenendt 1990, S. 213–222. 148 Dafür spricht im Übrigen auch die Sprache der NSB, vgl. Haug 1989, S. 380. Näheres bei Orlandi 1968, S. 140–160. 149 Vgl. Selmer 1943, S. 176 sowie Selmer 1950. 150 Vgl. Lapidge 1992, S. 101. 151 Vgl. Haug 1978, Sp. 1987.
2.2 Diskursdimensionen der Insel als immanenter Jenseitsraum
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tion als ‚Zwischenraum‘ erlauben würde. Die NSB konfiguriert im kulturellen Bedingungszusammenhang seiner Diskurse einen raumdynamischen Erzählmodus, der immanentes Jenseits in all seiner Paradoxie erzählen soll. Was bedeutet eine Lektüre der NSB vor dieser Spannung für ihre Funktionalisierung im skizzierten historischen Kontext? Kann eine entsprechende Untersuchung der Brendan-Erzählungen die Neupositionierung des Stoffes im zwölften Jahrhundert, besonders durch die Reise, aber auch durch die Umarbeitung der NSB in der Vita secunda sancti Brendani erklären?
2.2 Diskursdimensionen der Insel als immanenter Jenseitsraum Die spezifische Raumdynamik der Insel in der NSB entwickelt sich vor zwei dimensionierenden Diskursfeldern: der narratologischen Konfiguration der irischen Anderwelt und der Heilsräumlichkeit der anachoretischen peregrinatio. Die antiken Inseln als Räume im äußersten Westen der bekannten Welt entwickeln etwa eine, über die räumliche Unzugänglichkeit verhandelte, jenseitige Dynamik mit einer entsprechenden Zugangsregulierung.152 Die Anderwelt und ihre Inseln weisen demgegenüber in ihrer narratologischen Konfiguration ein Merkmal auf, das sie in ihrer Darstellung immanenter Jenseitsräumlichkeit deutlich distinguiert – die Verhandlung von epistemologischer Inkommensurabilität. Zusammen mit dem kulturell-diskursiven Rahmen der peregrinatio, wie er bei Johannes Cassian und anderen als eine Bewegung zu jenseitigem Heil gedacht wird, wird vor diesem Hintergrund die narrative Raumdynamik in der NSB signifikant dimensioniert und eine ästhetische Dynamisierung der Inseln als Zwischenräume möglich.
2.2.1 Die Narratologie der Anderwelt Ein weltlicher Adeliger findet einen Apfelzweig, trifft auf eine mysteriöse Frau und fährt auf ihre Verheißung hin zur Insel der Frauen.153 Der Sohn eines Kriegers und einer Nonne will den Tod seines Vaters rächen und findet auf seiner Seereise eine Reihe wunderbarer Inseln, darunter eine Insel
152 Zum Narrativ des Meeres in der griechischen und römischen Antike vgl. Sobecki 2008, S. 25–34. 153 Vgl. Immram Brain (Brans Seefahrt, Anfang 8. Jahrhundert), ediert und übersetzt zuletzt bei Mac Mathúna 1985, weitere Editionen finden sich bei Hull 1930 und Hamel 1941, eine Edition und Übersetzung bei Meyer 1972 [1885–1887].
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des Lachens.154 Ein irischer Prinz verliebt sich in eine Fee und fährt schließlich auf ihrem gläsernen Schiff zur Ebene der Glückseligkeit.155 Ein irischer Hochkönig schließt einen Pakt mit einem grauhaarigen Krieger, folgt ihm in das Land der Verheißung.156 Alle diese Geschichten stammen aus dem irischen Raum, sind in alt- oder mittelirischer Sprache verfasst und erzählen von Reisen in eine ‚andere‘ Welt: einen Raum, der sich in spezifischer Weise von der narrativen ‚Normwelt‘, das heißt den Kategorien und Ausgangsbedingungen der jeweiligen Rahmenerzählung, unterscheidet. Diskurszusammenhänge Laut den sogenannten ‚Tale Lists‘157 – einer Art Titelverzeichnis aus dem zehnten Jahrhundert, auf dessen Basis die Texte bestimmt wurden, die die inselkeltischen Sänger (fili, Sg. filid) beherrschen sollten – werden die beiden Arten der Anderwelterzählung echtrai bzw. immrama genannt.158 Die echtrai (Sg. echtra, „Abenteuererzählung“) fokussieren dabei den Übertritt des Menschen in diese Anderwelt, während bei den immrama (Sg. immram, „Seefahrt“) die Reise selbst bestimmender Bestandteil der Erzählung wird.159 Die Reise tritt hier in den Vordergrund und die Rahmenhandlung mit Motivation und Konklusion hinter frei addier- und subtrahierbare Einzelepisoden zurück.160 154 Vgl. Immram Curaig Máele Dúin (Die Fahrt des Bootes von Máel Dúin, 10. Jahrhundert), ediert und übersetzt zuletzt bei Oskamp 1970, hier auch eine Einordnung des Textes in die Brendan-Tradition. Übersetzung und Edition weiterhin bei Stokes 1888b/1889. Der Text ist außerdem ediert bei Meyer 1907 bzw. Meyer 1917 und Hamel 1941. 155 Vgl. Echtrae Chonnlai (Connlas Abenteuer, 8. Jahrhundert), zuletzt ediert und übersetzt bei McCone 2000, eine weitere, deutsche, Übersetzung liefert Thurneysen 1901. 156 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri (Cormacs Reise in Tír Tairngiri, 1150–1200): Es sind zwei mittelirische Fassungen und eine in moderner irischer Sprache überliefert, in der ersten Fassung als Teil eines größeren Textkomplexes in zwei Handschriften des vierzehnten Jahrhunderts, ediert und übersetzt bei Stokes 1891. Die zweite Fassung ist unabhängig überliefert, sie ist ediert und übersetzt bei Hull 1949, zur Datierung vgl. Hull 1949, S. 871–872. Die neueste, Vernam Hulls komplettierende, Übersetzung liefert Carey 42003. 157 Vgl. die Primäredition der Tale Lists A und B bei Mac Cana 1980, zuletzt untersucht bei Toner 2000. 158 Einführend in das Phänomen der Anderwelt vgl. Carey 1983, weitere Hinweise auch bei Hammer 2007, S. 164–169, der eine Brendanlektüre vor der Folie der keltischen Anderwelt vorschlägt. 159 Vgl. Dumville 1976, S. 79. David Dumville argumentiert für eine genaue Unterscheidung der echtrai und immrama. Neben dem Fokus auf der Reise, der die immrama von den echtrai unterscheidet, zeigt er dabei auf, wie sich die immrama gegen Ende des siebten Jahrhunderts, vermutlich im Rückgriff auf die echtrai und vor allen Dingen im christlichen Milieu entwickelt haben müssen. 160 Diese beiden Gattungen sind auch deshalb von großer Bedeutung, da neben den drei überlieferten immrama – vgl. die Irish Tale List A, Mac Cana 1980, S. 41–49 – auch die NSB
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Weiterhin finden sich in den Reisebeschreibungen der chronologisch späteren immrama Versuche, christliches Denken mit keltischer Mythologie in Einklang zu bringen.161 Das überrascht nicht, da für den altirischen Literaturbetrieb162 zwei Tendenzen prägend sind, die sich wiederum in ihrer Gewichtung in der Forschungsliteratur widerspiegeln. Auf der einen Seite steht dabei seit der Missionierung durch den Hl. Patrick im sechsten Jahrhundert die fortschreitende Christianisierung, auf der anderen Seite die weiterhin hohe Bedeutung keltischer, paganer Mythologie.163 Die seit dem siebten Jahrhundert überlieferten narrativen volkssprachlichen Texte, die zahlenmäßig die Überlieferung aller anderen europäischen Länder dieser Zeit übertreffen, entstanden in monastischen Skriptorien und wurden zweifelsohne von irischen Mönchen gesammelt, überarbeitet und niedergeschrieben. Zur gleichen Zeit allerdings transportieren sie in weiten Zügen (insel-)keltische Mythen: Es erscheinen keltische Götter, genuin pagane Helden und Konzepte wie die ‚Anderwelt‘.164 Beide Textgattungen, immrama wie echtrai, sind in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße Resultat dieser Christianisierungstendenzen.165 Ob die in den echtrai und immrama beschriebene Anderwelt indes wegen der Christianisierung der Ausarbeitung christlicher Jenseitsräumlichkeit strukturell ähnelt oder ob das keltische Anderweltkonzept genuin strukturelle Ähnlichkeiten zu christlichen Jenseitsvorstellungen aufgewiesen hat und deshalb für die Christianisierung bewusst weitererzählt worden ist,166 ist für einen kulturimmer wieder in enger thematischer Nähe zu den immrama gelesen, gar selbst als ein immram lateinischer Sprache bezeichnet wurde (vgl. O’Curry 1861, S. 289). 161 Vgl. Dumville 1976, S. 79. 162 In der neueren Forschung setzt sich Johnston 2013 mit dem Literaturbetrieb Irlands, seinen Produktions- und Möglichkeitsbedingungen auseinander. Die Lerngemeinschaften des frühmittelalterlichen Irlands seien hauptsächlich von einem hohen Grad an Illiteralität geprägt, auch unter den Eliten der Aristokratie. Hinzu käme eine fehlende Zentralorganisation, die den irischen Literaturbetrieb eher auf dem Land verortet werden lässt (S. 21–26). Im neunten und zehnten Jahrhundert festige sich die „organisation of learning“ endgültig innerhalb der Klöster – ein signifikanter Unterschied, der zusammen mit einer Umorganisation des Verhältnisses der Klöster untereinander letzten Endes zu einer weiter zunehmenden Christianisierung der produzierten Texte führen sollte. 163 Zur Nativismus-Antinativismus-Debatte in der Keltologie vgl. einführend Wooding 2009. Der Beginn der Antinativismus-Bewegung geht auf Carney 1955 zurück. 164 Vgl. Egeler 2017, S. 25–27. 165 Je nachdem, welcher Position man in der Nativismus-Antinativismus-Debatte angehört, erklärt dies die strukturelle Ähnlichkeit des Anderweltkonzepts mit dem ‚Zwischenraum‘ der NSB oder die Verwendung des Anderweltkonzepts bei der christianisierenden Wiedererzählung keltischen Gedankenguts. 166 Zur komplizierten Frage der Christlichkeit besonders der immrama vgl. Johnston 2003. Die Entstehung in monastischen Kreisen scheint allgemein nicht bezweifelt zu sein, Unklarheit besteht dagegen hinsichtlich des Grades der Christlichkeit der einzelnen Texte. In
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wissenschaftlich narratologischen Ansatz von untergeordnetem Interesse. Als diskursive Dimensionierung für die NSB soll eine strukturelle Analyse der narratologischen Bedingungen des Anderweltraums ausreichen, um vor ihrer Folie die narratologische Besonderheit der Räume der NSB herauszuarbeiten. Was meint der Begriff ‚Anderwelt‘?167 Als literarisches Motiv ist sie der Raum, in den sowohl die immrama als auch die echtrai führen. Die Anderwelt trägt dabei verschiedene Namen, die alle ein ähnliches Konzept umschreiben: Tir na nóg, das Land der Jugend; Tir na mBéo, das Land der Lebenden; Tir na mBán, das Land der Frauen; Mag Mór, die große Ebene; Mag Mell, die Ebene der Glückseligkeit, der Freuden, und Tir Tairngiri, das Land der Verheißung.168 Im Einzelnen kann sie lokalisiert sein unter Hügeln, in Seen, Quellen, dem Meer, auf Inseln, in überdunkelten Häusern, Sturm oder Nebel, und alle diese einzelnen Anderwelten sind jeweils auch Zugang, manchmal nur eine Facette einer gesamten ‚Anderwelt‘.169 Der Einbruch des ‚Anderen‘ Deutlich wird diese Raumdynamik beim Blick in die Texte selbst. Angesichts der späten Datierung der eigentlichen immrama170 soll für einen ersten Überblick über die strukturellen Besonderheiten, die die Anderweltkonzeption räumlich und narrativ mit sich bringt, ein Blick in den Immram Brain171 genügen. Aspekte aus dem Echtra Chonnlai 172 und dem Echtra Cormaic i Tír Tairngiri dienen der Ergänzung. der Debatte um Immram Brain vgl. hierzu Proinsias Mac Cana (1972 und 1976), der sich gegen James Carneys Behauptung, Immram Brain sei ein „thoroughly Christian poem“ (1955, S. 282), und für allegorische Tendenzen eines in Grundzügen paganen Textes ausspricht. 167 Vgl. allgemein Freitag 2013, S. 89–106, hier auch neuere Forschungsliteratur, vor allem unter dem Schwerpunkt der Frage nach der Insel Hy Brasil. Vgl. außerdem Carey 1987. 168 Vgl. Le Roux-Guyonvarc`h 1971, S. 274–275. 169 Vgl. Carey 1983, S. 2. 170 Von den sieben in den Tale Lists aufgeführten immrama sind nur drei überliefert: Immram Curaig Máele Dúin (Die Fahrt des Bootes von Máel Dúin), Iomramh churraig Hua gCorra annso (Die Fahrt des Bootes der Söhne von O’Corra) und Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla (Die Fahrt von Snedgus und Mac Riagla). Sie alle, in ihrer handschriftlichen Überlieferung nach der NSB anzusetzen, weisen selbst bereits Merkmale einer Zwischenraumerzählung auf. 171 Der sogenannte ‚Immram‘ Brain wird zwar in den Tale Lists nicht als immram aufgeführt, wird aber seit seiner ersten Edition von Kuno Meyer 1885 als solcher bezeichnet und gilt als ältester überlieferter Vertreter dieser Gruppe, vgl. Mac Mathúna 2006, S. 959. Gegen die Zuordnung des Immram Brain zu den immrama Dumville 1976, S. 83–88. In den erwähnten Tale Lists wird Brain als echtra aufgeführt. 172 Immram Brain und Echtrae Chonnlai teilen eine parallele handschriftliche Überlieferung, vgl. Mac Cana 1972, S. 108 sowie die Auflistung der Handschriften bei McCone 2000, S. 1–28.
2.2 Diskursdimensionen der Insel als immanenter Jenseitsraum
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Der Immram Brain (7./8. Jahrhundert)173 besteht aus zwei Gedichten mit jeweils 28 Strophen, kurzer Einleitung, verbindender Passage und abschließendem Prosastück. Bran mac Febail (Bran, Febals Sohn), ist allein in der Nähe seiner Burg unterwegs, als er Musik hört: […] When he would look back, it was still behind him the music was. Finally he fell asleep on account of the sweetness of the music. When he awoke from his sleep, he saw a silver branch in white bloom beside him, and it was not easy to distinguish its blossoms from the branch.174
Die Musik ist offensichtlich außerweltlicher Natur, Bran kann ihren Ursprung nicht ausmachen, bis er schließlich von der Melodie einschläft. Sobald er von seinem Zauberschlaf aufwacht, liegt bei ihm ein silberner Zweig mit weißen Blüten, den er mit sich auf seine Burg nimmt. Hier findet er „a woman in strange raiment“175 vor, die vor allen Anwesenden ein Lied singt. Ihr Gesang handelt davon, wie sie mit dem (Apfel-)Zweig von Emain (Ablach),176 einer paradiesischen Insel inmitten vieler anderer (Anderwelt-)Räume im Ozean, gekommen sei, es folgt eine Beschreibung der Insel und eine Verheißung der Geburt Christi und des Reichs Gottes. Der Gesang endet mit einer eindringlichen Einladung Brans auf die Insel der Frauen. Daraufhin nimmt die Frau den Zweig und verschwindet. Bran folgt ihrer Einladung und macht sich am nächsten Tag mit mehreren Männern auf den Weg. Nachdem sie auf Manannán mac Lir, einen irischen Meeresgott,177 getroffen sind, erreichen sie ihr Ziel und bleiben dort für mehrere Jahre. Als sie schließlich heimkehren, erzählt Bran von seiner Reise, schreibt sie nieder, und verlässt Irland für immer. Bei der Konzeption der Anderwelträume, sei es durch die Erzählungen der Frau und Manannáns oder die erzählte Erfahrung des Bran, fallen ver-
Proinsias Mac Cana setzt sich in dem zitierten Artikel – im größeren Rahmen der bereits erwähnten Nativismus-Debatte der Keltologie – mit der Frage auseinander, inwieweit Immram Brain ‚christlich‘ ist. Nach ausgedehnten quellenanalytischen Überlegungen kommt er hierbei zu dem Schluss, dass der Text auf traditionelle Erzählmuster zurückgehen muss und keinesfalls nur als christliche Allegorie zu verstehen ist. Zu dieser Frage und explizit dem Christlichen in der Darstellung der Anderwelt vgl. auch Ó Haodha 2003. 173 Vgl. vgl. McCone 2000, S. 29–47. 174 Immram Brain, 2. Hier und im Folgenden zitiert nach der Übersetzung und der Edition Mac Mathúna 1985: A ndon-écad tara éssi ba íarna chúl béus no-bíth a céol. Con-tuil asennad frissa céol ara · · bindi. A ndo-foisich asa chotlad co n-accai in cróeb n-aircit fua bláth f ind ina farrud, na-pu hasse etarscarad a blátha frissin croíb. 175 Immram Brain, 3. 176 Vgl. Immram Brain, 3. Damit gemeint ist die sogenannte ‚Apfelinsel‘, Avalon, vgl. dazu Egeler 2015, S. 181–261. 177 Vgl. Monaghan 2004, S. 311–312. Manannáns Beiname ist unter anderen Barinthus, ein Name, der in der NSB keine geringe Rolle spielt. Vgl. zu diesem Zusammenhang Iannello 2011, S. 138–147.
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schiedene Dinge auf, die strukturell für die narratologische Dimensionierung der NSB interessant sind. In allen drei untersuchten Anderwelterzählungen ist der erste Kontakt der Anderwelt(-figuren) mit den Protagonisten der Normwelt entsprechend markiert und problematisiert. Die Anderwelterzählung weist einen signifikanten Schnitt, eine Kontrastierung von Anderwelt und (erzählter) Lebenswelt, von Sonderraum und Ausgangsraum auf. Sowohl die Frau, die zu Brendan singt, als auch der Apfelzweig sind als Fremdkörper, als ‚Andere‘ im System der narrativen Norm präsent: Die Frau „from unknown lands“178 ist gekleidet in „strange raiment“179 und taucht in der Burg Brans auf, obwohl die Befestigungsanlage geschlossen ist.180 Durch ihr Wissen um die wunderbaren Anderweltinseln oder die Geburt Christi präsentiert sie sich als eine wunderbare, als eine ‚andere‘ Figur. Sie taucht unerwartet in der Welt Brans auf, der verschlossenen Befestigungsanlage zum Trotz, und auch der Apfelzweig, der zusammen mit ihr in der Lebenswelt Brans eintrifft, ist kein gewöhnlicher Zweig. Er ist silbern und auf wundersame Weise begleitet von Musik, deren Ursprung nicht auszumachen ist – erst intertextuelle Referenzen auf andere Anderwelterzählungen eröffnen den kausalen Zusammenhang des Wunderzweiges mit der Anderwelt, aus der Anfangsperspektive Brans und der Erzählung ist er zuallererst ‚anders‘. Die erzählte Lebenswelt Brans, in der er spazieren geht und in der seine Burg und sein Hofstaat verortet sind, ist eine Welt, in der die Frau, der Zweig und ihre Geschichten deutlich in ihrer Alterität markiert sind. Die Anderwelt mit ihren wunderbaren und außernormalen Kategorien – man denke an die Frau, die trotz geschlossener Befestigungsanlage in der Burg Brans auftaucht – bricht plötzlich und unerwartet in die erzählte Normwelt ein.181 Im Echtra Cormaic i Tír Tairngiri ist Cormac, der Hochkönig Irlands, alleine in Múr Tea, einem lokalisierbaren Raum der narrativen Lebenswelt, unterwegs, als er einen grauhaarigen Krieger in ebenfalls merkwürdiger Kleidung antrifft.182 Cormac schließt einen Handel mit einem Fremden und tauscht dessen Feenzweig gegen das Versprechen dreier Wünsche. Schüttelt man diesen Zweig, ertönt eine Melodie, die so schön ist, dass alle Männer und Frauen der irdischen Welt dabei einschlafen und keine Schmerzen mehr
178 Immram Brain, 1. 179 Immram Brain, 2. 180 Vgl. Immram Brain, 1. 181 Dieser Einbruch der Figuren geschieht übrigens genauso plötzlich und unerwartet wie ihr Verschwinden, vgl. Immram Brain, 31 bzw. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27. Zweifellos ist diese erfahrene Plötzlichkeit ein weiteres Merkmal, das die Differenz zwischen Lebenswelt und Anderwelt festigt. 182 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 25.
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kennen.183 Wieder also ist es der melodische Feenzweig (der Schmerzen auf dem Schlachtfeld, im Kindbett oder Krankheit vergessen lässt und drei goldene Äpfel trägt), der eine lebensweltliche Erfahrung in ihrer Besonderheit ausweist: Auf der Ebene der Erzählung wird über den Zweig die Erfahrung vor dem Hintergrund der Intertexte als anderweltlich offenbar; auf der Ebene der Geschichte figuriert sich ein Alteritätsmoment, indem Alltägliches den nornweltlichen Erwartungshorizont unterläuft und der einfache Zweig plötzlich Wunderbares zu bewirken vermag. Ähnlich auch der Beginn von Echtra Chonnlai. Connla ist hier mit seinem Vater auf dem Hill of Uisnech unterwegs, als er eine ebenfalls außergewöhnlich gekleidete Frau sieht. Connla allein kann sie sehen, sein Vater und selbst die Druiden hören nur ihre Stimme. Die Frau, die sich nur Connla zeigt, ebenfalls in ihrer Andersartigkeit bestimmt, gibt Connla einen Apfel: When the woman went away in response to the druid’s chanting she threw an apple to Connlae. Thereafter Connlae was without drink (and) without food until the end of a month and he did not deem any sustenance worth eating save his apple. Nothing that he ate took anything away from the apple but it remained whole.184
In Echtra Cormaic i Tír Tairngiri und Immram Brain verweist der zauberhafte (Apfel-)Zweig in seiner Wunderbarkeit als ‚Mitbringsel‘ aus der anderen Welt auf diese Anderwelt. Als Fremdkörper markiert er in der narrativen Lebenswelt von Bran und Cormac die Alterität beider Welten klar. Hier im Echtra Chonnlai ist er metonymisch durch einen Apfel ersetzt, aber im Moment des Einbruches für die strukturelle Begrenzung beider Welten nicht minder funktional. Anderweltfiguren und -mitbringsel wirken in der Normwelt immer ‚anders‘, verweisen auf die Welt, der sie entstammen und damit auf die implizite Binarität. Der Apfel der Anderweltfrau, sobald er in der Normwelt ist, beweist seine Alterität insofern, als er allen Erfahrungen mit normalen Äpfeln zum Trotz nicht aufzuessen ist, und dadurch in Gestalt einer banalen Alltäglichkeit die Anderweltlichkeit seiner Herkunft über seinen Einbruch in die Normwelt zu reaktualisieren vermag. Die Tatsache solcher Transgressionsphänomene jedoch, zu denen neben Apfel, Zweig und Frau auch die eigentlichen Reisen und Übertritte der Protagonisten zu zählen sind, unterlaufen bis zum Schluss die binäre 183 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 25. Hier und im Weiteren, wenn nicht anders markiert, zitiert nach der Edition Stokes 1891. In Fassung II (zitiert als Echtra Cormaic i Tír Tairngiri II, nach der Edition und Übersetzung von Hull 1949) geben die Äpfel die Melodie von sich, die hier auch Trauer verschwinden lässt, vgl. Hull 1949, S. 977. 184 Echtrae Chonnlai, 7–8. Zitiert nach der Edition und Übersetzung von Kim McCone 2000: In tan luide in ben ass re rochetul in druad, do:corastar ubull do Chonnlu. Boí Connle íar sin co cenn mís cen dig cen biad, nabu fíu leis nach tóare do thomailt acht a ubull. Na nní do:meled, nícon:dígbad ní dend ubull acht ba hóg-som beos.
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Alterität beider Welten nicht. Durch die anfängliche Grenzüberschreitung des Kriegers oder der beiden Frauen und den über Alteritätserfahrungen bestimmten Kontakt der erzählten Lebenswelt mit Figuren und ‚Mitbringseln‘ des Andersraums wird eine klare ontologische Differenz implementiert. Anderwelt auf der einen, Normwelt auf der anderen Seite: Übertritte sind zwar denkbar und dynamisieren den Erzählverlauf entscheidend, verweisen in ihrer narratologischen Figurierung aber immer zuallererst durch relationale, regulatorische und heterogene Momente auf ebendiese Alterität. Zugangsregulation Anderwelt und Welt schließen sich gegenseitig aus und Übertrittsphänomene müssen in ihrer Brüchigkeit eine narratologische Figuration erfahren: In der Narratologie der Anderwelt geschieht dies unter anderem durch die bewusste Inszenierung zugangsregulatorischer Momente. In allen drei ausgeführten Anderwelterzählungen ist kein Zufall, wer in die Anderwelt reist. Die Anderwelt ist nur einem ausgewählten Personenkreis und über festgesetzte Wege zugänglich. Diese Ein- und Beschränkung wird bereits im Moment des ersten ‚Einbruchs‘ gemacht, schon der erste Kontakt nämlich ist ein exklusiver: Bran, Connla und Cormac haben eine spezifische Rolle während dieser ersten Kontaktaufnahme und nicht ohne Grund erwächst die Motivation ihrer späteren Reisen aus diesem ersten Kontakt. In Immram Brain wendet sich die Frau in ihrer Anderweltbeschreibung direkt an Bran,185 umgekehrt sprechen sowohl Connla als auch Cormac die Fee bzw. den Krieger direkt an und fragen nach ihrer Herkunft.186 In allen drei Fällen entspinnt sich so ein kurzer Dialog, während dessen sich die Figuren noch einmal explizit in ihrer Anderweltlichkeit identifizieren: dezidiert gegenüber den Protagonisten.187 Bran ist allein unterwegs, als er die wunderbare Musik hört und den Blütenzweig findet. Die Frau, die später in seiner Burg von der Anderwelt erzählt, mag zwar vor allen Anwesenden des Hofes singen, jedoch weisen Zweig, spätere direkte Ansprache und ‚Einladung‘ einzig Bran als den wahren Adressaten aus. Die erste Begegnung – die erste ‚Anderwelterfahrung‘ – wendet sich immer spezifisch an die Protagonisten und motiviert und erlaubt dadurch erst ihre spätere Anderweltreise: Bran wird persönlich aufgefordert, zur Insel der Frauen zu reisen;188 Connla überkommt eine tiefe Sehnsucht 185 Vgl. Immram Brain, 29–30. 186 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27 bzw. Echtrae Chonnlai, 2. 187 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27, Immram Brain, 3–30 und Echtrae Chonnlai 3. 188 Vgl. Immram Brain, 29–30.
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nach der fremden Frau, der er begegnet war, und gibt dieser Sehnsucht nach einem retardierenden Moment schließlich nach;189 der Grund für Cormacs Reise liegt letzten Endes in den Komplikationen seines Tauschhandels mit dem Krieger.190 In jedem dieser Fälle zeigt sich bereits in dieser ersten Begegnung eine Exklusivität, die auf die Zugänglichkeit der Anderwelt bezogen und gelesen werden muss. Im Immram Brain wird in diesem Zusammenhang insbesondere der Anderweltzweig funktional: Bran findet ihn, erlebt ihn in wunderbarer Weise, geht mit ihm zurück zum Hof. Hier horcht er der Anderweltfrau, die wiederum nach ihrem Gesang Bran den Zweig, den er während ihres Gesanges gehalten haben muss, abnimmt. Zusammen mit dem Zweig verschwindet sie. Der Zweig wird so zu einem Mittel der direkten Ansprache an Bran, der ihn letztlich in die Anderwelt zieht: „A branch of the apple-tree from Emain / I bring, like those one knows; / Twigs of white silver are on it, / Crystal brows with blossoms.“191 Er ist Medium des ersten Anderweltkontakts und zugleich ein so bekanntes Zeichen dieser Anderwelt, dass die Frau ihn zur Legitimation ihrer selbst heranziehen konnte. Sobald die fremde Frau den Zweig schließlich mit sich (in die Anderwelt) nimmt, wird er zudem direktes Bindeglied zwischen Ausgangs- und Anderwelt. Er ist Signifikant und Signifikat der Anderwelt, direkt mit Bran und der Frau verknüpft und dadurch Schlüssel, der allein Bran den Zugang zur Anderwelt gewähren kann. Der Einbruch der Anderweltfrau in die Normwelt wird durch Brans eigenen Übertritt in die Anderwelt symmetrisch nachvollzogen; das Versprechen des Apfelzweiges einer Anderwelt über die Erfahrung Brans eingelöst, dem somit erzählstrukturell eine Ausnahmerolle zugewiesen wird. Ähnlich, wenn auch weniger komplex ausgearbeitet, geschieht dies auch bei Cormac und Connla: Connla ist zwar bei der ersten Begegnung mit seinem Vater unterwegs, doch er allein kann die Anderweltfrau sehen192 und er allein wird von ihr eingeladen, mit ihr in ihre Heimat zu fahren.193 Cormac, der bei der Begegnung mit dem Krieger allein war, ist der einzige, der ihm in die Anderwelt folgen kann;194 wie sich später herausstellt vermochte das nur er, weil er allein von dem Krieger/dem Gott Manannán auserwählt wurde: 189 Vgl. Echtra Chonnai, 13; 15. 190 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27. 191 Immram Brain, 3: Cróeb dind abaill a hEmain, / do-fet samail do gnáthaib,/gésci findarc(a)it forra / abrait glana co mbláthaib. 192 Vgl. Echtrae Chonnlai, 4. 193 Vgl. Echtrae Chonnlai, 5; 9. 194 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 32: Er und „every one“ folgt dem Krieger, es kommt Nebel auf, und Cormac findet sich allein auf einer großen Ebene. Diese Szene unterscheidet sich von Echtra Cormaic i Tír Tairngiri II, wo Cormac dem Krieger allein folgt, vgl. Hull 1949, S. 878–879.
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„[…] and to see the Land of Promise was the reason I brought (thee) hi ther.”195 Die Anderweltreisenden sind also die Ausnahme, nicht die Regel. Die bereiste Anderwelt präsentiert sich als eigentlich unzugänglich oder zumindest klar abgegrenzt von der restlichen Welt, wie sich das auch in Echtra Chonnlai wie Echtra Cormaic i Tír Tairngiri über die Art und Weise des Zugangs manifestiert: Im Fall Connlas fahren er und die Frau in ihrem gläsernen Anderweltboot zu den Anderweltinseln,196 Cormacs Übertritt in die ‚andere‘ Welt wird von einem tiefen Nebel begleitet, der Cormac alleine auf einer großen Ebene zurücklässt.197 Es bedarf des Momentes des anfänglichen ‚Einbruchs‘ zusammen mit einer exzeptionellen Einladung, in christlicher Terminologie entspräche das wohl dem Moment der ‚Gnade‘, um damit die auserwählten Protagonisten die Anderwelt von der Normwelt aus überhaupt erreichen können. Die Reisen von Bran, Cormac und Connla bleiben bis zuletzt die Ausnahme, weil sie selbst in den jeweiligen Erzählungen Ausnahmefiguren sind. Die Anderwelt als Gesamtes kann so ein signifikant ‚Anderes‘ bleiben: ein eigentlich unzugänglicher Raum, der nur von auserwählten Figuren erfahren werden kann und der über seine besondere Zugänglichkeit und in klarer Differenz zu der referentiellen Norm der Rahmenhandlung zu einem Sonderraum der Erzählung werden kann. Utopie Wie bereits angedeutet, entstanden immrama und echtrai im kulturellen Spannungsfeld von Christianisierungstendenzen. Auch die christliche peregrinatioBewegung, die Suche nach einem spirituellen Heil jenseits oder auf Inseln des Ozeans mag für die Gewichtung der ‚Insel‘ als eines Raums des spirituellen Heils eine Rolle gespielt haben.198 Hinzu kommt, soweit das überhaupt rekonstruierbar ist, die Bedeutung des Inselraums in der keltischen Religion.199 Wieso die Anderwelt in den verschiedenen Erzählungen ausgerechnet auf Inseln verortet wurde, mag vor diesem kulturellen Hintergrund erklärt werden können. Für ihre narrative Ausarbeitung, eben immer wieder auf Inseln, entwickelt sich die spezifische Raumdynamik allerdings 195 Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 53: […] ocus […] is aire doradus alle d’ fhechsain Tíri Tarrngire. 196 Vgl. Echtrae Chonnlai, 15. 197 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 32. Diese Markierung mit einem Nebel findet sich auch in Echtra Cormaic i Tír Tairngiri II, zitiert nach Hull 1949, hier S. 879. 198 Vgl. zur peregrinatio Kapitel 2.2.2. 199 Vgl. Le Roux-Guyonvarc`h 1971, S. 271: „Jedoch ist immer das perfekte Heiligtum und Kultzentrum die Insel selbst gewesen, entweder kleine wie Sein (bret. enez Sun) unweit der westbretonischen Küste, oder eine große wie Irland oder Großbritannien selbst.“
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weniger durch kulturelle Setzungen von Heilsräumlichkeit, sondern vielmehr über die Dynamisierung einer Differenz von anderweltlichem Inselraum und normweltlichem Ausgangsraum. Es ist diese Relation, die die Insel zum Ausnahmeraum macht. Prinzipiell handelt es sich bei den Räumen der Anderwelterzählungen um Räume utopischer Motivik. Sie sind, teils auch explizit, dargestellt als relationale Gegenwelten und ex negativo bestimmt durch die Abwesenheit von negativ konnotierter Weltlichkeit. Es herrscht hier ein ewiges Fest und Frieden200 – anders als in der Welt. „Amidst the short-lived dead awaiting terrible death“201 kennen die Bewohner der Anderwelt weder Alter noch Trauer oder Tod – bestimmende Prinzipien der Welt sind also ausgesetzt.202 Die einzelnen Inseln, laut dem Immram Brain sind es ganze 150 im Westen Irlands,203 haben stattdessen jeweils unterschiedliche, uneingeschränkt positive Charakteristika: Überfluss an Nahrung und materiellem Reichtum,204 Freude,205 Glück206 und Gesundheit207 sind nur einige davon.208 Hinzu kommen für die erzähllo200 Vgl. Echtrae Chonnlai, 3. 201 Echtrae Chonnlai, 9. 202 Vgl. Echtrae Chonnlai, 5; Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27; Immram Brain, 44. 203 Vgl. Immram Brain, 25. 204 Vgl. Immram Brain, 12–13; 40. 205 Vgl. Immram Brain, 8. 206 Vgl. Immram Brain, 21. 207 Vgl. Immram Brain, 21. 208 Diese utopische Motivik findet sich natürlich auch in (Insel-)Räumen antiker Texte wie etwa der Odyssee. So herrscht im Land der Zyklopen müheloser Überfluss, ohne jede politische Struktur (vgl. Homer, Odyssea, IX, 106–115), in Syria gibt es keinen Hunger (vgl. Homer, Odyssea, XV, 403–414) und die Ziegeninsel ist eine unerschlossene Wildnis mit Wiesen, Reben, einer Grotte, einem Quell und schattenspendenden Pappeln (vgl. Homer, Odyssea, IX, 116–141). Auf Ogygia, der Insel der Kalypso (vgl. Homer, Odyssea, V, 55–74) gibt es Reben, eine Grotte, vier Quellen, Vögel und ebenfalls Pappeln. Diese wesentliche Sonderräumlichkeit der Inseln der Odyssee jedoch ist nicht an Zugangsbeschränkungen oder andere Begrenzungsmechanismen (Strukturmerkmal I) gekoppelt und wird so nicht auf die Weise funktionalisiert, wie es in den Anderweltinseln nachweisbar ist. Die funktionale Unterscheidung der Inseln der Odyssee geschieht nicht über den Raum, sondern den kulturell bestimmten geographischen Marker des Okeanos: Über ihn wird eine horizontale Trennung der Welt in bekannt (κόσμος) und unbekannt (ἄπειρον) vorgenommen (vgl. Eliade 1991, S. 37–38) – also in zwei Einflussbereiche, als deren strukturierendes Äquivalent eine Form von Jenseits gelten muss. Sowohl durch diese Negation des Bekannten als auch durch verschiedene jenseitige Überlagerungsfiguren werden die Inseln des Okeanos so zu einem unbekannten ‚Anderen‘ in der diesseitigen Welt, vgl. dazu Gillis 2004, S. 9: „By constructing their mythical geography in this dichotomous way, the Greeks managed to project all they found disturbing beyond their shores, thus reinforcing their own unshakeable sense of earthly order.” Auf der Basis dieser Alteritätslogik werden Räume gradueller Jenseitigkeit wie das Elysion, Kalypsos Ogygia, die Insel der Seligen oder der Eingang zur Unterwelt (vgl. Homer, Ilias, XXIV, 11–14) im Okeanos erzählt. Zugleich werden fremdartige Völker und Wesen (Äthioper (vgl. Homer, Ilias, I, 423–424), Pygmäen (vgl. Homer, Ilias, III, 5–6), Kimmerer (vgl. Homer, Odyssea, XI, 13–14), Hesperiden (vgl. Hesiod, Theogonia, 212–213), Harpyien (vgl. Homer, Ilias, XVI, 150)
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gische Funktionalität der einzelnen Erzählungen relevante Fokussierungen der utopischen Motivik. Der Anderweltraum kann so frei von aller Lüge209 oder auch ausschließlich von Frauen bewohnt sein.210 Im Detail ist dabei für die Inselbeschreibungen immer wieder eine locus amoenus-Topik prägend: Es gibt Bäume mit Vögeln,211 die harmonisch singen – Musik ist ohnehin ein Motiv, das immer wieder auftaucht,212 – und bunte Ebenen mit Blüten.213 Das zentrale Element der Anderweltfigurierungen scheint in jedem Fall auch hier wiederum die klare, in dieser Hinsicht qualitative Abgrenzung der Anderwelt von der Normwelt zu sein: „Whence hast thou come, O warrior?“ says Cormac. / „From a land” he replied, „wherein there is naught save truth, / And there is neither age nor decay […]” / „It is not so with us,” says Cormac.214
Was die anfänglichen Begegnungen der Anderweltfiguren mit den Protagonisten vorbereitet hatten wird also während der Reise, in der Erfahrung der ‚anderen‘ Räume, inhaltlich semantisiert. Konzeptionell übersteigen und unterlaufen die ‚anderen‘ Inselräume, mit denen sich der lebensweltliche Reisende konfrontiert sieht, die lebensweltlichen Erwartungen, die er an sie anlegt – in seiner Perspektive auf eine utopische Art und Weise. Sowohl der Einbruch der Anderwelt in die Lebenswelt als auch die Erfahrung der Anderwelt durch den lebensweltlichen Protagonisten werden fortwährend in der Spannung gezeichnet, die das Erzählen eines Überganges binärer Weltlichkeiten narratologisch mit sich bringen muss. und der Geryoneus (vgl. Hesiod, Theogonia, 282–289)) in den Okeanos versetzt. Es ist allerdings der Okeanos, nicht die Dynamik des Inselraumes, der die Zugangsbeschränkung und wesentliche Alterität (als Jenseits oder in der Differenz zur Norm) formuliert. 209 Vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27. 210 Vgl. Immram Brain, 62. 211 Vgl. Immram Brain, 7. 212 Vgl. Immram Brain, 8; 24. 213 Vgl. Immram Brain, 8; 34; 39. 214 [Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27: „Can doluidh, a oclaigh?” ol Cormac. „A tír nach bidh acht fír,” ol se, „ocus nach fuil æis nó ercra […]” „Ni hamlaid duind,” ol Cormac.] Dass es in dem Land des Kriegers (Manannáns) ‚nichts als die Wahrheit‘ gibt, verwundert angesichts der großen Bedeutung des Kelchs der Wahrheit nicht: „Cormacs Reise zu Tir Tairngiri“ ist zumindest im Fall von Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I in einen größeren Erzählzusammenhang über Cormac eingebettet. Die Anderwelterzählung soll hier begründen, wie Cormac an Manannáns (also des Kriegers) Kelch der Wahrheit gelangt ist: nämlich in der Anderwelt. Dass diese Anderwelt wiederum schon vor Cormacs Besuch durch ‚nichts als die Wahrheit‘ gekennzeichnet ist, ist in diesem narrativen Funktionszusammenhang begründet. Hinzu kommt eine Beschreibung des anderweltlichen Raums in Relation zur ‚normalen‘ Welt: Wie auch in der locus amoenus-Topik, die einen Schwerpunkt auf idealtypische Momente legt – keine Krankheit, kein Tod, kein Unwetter – steht ein Raum der uneingeschränkten Wahrheit der nicht-anderweltlichen Normwelt diametral gegenüber und ist entsprechend wesentlich als Idealort abgegrenzt.
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Inkommensurabilität Die Anderwelt ist ein Konzept, das trotz einer binären Strukturierung zweier Weltlichkeiten Übergangsphänomene denkt. Diese Übergangsphänomene werden in den immrama und echtrai erzählt, indem die Problematik des Übergangs über Zugangsrelationen und utopische Motivik narratologisch verhandelt und damit die Binarität beider Welten weiterhin aufrechterhalten wird. Die symmetrische Spiegelung beider Welten unterscheidet dabei das Konzept der Anderwelt signifikant von der Erzählung christlicher Jenseitsräumlichkeit, die eine absolute Transzendenz trotzdem als Direktiv beibehalten und damit eine Gradualität denkbar machen.215 Trotzdem findet sich auch bei der Figurierung anderweltlicher Übergangsphänomene ein Aspekt, der die narratologische Figurierung immanenter Jenseitsräume späterer christlicher Texte durchaus vorstrukturiert: Die Anderwelt ist nicht nur zugangsbeschränkt, utopisch und eben ‚anders‘. Sie ist narratologisch und narrativ betrachtet vor allem auch ein Raum, der den Mitteln der Normwelt inkommensurabel ist:216 The Otherworld is nearby, perhaps indeed immediately present, but hidden and alien as well. […] All of these anomalies and contrasts point to the idea of a world which, although immanent everywhere and under certain circumstances accessible, nevertheless transcends and is incommensurate with our own. The Otherworld is not, properly speaking, assigned different locations by the Irish: rather, it exists in no definable spatial relationship [Hervorhebung J. C.] with the mortal realm.217
Wie die Untersuchung ausgewählter Anderwelterzählungen zeigen konnte, sind die jeweiligen Anderwelten an verschiedenen Orten zugänglich. Für Bran und Connla waren sie im Rahmen einer Seereise auf Inseln erfahrbar, während Cormac in einem Moment auf der Ebene der Normwelt ist, um sich im nächsten Moment auf der Ebene der Anderwelt wiederzufinden. Wie John Carey hier zusammenfasst, scheint die Anderwelt also einem Konzept zu folgen, das eher eine Überlagerung beider Welten impliziert, als dass es sich um zwei räumlich differente Bereiche handeln würde. Die ‚Entfernung‘ zwischen Anderwelt und Normwelt mag dabei zwar teilweise kommuniziert werden,218 aber es ist nicht allein die Überwindung einer räumlichen Entfernung, die den Zugang in diese überlagerte Welt er215 Vgl. S. 5–8. 216 Das Moment der Inkommensurabilität ist für die Raumdynamik der Insel neu und in der Anderweltkonzeption begründet. Antike Inselnarrative wie Elysion oder Inseln der Seligen weisen es in dieser Ausformung nicht auf. 217 Carey 1983, S. 7. 218 Vgl. Echtrae Chonnlai, 14.
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möglichen würde. Wie bereits gezeigt wurde, bedarf es zunächst der ‚Qualifizierung‘ des Reisenden, er muss ‚auserwählt‘ sein, und die Reise in einer ganz spezifischen Art und Weise vollziehen, um die Anderwelt erreichen zu können. Obzwar sie zum Zwecke der Reisebeschreibungen teilweise in etwa zeitlichen Relationen erzählt wird, ist das Verhältnis von Anderwelt und Normwelt nicht allein räumlich über einen topographischen Zusammenhang zu denken. Die Reise zu ihr ist vielleicht eine Reise von bestimmter zeitlicher Länge, aber allein räumlich-kategorial ist die Anderwelt nicht verortbar. Ein weiteres Beispiel dieser Überlagerungsstruktur, die eine überall immanente und doch allein über die Kategorie der Räumlichkeit unzugängliche Anderwelt bedeutet, verdeutlicht der Immram Brain. Als Bran auf der Seereise zur Insel der Frauen Manannán trifft, erzählt dieser ihm, wie sich seine Umgebung in den Augen der Anderwelt zeigt: „What is a clear sea / for the prowed ship in which Bran is, / is a pleasant plain with abundance of flowers / for me in a two-wheeled chariot.”219 In einer jeweils gespiegelten Verspassage deutet Manannán Bran die unmittelbare Umgebung ihrer Zusammenkunft; jeweils zwei Verse sprechen aus der Perspektive der Anderwelt, zwei aus der Brans. Das Überflussmotiv, die idyllische Landschaft wie auch die Namen, die Manannán dabei nennt – Mag Mór (die große Ebene) bzw. Mag Mell (die Ebene der Glückseligkeit) – weisen den Raum als anderweltlich aus. Was für Bran das Meer unter seinem Boot ist, ist eigentlich eine Blumenwiese, wo Bran Seepferdchen sieht, sieht Manannán einen Honigfluss, Lachse sind Kälber und das weite Meer ist eigentlich voller Kutschen.220 Beide Perspektiven sind über eine strenge Äquivalenz eng mit einander verknüpft und an die Perspektive ihrer personellen Äquivalente – Bran bzw. Manannán – gebunden. Bei dieser kontrastierenden Gegenüberstellung der beiden Perspektiven desselben Raumes allerdings erfolgt weder eine hierarchische Wertung hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs noch eine qualitative hinsichtlich der perspektivierten Realitäten. Der Raum, in dem sich Bran und Manannán zum Zeitpunkt der Begegnung treffen, ist sowohl Welt als auch Anderwelt. Beide Seinsweisen sind – unabhängig voneinander und trotz der Paradoxie eines Meeres, das zugleich Blumenwiese sein soll. Auch darf man diese Situation nicht allein als eine allegorische Auslegung lesen, an der Unmittelbarkeit der Anderweltperspektive lässt allein das faktual erzählte Gegenüber Manannáns in seiner Kutsche für Bran und den Leser keinen Zweifel. Der Fokus liegt hier stattdessen auf der perspektivischen Alterität und der epistemologischen Zugangsregulation einer Anderwelt, die Bran trotz seiner unmittel219 Immram Brain, 34: A n-as muir glan / don noí bro(i)nig i-tá Bran, / is mag meld co n-immut scoth / damsa i carput dá roth. 220 Vgl. Immram Brain, 33–40.
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baren Nähe nicht einsehen kann und deren gedoppelte Perspektivierung einzig Manannán, ein Gott, einnehmen und in den kontrastiven Versen synthetisieren kann. Normwelt und Anderwelt sind überlagert, im selben Raum figuriert und in dieser Doppelstruktur doch einzig durch Manannán wahrgenommen und dialektisch vermittelbar. Auch die Erzählung jedoch vermag sie nur in der alternierenden Abfolge, sukzessiv nebeneinander statt in der faktischen Doppelung, zu beschreiben. In der Konsequenz bleibt die Anderweltlichkeit, die Manannán beschreibt – ein negatives Beispiel der bereits skizzierten Zugangsbegrenzung – für Bran außer in der Erzählung nicht wirklich fassbar. Wo Manannán die Anderweltlandschaft sieht, da ist für Bran nichts als Meer. Manannán kann ihm von dieser anderen Welt zwar erzählen, die Fische, das Meer und die Gischt in der Erzählung als Bilder entstehen lassen, doch die beschriebene Welt bleibt Bran realiter verborgen. Diese Überlagerungsstruktur ist e ines von vielen Inkommensurabilitätsmomenten des Anderweltnarrativs: In der Kategorie von Räumlichkeit, wie sie der Normwelt und der Perspektive Brans zugrunde liegt, kann die Anderwelt der Normwelt nicht eingeordnet werden, sie vermag räumlich-topographisch nicht relational wahrgenommen werden.221 Die Inkommensurabilität zeigt sich in ähnlicher Weise in der komplexen Zeitstruktur der Anderwelt. Die fremde Frau etwa verspricht Connla, in der Anderwelt unter den Unsterblichen ein Leben ohne Alter und Tod zu führen, wie auch sie selbst nie altert.222 Was Bran und seinen Gefährten wie ein einziges Jahr auf der Insel der Frauen erscheint, erweist sich als viele Jahre.223 Verglichen mit der Normwelt der Erzählungen, dem erzählten Irland, aus dem die Protagonisten ihre Reise beginnen, hat die Anderwelt einen grundlegend anderen Zeitbegriff. Normweltliche Zeitlichkeit scheint hier ausgesetzt zu sein oder zumindest grundsätzlich anderen Kategorien zu gehorchen.224 Von Seiten der Erzählung, in der narrativen Beschreibung des inkommensurablen Gegenübers von Normwelt und Anderwelt, kann die wesentliche Alterität der beiden Räume nur über solche Momente der Asymmetrie, in den skizzierten Fällen durch heterochrone Momente asymmetrischer Zeitlichkeit beschrieben werden.
221 Das zeigt sich auch in verschiedenen Ortsanomalien bei der Überschreitung der ‚Schwelle‘ zwischen Welt und Anderwelt: Ein Beispiel dafür wäre Cormac, der an einem anderen Ort in der Normwelt wieder aufwacht, als er die Normwelt in Richtung der Anderwelt verlassen hatte, vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri II, S. 877; 883. Für weitere Beispiele vgl. Carey 1983, S. 3–4. 222 Vgl. Echtra Chonnlai, 2, vgl. auch Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I, 27. 223 Vgl. Immram Brain, 62. 224 Für weitere Beispiele vgl. Carey 1983, S. 7–8, hier besonders Anm. 45.
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Die Anderwelt wird also nicht nur räumlich und wesentlich von der Normwelt abgegrenzt. Zu den Momenten der Zugangsbegrenzung und den Momenten ‚utopischer‘ Motivik kommt im Konzept der Anderwelt das Moment der Inkommensurabilität: Die Aussetzung von normaler Räumlichkeit und die heterogene Struktur anderweltlicher Zeitlichkeit schafft die Bedingungen für das narratologische Konzept einer Anderwelt, die als absolut ‚Anderes‘ semantisiert wird. In der räumlichen Ausarbeitung ist die Anderwelt dabei in Konsequenz der kategorialen Brüchigkeit des transzendenten Raumes relativ flexibel – sie kann in Form etwa einer Insel dargestellt werden, muss es aber nicht. In jedem Fall wird sie für den reisenden Protagonisten und den Leser Ausdruck einer binären Struktur von Welt und Anderwelt und dynamisiert diese entsprechend ästhetisch über Momente der utopischen Alterität, der kategorialen Brüchigkeit und Inkommensurabilität. Wie im Zuge der Einzelanalysen zu zeigen sein wird, steht dieses Konzept der absoluten Trennung im Zentrum der narratologischen Figurierung immanenter Jenseitsräumlichkeit als ‚Zwischenraum‘. Die Überlagerung zweier Seinsweisen zeichnet bereits die strenge Unterscheidung in Diesseits und Jenseits und deren Überlagerung mit Kategorien der epistemologischen Zugänglichkeit vor, als deren erzählerische Lösung schließlich die Zwischenräume der NSB gelesen werden können.
2.2.2 Die Transzendenz von Meer und Wüste Neben der narratologischen Konfiguration der Anderwelt werden die Zwischenräume der NSB über die Vorstellung des anachoretischen Heilsraums dimensioniert. Wie bereits angedeutet, verließen seit dem sechsten Jahrhundert Mönche wie Columbanus Irland, um in der peregrinatio pro amore Dei, auch peregrinatio propter nomen Domini oder nur peregrinatio genannt, eine besondere Form der Weltentsagung zu verfolgen.225 Als peregrini lösten sie
225 Zum irischen Modell der peregrinatio vgl. Maddrell und Scriven 2016 und Johnston 2013, S. 42–50, sowie den in der (deutschen) Forschungsliteratur noch immer prägenden Aufsatz von Arnold Angenendt (1982). Neben einer grundlegenden Bestimmung des Modells vor der Folie der Vita Columbani des Jonas von Bobbio zielt der Aufsatz darauf ab, die Auswirkungen der irischen peregrinatio auf den Kontinent, beispielsweise über den Ort verschiedener Klostergründungen, nachzuweisen. Schon die immrama sind in ihren Ansätzen bestimmt durch diese irische Praxis, ‚neuere‘ Forschungen betrachten die immrama sogar explizit als eine Narrativierung der peregrinatio-Erfahrungen, vgl. Wooding 2000. Letzten Endes jedoch läuft dieses Problem ein weiteres Mal auf die Frage nach dem Grad ihrer Ursprünglichkeit vs. dem Grad ihrer Christianisierung hinaus, die nicht befriedigend beantwortet werden kann. Die Texte, die uns die keltischen Erzählungen überliefern, sind nun einmal mit einem christlichen Impetus verfasst, geschrieben, gesammelt worden: Ob die
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alle Verbindungen zum Heimatland und gaben soziale Beziehungen, Besitz, sowie rechtlichen Status auf, um als Fremde sowohl in der Heimat als auch an ihrer Destination (zumindest idealiter) fernab der gewohnten sozialen Strukturen ein spirituelles Leben zu führen.226 Wie schon die Wüstenväter vor ihnen, suchten sie auf dem Meer ein desertum, wie es im kulturellen und geographischen Raum Irlands nur auf Inseln zu finden war.227 Ob dies in einen Missionierungsimpuls wie bei den irischen Wandermissionaren mündet,228 ist dabei nachgeordnet. Diskurszusammenhänge Die irische peregrinatio greift anachoretische Impulse wie die Forderung nach dem Verlassen des Elternhauses und weitere Momente der ‚freiwilligen Selbstaufgabe‘ auf und transferiert diese auf den Modus der Seereise. Der Diskurszusammenhang der irischen peregrinatio mit der Anachorese der Wüstenväter wird dabei nicht nur durch das Eremitentum und den so impliziten gemeinsamen Redegegenstand offenbar. Beide Diskurse teilen ähnliche „Regularitäten der Rede“229 – indem sie etwa dieselben Bibelstellen zur Legitimation ihrer spezifischen monastischen Impulse heranziehen –, die wiederum narratologische Konsequenzen für das Erzählen dieser spezifischen Impulse mit sich bringen.
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immrama vor der Folie der peregrinatio entstanden sind oder die immrama gerade deshalb später so beliebt waren, weil ihr Erzählsubstrat Ähnlichkeiten zur peregrinatio aufwies, wird nicht geklärt werden können. Die Endgültigkeit dieses Lebensmodells wie seiner Konsequenzen dürfen dabei keineswegs unterschätzt werden, schließlich war die peregrinatio als eine Form des Exils auch als ein Akt der Verbrechensbuße im altirischen Recht verankert, vgl. Angenendt 1982, S. 54–56. Diese Form der Weltabkehr galt um 700 – wohlweislich zu einer Zeit, als die Wikinger noch keine Gefahr waren und ein tatsächliches Martyrium im irischen Raum die Seltenheit gewesen sein muss – selbst explizit als eine Form des Martyriums. Vgl. dazu beispielsweise Adonmnán von Iona, Vita Columbae, I, 6, zitiert nach der Edition Anderson und Anderson 2002 [1961]: herimum in ociano [Einöde im Meer]. Wie Arnold Angenendt (1972) zeigen konnte, entstanden aus einer (christlichen) anachoretischen Idee von Weltaufgabe und damit aus dem Drang, der Welt ein Fremder zu sein, verschiedene klösterliche Niederlassungen von Iroschotten, etwa in Reichenau, Rheinau, Honau, Arnulfsau und Kaiserwerth. Darunter waren auch ganz besonders Niederlassungen auf Inseln – in der besonderen Bedeutung der Insel für den irischen Kulturraum und im peregrinatio-Impuls begründet. Beispiele für Inselgründungen wären Iona (vgl. Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, II, 4, zitiert nach der Edition von Crépin und Lapidge 2005/1) oder Lindisfarne (vgl. Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, III, 3, zitiert nach der Edition Crépin und Lapidge 2005/2). Weitere Beispiele sind bei Angenendt 1972, S. 57–58 aufgeführt. Titzmann 1989, S. 52, vgl. zum Diskursbegriff der Arbeit S. 28–29.
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Die irische peregrinatio dynamisiert dabei Implikationen der Wüstenväteranachorese: ein Zusammenhang, der in der Gegenüberstellung zweier exemplarischer Texte, der Vita Columbani des Jonas von Bobbio und den Collationes des Johannes Cassian aufgezeigt werden kann und der die Erzählung der NSB nicht unerheblich dimensioniert.230 Bei der Vita Columbani handelt es sich um eine Lebensbeschreibung des irischen peregrinus Columbanus, welche in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts von Jonas, einem Mönch seiner letzten Klostergründung in Bobbio, verfasst worden ist.231 Sie bildet die konzeptionelle Grundlage dessen, was in der modernen Forschung als peregrinatio begriffen wird,232 und wird so auch im Folgenden für diesen kulturellen Diskurszusammenhang als Beispiel herangezogen werden. Die Collationes (Anfang 5. Jahrhundert) sind eine Sammlung von 24 Gesprächen, die ihr Autor, Johannes Cassian, mit Wüstenvätern geführt haben will. Sie bilden ein umfassendes asketisches Programm ab, das komplementär zu einem weiteren Text des Autors, den Institutiones, verstanden werden muss.233 Im Mittelalter waren sie weit verbreitet,234 über die Benediktregel fester Bestandteil der monastischen Lektüre235 und dem Autor der Vita Columbani, Jonas von Bobbio, nachweislich bekannt.236 Sie sind exemplarisch für den spätantiken Wüstenväterdiskurs, als Schlüsseltext eremitischer Lebensführung bestimmend für weitere Diskurse und durch die große Verbreitung diskurshistorisch ein wichtiger Ansatzpunkt für die narratologische Konfiguration der irischen peregrinatio. Beide Texte berufen sich bei der Figuration des anachoretischen Impulses auf Gen 12,1: Dixit autem Dominus ad Abram egredere de terra tua et de cognatione tua et de domo patris tui in terram quam monstrabo tibi. [Der Herr sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!]
230 Für eine erste Parallelisierung der Vita Columbani mit den Idealen Johannes Cassians vgl. Angenendt 1982, S. 52–54. Im Kleinen lässt sich diese Übertragung auch an der intertextuellen Relevanz der Vita S. Macarii Romani (ediert in der PL 73, Sp. 415–428) für die NSB zeigen: Wie Giovanni Orlandi nachweisen konnte (1968, S. 113–115), dient auch dieser Text – die Suche dreier mesopotamischer Mönche nach dem irdischen Paradies in der Wüste – als Vorlage der NSB. An die Stelle der Wüste tritt das Meer. 231 Vgl. Diem 2007, S. 522, hier auch Hinweise auf weitere Forschungsliteratur. 232 Vgl. Flechner und Meeder 2016, S. 244, hier auch weitere Literaturhinweise. 233 Vgl. einführend Harmless 2004, S. 373–388. 234 Vgl. Chadwick 21968, S. 148–162. 235 Vgl. Benedicti regula, 42, 3. Die Collationes sind zudem über eine Vielzahl an Zitationen in der Benedicti regula präsent, vgl. Diem 2008, S. 326. 236 Vgl. Chadwick 21968, S. 149, Anm. 1.
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Die drei Entsagungen, die der Patriarch Abraham vollbringen muss – Heimat, familiäre Verbindungen und Vaterhaus – sind notwendige Ausgangsbedingungen des monastischen Lebens und sind so sowohl in den Collationes237 des Johannes Cassian als auch in der Lebensbeschreibung des Iren Columbanus238 für die Anachorese handlungsbestimmend.239 Sowohl die Wüstenväter als auch die peregrini greifen in der Begründung ihrer Weltflucht auf dieses Berufungswort zurück und figurieren sich in der Nachfolge Abrahams. Die Kulturalität der irischen peregrinatio, wie sie Texte wie die Vita Colum bani oder auch die NSB erzählen,240 ist durch diesen Diskurszusammenhang bestimmt. Allerdings erhält die Anachorese der peregrinatio, verglichen mit den Wüstenvätererzählungen, im Rückgriff auch auf ebendiese Bibelstelle, ein weiteres zentrales Element. Während nämlich für den Wüstenväterdiskurs, wie ihn Johannes Cassian abbildet, der Begriff des peregrinus, des peregrinari über das Motiv des Wanderns (auf Erden, im Körper, weg von Gott) ‚nur‘ eine relative Nähe zu Gott bezeichnet,241 expliziert die irische peregrinatio diese Wanderung als dynamische Bewegung. Sie ist nicht mehr nur primär im epistemologischen Sinne prozessual gedacht, sondern eben auch räumlich. Die relative räumliche Statik, die die Wüstenväteranachorese gedacht hatte, wird in der Reisebewegung überblendet. Der Entsagungsgestus Abrahams wird nun auch räumlich formuliert und wesentlich als Transzendierung gedacht: als Transzendierung des Körpers, aber eben auch des Raumes, hin zu Gott. Beide Aspekte sind in der narratologischen Konfiguration der peregrinatio relevant und sind damit auch von Konsequenz für die kulturellen Narrative der NSB. Transzendierung des Körpers Grundsätzlich ist in den Collationes Johannes Cassians die asketische Anachorese das Leben in einem Spannungsverhältnis zwischen weltlicher Körperlichkeit und potentieller Entkörperung bei Gott. Die Anachorese ist damit immer auch ein Weg der Entkörperung, der Gestus der Weltabkehr, wie ihn das Berufungswort Abrahams vorgibt, ist kategorial gedacht. 237 Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 4, 1; III, 6, 2. Hier und im Folgenden zitiert nach der Edition Petschenig und Kreuz 22004. 238 Vgl. Jonas von Bobbio, Vita Columbani, I, 4, S. 159, Z. 7–11. 239 Sie entsprechen, was natürlich dem Diskurszusammenhang geschuldet ist, den ‚Entsagungen‘ der peregrini: Sowohl Columbanus als auch nicht zuletzt Brendan verlassen Verwandtschaft, Elternhaus und schließlich Heimatland im Zuge ihrer peregrinatio, wie es die Genesis-Stelle verlangt. 240 Vgl. Weitbrecht 2011, S. 183–185. 241 Vgl. besonders Johannes Cassian, Collationes, I, 14, im Rückgriff auf 2. Kor 5,6.
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Dementsprechend ist in der dritten Collatio die Rede von drei Entsagungen (abrenuntiationes) des anachoretischen Mönchs: prima est qua corporaliter uniuersas diuitias mundi facultatesque contemnimus, secunda qua mores ac uitia affectusque pristinos animi carnisque respuimus, tertia qua mentem nostram de praesentibus uniuersis ac uisibilibus euocantes futura tantummodo contemplamur et ea quae sunt inuisibilia concupiscimus.242 [Erste Absage: Wir verachten körperlich alle Reichtümer und [angeblich] notwendigen Güter dieser Welt. Die zweite: Wir weisen die Gewohnheiten, Laster und früheren Affekte der Seele und des Fleisches von uns. Die dritte: Wir ziehen unser Sinnen und Trachten von allem Gegenwärtigen und Sichtbaren ab, betrachten nur das Zukünftige und begehren Unsichtbares.]243
An die Stelle der körperlichen und affektiven Verbindung des Mönches zur irdischen Welt soll sein Verlangen nach Zukünftigem und Unsichtbarem treten und damit sein Verlangen nach etwas, das eigentlich außerhalb seiner epistemologischen Fähigkeiten liegt. Der Mönch soll seine irdische Körperlichkeit als lasterhaft, gegenwartsbezogen und jenseitsvergessen für eine Zukunft aufgeben, die ihm notwendigerweise unzugänglich bleiben muss. Diese Argumentation ist nicht neu. Bezeichnend allerdings ist ihre Verknüpfung mit Gen 12,1 und damit den drei Aspekten der Weltabkehr. Sie werden zu Momenten der anachoretischen Selbsttranszendierung umgedeutet: quae tria ut simul perficiantur etiam Abrahae legimus dominum praecepisse, cum dicit ad eum: e x i d e t e r ra tua, et de cognatione tua, et de domo patris tu i. primum dixit de t e r r a t u a, id est de facultatibus mundi huius opibusque terrenis: secundo de cognatione tua, id est de conuersatione et moribus uitiisque prioribus, quae nobis a nostra natiuitate cohaerentia uelut adfinitate quadam et consanguinitate cognata sunt: tertio de domo patris tui, id est omni memoria mundi huius quae oculorum occurrit obtutibus.244 [Wir lesen in der Schrift, dass der Herr dem Abraham befohlen hat, diese drei Verweigerungen auf einmal zu vollbringen, wenn er zu ihm sagt: ‚Geh weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters.‘ (Gen 12,1) Zuerst hat er gesagt: ‚Aus deinem Land.‘ Das bedeutet: Aus den Möglichkeiten und erdverhafteten Werken dieser Welt. Dann: ‚Aus deiner Verwandtschaft.‘ Das bedeutet: Aus unserem Lebenswandel sowie den früheren Gewohnheiten und Lastern, von denen wir wissen, dass sie von Geburt an mit uns verwachsen sind wie durch Familienzugehörigkeit und Blutsverwandtschaft. Drittens: ‚Aus dem Haus deines Vaters.‘ Das bedeutet: Von jedem Eindruck von dieser Welt, der sich dem leiblichen Auge bietet.]245
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Johannes Cassian, Collationes, III, 6, 1. Ziegler 2001, S. 118. Johannes Cassian, Collationes, III, 6, 2. Ziegler 2001, S. 118–119.
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Das Verlassen der terra tua entspricht hier der körperlichen Entsagung irdischer Güter, das Verlassen der cognatio der Entsagung des früheren Lebenswandels, das Verlassen der domus patris, der Entsagung der Erinnerung an alles Weltliche. An die Stelle der räumlichen Weltabkehr tritt so eine spirituelle, die sich hauptsächlich über die Relation des Anachoreten zur Welt manifestiert. Diese Uminterpretation von Gen 12,1 ist wichtig, da sie die Voraussetzung eines anachoretischen Konzeptes bildet, welche (körperliche) Selbsttranszendierung an Stelle einer räumlich fortschreitenden Weltabkehr denkt. Die Anachorese ist also ein Prozess der Transzendierung der Welt und der Annäherung an Gott – de uisibilibus ad inuisibilia transmigrantes [„indem wir vom Sichtbaren zum Unsichtbaren gelangen“].246 Funktional wird dabei ein dynamisches Gegenüber von Welt und Himmel (bei Gott). Dieses Spannungsverhältnis vollzieht sich verhältnismäßig unabhängig von der Räumlichkeit des Geschehens am Anachoreten, wiewohl natürlich die Weltabkehr als notwendige Bedingung der Anachorese weiterhin Bestand hat. Legitimation dieses Konzeptes bieten die Zitation von 2. Kor 4,18:247 non ea quae uidentur sed quae non uidentur: quae enim uidentur, temporalia sunt, quae autem non uidentur, aeterna. [uns, die wir nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare blicken; denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig.]
Außerdem zitiert Johannes Cassian mit leichter Abwandlung Phil 3,20248 – noster autem conversatio in caelis est. [Denn unsere Heimat ist im Himmel.] – sowie 2. Kor 5,1:249 scimus autem quoniam si terrestris domus nostra huius habitationis dossoluatur, quod habitationem habeamus ex deo, domum non manu factam aeternam in caelo [Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel.]
Funktional also ist eine Trennung von im weitesten Sinne Diesseits und Jenseits: Der Anachoret, obschon in der Welt, hat sich streng auf das Jenseitige (Ewige, Himmlische, Unsichtbare) auszurichten. Zu transzendieren gelte dem Anachoreten vor dieser Differenz die irdische Körperlichkeit, Zeitlich-
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Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 2, Übersetzung nach Ziegler 2001, S. 120. Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 6, 3. Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 6, 4. Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 2.
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keit und die Grenzen der irdischen Erkenntnisfähigkeit.250 Ziel ist es, nach der dreischrittigen Transzendierung der eigenen Weltlichkeit eine transzendente Außerweltlichkeit zu erlangen, im Zuge derer die Differenz von Welt und Himmel bei Gott in einem raptus aufgelöst werden kann: huius ergo renuntiationis tertiae veram perfectionem tunc merebimur obtinere, quando mens nostra nullo carneae pinguedinis hebetata contagio, sed peritissimis elimationibus expolita ab omni affectu et qualitate terrena per indesinentem diuinarum rerum meditationem spiritalesque theorias ad illa quae inuisibilia sunt eo usque transierit, ut circumdatam se fragilitate carnis ac situ corporis supernis et incorporeis intenta non sentiat atque in huiusmodi rapiatur excessus, ut non solum nullas uoces audito recipiat corporali nec in intuendis pretereuntium imaginibus occupetur, sed ne adiacentes quidem moles et ingentes materias obiectas oculis carnis aspiciat.251 [Wir werden also dann würdig erfunden werden, die wahre Vollkommenheit der dritten Absage entgegenzunehmen, wenn unser Geist durch keine Berührung mit dem Schmutz des Fleisches abgestumpft, sondern durch sachkundigstes Polieren blank und scharf, gereinigt von jeder Leidenschaft und irdischen Eigenschaft, durch das unablässige Nachsinnen über göttliche Dinge und mit dem Blick des geistigen Auges zu dem, was unsichtbar ist, übergesetzt hat, sodass er, in gespannter Erwartung des Himmlischen und Unkörperlichen, nicht fühlt, dass er mit der Gebrechlichkeit des Fleisches und dem Rost des Körpers umgeben ist. Er wird derart zu einem Außer-dem-Körper-Sein hinweggerissen, dass er weder mit dem körperlichen Gehör noch Laute vernimmt noch beim Blick auf Vergängliches mit Bildeindrücken besetzt wird, ja nicht einmal Gebäude der Umgebung oder große Bäume, die im Weg stehen, mit den leiblichen Augen sieht.]252
Der Anachoret also, nach unermüdlicher Transzendierung des eigenen Körpers, ist so sehr außerhalb seines Körpers, dass er, obzwar weiter in der Welt mit ihren akustischen und optischen Sinneseindrücken, diese nicht mehr mit seinen körperlichen Sinnen wahrzunehmen vermag. Die Art und Weise dieses Zustandes – in huiusmodi rapiatur excessus – mag zwar hier offenbleiben, sein Vollzug am Körper des Anachoreten, innerhalb einer Differenz von Fleisch (caro), Irdischem (terrena) auf der einen und von Unkörperlichem (incorporea), Himmlischen (superna) auf der anderen Seite jedoch ist manifest. Dies erklärt nicht zuletzt den folgenden Hinweis auf Henoch:
250 Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 6, 3–4: et exeuntes corde de hac temporali ac uisibili domo in illam in qua sumus iugiter permansuri nostros oculos mentemque dirigimus. quod tunc implebimus, cum in carne ambulantes non secundum carnem militare domino coeperimus […] [Indem wir nun im Herzen aus diesem zeitlichen und sichtbaren Haus ausziehen, richten wir unsere Augen und unseren Geist auf jenes [Haus], in dem wir dauerhaft bleiben werden. Wir führen dies dann aus, wenn wir, obwohl wir noch im Fleische wandeln (vgl. Röm 8,4), nicht anfangen, dem Herrn Kriegsdienst nach dem Fleisch zu leisten […], Ziegler 2001, S. 119]. 251 Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 3. 252 Ziegler 2001, S. 120–121.
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Cuius uidelicet ita dominus oculos cordis de universis praesentibus auocarit, ut ea non tamquam transitura, sed quasi transacta iam reputet et uelut inanem fumum in nihilum resoluta conspiciat, ambulansque ut Enoch cum deo ac de humana conuersatione moribusque translatus non inueniatur in praesentis saeculi uanitate.253 [Der Herr hat die Augen seines Herzens nämlich so sehr von allem Gegenwärtigen weggezogen, dass er es nicht nur vorübergehend, sondern gleichsam schon so wie irdischen Rauch in ein Nichts aufgelöst sieht. Wie Henoch wandelt er mit Gott, und über menschliches Tun und Gehabe hinausgehoben, wird er nicht in der Nichtigkeit dieser Welt erfunden.]254
Mit der Aufgabe der weltlichen Bande soll letztlich ein Zustand erreicht werden, in dem der Anachoret unabhängig von den weltlichen Dingen ist, in quasi-Entrückung zu Gott, wie sie Henoch erleben durfte.255 Die peregrinatio der Wüstenväter, die Johannes Cassian hier diskursprägend formuliert, ist eine Wanderbewegung, deren Dynamik im Gegenüber von Welt und Gott und nur sehr bedingt räumlich gedacht wird. Bestimmend ist die Vorstellung, auf Erden im leiblichen Körper ein Fremder (peregrinus) zu sein und des irdischen Lebens als Wandern (peregrinari) zu Gott.256 Die Collationes denken die Wüstenväteranachorese somit zwar in strikter Abkehr von Weltlichkeit, jedoch nicht in einem genuin räumlichen Sinne. Vielmehr figuriert sich diese Abkehr in der transzendierenden Auseinandersetzung des Anachoreten mit seinen Verbindungen zur Welt und der eigenen Weltlichkeit, zu der nicht zuletzt die eigene Körperlichkeit zu zählen ist. Zu transzendieren gilt diese irdische Körperlichkeit, die Räumlichkeit dieser Transzendierung hingegen tritt in den Hintergrund. Die Anachorese der Wüstenväter ist in ihrem Transzendierungsprozess nicht räumlich-prozessual, sondern eine selbsttranszendierende Bewegung des Anachoreten zu Gott.
253 Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 4. 254 Ziegler 2001, S. 121. 255 Zur Komplexität der Henochfigur, zu der sich Johannes Cassian in diesem Zusammenhang nicht äußert – tertium comparationis ist allgemeiner eine weltliche Außerweltlichkeit, deren Tatsächlichkeit bekannt, deren konkrete Gestalt jedoch unbekannt ist – vgl. S. 133–134. 256 Vgl. 2. Kor 5,6: audentes igitur semper et scientes quoniam dum sumus in corpore peregrinamur a Domino [Wir sind also immer zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, solange wir in diesem Leib zu Hause sind]; Hebr 11, 13: iuxta fidem defuncti sunt omnes isti non acceptis repromissionibus sed a longe eas aspicientes et salutantes et confitentes quia peregrini et hospites sunt supra terram. [Im Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur von fern geschaut und gegrüßt und sie haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind.]
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Transzendierung des Raumes Dieser Aspekt der Transzendierung qua irdischer Körperlichkeit ist der irischen peregrinatio zwar auch eingeschrieben, allerdings zumindest für die Vita Columbani nicht prägender Impuls. (Was für die NSB natürlich nichts heißen soll, auch der anachoretische Impuls wirkt hier selbstverständlich dimensionierend.) Bestimmend ist vielmehr die Vorstellung einer Transzendierungsbewegung qua Räumlichkeit. Wie bereits angedeutet, ist die peregrinatio des Columbanus nicht nur bezüglich der Weltabkehr, sondern auch bezüglich ihres Reiseimpulses im Berufungswort Gottes an Abraham begründet. Der Aufruf, terra, cognatio und domus patris verlassen – für Johannes Cassian Ausgangsbedingung des monastischen Lebens, für den er sich neben Apg 7,3 auf Lk 14,26 und Mt 19,21 beruft – erhält für die peregrinatio des Columbanus ein weiteres zentrales Element: Peractis itaque annorum multorum in monasterio circulis, coepit peregrinationem desiderare memor illius Domini imperii ad Abraham: Exi de terra tua et de cognatione tua et de domo patris tui et vade in terram, quam monstrabo tibi.257 [Und wieder waren viele Jahre im Kloster vergangen, als er den Wunsch verspürte fortzuwandern, eingedenk des Herrenwortes an Abraham: Verlaß dein Land, deine Verwandte und das Haus deines Vaters und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde.]258
Während seines frühen Lebens zieht sich Columbanus in mehreren Schritten ‚aus der Welt‘ zurück,259 bis er nach vielen Jahren schließlich den Wunsch nach einer peregrinatio verspürt. Diese peregrinatio ist somit nicht durch die Weltabkehr bestimmt, die er ja zu diesem Zeitpunkt bereits geleistet hatte, sondern vielmehr durch den zweiten Teil des Berufungswortes (Gen 12,1). Motivierend fungiert ein räumliches Ziel: et vade in terram, quam monstrabo tibi – und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde. Dass dem Rückgriff auf Gen 12,1 oder Apg 7,3260 immer auch die Frage des Zieles der postulierten Weltabkehr eingeschrieben ist, ist selbstver257 Jonas von Bobbio, Vita Columbani, I, 4, S. 159, Z. 7–11. 258 Haupt 1982, S. 415. 259 Diese Schritte der Weltabkehr entsprechen denen aus Gen 12,1 bzw. Apg 7,3: Zunächst verlässt er nach der Begegnung mit einer Einsiedlerin sein Elternhaus und den heimatlichen Boden. Nach einer kurzen Episode als Schüler eines uir sanctus, tritt er in das Kloster Bangor ein. Hier übt er sich in der imitatio Christi, bis er schließlich zum peregrinus im Sinne der irischen peregrinatio wird (Jonas von Bobbio, Vita Columbani, I, 4, S. 157, Z. 10–S. 159, Z. 6). 260 Exi de terra tua, et de cognatione tua, et de domo patris tui et veni in terram quam tibi monstravero. [Zieh weg aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und geh in das Land, das ich dir zeigen werde!].
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ständlich. Die Art und Weise, wie dieser zweite Teil der Zitate jedoch für die jeweilige Anachorese und zur diskursiven Legitimation der verschiedenen Modelle genutzt wird, ist bezeichnend: Wie bereits gezeigt, verhandeln die Collationes diese Weltabkehr primär epistemologisch im Sinne eines Annäherungsprozesses an Gott, der die zunehmende Transzendierung der eigenen Körperlichkeit verlangt und nicht räumlich als eine Reisebewegung zu denken ist. Sie findet natürlich in einem Raum, nämlich der Wüste statt – daran lassen die Wüstenväter als Dialogpartner der Collationes und entsprechende exempla keinen Zweifel261 –, allerdings konkretisiert dieser Raum nur die als notwendig vorauszusetzende Weltabkehr. Er ist Handlungsraum der Askese, hinsichtlich seiner Weltlichkeit zu transzendierend, aber nicht selbst transzendenter Raum.262 Deutlich wird das in der Art und Weise, wie Johannes Cassians Collationes die terra aus Gen 12,1 bzw. Apg 7,3 als vierten Schritt der Anachorese figurieren. Wie bereits erwähnt, wurden die Aspekte räumlicher Abkehr dieses Bibelzitates zugunsten einer Selbsttranszendierung des Anachoreten umgedeutet. In logischer Konsequenz dieser Umdeutung betrifft dies jedoch nicht nur die Aspekte der Weltabkehr, sondern auch den Rest des Zitates: Et ueni in terram, quam tibi monstrauero. Per quod euidenter ostenditur, quod nisi quis tres superiores illas abrenuntiationes omni impleuerit mentis ardore, ad quartum hoc peruenire non possit, quod remunerationis ac praemii uice perfecte renuntianti tribuitur, ut terram repromissionis mereatur intrare.263 [„Komme in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12,1) Dadurch wird deutlich gemacht: Wenn einer nicht jene drei vorgenannten Absagen mit aller Glut des Geistes erfüllt, kann er nicht zu diesem Vierten hindurchgelangen, das einem, der vollkommen entsagt, als Lohn und Siegespreis zugeteilt wird. Er darf das Land der Verheißung betreten.]264
Der vierte Schritt der graduellen Entsagung von der Welt. Das „Land“, das Gott Abraham „zeigen werde“, sei, ganz in der Logik des Berufungswortes an Abraham, das Erreichen der terra repromissionis. Sie betreten zu dürfen ist die Belohnung (remuneratio ac praemium) des vollzogenen Weges. Diese Verräumlichung des transzendenten Zieles jedoch bedeutet keinesfalls eine Verräumlichung des anachoretischen Transzendierungsprozesses, wie ihn Johannes Cassian aufzeigt. Vielmehr manifestiert sich hier der zentrale 261 262 263 264
Vgl. exemplarisch Johannes Cassian, Collationes, III, 1, 1. Vgl. Anm. 48. Johannes Cassian, Collationes, III, 10, 4–5. Ziegler 2001, S. 127. Das anfängliche Zitat, welches Gabriele Ziegler mit Gen 12,1 identifiziert, entstammt genau genommen Apg 7,3. Da allerdings ein argumentativer Bogen von den Entsagungen aus Gen 12,1 an die zitierte Stelle führt und beide Zitationen ausgesprochen analog sind, kann auch diese Identifikation durchaus aufrechterhalten werden.
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Unterschied des körperlichen Transzendierungsmodells der Wüstenväteranachorese von der räumlich zu denkenden Transzendierung der irischen peregrinatio. Die terra repromissionis in der Wüste Als intertextuelle Referenz für den Begriff der terra repromissionis sind drei Bibelstellen relevant, von denen nur eine explizit von ‚terra repromissionis‘ spricht. Zwei der Stellen stehen dabei in Verbindung zu Abraham. Die bereits zitierte Stelle in Gen 12,1 – die Berufungsworte Gottes an Abraham – spricht von einem Land, das Abraham nach Verlassen von Land, Verwandtschaft und Elternhaus von Gott versprochen wird: Dixit autem Dominus ad Abram egredere de terra tua et de cognatione tua et de domo patris tui in terram quam monstrabo tibi. [Der Herr sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!]
Die Verbindung zur terra repromissionis entsteht hier neben der entsprechenden Deutung der terra quam monstrabo tibi schon in der spätantiken Rezeption265 ganz besonders durch die zweite relevante Bibelstelle, Hebr 11,8–10: Fide qui vocatur Abraham oboedivit in locum exire quem accepturus erat in hereditatem et exiit nesciens quo iret Fide moratus est in terra repromissionis tamquam in aliena in casulis habitando cum Isaac et Iacob coheredibus repromissionis eiusdem Expectabat enim fundamenta habentem civitatetem cuius artifex et conditor Deus. [Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde. Aufgrund des Glaubens siedelte er im verheißenen Land wie in der Fremde und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung, in Zelten; denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat.]
Indem Abraham als einer der Glaubenszeugen angesprochen wird, wird das allgemeine Weltentsagungsmotiv einer Reise in ein unbekanntes Land entscheidend modifiziert. Die begriffliche Konkretisierung als ‚terra repromissionis‘ macht das Land zu dem Ort, an dem die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob auf die „Stadt mit den festen Grundmauern, die Gott selbst geplant und gebaut hat“ (fundamenta habentem civitatem cuius artifex et conditor Deus) 265 Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 10, 5 – eine Stelle, die im weiteren Verlauf gerade der Lektüre der terra repromissionis als Zwischenraum bedeutsam werden wird.
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warten. An die Stelle des Erbes, das ihnen zugestanden hätte (in hereditatem) tritt das Erbe der Verheißung eines neuen Jerusalems (coheredibus). An die Stelle der sozialen Gemeinschaft, die er verlassen hat (Gen 12,1) tritt die Gemeinschaft mit Jakob und Isaak. Die terra repromissionis wird als Raum von eschatologischer Bedeutung der strukturelle Zwischenraum zwischen Diesseits und Jenseits. Auffälliger Weise wird an diesen beiden Stellen also, wie dies auch in der späteren NSB der Fall ist, die terra repromissionis als ein Raum von eschatologischer Heilserwartung gezeichnet, an dem die Heiligen bzw. die Patriarchen auf das zweite Jerusalem warten.266 Zugleich jedoch verbindet sie sich entscheidend mit dem Motiv der Selbstaufgabe und Weltabkehr. Die enge Referenz beider Abraham-Stellen formuliert damit zweifelsohne einen Zusammenhang zwischen der Aufgabe von terra, cognatio, domus patris und dem Aufenthalt in diesem verheißenen Land. Auf Gottes Ruf hin verlässt Abraham alles, um in der terra repromissionis einen (noch fremden) Raum zu finden (nesciens quo iret), wo seine Heilserwartung eingelöst werden kann. Die terra (repromissionis) der Weltabkehr, der Wanderschaft, der Anachorese ist damit in ihrer allegorischen Doppeldeutigkeit in zwei grundlegende Richtungen hin vorstrukturiert: als ein diesseitiges Land, das im Gestus der Weltabkehr ergangen werden kann267 und zugleich als potentieller Jenseitsraum, nämlich als eschatologischer Raum eines sehr auserwählten Personenkreises, der diesem nach endgültigen Aufgabe der uisibilia zugänglich werden wird – quo nesciens. Eine dritte Stelle, die als Intertext für den biblischen Begriff der terra repromissionis außerdem herangezogen werden muss, ist Ex 3, 8 [= EÜ (2016) Ex 3,7–8]: et sciens dolorem eius descendi ut liberarem eum de minibus Agyptiorum et educerem de terra illa in terram bonam et spatiosam in terram quae fluit lacte et melle […]. [Ich kenne sein Leid. Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen […].]
Gott erscheint Moses im Dornbusch – der Modus des Auserwähltseins scheint zumindest im biblischen Sinne für das Erreichen der terra repromissionis eine conditio sine qua non zu sein – und verheißt ihm hier, sein Volk aus 266 Es ist gerade die Chance einer kulturwissenschaftlichen Narratologie, durch den geweiteten Blick auf die dimensionierende Diskurse solche Zusammenhänge zu offenbaren, die zweifelsohne die Kulturalität der Narrative bestimmen: Die terra repromissionis, wie sie im Kontext der Anachorese nachgewiesen werden kann, manifestiert sich auf diese Weise als die Schlüsselstelle einer jenseitigen und zugleich anachoretischen Raumkonzeption in der NSB. 267 Vgl. transmigrantes [über die Wanderung]: Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 2.
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Ägypten in ein Land, in dem „Milch und Honig fließen“, zu führen, womit wie in Gen 12,1 bei Abraham Kanaan gemeint ist. Diese Stelle prägt über die Verbindung des verheißenen Landes mit dem Auszug der Hebräer aus Ägypten den Begriff der terra repromissionis ideengeschichtlich ganz erheblich. Um nur wenige Autoren zu nennen, sprechen unter vielen beispielsweise Salvian von Marseille268 oder auch Beda Venerabilis269 gerade im Zusammenhang mit diesem Auszug der Hebräer aus Ägypten von einer terra repromissionis.270 Eschatologischer Raum und Raum der Weltabkehr verschmelzen so mit dem geographischen Kanaan und verkomplizieren das Raummodell der terra repromissionis noch weiter. Diese Vorstellungen der terra Abrahams im Allgemeinen und der terra repromissionis im Besonderen stehen im Hintergrund sowohl des wüstenanachoretischen Modells Johannes Cassians als auch der Raum- und Anachoresemodelle der irischen peregrinatio (und damit auch der NSB). Ganz im Sinne der Abraham-Stellen wird am Raum so ein Changieren zwischen einem Ort der Weltabkehr und einem transzendenten Raum eschatologischer Verheißung außerhalb der Zeit möglich. Obzwar die terra repromissionis im anachoretischen Modell Johannes Cassians dabei allerdings im anachoretischen Raum der Wüste gefunden werden kann, ist die Wüste in den Collationes trotzdem kein transzendenter Raum oder gar Jenseitsraum. Die terra repromissionis, die hier als Ziel der anachoretischen Transzendierungsbewegung figuriert wird – als Schlusspunkt einer Transzendierung von Körper, Raum und Zeit – ist primär als die größtmögliche Nähe zu Gott zu verstehen und damit eben nicht in räumlicher oder gar geographischer Konkretion. Da die Transzendierungsbewegung selbst nicht räumlich gedacht wird, wird dieser Aspekt analog auch für die terra repromissionis ausgeblendet oder zumindest nicht fruchtbar gemacht. Die Spannung der terra repromissionis und eine etwaige Doppelung des Wüstenraumes als Wüste und transzendente terra repromissionis mag zwar über die Zitation Abrahams anklingen, sie mag auch über die Nennung gerade der schwierigen Figur Henochs auch implizit sein, allerdings wird sie über die dezidiert nicht räumliche Figuration des Transzendierungsprozesses erfolgreich unterlaufen. Das ändert sich im Diskurs der irischen peregrinatio, die über den Reisegestus eine Erzählung der terra Abrahams als terra repromissionis und zugleich weltlicher Raum (des Meeres) in räumlicher Konkretion erlaubt. Der anachoretische Diskurs, wie er sich in Rückgriff auf die monastischen Entsagungen 268 Vgl. Salvian von Marseille, De gubernatione Dei, I, 12, 36, zitiert nach der Edition Lagarrigue 1975. 269 Vgl. Beda Venerabilis, De temporum ratione liber, 66, 260–268. 270 Hinzu kommen außerdem motivische Parallelen zwischen Moses und Brendan, wie sie Giovanni Orlandi nachweisen konnte (2006, S. 221–240).
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konstituiert, legt so sowohl die Grundlage einer allegorischen Doppelung des peregrinatio-Gestus als auch der Rezeption ihrer Räume (besonders der terra repromissionis) als Doppelung im Spannungsfeld von Geographie und Eschatologie. Diese Doppelung, so wird zu zeigen sein, legt die Grundlage für die spezifische Raumdynamik der NSB,271 wie sie sich im Rückgriff auf die Narratologie der Anderwelt im christlichen Rahmen neu zu formieren vermag. Sobald die anachoretische Transzendierung nämlich auch räumlichprozessual gedacht wird und nicht ‚nur‘ ontologisch, wird die terra potentiell doppelläufiges Ziel eines doppelläufigen Weges: als zu transzendierender und zugleich transzendenter Raum, der in seiner immanenten Jenseitigkeit erzählt und verhandelt werden muss.
2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung Die narratologische Konfiguration des immanenten Jenseitsraumes, wie sie in den Inseln der Navigatio S. Brendani über ein Zwischenraummodell nuanciert beschreibbar ist, ist dimensioniert über den Alteritätsbegriff der irischen Anderwelt und ein anachoretisches Transzendierungsmodell, das im Zusammenhang mit der irischen peregrinatio eine Umwertung des anachoretischen Raumes ermöglicht. Im Zuge der Translation272 der terra repromissionis in den kulturellen Rahmen der irischen peregrinatio und durch ihre Verbindung mit Vorstellungen des irdischen Paradieses wird so eine grundlegende Umwertung des Inselnarratives möglich: Es kann nun innerhalb des Spannungsverhältnisses von Immanenz und Transzendenz, von Diesseits und Jenseits eine relationale Verortung erfahren. Die Insel kann, in aller Paradoxie, einen immanenten Jenseitsraum erzählen.
2.3.1 Kulturelle Dimensionen Dass die NSB, die im geographischen Raum Irlands spielt, eine Seereise erzählt, überrascht nicht. Ungewöhnlicher hingegen ist die Prämisse einer Seereise, die im Westen von Irland auf einer Insel die terra repromissionis sucht und diese auch noch mit dem irdischen Paradies identifiziert.273 Der Raum 271 Ein möglicher Zusammenhang der terra repromissionis der NSB mit der der Collationes Johannes Cassians und damit einer bestimmten Form des anachoretischen Diskurses hat meines Wissens in den Untersuchungen der NSB noch keine Beachtung gefunden. 272 Zum Begriff der kulturellen Translation im Zusammenhang mit der NSB vgl. Italiano 2016. 273 Vgl. NSB, 1, 30; 33.
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des irdischen Paradieses, eigentlich im Osten und nicht im Westen, erst recht nicht auf einer Insel verortet, erfährt eine kulturelle Translation.274 Das Paradies, die terra repromissionis, wird in den kulturellen Raum der Erzählung transferiert und zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Umwertung der Reise und ihrer Inselnarrative. Schon vor Beginn der eigentlichen Reise ist ihr hermeneutischer Horizont gesetzt und die Kulturalität ihrer Narrative bestimmt. Es eröffnen sich drei Deutungshorizonte, die die Lektüre und die Funktionalität der Inseln in der NSB entscheidend figurieren: Der Raum des Klosters mit seinen Protagonisten und geltungsstiftenden Strukturen markiert ein christliches Milieu, die Reise wird zu einem Gestus der peregrinatio und als das strukturierende Ziel die bereits erwähnte terra repromissionis impulsgebend. Das christliche Milieu des Textes ist von Beginn an prägend: Sanctus Brendanus […] Erat uir magnae abstinentiae et in virtutibus clarus, trium milium fere monachorum pater. Cum esset in suo certamine in loco qui dicitur Saltus Virtutum Brendani, contigit ut quidam patrum ad illum quodam uespere venisset, nomine Barrindus nepos Neil.275 [Der heilige Brendan […] war ein Mann von großer Enthaltsamkeit und berühmt für seine Tugenden, Abt von nahezu dreitausend Mönchen. Zu einer Zeit, als er sich an einem Ort, den man ‚Tal der Wunder Brendans‘ [Clonfert]276 nennt, im [geistigen] Kampf befand, geschah es, dass eines Abends ein Abt namens Barrindus, der Nachkomme des Niall, zu ihm kam.]277
Der Protagonist Brendan – bereits zu Erzählbeginn ‚heilig‘ – wird von der ersten Zeile an als ein Abt, in institutioneller wie moralischer Sonderposition eingeführt.278 Seine sinnstiftende Funktion für den geographischen Raum Irlands wird an der Bezeichnung des Klosters als Saltus Virtutum Brendani offenbar. Handlungsraum der Erzählung ist dieses Kloster in Clonfert, die 274 Vgl. Grimm 1977, S. 106–107. 275 NSB, 1, 1–2. 276 Für die Übersetzung von virtus vgl. die Lehnübersetzung Saltus Virtutum (NSB, 1, 2) des irischen Cluain Ferta (Clonfert, „Tal des Wunders“) sowie Mk 6,5 (vgl. Selmer 1959, S. 83, Anm. 5). 277 Die NSB wurde etwa von Peter Jacobsen (22001) und Wolfgang Schlüter (1997) in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht, da diese jedoch auf der Edition Selmer 1959 beruhen, stammen die Übersetzungen, wenn nicht anders markiert, von der Verfasserin. 278 Bei der Quantifizierung seiner monastischen Gemeinschaft als trium milium fere monachorum muss es sich hier wohl entweder um eine Hyperbel handeln, oder die außerordentlich große Anzahl der monachi, im Sinne des irischen manach, von den eigentlichen Mönchen auf den Einflussbereich um das Kloster ausgeweitet werden, vgl. Stifter 1997, S. 14–15 sowie O rlandi und Guglielmetti 2014, S. 114. Eigenschaften Brendans, die im Verlauf der Erzählung von Bedeutung werden, werden hier bereits in den ersten Zeilen der NSB in der Exposition Brendans präfiguriert, um dann in ihrer Aussagekraft durch die folgende Erzählung bestätigt werden.
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Reise ist motiviert durch den Besuch eines befreundeten Abtes,279 Brendans Mitreisende sind seine Mönche. Dieser Rahmen der Reise – die spezifische Kulturalität ihrer Reisenden, ihres Ausgangspunktes etc. – dimensioniert die Erzählung der Reise und ihrer Räume entscheidend. Zwar sind auch immrama wie der Immram Curaig Máele Dúin in einer christlichen Zeit und Lebenswelt verortet – die Mutter des Protagonisten ist gar eine Nonne280 – und auch im Immram Brain ist mit der Prophezeiung des Reichs Gottes281 die christliche Bearbeitung bzw. das christliche Milieu als Entstehungskontext der jeweiligen Fassungen offensichtlich. Der relevante Unterschied scheint hier jedoch zu sein, dass die Rahmenerzählung der NSB explizit im christlichen Klosterraum ausgestaltet, ihr Protagonist gar selbst ein Kleriker ist. Es handelt sich nicht um eine Reise, die über Momente komplexer Deutungsmuster in ein christliches System ‚rückübersetzt‘ worden wäre (und werden müsste), wie das im Immram Brain dem Anschein nach der Fall ist.282 Was in den aufgeführten immrama christianisiert und christlich umgedeutet wird, wird in der NSB vielmehr von Beginn an im christlichen Rahmen präsentiert und nicht zuletzt auch in diesen rückgeführt. Das Christliche ist der funktionelle Rahmen des gesamten Inhalts, statt nur gelegenes Deutungsmodell einer zu christianisierenden Handlung zu sein. Der so von Anfang an christliche Rahmen der Erzählung setzt sich in der Reise selbst fort. Wie schon oft bemerkt wurde,283 ist die NSB strukturiert nach dem Modell der peregrinatio. Wenn ein Text wie die NSB von der Reise eines Abts – mit einer kleinen Gruppe Mitbrüdern, in einem Lederboot, auf der Suche nach einer terra repromissionis – erzählt, ja sogar an mehreren Stellen explizit seine Reise mit peregrinatio oder peregrinari bezeichnet,284 spricht er auf diesen Deutungshorizont an. In den Motiven der Rahmenhandlung wird dieser Zusammenhang bestätigt: Das Verlassen von terra, cognatio und domus patris (Gen 12,1), das für die monastische Berufung im Allgemeinen und die irische peregrinatio im Besonderen vorausgesetzt werden muss,285 findet hier seine Entsprechung: Die Entsagung von der cognatio kann zweifellos vor der eigentlichen Handlung der NSB angesetzt werden – Brendan ist zu diesem 279 Vgl. NSB, 1, 2. In der zitierten Edition von Orlandi und Guglielmetti 2014 trägt dieser Abt Barinth den Namen Barrindus (NSB, 1, 2), da die Forschungsliteratur allerdings auf Grundlage der Edition Selmer 1959 von ‚Barinth‘ spricht, wird diese Namensnennung im Folgenden beibehalten. 280 Vgl. Immram Curaig Máele Dúin, 4, zitiert nach der Edition Oskamp 1970. 281 Vgl. Immram Brain, 45–48. 282 Zur Nativismus-Antinativismus-Debatte im Zusammenhang mit Immram Brain vgl. Anm. 172. 283 Interpretationen der NSB bzw. ihrer volkssprachlichen Übersetzung vor der Folie dieses Modells bieten etwa Asfora 2003 oder Weitbrecht 2011, S. 183–206. 284 Vgl. exemplarisch NSB, 5, 2; NSB, 17, 2; NSB, 28, 15. 285 Vgl. Kapitel 2.2.2.
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Zeitpunkt schließlich bereits Abt einer Klostergemeinschaft –, ebenso das Verlassen des Elternhauses. Trotz dieser Selbstverständlichkeit figuriert der Text diesbezüglich zudem eine weitere Entsagungsszene. Der Ort der eigentlichen Abreise Brendans, „das äußerste Ende“ dieser Gegend in Irland,286 erweist sich auch als der Aufenthaltsort seiner Eltern,287 jedoch lehnt er eine Kontaktaufnahme dezidiert ab Attamen noluit illos videre [Trotzdem wollte er jene nicht sehen].288 Auch wenn Brendan, der bereits viele Jahre vor seiner Reise ins Kloster eingetreten sein muss, also seine Familie bereits lange verlassen hat, verlangt die Logik eines Textes, der sich aus der Idee der peregrinatio speist, eine weitere Affirmation dieser Entsagung.289 Der ein zweites Mal bekräftigte Entschluss gegen sein Elternhaus und für die peregrinatio ermöglicht die erneute, verschärfte Weltabkehr im Verlassen Irlands und die darauffolgende Suche nach der terra repromissionis. Das Moment der Selbstaufgabe zusammen mit dem Impuls, in der Fremde eine neue, spirituelle Heimat zu finden, wird folglich im Modus der irischen peregrinatio zu einem weiteren Deutungshorizont, der die Reise der NSB entscheidend transformiert. Zwar ist die Erfahrung von Fremdheit oder der soziale Bruch nicht prägendes Darstellungsmoment, denn beide Aspekte werden durch Tendenzen der Gemeinschaftsbildung in gewisser Weise aufgefangen und sind eher strukturelle Merkmale im Hintergrund anderer Tendenzen des Textes.290 Trotzdem hat die kulturelle Dimensionierung des Reisemotivs über Momente der peregrinatio erhebliche Auswirkungen auf die narratologische Konfiguration ihrer Inseln als Heilsräume, nicht zuletzt in der potentiellen Doppelläufigkeit von Eschatologie und Geographie.291 286 NSB, 4, 1: in ultimas partes regionis. In der Vita prima sancti Brendani, 15 (nach der Edition Plummer 1968/1, S. 98–151) wird dieser Abfahrtsort mit Kerry identifiziert: profectus est […] ad partes Kerrigie [er brach […] nach Kerry auf]. 287 Vgl. NSB, 4, 1. 288 NSB, 4, 2. 289 Vgl. die entsprechende Stelle der Vita Columbani, I, 3, S. 157, Z. 14–18: Illa eiulans et pavimento prostrata, denegat se permissuram; ille limitem matremque transilit poscitque matri, se laetam habeat: illum numquam deinceps in hac vita visurum, sed, quocumque salutis via iter pandat, se progressurum [„Sie [die Mutter] jammerte laut, warf sich auf den Boden und schrie, sie werde es niemals zulassen. Da stieg er über die Mutter und die Schwelle hinweg und forderte sie auf, sich zu freuen. Zwar werde sie ihn in diesem Leben niemals wiedersehen, er aber werde aufbrechen, wohin auch immer ihn der Weg des Heiles führen sollte.“ Haupt 1982, S. 413]. Columbanus, dessen Weg in das Kloster der Leser im Verlauf seiner Lebensbeschreibung nachvollziehen kann, steigt hier im wahrsten Sinne des Wortes über seine Mutter und die Schwelle des Hauses (domus parentis) hinweg. 290 Vgl. die Reaktion der Mönche auf die von Brendan vorgeschlagene peregrinatio, NSB, 2, 4–5: Nonne parentes nostros dimisimus? Nonne hereditatem nostram despeximus et corpora nostra tradidimus in manus tuas? [Haben wir etwa unsere Eltern nicht verlassen? Haben wir auf unser Erbe etwa nicht verzichtet und unsere Körper in deine Hände gegeben?] 291 Vgl. Kapitel 2.2.2.
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Es ist der kulturelle Bedingungsrahmen, der diese Konfiguration möglich macht. Deutlich wird das nicht zuletzt durch den dritten ‚neuen‘ Deutungshorizont – die Identifikation des spezifischen Reiseziels als ‚terra repromissionis‘, die wie die anderen Inselräume aus der Spannung der peregrinatio verstanden werden muss. Der Begriff taucht an verschiedenen Stellen auf, mit leicht verschobenem Schwerpunkt wegen der bemerkenswerten Staffelung der verschiedenen erzählten Fahrten: Mernoc ist der erste Reisende zur terra repromissionis. Er lädt Barinth bei dessen Besuch ein, ihn dorthin zu begleiten, was zu einer zweiten Reise zur terra repromissionis führt. Von dieser wiederum berichtet Barinth Brendan, so dass schließlich Brendan mit seinen Mitbrüdern die Reise ein drittes Mal nachvollzieht. In der NSB gibt es zwei aussagekräftige Beschreibungen der Insel als terra repromissionis. Die erste erfolgt durch Mernoc: Pater, ascende in navim et navigemus contra occidentalem plagam ad insulam quae dicitur Terra Repromissionis Sanctorum, quam Deus daturus est successoribus nostris in novissimo tempore.292 [Vater, steige in das Schiff und lasst uns gen Westen zu der Insel fahren, die man Terra Repromissionis Sanctorum nennt, die Gott unseren Nachfolgern am Ende der Zeit schenken wird.]
Auf der Insel der terra repromissionis wird Brendan die Insel ein weiteres Mal gedeutet: Post multa vero curricula temporum declarabitur ista terra successoribus vestris, quando Christianorum supervenerit persecutio.293 [Nach vielen Zeitenläufen aber wird dieses Land euren Nachfolgern offenbart werden, wenn über die Christen die Verfolgung hereingebrochen sein wird.]
Beim ersten Blick fällt die parallele Struktur der Aussage Mernocs und des Engels auf. Die Zeitadverbiale post multa uero curricula temporum des Engels entspricht der Partizipialkonstruktion daturus est von Mernoc, die eschatologische Perspektive von in nouissimo tempore entspricht quando […] persecutio. Der zentrale Kern der Aussage, die Bestimmung der terra für die successores, bleibt neben der Modifikation des Possessivpronomens unverändert. Das Wissen, das Mernoc über die Art dieser Insel, die er immer wieder besucht zu haben scheint, hat, stammt – so suggeriert die parallele Struktur – von demselben jungen Mann, der auch Brendan einweiht. Zentral ist damit ganz besonders der eschatologische Aspekt, den die terra repromissionis hier zugewiesen bekommt und der sie in ihrer Funktion
292 NSB, 1, 14. 293 NSB, 28, 16.
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ganz erheblich bestimmt,294 die terra repromissionis nämlich als der Ort, der den ‚Nachfolgern‘ Brendans bzw. Mernocs bestimmt ist. Ohne an dieser Stelle auf die terra repromissionis, wie sie die Reisenden erfahren, näher eingehen zu wollen,295 lässt sich hier somit ein dynamisierendes Reiseziel ausmachen, das explizit in einem Spannungsfeld aus verheißener Endzeit und erlebter Jetztzeit anzusiedeln ist: Ihm wird eine klare eschatologische Rolle zugewiesen und zugleich lassen die Besuche Mernocs, Barinths und Brendans an seinem trotzdem immanenten Zugänglichkeit keinen Zweifel. In der terra repromissionis und damit der Reise selbst werden transzendente Semantik und immanente geographische Räumlichkeit damit in einer Weise überlagert, die für die folgende Binnenerzählung entscheidend ist. Sei es im Anklang an einen historischen und realen Raum, der in der narrativen Logik des Textes ‚er-fahren‘ werden kann oder aber als paradiesischer Raum, an dem ein ausgewählter Personenkreis teilhaben kann: Indem die terra repromissionis zu Motivation und damit Ausgangs- und Endpunkt der NSB wird, werden die Inselnarrative der Reise signifikant dynamisiert. Sie werden Teil eines Weges von Irland zu einem Jenseitsraum, stehen in diesem Spannungsverhältnis und müssen genau dies erzählbar machen. Betrachtet man die NSB so als Teil eines kulturellen wie diskursiven Bedingungsgefüges, müssen von Beginn an ihre diskursiven wie kulturellen Deutungshorizonte für die Interpretation Berücksichtigung erfahren. Die kulturelle Translation als zentrales Merkmal der NSB spielt sich nicht nur in der Versetzung des ‚Paradieses‘ auf eine Insel im Westen ab, was zweifelsohne eine Neuerung ist. Vielmehr wird bereits die Reise als Gesamtes von Anfang an in einem kulturellen Raum verortet, der die Narrative in ihrer Dynamik erheblich beeinflusst. Die neuen Deutungshorizonte schaffen einen Geltungs- und Deutungsrahmen der Inselräume, der in seinen narratologischen Konsequenzen für die Gesamtdynamik die Problematik eines westlichen Inselparadieses in den Hintergrund treten lässt. Andere Zielsetzungen und funktionelle Rahmenbedingungen schaffen die Dimensionen, innerhalb derer den kulturellen Inselnarrativen eine Funktionalität im Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz, Diesseits und Jenseits zugewiesen werden kann. Für die einzelne Insel wird ein Verweisungssystem wirksam, das die Erzählung immanenter Jenseitsräumlichkeit zu erlauben vermag, wenn nicht gar notwendig macht. 294 Es werden immer wieder Interpretationen dieser Stelle publiziert, die bei der persecutio für einen expliziten Hinweis auf die historischen Wikingerzüge plädieren wollen, zuletzt Zelzer 2015, S. 268. Die parallele Anordnung der beiden Zitate jedoch sowie die Konfiguration der terra repromissionis, wie sie auch die spätere Analyse dieser Insel als Zwischenraum klarmachen wird, machen diese historisch-literale Lektüre der terra repromissionis unwahrscheinlich. 295 Vgl. zur Zwischenräumlichkeit der terra repromissionis der NSB S. 110–119.
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2.3.2 Die Gradualität der Reise In der NSB steht auf der einen Seite der erzählten Reise ein konkreter, realer Ort in Irland und auf der anderen Seite mit der terra repromissionis ein Raum, der semantische und funktionale Qualitäten eines eschatologischen Jenseitsraumes aufweist. Die Strukturierung der Räume zwischen diesen diametralen Polen bedingt die Figurierung der Reise als zusammenhängender ‚Schwellenraum‘,296 innerhalb dessen die einzelnen Inseln graduelle Ausformungen der expliziten Spannung darstellen. Die Reise in ihrer zugangsregulatorischen Notwendigkeit auf dem Weg zwischen Irland und dem irdischen Paradies fügt die einzelnen Etappen zu einem systemischen Ganzen zusammen und erzählt auf diese Weise die einzelnen Inseln graduell als Vorstufen einer transzendenten Jenseitigkeit. Zwischen Irland und Paradies Wie bereits aufgezeigt werden konnte, führt die Doppelbesetzung der terra repromissionis als innerweltlicher und paradiesischer Raum zu einer Spannung zwischen immanenter Erfahrung und transzendentem Telos, die in der impliziten Dopplung der peregrinatio als Reise und Erkenntnisweg seine Entsprechung findet. Dadurch werden zwei Achsen der Reise wirksam. Horizontal, mit Blick auf die Verortung der terra repromissionis auf einer Insel im Atlantik, findet sich eine geographische Achse, als die erzählte Reise zwischen dem irischen Kloster und der Insel im Atlantik. Vertikal, über die eschatologische, transzendente Wirksamkeit der terra repromissionis, stehen sich immanente Reise und transzendente Heilswirksamkeit, kulminierend in der terra repromissionis, einander gegenüber. Die horizontale Achse der Erzählung entspricht dem eigentlichen Fortgang der Erzählung und der Reise. Auf der einen Seite findet sich das spezifische Kloster in Clonfert, in der Grafschaft Galway in der Mitte Irlands; auf der anderen Seite die Insel der terra repromissionis. Wie zu zeigen sein wird, wird die Strecke zwischen den beiden Punkten zwar nicht konkret gemacht, sondern nur über einen bestimmten Ablauf von vorläufigen Inseln bestimmt. Für die Reise muss nichtsdestotrotz die Bewegung von A nach B als strukturierend gelten. Diese immanente Achse dient der Abbildung der Einzelinseln im räumlichen Verhältnis zueinander und erzeugt über deren spezifische Abfolge eine Distanzierung und damit Zugangsregulation der terra repromissionis im Verhältnis zum Ausgangspunkt der Reise in Irland. 296 Zu dem Begriff vgl. Selmayr 2017, S. 65, S. 65–68, besonders Anm. 255.
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Die zweite, vertikale Strukturierung wird mit Beginn der Reise, dem Verlassen Irlands, d. h. der terra aus Gen 12,1, und damit mit dem Einsetzen der eigentlichen peregrinatio wirksam. Was mit dem irischen Kloster begonnen hat – in der Mitte Irlands und entsprechend in einem Raum, der, wie auch die Figur Brendans selbst, von der Erzählung fest in der Normwelt verankert worden ist, – endet im irdischen Paradies. Das nach allen Maßstäben immanente Kloster in Clonfert steht so einem Raum gegenüber, der sich gerade aus einer Doppelstruktur speist, sowohl Raum transzendenter Verheißung als auch, in der Logik der Narration, immanenter Inselraum zu sein. Die Translation des Paradieses in die Narration, auf einen Inselraum, und damit – auch wenn das der Text streng zu reglementieren weiß – in eine immanente Zugänglichkeit, erzeugt die inhärente Spannung der Erzählung zwischen Immanenz und Transzendenz. In der Konsequenz entsteht über die vertikale Achse eine ebenfalls doppelt strukturierte Reise. Sie muss sowohl in der Logik des Textes als faktische ‚Seereise‘ zu einer konkreten Insel führen, als auch im selben Moment zu einem Modus des Heilserwerbs, gar der Jenseitsreise werden, an dessen Ende die terra repromissionis stehen kann. Die Seereise wird über diesen besonderen Gestus zu einem Modus des Heilserwerbs, hin zur terra repromissionis als letztem und potentiell jenseitigem Raum des Heils. Kloster, Reise und Ziel der NSB sind so über die geographischen Koordinaten als ‚Reise‘ und über Strukturen der Heilserwartung als Transzendierungsprozess innerhalb der Pole ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ angeordnet. Die Reise als systemisches Ganzes Nachdem Brendan mit seinen siebzehn Mitbrüdern Irland verlässt und seine Reise beginnt, segeln sie zunächst eine Weile. Nach fünfzehn Tagen lässt der Wind nach und die Brüder rudern, bis sie auf Brendans Anweisung hin die Ruder einziehen und sich Gott als adiutor, nautor und gubernator anvertrauen.297 Es kommt zwar wieder ein Wind auf, aber: tamen ignorabant ex qua parte veniebat aut in quam partem ferebatur navis.298 [trotzdem wussten sie nicht, aus welcher Richtung er kam oder in welche Richtung das Boot getragen wurde.] Wie also bereits Abraham in Hebr 11,8 (nesciens quo iret) verlassen sich Brendan und seine Mitbrüder also auf die göttliche Providenz und lassen sich buchstäblich treiben. Nach vierzig Tagen treffen sie auf die erste Insel. Obwohl sie nahezu menschenleer ist, finden sie jedoch in einem großen 297 Vgl. NSB, 6, 3. 298 NSB, 6, 5.
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Palast einen für sie gedeckten Tisch. Als sie die Insel verlassen, bringt ihnen ein junger Mann Brot und Wasser. Es folgt eine Insel mit Schafen,299 sie verbringen eine Nacht auf einer Insel, die sich als ein riesiger Fisch herausstellt300 und finden auf einer weiteren einen Baum voller weißer Vögel, die sich als ‚neutrale Engel‘ herausstellen.301 Auf einer Insel finden sie das Kloster des Ailbe, dessen Mönche auf wundersame Weise seit achtzig Jahren von Broten Gottes ernährt werden, die Leuchter in ihrer Kirche entzünden sich von selbst, und es gibt auch sonst allerlei Wunderbares.302 Weiterhin landen sie auf einer Insel mit einer Schlafquelle303 und auf einer Insel mit Männern dreier Altersklassen, die Loblieder auf den Herrn singen.304 Es gibt eine Insel mit Trauben so groß wie Äpfeln305 und von einer Insel werfen Schmiede glühende Schlacke nach ihrem Boot.306 Bei einer Vulkaninsel wird einer der Mönche von Dämonen entführt,307 auf je einer Insel begegnen sie Judas Iskariot und dem Eremiten Paulus. Schließlich, nun zusammen mit dem Begleiter (procurator),308 der sie schon während ihrer Reise immer wieder mit Nahrungsmitteln versorgt hatte, gelangen sie durch einen dichten Nebel (caligo grandis)309 zu ihrem Ziel. Dieses Ziel, die Insel der terra repromissionis, ist von einem Fluss geteilt, wie das schon in der Erzählung des Barinths prophezeit wurde. Es erscheint ein junger Mann (iuvenis),310 der ihnen die Insel als terra repromissionis deutet, aber der Fluss erweist sich als endgültige Grenze, die keiner der Reisenden überschreiten kann.311 Brendan und seine Mitbrüder dürfen Früchte der Insel und Edelsteine mitnehmen, müssen aber die Insel letztlich verlassen und kehren schließlich nach einem kurzen Aufenthalt auf Mernocs Insel in ihr Kloster in Clonfert zurück.312 Was auf den ersten Blick als eine recht kontingente Abfolge von Einzelepisoden erscheint, wird nicht nur über den Gestus der peregrinatio, die mit 299 Vgl. NSB, 9. 300 Vgl. NSB, 10. 301 Vgl. NSB, 11. 302 Vgl. NSB, 12. 303 Vgl. NSB, 13. 304 Vgl. NSB, 17. 305 Vgl. NSB, 18. 306 Vgl. NSB, 23. 307 Vgl. NSB, 24. 308 NSB, 27, 11, vgl. auch NSB, 27,12: Ero namque socius itineris vestri ista vice atque doctor; sine me non poteritis invenire Terram Repromissionis Sanctorum [Denn dieses Mal werde ich auf eurem Weg im Wechsel Begleiter und wissender Führer sein; ohne mich werdet ihr die Terra Repromissionis Sanctorum nicht finden.] 309 NSB, 28, 3. 310 NSB, 28, 10. 311 Vgl. NSB, 28, 9. 312 Vgl. NSB, 28, 18–20. Für eine Auflistung der einzelnen Episoden der NSB vgl. die Aufstellung Walter Haugs (1989, S. 381–382).
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dem Verlassen Irlands begonnen hatte, zu einer systemischen Einheit. Die einzelnen Inseln sind fest in die Liturgie des Kirchenjahres eingebettet, so dass Brendan über der Zeitraum von sieben Jahren zyklisch auf dieselben Inseln zurückkommt: Auf der Insel der Schafe feiert er das Abendmahl des Gründonnerstags mit dem Opfer eines fleckenlosen Lamms (agnum immaculatum),313 auf dem Fisch Jasconius verbringen sie die Osternacht, bei den neutralen Engeln bleiben sie bis zum achtem Tag nach Pfingsten, und im Kloster des Ailbe feiern sie Weihnachten,314 jeweils sieben Male. Auch räumlich scheinen die Inseln vor der eigentlichen terra repromissionis nach einem eigenen System zu funktionieren, denn klar verortbar ist allein der Ausgangspunkt in Irland. Die Inseln untereinander werden nur innerhalb der Reise zueinander in Beziehungen gesetzt, und das auch nur über die jeweilige Dauer der Fahrt von der einen zur nächsten Insel. Nachdem die Reisenden kurz nach Irland in den Tagen der Windstille ihre Orientierung verloren hatten – nesciens – werden die darauffolgenden Orte nur noch, wenn überhaupt, zueinander in Beziehung gesetzt.315 Was, wann, wo geschieht, auf welche Inseln Brendan und seine Mönche treffen, erscheint so als kontingent, zumal weder Brendan noch seine Mitbrüder wirklich auf die Route der Fahrt tatsächlich einwirken zu können scheinen. Dies wird jedoch, neben der klaren liturgischen Strukturierung der Reise, auch immer wieder durch das Vorauswissen prophetischer Figuren aufgehoben. Brendan weiß beispielsweise, dass es sich bei der Insel der Osternacht um einen riesigen Fisch handelt (sciebat enim qualis erat illa insula)316 – schon bevor dieser sich, aufgeschreckt durch das Feuer auf seinem Rücken, bewegt und als Fisch zu erkennen gibt. Der junge Mann, der ihnen auf der ersten Insel bei der Abfahrt Brot und Wasser mitgibt, weiß, wie lange Brendans Reise noch sein wird, und versorgt sie vorausschauend mit gerade ausreichend Nahrung bis Ostern: Restat enim vobis longum iter usque dum inveniatis consolationem; tamen non deficiet vobis panis neque aqua ab isto die usque in Pascha.317 [Euch steht in der Tat ein langer Weg bevor, bis ihr Trost finden werdet; trotzdem wird es euch nicht an Brot oder Wasser fehlen, von heute bis Ostern.]
313 NSB, 9, 9, vgl. NSB, 9, 4. 314 Zur Verkündung der zyklischen Natur seiner Seereise vgl. die Prophezeiung eines der gefallenen Engel an Brendan, NSB, 11, 51–54. 315 Vgl. die Vogelinsel, die westlich der Fischinsel gelegen ist (ab occidentalem plagam, NSB, 9, 20). Sie fahren einmal um die Vogelinsel herum, in ihren Westen (contra occidentem, NSB, 11, 1) und später in Richtung Süden (contra meridianam plagam, NSB, 11, 3). Nach dem Kampf zweier Meerungeheuer brechen sie in den Norden auf (contra septentrionalem plagam, NSB, 16, 34), etc. 316 NSB, 10, 4 [Er wusste nämlich, was für eine Insel es war]. 317 NSB, 8, 3.
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Auch die gefallenen Engel wissen Brendans aktuelle Reisestation in das große Ganze der Reise einzuordnen. Über einzelne Figuren, Engel, Judas und Paulus, wie im Übrigen auch den procurator, der von Anfang an immer wieder auftaucht,318 werden die so auf den ersten Blick kontingenten und unstrukturierten Einzelepisoden in das große Ganze eines göttlichen Plans eingebettet. Über Momente providenter Deutung wie liturgische Rahmung wird ein in sich geschlossener Raum der Wanderung geschaffen, der über seine ganz eigenen Mechanismen verfügt und eine besondere Daseinsberechtigung zugewiesen bekommt. Verstärkt wird dieser Eindruck einer in sich abgeschlossenen eigenen Struktur nicht zuletzt durch liminale Markierungen in beide Richtungen. Nach dem Verlassen Irlands lässt Brendan bei Windstille ganz bewusst die Ruder des Bootes einziehen und sie lassen sich für vierzig Tage einfach von Meer und Wind treiben, bis sie nicht mehr wissen, wohin sie verschlagen worden sind. Dieser Moment der Windstille ist so die Schwelle, während der die Reisenden vom Bekannten ins Unbekannte, ins Fremde übergehen: Eine Markierung, die das Anfangsmoment der peregrinatio, das Verlassen des Heimatlandes, nur weiter unterstützt. Nach der zyklischen Reise über die wunderbaren Inseln und vor dem Betreten der terra repromissionis erfolgt eine weitere klare Markierung, die die Reise von ihrem Ziel abgrenzt: Der dichte Nebel markiert hier die Grenze zwischen der Reise und der terra repromissionis, und mit dem unüberschreitbaren Fluss auf der terra repromissionis findet die Reise ihr Ende an einer weiteren Schranke – auch wenn diese anders interpretiert werden muss, als dies bei dem Nebel bzw. dem Moment der Windstille der Fall ist.319 Die Reise als Raum gradueller Transzendenz Innerhalb dieser beiden Begrenzungen – von der Windstille an der Küste Irlands zum Nebel bzw. Fluss der terra repromissionis – findet sich allerlei Wunderbares, im allgemeinsten Sinne als eine „Deformierung der natürlichen, normalen Welt“.320 Dabei soll auch nicht verschwiegen werden, dass dieses Wunderbare nicht nur auf den einzelnen Inselräumen geschieht, sondern etwa bei dem Kampf zweier Meeresungeheuer auch im sie umgebenden Meer und in der Luft über ihnen;321 allerdings eben auch nur dort, nach Durchfahren der Nebelschwelle. Es wird eine klare inhaltliche Differenz 318 Vgl. NSB, 28, 12–13. 319 Vgl. S. 110–119. 320 Le Goff 1990, S. 58. 321 Vgl. NSB 16; 19.
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zwischen der Normwelt Irlands, wo die Reisegruppe abgefahren war, und den Räumen der Reise gezogen und im Erzählverlauf funktional. Die apfelgroßen Trauben, die pferdegroßen Schafe, der Fisch, der die Gestalt und Größe einer Insel hat, die Schlafquelle, die wunderbare göttliche Versorgung des Paulus und der Klosterbrüder Ailbes durch Gott: all das sind „Geheimnisse“ (secreta)322 Gottes, und konnten nur auf der spezifischen Reise, im Ozean, durch Brendan erfahren werden. Gott hatte den Plan, Brendan das alles zu offenbaren (voluit tibi ostendere),323 und im Modus dieser ganz speziell konfigurierten Reise wurde dies möglich. Die Faktizität der Reise wird als Gesamtes in die göttliche Providenz zurückgeführt, wie auch die einzelnen Wunder immer wieder in eine göttliche Notwendigkeit für Brendan und die Schöpfung rückbezogen werden. All diesen wunderbaren Ereignissen, Figuren und Wesen, wird auf diese Weise eine spezifische Funktion zugewiesen, mit allgemeinem Blick auf eine Endzeit oder für die einzelnen Reisebedürfnisse des auserwählten Brendan. Die außergewöhnlich großen Trauben werden Brendan und seinen Mitbrüdern etwa zum Ende eines dreitägigen Fastens von einem Vogel gebracht. Brendan weiß um die Funktion der Trauben – sie sind „eine Mahlzeit, die euch Gott geschickt hat“ (prandium quod misit vobis Deus),324 die ihnen daraufhin für zwölf Tage als Nahrung dient. Eine Traube pro Person reicht aus, sie fasten wieder drei Tage, um sodann auf der Insel der Trauben anzukommen. Die Schafinsel, wo sie von Gründonnerstag bis Karsamstag bleiben, versorgt sie mit einem Opferlamm, die Fischinsel, Jasconius, wird der Raum der Transformation, auf dem sie die Nacht des Karsamstags verbringen, und die Vogelinsel beherbergt sie die Wochen vom Ostersonntag bis nach Pfingsten.325 Als Inseln, die als Fixpunkte der siebenjährigen zyklischen Reise immer wieder von der Gruppe angefahren werden, wird ihr ‚Wunderbares‘ – die großen Schafe, die ohne menschliches Eingreifen und ohne einen natürlichen Jahreszeitenlauf allein auf einer Insel leben326 oder aber der Jasconius, der große Fisch – zu einem notwendigen Schritt im großen Rahmen des liturgischen Jahres und damit innerhalb der der providenten Struktur der Reise. Das Wunderbare geht so vollständig im Ganzen des göttlichen Plans, für die Reise im Kleinen und im Großen innerhalb des heilsgeschichtlichen Rahmens, auf. Es wird zu einem signifikanten Teil innerhalb des liturgischen Jahrs, und damit in seiner ganz spezifischen Funktionalität als Teil der pereNSB, 28, 13. NSB, 28, 13. NSB, 18, 3. Zur auch eschatologischen Rolle von Schafinsel, Fischinsel wie Vogelinsel vgl. Wooding 2008, S. 290–294. 326 Vgl. die Schafinsel, die sich in unmittelbarer Nähe zu den Zyklopen befindet, wie sie Homer in der Odyssee beschreibt, Odyssea, IX, 116–121.
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grinatio notwendiger Schritt innerhalb der providenten Reise. Das Wunderbare ist ein Teil der göttlichen Schöpfung, der eben dieser göttlichen providenten Schöpfung, eingeschrieben ist – wie das bei dem Wunderbaren etwa der Anderwelterzählungen oder auch dem Utopischen der antiken Inseln in einem anderen kulturellen Deutungshorizont nicht geschehen konnte. Nicht zuletzt kann es so zu einem Moment der göttlichen Legitimation einzelner Figuren und Lebensformen werden. Die Übergangsmarkierungen, Windstille und Nebel bzw. Fluss, die liturgische und räumliche Überformung als geschlossene Einheit sowie der providente Rückbezug der Wunder als Teil der Reise zusammen mit ihrer Inszenierung ausschließlich innerhalb des Reiseraums (und nicht etwa in Irland) schaffen ein systemisches Ganzes der Reise, das als solches verstanden und interpretiert werden muss. Im Schwellenraum der Reise wird auf diese Weise in einem begrenzten Raum ‚Wunderbares‘ wirksam und ein Transzendierungsprozess der Reisenden sowie transzendente Wirksamkeit im diesseitigen Raum erzählt. Das schafft einerseits mit Blick auf die Normwelt der Rahmenerzählung eine klare Abgrenzung der Räume immanenter Transzendenz und andererseits die Möglichkeit, die Reise selbst, natürlich über peregrinatio bereits besonders markiert, bereits vor Betreten der terra repromissionis innerhalb von Räumen transzendenten Erlebens zu erzählen und die inkommensurable Spannung des Erzählgegenstandes nuancierter auszuarbeiten. Für die Interpretation der Räume der Reise nach dem Verlassen Irlands bis zum eigentlichen Betreten der terra repromissionis bedeutet eine solche Interpretation, dass die Inselräume als Teil einer graduellen Wander- und Transzendierungsbewegung begriffen werden müssen.327 In der Reise als systemischem Ganzen zwischen Irland und Paradies erhalten damit die Wunder der Reise, die wunderbaren Inseln sowie die Inseln immanenter Jenseitigkeit im Besonderen ihren interpretatorischen Rahmen. Liest man sie unter dem Aspekt der graduellen Wirksamkeit immanenter Transzendenz, innerhalb des begrenzten Rahmen der Reise, an den sie über Providenz und Zyklik rückgebunden sind, offenbaren sich in ihnen die Changierungen innerhalb eines graduellen, wiewohl zyklischen, Transzendierungsprozesses. Nicht nur das Wunderbare, sondern auch ganz besonders die weiteren Nuancierungen immanenter Jenseitigkeit, wie sie im Zuge der Reise erfahren werden, müssen auf diese Weise gelesen und interpretiert werden. Mit Irland 327 Diese Lektüre der Inseln als graduelle Ausformung innerhalb eines Spannungsgefüges erlaubt es, auf die schwierige Unterscheidung zwischen diesseitigen und jenseitigen Räumen zu verzichten, die immer wieder unternommen wurde (vgl. für die oberdeutsche Prosafassung der Reise Günthart 2018, S. 178) und doch semantisch, motivisch, intertextuell nur aufrechtzuerhalten ist.
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nämlich hat der wandernde Mönch die immanente Welt (uisibilia) verlassen328 und befindet sich auf einem Weg gradueller Annäherung an ein absolutes Transzendentes,329 das wiederum als semantisches Direktiv für die Gradualität der vorgelagerten Inselräume fungiert. Die wunderbaren Inseln sind ebenso wie die immanenten Jenseitsinseln immer wieder in die Providenz des Göttlichen rückgebunden. Auch sie sind, daran lässt die providente, zyklische Struktur keinen Zweifel, Ausformungen der graduellen Transzendenz im immanenten Raum, wenn sie auch die Paradoxie einer immanenten Jenseitigkeit nicht selbst verhandeln. Die Reise als Ganzes erfährt über dieses Annäherungsmodell nicht zuletzt eine Neuinterpretation als unabdingbarer, zugangsregulatorischer Schritt auf dem Weg zur terra repromissionis. Die zyklische Reise über die diversen Inseln, die Brendan sieben Jahre lang in einer streng reglementierten Form durchlaufen muss, erweist sich als Bedingung jedweder Möglichkeit, die terra repromissionis zu erreichen.
2.3.3 Inseln zwischen Immanenz und Transzendenz Über die terra repromissionis als Ziel der Seereise ist der NSB eine Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz eingeschrieben. Die terra repromissionis, wie auch die wunderbaren und immanent jenseitigen Inseln während der eigentlichen Reise, sollen über eine immanente Fahrt, von immanenten Reisenden, erfahren werden und zugleich eine graduelle Transzendenz erzählen. Die Lösung des Problems der Inkommensurabilität, das Inselräumen und Reise in dem Moment eingeschrieben ist, wo das Reiseziel die terra repromissionis und der Reisegestus eine peregrinatio abbilden soll, liegt in der narratologischen Konfiguration der Inseln als Zwischenräume. Sie werden zu immanenten Jenseitsräumen zwischen Immanenz und Transzendenz. Das Verständnis der ‚Reise‘ als Schwellenraum, mit seiner skizzierten liminalen Markierung in Bezug auf Irland wie terra repromissionis – d. h. in Richtung von Transzendenz und Immanenz, Diesseits und Jenseits – muss dabei die Grundlage einer Untersuchung der Inselnarrative bilden. Wie bereits erwähnt, ist die gesamte Reise streng begrenzt und innerhalb des Gestus der peregrinatio bereits funktional in einem Spannungsfeld positioniert. Diese Verortung allein führt jedoch nicht dazu, dass alle Inseln des Schwellenraums narrativ als immanente Jenseitsräume im Erzählmodus des Zwischenraums erzählt werden. Dem ‚Prinzip der Gradualität‘ ist geschuldet, dass im 328 Vgl. Johannes Cassian, Collationes, III, 7, 2, vgl. auch S. 61–65. 329 Dieses absolut Transzendente (in der Logik der Weltabkehr) fällt über die Doppelungsfiguren der peregrinatio und der terra repromissionis natürlich mit einem transzendenten Jenseitsraum zusammen.
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Schwellenraum der Reise auch ‚einfache‘ Inseln erfahren werden, denn der Zwischenraum wird narratologisch erst dort funktional, wo die Spannung narrativ vergegenwärtigt und entsprechend ästhetisch dynamisiert wird: Immanente Transzendenz kann nur über eine Reihe von Brüchen, Begrenzungen und Spannungen im Raum abgebildet werden. Durch Doppelläufigkeiten und Negationen wird das Transzendente als Unerreichbares markiert und verhandelt. Erst diese ästhetische Spannung, die der Text in der Konfrontation mit dem Problem der Inkommensurabilität entwickelt, erzählt die Inseln im ‚Zwischenraum‘. Diese ganz spezifische ästhetische Dynamisierung weisen innerhalb der NSB mehrere Inselräume auf, die vor dem Hintergrund des Zwischenraummodells in Einzelanalysen eine neue Bewertung erfahren sollen: das Vogelparadies, die Insel des Klosters des Ailbe, die Insel der drei Chöre, die Insel des Judas, die des Paulus und selbstverständlich die terra repromissionis selbst. Diese Inseln sind deshalb ausgewählt, da sie alle in Momenten der Dialogizität ihre relative Rolle als Jenseitsinseln und die Inkommensurabilität der ihnen immanenten graduellen Transzendenz thematisieren, verhandeln und in spezifischen, teilweise diskursprägenden Weisen, motivisch ausarbeiten. Die endzeitliche Ausrichtung der dort erzählten Figuren und der Inseln selbst erlaubt die Beschreibung dieser Inseln als ‚immanente Jenseitsräume‘. Das Vogelparadies Das Vogelparadies330 als ersten immanenten Jenseitsraum erreichen Brendan und seine Mitbrüder am ersten Ostersonntag ihrer Reise. Von ihr nur durch eine schmale Wasserstraße getrennt, liegt diese Insel in unmittelbarer Nähe sowohl der Schafinsel, auf der sie die Tage von Gründonnerstag bis Karsamstag verbracht hatten, sowie des Jasconius.331 Die Vogelinsel ist also, und das ist nicht unbedeutend, der westliche Teil der Inselgruppe, auf der sich die Reisenden alle sieben Jahre während der Feiertage aufhalten. Brendan und seine Mönche segeln um die Insel herum und treffen in ihrem Süden auf einen Flusslauf, dem sie bis ins Inselinnere folgen.332 Oberhalb der Quelle des Flusslaufs finden sie einen Baum von wunderbarer Größe, über und über bedeckt mit strahlend weißen Vögeln:
330 Vgl. NSB, 11. 331 Vgl. NSB, 9, 20 bzw. NSB, 11, 1–2. 332 Vgl. NSB, 11, 3.
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2 Die Insel Erat autem super illum fontem arbor mirae latitudinis in girum, non minus altitudinis, cooperta avibus candidissimis. In tantum cooperuerunt illam ut folia et rami eius minime viderentur. Cum haec vidisset vir Dei coepit intra se cogitare et tractare quidnam esset aut quae causa fuisset quod tanta multitudo avium potuisset esse in una collectione. In tantum sibi erat taedium ut effundisset lacrimas praevolutis genibus atque deprecasset Deum […].333 [Über jeder Quelle aber gab es einen Baum von wunderbarer Breite ringsum und nicht weniger [wunderbarer] Höhe, bedeckt von strahlend weißen Vögeln. Sie bedeckten ihn so umfassend, dass man seine Blätter und Zweige kaum mehr sah. Als der Mann Gottes dies gesehen hatte, begann er bei sich tiefgehend zu überdenken, worum es sich denn hier handele und was der Grund dafür sei, dass eine so große Menge von Vögeln sich in einer einzigen Gruppe zusammenfände. Das verursachte ihm einen solchen Überdruss, dass er auf den Knien Tränen vergoss und Gott anflehte […].]
Brendan staunt, versucht selbst die Bedeutung des Baums und seiner Vögel zu erschließen – cogitare et tractare, beides wohlweislich Verben, die eine eigene, selbstgesteuerte Erkenntnis suchen334 – scheitert aber daran. Daraufhin wendet er sich an Gott und bittet ihn um eine Offenbarung: ihm in seiner großen Barmherzigkeit sein Geheimnis zu offenbaren (per tuam magnam misericordiam revelare tuum secretum).335 Daraufhin löst sich ein Vogel vom Baum, setzt sich zu Brendan auf das Schiff und erklärt ihm als nuntius Dei,336 was es mit dem Baum und seinen Vögeln auf sich hat: Nos sumus de illa magna ruina antiqui hostis, sed non peccando aut consensu sumus, sed ubi fuimus creati, per lapsum illius cum suis satellitibus contigit nostra ruina. Deus autem noster iustus est et verax: per suum magnum iudicium misit nos in istum locum. Poenas non sustinemus: presenciam Dei possumus videre; tantum alienavit nos a consortio aliorum qui steterunt. Vagamur per diversas partes aeris et firmamenti et terrarum sicut alii spiritus337 qui mittuntur; sed in sanctis diebus atque dominicis accipimus corpora talia quae nunc vides et commoramur hic laudamusque nostrum creatorem.338 [Wir stammen von jenem großen Sturz des alten Feindes, aber weder wegen unserer Sünde, noch wegen unserer Teilhabe an der Verschwörung. Doch, sobald als wir geschaffen worden sind, stürzten wir bei seinem [sc. des alten Feindes] Fall zusammen mit seinen Anhängern. Unser Gott aber ist gerecht und wahrhaftig: Im Zuge seines großherzigen Urteils hat er uns an diesen Ort geschickt. Strafen erleiden wir nicht: Wir können die Gegenwart Gottes sehen, er trennte uns nur von der Gemeinschaft der anderen [Engel], die geblieben sind. Wir streifen durch
333 334 335 336 337 338
NSB, 11, 8–10. Vgl. MLW sowie MLLM s. v. cogito. NSB, 11, 12. NSB, 11, 16. Vgl. Hebr 1, 7. NSB, 11, 17–21.
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die verschiedenen Teile der Luft, des Firmaments und der Länder, so wie es andere Geister tun, die entsendet werden; aber an heiligen Feiertagen und Sonntagen empfangen wir solche Körper, wie du sie jetzt siehst und wir verweilen hier und loben unseren Schöpfer.]
Bei den Vögeln handele es sich um diejenigen der Engel, die zusammen mit Luzifer (hostis antiquus) aus dem Himmel verstoßen wurden. Sie hätten sich nicht für ihn ausgesprochen, aber auch nicht gegen ihn positioniert (non peccando aut consensu fuimus) – es muss sich hier also entsprechend um so etwas wie ‚neutrale‘ Engel handeln. Nach Gottes Urteil bleibe ihnen die Hölle (istum locum) und ihre Strafen erspart. Als Strafe für ihre neutrale Position müssten sie stattdessen ‚nur‘ außerhalb der Gemeinschaft der Engel (consorcium aliorum) ihr Leben verbringen und als spiritus durch die Welt streifen. Einzig an Sonn- und Feiertagen – ein Motiv, das bei Judas ebenfalls auftauchen wird,339 – fänden sie auf jener Insel in Vogelgestalt Ruhe von ihrer Existenz als vagantes und könnten hier in materialisierter Form ihre Zeit im Lob auf den Schöpfer verbringen. Die Insel der Vögel erinnert dabei in ihrer Ausgestaltung immer wieder an eine Klostergemeinschaft. Nach der Offenbarung ihrer Natur durch einen der Vögel stimmen sie alle ein in einen Lobgesang Gottes.340 Jeweils zum Stundengebet stimmen sie Psalmengesänge an,341 die Einstimmigkeit, die bei den Mönchen Brendans zu Beginn der Reise noch als göttliche Legitimation der Reise gedient hatte – quasi uno ore (scheinbar mit einem Mund)342 – taucht bei den Vögeln wieder auf: quasi una voce (scheinbar mit einer Stimme).343 Einstimmig singen sie und realisieren so, wie die Mönche vor ihnen, den göttlichen Willen, indem sie, wie Nebukadnezar nach seiner Läuterung,344 den Herren loben. Neben der Beschreibung der Vogelgemeinschaft als collectio,345 339 Dieses Motiv der Sonntagsruhe taucht in der christlichen Tradition das erste Mal in der Visio Pauli bzw. der Paulus-Apokalypse auf, vgl. Jiroušková 2006, S. 376–377. Mit Ausnahme der Gruppe A der Höllenfassungen (vgl. Jiroušková 2006, Übersicht S. 169) verhandeln alle Kurzfassungen der Visio Pauli eine Form von refrigerium: Die Seelen bitten in Anwesenheit von Michael und Paulus um eine Ruhepause von den Folterqualen der Hölle. Zum Zusammenhang der Visio Pauli mit der NSB vgl. Orlandi 1968, S. 127–129. Lenka Jiroušková (2006) weist zudem auf die ausnehmende Bedeutung der Paulus-Apokalypse und ihrer verkürzten Redaktion Visio Pauli für den angelsächsisch-irischen Raum hin (S. 16–17). 340 Vgl. NSB, 11, 25–37. 341 Bei den gesungenen Psalmen handelt es sich in Abwandlung um Ps 64,1–2 [=EÜ (2016) Ps 65,1–2]; Ps 50,17 [=EÜ (2016) Ps 51,17]; Ps 148,1–2. [=EÜ (2016) Ps 148,1]; Ps 89,17 [=EÜ (2016) Ps 90,17]; Ps 46,7–8. [=EÜ (2016) Ps 47,7] wie Ps 66,2 [=EÜ (2016) Ps 67,2] und Ps 132,1 [=EÜ (2016) Ps 133,1]). 342 NSB, 2, 4. 343 NSB, 11, 25, vgl. NSB, 27, 13. 344 Vgl. NSB, 11, 9. 345 NSB, 11, 9.
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wie congregatio monastisch konnotiert,346 fällt auch die weiße Farbe ihrer Federn auf (candidissimi). Diese weiße Farbe teilen die Vögel in der NSB nur mit den Mönchen auf der Insel der drei Altersgruppen und dem Eremiten Paulus – beides Inseln, die ebenfalls klar als immanente Jenseitsräume figuriert sind. Monastische Sozialität, wie sie unter anderen die Vögel so figurieren, wird innerhalb der Reise als paradiesisch gedeutet und offenbart ihren besonderen Anspruch auf die Nähe zum Transzendenten. Der Raum, in dem die Vögel in der NSB dabei ihren Platz finden, ist nicht ohne Grund eine Insel und in ihrer Zugänglichkeit durch Brendan und seine Mitreisenden immanent-weltlich figuriert. Den Engeln als neutralen Wesen – das heißt: gefallen, und doch nicht gefallen, weder der Hölle noch dem Himmel zugeordnet – muss ein Aufenthaltsort zugewiesen werden, der dieser Spannung Ausdruck verleiht, weshalb auch das Erscheinen der neutralen Engel nicht als spiritus, sondern in Gestalt körperlicher Vogel, nicht überrascht.347 Die Engel sind in ihrer Figurierung auf der Vogelinsel ‚weder noch‘. Diese Spannung eines relativ transzendenten Wesens im immanenten Raum, der wiederum eschatologisch gedacht werden soll, kann nur durch zusätzliche Markierungen erzählt werden, und das leistet der Zwischenraum. Die Insel der Vögel, bezeichnender Weise in seiner Paradoxie auch Paradisus Avium348 genannt, schafft einen Raum, der in der spezifischen Darstellung von Immanentem auf Transzendentes verweisen kann. Die Engel werden körperliche Vögel auf einer immanenten Insel, in aller narratologischen Spannung immanenter Jenseitigkeit. In dem Moment, in dem Brendan die Vogelinsel betritt, betritt er eine Insel, die weder wirklich weltliche Insel noch vollkommen Jenseitsraum ist. Stattdessen entwickelt das Narrativ der Vogelinsel hier eine ästhetische Spannung, die sich gerade aus dem Paradox der Inkommensurabilität speist, an ihm abarbeitet und im Verweis auf Transzendenz wie Immanenz als Zwischenraum positioniert. Dies ist in der NSB bereits in der Art und Auswahl der beschriebenen Inseln angelegt. So sind die beschriebenen Orten in Irland (Ulster, Connacht und Munster) realhistorisch, auch das Archipel aus Schafs- und Vogelinsel hat möglicherweise eine realhistorische Entsprechung: Es trägt deutliche Züge der Färöer Inseln, die im achten Jahrhundert nachgewiesener Maßen als anachoretische Räume der irischen peregrini genutzt wurden.349 Zugleich jedoch, und das liegt in dem zu verhandelnden
346 Vgl. MLW s. v. congregatio bzw. collectio. 347 Zur Episode des Vogelparadieses mit besonderem Schwerpunkt auf den neutralen Engeln vgl. Jacobsen 2006. 348 Vgl. beispielsweise NSB, 15, 13 und NSB, 9, 20. 349 Vgl. Wooding 2005, S. 36; Wooding 2000, S. 237–240.
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Erzählgegenstand begründet, werden diese Räume als Heilsräume Teil einer differenzierten Jenseitstopographie.350 Realisiert wird diese Doppelung auch durch ein breites Feld an Intertexten. Wie bereits bemerkt,351 ist die Figuration von Seelen in der Gestalt von Vögeln ein irisches Motiv bzw. eines, das in den irischen Texten weite Verbreitung gefunden hat.352 In den immrama, die teils ganz analog der NSB strukturiert sind, taucht der Vogel immer wieder als Verkörperung der Seele von Verstorbenen auf: Im Iomramh churraig Hua gCorra annso, um nur ein Beispiel zu nennen, erscheinen an Bord des Schiffes in der Gestalt von Vögeln ein auf der Reise verstorbener Komiker353 sowie eine Nonne.354 Auf einer Insel, wo ein Schüler des Apostels Andreas auf den Tag des Jüngsten Gerichts wartet, singen die Seelen Heiliger in der Gestalt von Vögeln Melodien.355 Die Parallele zur NSB geht sogar so weit, dass von Seelen aus der Hölle erzählt wird, die an Sonntagen in Vogelgestalt die Hölle verlassen können.356 Der zentrale Intertext dieser Vogelszene ist allerdings nicht im irischen Raum zu suchen, sondern in der Bibel. Die Begegnung Brendans mit dem Baum geschieht in mehreren Schritten. Zuerst wird der Baum in seinem Wunder beschrieben (erat autem). Als Brendan ihn erblickt (cum haec vidisset), versucht er seine Natur zunächst selbst zu ergründen (coepit intra se cogitare et tractare), bis er sich schließlich an Gott wendet. Er bittet um die Offenbarung des ‚Geheimnisses‘ (revelare tuum secretum), bis schließlich plötzlich (ecce) einer der Vögel zu ihm fliegt, und sich ihm als neutraler Engel offenbart.
350 Vgl. Wooding 2005, S. 36: „The tale, if not ‚real‘, is set against the detailed backdrop of a known world of voyaging in the ocean ‚desert‘, echoing travellers‘ tales that probably would have been familiar to its audience.“ 351 Vgl. exemplarisch Jacobsen 2000, S. 81. 352 Zum Motiv des Seelenvogels vgl. Anm. 1200. 353 Vgl. Iomramh churraig Hua gCorra annso, 46, zitiert nach Stokes 1893. 354 Vgl Iomramh churraig Hua gCorra annso, 55–56. 355 Vgl. Iomramh churraig Hua gCorra annso, 52. 356 Interessant ist an dieser Stelle vor allem die Tatsache, dass es nicht die neutralen Engel sind, die eine Ruhepause in Vogelgestalt bekommen: Stattdessen sind es hier die Seelen der Hölle, also Wesen, die klar dem Raum der Hölle zugeordnet sind, die als Vögel auf der Insel ihre Sonntage verbringen dürfen, analog auch zu der Judas-Szene in der NSB (NSB, 25). Vgl. zum Motiv der Seelenvögel weiterhin Immram Curaig Máele Dúin, 19, wo Vögel in den Bäumen einer Insel als Seelen Verstorbener erklärt werden. Im Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla treffen die Reisenden noch konkreter auf eine Insel mit einem großen Baum und Vögeln (vgl. Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla, 17, nach der Edition von Stokes 1888a), von denen einer vom Anfang der Zeit (Genesis), Christi Geburt, Taufe, Passion und Auferstehung, sowie der Apokalypse erzählt. Als Reaktion darauf schlagen sich die Vögel selbst mit ihren Flügeln, bis ihre Seiten bluten. Zweifelsohne finden sich in den immrama hier an einigen der aufgeführten Stellen also Räume, die in ihrer narratologischen Konfiguration selbst als Zwischenräume bezeichnet werden können.
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Im Hintergrund dieser Szene steht das Buch des Propheten Daniels, an den sich im vierten Kapitel der König Babylons, Nebukadnezar, wendet. Er hatte einen Traum von einem großen Baum: visio capitis mei in cubili meo videbam et ecce arbor in medio terrae et altitudo eius nimia magna arbor et fortis et proceritas eius contingens caelum aspectus illius erat usque ad terminos universae terrae folia eius pulcherrima et fructus eius nimius et esca universorum in ea subter eam habitabant animalia et bestiae et in ramis eius conversabantur volucres caeli et ex ea vescebatur omnis caro.357 [Was ich auf meinem Lager vor Augen hatte, war dies: Ein Baum stand in der Mitte der Erde; er war sehr hoch. Der Baum wuchs zusehends und wurde immer mächtiger; seine Höhe reichte bis an den Himmel; er war bis ans Ende der ganzen Erde zu sehen. Er hatte prächtiges Laub und trug so viele Früchte, dass er Nahrung für alle bot. Unter ihm fanden die Tiere des Feldes Schatten; die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen; alle Lebewesen ernährten sich von ihm.]
Der Baum steht in der Mitte der Welt, wie der Baum Brendans in der Mitte der Insel, er ist von außergewöhnlicher Größe und in seiner Krone sitzen Vögel (volucres caeli). Es erscheint ein Wächter aus dem Himmel (vigil et sanctus de caelo),358 der den Baum fällen und nur seine Wurzeln stehen lässt. Nachdem niemand anderes ihm diesen Traum deutet, wendet sich Nebukadnezar an Daniel: tunc Daniel cuius nomen Balthasar coepit intra semet ipsum tacitus cogitare quasi hora una et cogitationes eius conturbabant.359 [Da war Daniel, der auch Beltschazzar heißt, eine Zeit lang ganz verstört; denn seine Gedanken machten ihm Angst.]
Daniel ist beunruhigt, doch auf Nebukadnezar Zuspruch deutet er ihm den Traum. Der Baum, der gefällt wurde, stehe für Nebukadnezar selbst und dessen große Macht. Wie der Baum würde auch er gestürzt werden: eicient te ab hominibus et cum bestiis feris erit habitatio tua et faenum ut bos comedes et rore caeli infunderis septem quoque tempora mutabuntur super te donec scias quod dominetur Excelsus super regnum hominum et cuicumque voluerit det illud360 [Man wird dich aus der Menschheit ausstoßen und du musst bei den Tieren des Feldes leben. Und Grünzeug wie den Stieren werden sie dir zu fressen geben und mit dem Tau des Himmels werden sie dich benetzen und sieben Zeiten werden über dich dahingehen, bis du erkennst, dass der Höchste über die Herrschaft bei den Menschen gebietet und sie verleiht, wem er will.]
357 Dan 4,7–9. 358 Dan 4, 10. 359 Dan 4,16. 360 Dan 4,22.
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Er würde aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen (eicient te ab hominibus) werden, und müsse sein Leben als Tier verbringen (cum bestiis feris erit habitatio […] ut bos comedes), bis er nach Ablauf von sieben Zeiten erkennen würde, dass Gottes Allmacht alles Andere übertrifft.361 Die Wurzel wiederum, die im Traum stehen gelassen wurde, sei ein Zeichen dafür, dass ihm sein Königreich erhalten bleiben sollte, nachdem er erkannt hätte, dass alle Macht bei Gott läge (omnem potestatem esse caelestem).362 Die Parallele zu Brendan auf der Insel der Vögel ist auffallend, wenn auch verschränkter Natur. Wie Nebukadnezar den Baum erblickt, und sich ihm seine Bedeutung zuerst nicht erschließt, geht es auch Brendan. Er sieht den Baum, weiß ihn aber nicht zu deuten. Während Nebukadnezar von Daniel die wahre Bedeutung des Traumes erschlossen bekommt, erklärt der Vogel Brendan die wahre Bedeutung des Baumes, der vor ihm steht. Zugleich allerdings ist Brendan auch analog zu Daniel figuriert. Bei Daniel heißt es, coepit intra semet ipsum tacitus cogitare, während Brendan coepit intra se cogitare et tractare quidnam esset. Zwar kommt Brendan nicht allein zum Ziel, er muss sich an Gott wenden und ihn um eine revelatio bitten, doch bewirkt die sprachliche Parallelisierung hier zweifellos auch eine inhaltliche. Anders als Daniel aber ist Brendan letztlich kein Prophet und bedarf zur Deutung des Baums schließlich der mittelbaren Hilfe Gottes. Auf diese Weise erfahren die neutralen Engel ihrerseits eine klare Deutung erfahren: Wie Nebukadnezar werden die Engel von Gott gestürzt, sie werden wie er aus der Gemeinschaft, nicht der Menschen, sondern der Engel, verstoßen und müssen ihr Leben als Tiere verbringen. Sieben Zeiten, in der eschatologischen Logik der NSB wohl bis in eine Endzeit, müssen die Engel in diesem Zustand wartend ertragen. Wie die Rückkehr zur Königsherrschaft jedoch, die Nebukadnezar verheißen ist, dies impliziert der Intertext ohne Frage, steht den neutralen Engeln in der Zukunft die (endzeitliche) Rückkehr in den Himmel offen. Die neutralen Engel, ihrem Wesen nach eigentlich transzendenter Natur, müssen nach ihrem Fall ein Leben in der Immanenz verbringen. In dieser weltlichen Immanenz können sie nur an Sonn- und Feiertagen, nur auf einer bestimmten Insel, und nur durch die Gnade Gottes von Brendan in ihrer 361 Dieses Motiv findet sich im irischen Raum auch in der Erzählung Buile Shuibhne (Ekstase des Shuibhne), wo der König Shuibhne vom Hl. Ronan zur Strafe in einen Vogel verwandelt wird (ediert und in das Englische übersetzt von O’Keeffe 1975 [1931], eine deutsche Übersetzung liefert O’Mara 1985). Trotz der späten Textzeugen wird die Erzählung zumeist in das zwölfte Jahrhundert datiert, ist möglicherweise aber auch jünger, vgl. die Datierungsüberlegungen bei Ó Béarra 2014, S. 269–277. Für eine Untersuchung der Parallelen zwischen Nebukadnezar und Suibhne vgl. Sayers 1992. Für die NSB wurde das Buch Daniel meines Wissens noch nicht berücksichtigt. 362 Dan 4,23.
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wahren Ambivalenz erfahren werden. Sie bestimmen ihre Insel so wesentlich als einen Raum immanenter Jenseitigkeit, denn ihr Dasein hier und die Funktionalität des Inselraumes ist im dieser Logik auf ein (noch) transzendentes Jenseits ausgerichtet, welches ihre Gegenwart nichtsdestotrotz entscheidend bestimmt. Erst durch die Gestalt der Engelsvögel wird die doppelläufige Funktionalität der Insel als weltlicher und eschatologischer Raum manifest. Als Raum einer eschatologischen Heilsordnung kann sie nicht ohne Weiteres mit immanenten Kategorien erfassbar sein. Es bedarf der göttlichen revelatio, des Vogels, der sich selbst auf wunderbar sprechende Weise als Engel zu erkennen gibt, um den Zwischenraum als Zwischenraum erleben zu können. Die Klosterinsel des Ailbe Während die Vogelinsel nur durch einen Flusslauf zu erreichen war, in den das Boot Brendans gerade passte,363 finden Brendan und seine Mitreisenden bei der Insel des Ailbe, dieses Mal erst nach einer vierzigtägigen Umrundung der Insel und dreitägigem Beten und Fasten,364 eine Hafeneinfahrt, die dem Boot ebenfalls gerade genügend Platz zur Einfahrt bietet.365 Wiederum entdecken sie Quellen, aus denen Brendan seinen Mönchen ohne die Erlaubnis der Inselbewohner allerdings zu trinken verbietet. Ein Greis, „von außergewöhnlicher Erhabenheit, mit schneeweißem Haar und strahlendem Gesicht“ (nimiae gravitatis, capillis niveo colore et facie clarus) taucht auf, gebietet ihnen zu schweigen und führt sie in ihr Kloster.366 Sie setzen sich zu den Mönchen, bis der Abt zu sprechen beginnt und ihnen die Hintergründe des Klosters erklärt.367 Von den beiden Quellen der Inseln versorge die eine die Klosterbrüder mit warmem Wasser, um sich die Füße zu waschen, und die andere mit Nahrung. Jeden Tag fänden sie Brote in ihrem Vorratsraum – ignotum est ubi praeparantur aut quis portat ad nostrum cellarium368 [es ist [uns] nicht bekannt, wo sie vorbereitet werden oder wer sie in unseren Vorratsraum bringt] – je einen
363 Vgl. NSB, 11, 5: Erat autem illud flumen tam latum sicut et latitudo illius navis [Jener Fluss aber war so breit wie auch die Breite jenes Schiffes.] 364 Vgl. NSB, 12, 1–5. 365 Vgl. NSB, 12, 6: apparuit illis portus angustus, tantum unius navis receptio [es erschien ihnen eine enge Hafeneinfahrt, der Kapazität nach für ein einziges Schiff]. 366 Vgl. NSB, 12, 10–12. 367 Vgl. NSB, 12, 24–25. 368 NSB, 12, 28.
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Laib für zwei Brüder, ein ganzes Brot an Sonn- und Feiertagen.369 Trotz der achtzig Jahre, die die Brüder bereits auf der Insel verbracht hätten, verspürten sie weder Alter noch Schwäche, das Klima auf der Insel sei weder zu kalt noch zu warm, und die Kirchenleuchter entzündeten sich zur Messe wie zur Nachtwache von selbst.370 Das Kloster wird auf diese Weise durch Merkmale wie eine besondere Disziplin,371 das Schweigegelübde372 sowie einen bestimmten Aufbau von Liturgie und Tagesablauf als ein ‚Idealkloster‘ inszeniert,373 das zugleich, oder gerade deshalb, auf einer Zwischenrauminsel lokalisiert ist. Die Mönche werden in wundersamer Weise versorgt, seit achtzig Jahren, sowohl mit Brot als auch mit Wasser aus den Quellen. Trotz der verstrichenen Zeit scheinen sie nicht zu altern, und alle ihre Bedürfnisse erfüllt zu sein: bis hin zu den Leuchtern, die sich von selbst entzünden und auf diese Weise eine angemessene Feier der Messe erlauben. Bei der Insel des Ailbe scheint es sich also um einen Raum zu handeln, in dem die Kategorie der Zeitlichkeit in gewisser Weise ausgesetzt ist. Es gibt keine Jahreszeiten, oder zumindest zeigen sie sich nicht in wandelndem Wetter; es gibt kein Alter und auch die Zeit zur Messe und den Vigilen wird ihnen letztlich durch das Erleuchten der Lichter angezeigt. Auch über die Strukturierung des klösterlichen Tagesablaufs nach den Stundengebeten figuriert sich also ein Raum, der weder der immanenten Zeitlichkeit verhaftet noch endgültig transzendent zeitlos ist. Der monastische Tagesablauf strukturiert die eigentliche Zeitlosigkeit der Insel für die immanenten Mönche, die auf ihr leben. Die Mönche nämlich, wenn sie auch in einem Raum leben, der als Zwischenraum gezeichnet ist, bleiben weiterhin wesentlich immanent. Ihr Abt mag engelhaft weißes Haar und ein hellstrahlendes Gesicht haben, sie alle mögen trotz der vergangenen Jahre nicht altern, trotzdem sind sie alle weiterhin auf Nahrung angewiesen, die ihnen der Zwischenraum, der eben als ein anderer, auch wunderbarer Raum figuriert ist, im Vorratskeller einfach erscheinen lassen kann. Brendan, der wie schon beim Vogelbaum über diesen Ort nachdenkt,374 bringt die Paradoxie des Ortes schließlich mit mehreren Fragen an den Abt auf den Punkt. Die erste Frage, wie die Mönchsgemeinschaft in ihrem 369 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli primi eremitae (Vita S. Pauli), 10: Auch Paulus erhält an dem Tag, an dem Antonius ihn besucht, von seinem Raben die doppelte Ration. Dieser Doppelversorgung entspricht Ex 6,22–23: Die Israeliten erhalten hier am 6. Tag die doppelte Menge Manna. 370 Vgl. NSB, 12, 25–34. 371 Vgl. NSB, 12, 45. 372 Vgl. NSB, 12, 15–16. 373 Vgl. Haug 1989, S. 381. 374 Vgl. NSB, 12, 41 und NSB, 12, 48.
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menschlichen Fleisch bleiben könne (quomodo potuit esse in humana carne),375 beantwortet der Abt mit einem Hinweis auf das Schweigegelübde und damit, dass die Mönche der Insel frei seien von irdischer Schwäche körperlicher oder seelischer Art, „wie sie im menschlichen Geschlecht umherzieht“ (infirmitas carnis aut spirituum, quae vagantur circa humanum genus).376 Interessanter Weise ist hier die infirmitas das Subjekt der Wanderbewegung, nicht die Mönche. Die Notwendigkeit eines immanenten Gestus wie der Wanderbewegung nämlich, wie sie auch die Engelsvögel vollziehen müssen377 und Brendan und seine Mönche ja zum Zeitpunkt des Besuches bei der Klosterinsel absolvieren, haben die Mönche der Klosterinsel bereits selbst transzendiert. Auch hier scheint wieder die Relationalität der Inseln untereinander auf, wie sie zusammen und im Einzelnen auf die beiden bestimmenden Pole der Reise verweisen und in ihren Nuancierungen selbst Ausdruck des graduellen Transzendenzkonzeptes sind. Die zweite Frage, ob er und seine Brüder im Kloster des Ailbe bleiben können, verneint der Abt mit Verweis auf Gottes Plan für Brendan (praeparavit Deus),378 nach Hause zurückzukehren und dort zu sterben.379 Als ein Pfeil vor ihren Augen die Leuchter entzündet, nur um daraufhin wieder zu verschwinden, fragt Brendan eine dritte Frage, wer nämlich die Leuchter am Morgen wieder löschen würde. Der Abt antwortet mit einem Hinweis auf das Wesen des Lichtes: Veni et vide sacramentum rei. Ecce tu vides candelas ardentes in medio vasculorum; tamen nihil de illis exuritur ut minus sint aut decrescant, neque remanebit mane ulla favilla, quia spiritale lumen est.380 [Komm und sieh dir das Geheimnis dieses Geschehens an. Schau, du siehst die brennenden Kerzen in der Mitte der kleinen Schalen; und doch wird nichts von ihnen verbrannt, so dass sie weniger sind oder kleiner werden und es wird auch morgens kein Funken übrig bleiben, weil es sich um ein geistiges Licht handelt.]
Bei den Leuchtern handele sich um ein spiritale lumen, das eben nichts an der Materialität der Kerze verändere. Ein solches Licht, so muss die Antwort des Abts wohl implizieren, verlange nicht, gelöscht zu werden, da es ebenso wie es entzündet würde, wieder verschwände: Nicht körperlich, sondern auf eine geistige, immaterielle Weise.381
375 NSB, 12, 56. 376 NSB, 12, 60. 377 Vgl. NSB, 11, 20. 378 NSB, 12, 63. 379 Vgl. NSB, 12, 61–64. 380 NSB, 12, 68–69. 381 Vgl. NSB, 12, 67–69.
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Diese Erklärung nimmt Brendan zum Anlass für seine vierte und letzte Frage: Quomodo potest in corporali creatura lumen incorporale corporaliter ardere?382 [Wie kann in einem körperlichen Wesen ein unkörperliches Licht auf eine körperliche Weise brennen?] Wie kann im materiellen Medium der Kerze ein immaterielles Licht ein materielles Leuchten erzeugen? Die Frage, so sehr sie die Paradoxie der immanenten Transzendenzerfahrung im Besonderen und die körperliche Jenseitsreise im Allgemeinen auf den Punkt bringt, lässt der Abt leider offen. Er verweist auf den Dornbusch auf dem Berg Sinai,383 der vom Feuer ebenfalls verschont blieb, und der Dialog endet.384 Wie bereits auf der Vogelinsel und wie es auch in den anderen Zwischenräumen geschieht, tritt Brendan hier wieder in Kontakt mit einer Figur der Zwischenrauminsel. Im Fall der Klosterinsel von Ailbe aber offenbaren der Dialog und die Fragen, die Brendan an die Klosterinsel stellt, den Zwischenraumcharakter der Insel und die Paradoxien, die diese Figurierung mit sich bringt. Alle vier Fragen laufen auf die eine grundlegende Spannung der Insel hinaus: das Körperliche, Immanente auf der einen, und das Immaterielle, Transzendente auf der anderen Seite – Fragen, auf die der Abt der Insel nur vage antwortet, ohne die Paradoxie auflösen zu können. Dies überrascht natürlich nicht, da der Abt, wie auch Brendan, auf diese zugrundeliegende Spannung und Paradoxie nur auf zwei Weisen reagieren kann. Er kann deskriptiv ausweichen, indem er beispielsweise auf das Schweigegelübde seines Klosters oder die Freiheit der Klosterbrüder von menschlichen Schwächen hinweist. Er kann beschreiben, wie die Kerzen nicht weniger werden. Oder aber er kann sich, wie Brendan selbst es wohl könnte, auf die Heilige Schrift als Referenz zurückziehen. Was er jedoch nicht vermag, das liegt in der Natur seiner Rolle im Zwischenraum und teilt er wesentlich mit Brendan: das Zusammenspiel von Transzendenz und Immanenz von einem Standpunkt, der nicht immanent wäre, zu überblicken und entsprechend einzuordnen.385 Das transzendente, immaterielle (also materiell nicht erklärbare) Licht, das die Kerze entzündet und brennen lässt, die Klosterbrüder, die sich „im menschlichen Fleisch“ (in humana carne)386 befinden und trotzdem weder altern noch andere irdische Schwächen aufweisen: Das sind die Momente, an denen in der Zwischenrauminsel die graduelle Transzendenz offenbar wird. Die Klosterinsel wird zu einem Raum, der seinen Kategorien nach weder wirklich immanent noch transzendent ist. Sie ist in einem Spannungs382 NSB, 12, 70. 383 Vgl. Ex 3,2. 384 Vgl. NSB, 12, 70–71. 385 Vgl. kontrastiv Manannáns Rolle im Gespräch mit Bran S. 56–57. 386 NSB, 12, 56.
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verhältnis immanenter Transzendenz funktional und vermag, wie auch die entzündete Kerze, einzig in der Paradoxie zu offenbaren, was sich an ihr in transzendenter Weise vollzieht. Die Insel der drei Altersgruppen Hinsichtlich der impliziten monastischen Sozialität und der Einzelfigurierung ähnelt die Insel der drei Altersgruppen387 der Klosterinsel Ailbes. Auch bei ihr handelt es sich um eine paradiesische Insel, auf der die Zeitlichkeit ausgesetzt ist, mit dem Unterschied, dass die Bewohner dieser Insel keine irdischen Bedürfnisse (mehr) zu haben scheinen. Die Bewohner der Insel sind in drei Altersgruppen aufgeteilt, eine Gruppe von Knaben, in weißem Gewand, eine von jungen, in blauem, und eine von alten Männern, in rotem Gewand. Sie haben keine irdischen Bedürfnisse: Sie essen nicht, trinken nicht, schlafen nicht, sondern wandeln nur auf der Insel, während sie abwechselnd in der jeweiligen Gruppe Psalmen singen, wie das auch schon die Engelsvögel und die Mönche des Ailbe getan haben. Ihr Gesang ist dabei ebenfalls geordnet nach dem liturgischen Stundengebet, die drei Altersgruppen feiern auch die Messe, aber die zeitliche Strukturierung dieses Inselraums scheint wie schon beim Kloster des Ailbes nicht in einem natürlichen Tag- und Nachtrhythmus begründet. Statt etwa der untergehenden Sonne legt sich nach den Gradualpsalmen eine Wolke über die Insel: […] statim obumbravit illam insulam nubes mirae claritatis, sed non poterant videre quae antea viderant prae spissitudine nubis. Attamen audiebant voces canentium praedictum carmen sine intermissione usque ad vigilias matutinas.388 [[…] sofort überschattete eine Wolke jene Insel. Sie war zwar von einer wunderbaren Helligkeit, aber sie konnten wegen der dichten Beschaffenheit der Wolke nicht mehr sehen, was sie vorher gesehen hatten. Aber dennoch hörten sie Stimmen, die das bekannte Lied ohne Unterlass bis in die Morgenstunden sangen.]
Wie schon im Kloster des Ailbe ermöglicht so ein transzendentes, induziertes Moment eine liturgische Strukturierung des Tagesablaufes, ohne dass eine andere Form von immanenter Zeitlichkeit nötig wäre. Anstelle des Pfeiles, der auf der Klosterinsel die Leuchter entzündet hatte, gibt es hier eine Wolke. Sie verdunkelt die Insel und zeigt die ‚Nacht‘ an. In ihrer Paradoxität – sie verschattet und ist doch von einer mira claritas – ist sie wie der immateriell materiell leuchtende Leuchter insofern eine Modalität des 387 Vgl. NSB, 17. 388 NSB, 17, 15–16.
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Zwischenraums, als sie motivisch die Spannung immanenter Transzendenz zu verhandeln vermag. Das Transzendente wird im Immanenten wirksam und strukturiert die transzendente Zeitlosigkeit der Insel im Sinne einer quasi-Zeitlichkeit. Im Gegensatz zu Kloster- wie Vogelinsel gibt es hier außerdem kein Moment der Selbstoffenbarung von Seiten des immanenten Jenseitsraums. Keine Figur erklärt sich oder den Inselraum als Ganzes. Die Bewohner versorgen die Reisenden zwar mit Früchten von der Insel, die sich als wunderbar nahrhaft erweisen werden und erlauben einem überzähligen Mönch wie verheißen auf ihrer Insel zu bleiben.389 Trotzdem geben sie keine wirkliche Erklärung für die Funktion der Insel, so dass eine epistemologische Beschränkung weiterhin funktional und das Transzendente als eben ‚transzendent‘ markiert bleibt. Diese relative Gradualität der Zugänglichkeit und die relativen wesentlichen Besonderheiten, wie sie die Inseln der NSB zeigen – relativ nicht nur zu Normwelt und absoluter Transzendenz, sondern auch der Inseln untereinander –, explizieren so auf signifikante Weise in der räumlichen Diversität das implizite Konzept gradueller Transzendenz. Gerade im Zusammenspiel, der Überlagerung und dem Wirksamwerden der Transzendenz in die bzw. in der Immanenz erhält die Insel ihre Funktionalität: Vormals weltliche Knaben, Männer, Greise leben hier, so suggeriert das auch die Aufnahme des neuen Mönchs in ihre ‚Schule‘ (scola),390 und verbringen ihr Leben in einem Raum außerhalb immanenter Kategorien in der laus perpetua an Gott. Ganz wie bei den Engelsvögeln und der Klosterinsel Ailbe wird monastische Sozialität und Lebensführung als Modus der Transzendenzhaftigkeit und relativen Nähe zu einem absolut unverfügbaren Jenseitigen inszeniert. Hier warten sie auf eine Endzeit, die auch ihnen, trotz der relativen Transzendenz ihres Aufenthaltsortes, noch verschlossen ist. Dem Mönch, der sein restliches Leben in dieser paradiesischen Gemeinschaft verbringt, wird so aus der Perspektive Brendans ein unermessliches Glück zuteil, wie auch Brendans zwei letzten Sätze zeigen: Fili, recordare quanta beneficia proposuit tibi Deus in hoc saeculo. Vade et ora pro nobis.391 [Sohn, bedenke, welch große Wohltaten dir Gott schon in diesem Zeitalter offenbart hat. Gehe und bete für uns.] Mit Aufnahme auf die Insel ist der Mönch Teil einer quasi-paradiesischen Gemeinschaft geworden, die in immanenten Kategorien eigentlich gar nicht erlebbar und Gnadenerweis Gottes ist. Der Verweis auf den eigentlichen Bruch zwischen dem Leben auf der Insel und hoc saeculum macht die endzeitliche Dynamik deutlich, die die Insel der drei Altersgruppen bestimmt: Hier ist der Mönch aus Irland Teil einer Gemein389 Vgl. NSB, 17, 23–26. 390 NSB, 17, 27. 391 NSB, 17, 27.
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schaft geworden, die über der einfachen Klostergemeinschaft steht, nicht mehr der immanenten Welt verhaftet ist, aber noch kein endzeitliches Leben führt. Hier hat er Anteil an einer (graduellen) Transzendenz, die selbst Brendan verschlossen bleibt. Er kann zum Fürsprecher der immanenten Menschen im Allgemeinen und Brendans im Besonderen werden, wie dessen abschließenden Worte, ora pro nobis (bete für uns), deutlich machen: Brendan nämlich mag zwar die Zwischenrauminseln, wie sie graduelle Nähe zu Transzendenz abbilden, erfahren können, aber eben auch nur in gewissem Maße. Der Mönch auf der Insel der drei Altersgruppen vermag die epistemologische Ausnahmerolle Brendans jedoch, sobald er auf der Insel der drei Altersgruppen Zugang findet, relativ zu transzendieren. Die Felsinsel des Judas Auf dem Weg von der Insel der drei Altersgruppen landen Brendan und seine Mitbrüder auf dem Weg zu einer Vulkaninsel, die wohl den Eingang zur Hölle selbst darstellen soll.392 Der dritte der überzähligen Mönche – der erste war im menschenleeren Palast nach seinem Diebstahl gestorben, der zweite war auf der Insel der drei Altersgruppen geblieben – wird hier von Dämonen entführt und zur Folter gebracht. Sieben Tage später, südlich des Höllenberges, sehen sie schließlich eine Gestalt. […] apparuit illis in mare quedam formula quasi hominis sedentis supra petram, et uelum ante illum a longe quasi [mensura] unius sagi, pendens inter duas furcellas ferreas; et sic agitabatur fluctibus sicut nauicula solet quando periclitatur a turbine. Alii ex fratribus dicebant quod auis esset, alii nauim putabant.393 [[…] im Meer zeigte sich ihnen eine Art Gestalt, scheinbar die eines Menschens, der auf einem Felsen saß, und ein Segel vor ihm, von weitem scheinbar ein Mantelfetzen, der zwischen zwei eisernen Gabeln hing. Er wurde so von den Wellen hin- und hergetrieben, wie das üblicherweise bei einem kleinen Schiff geschieht, wenn es von einem Wirbelsturm bedroht ist. Von den Brüdern meinten die einen, es handele sich um einen Vogel, die anderen hielten es für ein Schiff.]
Die Brüder, und wie es scheint auch Brendan, können nicht erkennen, um was es sich handelt: eine formula,394 nur möglicherweise ein Mensch, ein Stück Stoff vor ihm an zwei Eisengabeln, die auf einem Felsen wie in einem Strudel durch die Fluten getrieben wird. Alles ist so schwer erkennbar, dass sich 392 Die Fahrt führte zuvor allgemeiner in die Nähe der Hölle, vgl. NSB, 23, 15. Vgl. zudem den Vergleich des nach ihrer Abfahrt brennenden Berg mit einem Scheiterhaufen, NSB, 24, 10. 393 NSB, 25, 1–3. 394 Zum Gebrauch der Diminutive in der NSB vgl. Stifter 1997, S. 18–20.
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die Brüder unsicher sind, ob es sich vielleicht nicht doch um einen Vogel oder ein Schiff handelt.395 Das Indefinitpronomen quaedam sowie die Wiederholung von quasi relativieren die Identifikationsangebote, die der Text macht, und spiegeln im Eindruck eines sukzessiven, assoziativen und vor allem ungenügenden Erkenntnisprozesses die epistemologischen Schwierigkeiten der Reisenden sprachlich wider. Auf Brendans Gebot hin fahren sie zu der Gestalt, und die tosenden Wellen werden plötzlich ruhig: Cum vero vir Dei illuc appropinquasset, restiterunt undae in circuitu quasi coagulatae, et invenerunt hominem sedentem supra petram, hispidum ac deformem; et undae ex omni parte quando effluebant ad illum percutiebant eum usque ad verticem, et quando recedebant apparebat illa petra nuda in qua sedebat infelix ille.396 [Nachdem sich aber der Mann Gottes in die Nähe dieses Ortes bewegt hatte, erstarrten die Wellen in ihrer Bewegung, als seien sie geronnen, und sie fanden einen Menschen, der auf einem Felsen saß, struppig und entstellt; die Wellen, wenn sie von allen Seiten zu ihm flossen, schlugen bis zu seinem Scheitel zusammen, und wenn sie wegflossen, offenbarte sich ein nackter Fels, auf dem der Unselige saß.]
Erst jetzt kann die Reisegruppe in der Gestalt einen Menschen identifizieren, wenn auch sein unförmiges und verwildertes Äußeres (hispidus et deformis) den Erwartungen, die sie wohl an einen ‚Menschen‘ anlegen würden, zuwiderläuft. Die Wellen schlagen über seinem Kopf zusammen und geben immer wieder den nackten Felsen und die unselige Gestalt frei. Die unmittelbare Gegenwart Brendans offenbart die Gestalt, in Brendans Gegenwart „finden“ sie einen Menschen. Auf Brendans Frage hin, als Strafe für welches Verbrechen sie an diesen Ort verstoßen worden sei, gibt sich die Gestalt in einem weiteren Identifikationsschritt als Judas zu erkennen. Der Aufenthalt auf dem Felsen sei allerdings kein Ort der Strafe, ganz im Gegenteil: Während er hier sitze, scheine es ihm, als sei er im Paradies (quando sedeo hic, quasi sim in paradiso deliciarum).397 Der Barmherzigkeit Jesu sei verdankt, dass er jeweils an Sonn- und Feiertagen an diesem Ort Ruhe von den Qualen der Hölle erhalte.398 Dem Wunsch des 395 Vgl. NSB, 25, 3. 396 NSB, 25, 4–5. 397 NSB, 25, 10. 398 Vgl. NSB, 25, 12. Interessanterweise erbringt Judas an dieser Stelle rückblickend den Beweis, dass der Klosterbruder, der im vorherigen Kapitel von Dämonen entführt worden war, tatsächlich in die Hölle gebracht wurde: Ibi fui quando deglutivit fratrem vestrum, et ideo erat infernus laetus, ut emisisset foras flammas ingentes; et sic facit semper quando animas impiorum devorat. [Ich war dort, als sie euren Bruder verschluckt hat. Die Hölle war deshalb so überschwänglich, dass sie riesige Flammen herausspuckte. So macht sie es immer, wenn sie die Seelen der Unseligen verschlingt.] Er, als Judas Zeuge der Hölle, kann auf diese Weise das Schicksal des
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Judas, ausnahmsweise eine Nacht länger auf dem Felsen bleiben zu dürfen, entspricht Brendan und erweist sich damit als Werkzeug Gottes und zugleich mächtiger als die Dämonen.399 Ein kurzer Dialog zwischen Brendan und den Dämonen, die vergebens Judas in die Hölle holen wollen, verstärkt diesen Eindruck: Ihre Flüche können ihm nichts antun und sie müssen sich schließlich Brendans Willen unterordnen.400 Anders als alle anderen Zwischenrauminseln handelt es sich bei dem Aufenthaltsort von Judas nicht um eine eigentliche Insel, sondern um einen Felsbrocken, der unbefestigt durch das Meer treibt und von den Fluten umspült wird. Anders als die anderen beschriebenen Zwischenrauminseln betreten weder Brendan noch seine Mönche den Felsen. Dieses Merkmal teilt die Insel des Judas in der NSB nur mit der Insel der Schmiede, die ihr Boot mit glühender Schlacke bewerfen,401 und mit der Vulkaninsel. Nur Inseln also, die in den Bereich der Hölle zu rechnen zu sind, werden nicht betreten und erfahren eine weitere (semantisierende) Zugangsregulation. Das Moment der räumlichen Unzugänglichkeit tritt so als Charakteristikum an die systematische Stelle der natürlichen Zeitlosigkeit, wie sie die eher paradiesischen Inseln des Klosters Ailbe bzw. der drei Altersgruppen ausgezeichnet hat. Der Felsen ist dem natürlichen Zeitenlauf unterworfen – am Morgen geht die Sonne auf402 und zur abendlichen Stunde wird alles dunkel.403 Über die Identifikation der Gestalt mit Judas, der selbst als infelicissimus Judas404 schon die eigentliche Zugehörigkeit zur transzendenten Hölle aufruft,405 wird sein Aufenthalt auf dem Felsbrocken als Ausnahme figuriert. Diese Ausnahme wird, eingebettet in den Ablauf des liturgischen Mönchs bezeugen, und nicht nur das: Seine Einsicht in die Abläufe der Hölle, dass nämlich der Tod der impii immer zu hohen Flammen führt, verbindet sich so mit der Beobachtung Brendans und seiner Mönche, dass der rauchende Berg nach der Dämonenentführung zu einem Scheiterhaufen geworden war. Die Prophezeiung Brendans (vgl. NSB, 5, 3–4) wird hier also zunächst durch das Ereignis der Entführung, dann wiederum durch den Einblick des Judas und rückblickend durch das Ereignis des auflodernden Berges bewiesen. 399 Vgl. NSB, 25, 16: Fiat voluntas Domini: hac nocte non eris morsus daemonum usque mane. [Der Wille Gottes geschehe: in dieser Nacht wirst du bis zum Morgen nicht das Opfer der Dämonen werden.] 400 Vgl. NSB, 25, 22–36. Zur Reise innerhalb des Rahmens göttlicher Providenz vgl. S. 81–84. Wie schon bei den anderen Aspekten des ‚Wunderbaren‘, d. h. des Außergewöhnlichen, zu dem auch die Dämonen gezählt werden können, werden die Dämonen hier in das große Ganze der göttlichen Schöpfung und Providenz rückgekoppelt. 401 Vgl. NSB, 23. 402 Vgl. NSB, 25, 15. 403 Vgl. NSB, 25, 22. 404 NSB, 25, 8. 405 Infelix wird in der NSB nur fünfmal verwendet: An vier Stellen für Judas (vgl. NSB, 25, 5; NSB, 25, 32, im Superlativ in NSB, 25, 8 und NSB, 25, 38), an einer weiteren für den Klosterbruder, der von den Dämonen zum Eingang der Hölle verschleppt wird, vgl. NSB, 24, 7.
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Jahrs und unter Berufung auf Jesus Christus, wiederum auf die göttliche Transzendenz rückbezogen. Der (immanent zugängliche) Felsbrocken ist ein Raum, der gerade trotz seiner Materialität und scheinbaren Immanenz als auf seine graduelle Transzendenz und vor allem auf seine jenseitsräumliche Funktion verweisend inszeniert wird. Es ist ein Raum, der in seiner Unzugänglichkeit eigentlich zur Hölle gehört, in dem Dämonen wirken und der in seiner immanenten Lokalisierung auf dem Meer die transzendenten, immateriellen406 Qualen der Hölle für eine kurze Weile auszusetzen vermag. Eine Frage, die sich damit notwendigerweise stellt, ist, wie es denn möglich sein kann, eine durch immanente Zeitlichkeit strukturierte Pause von Qualen in einem transzendenten Jenseitsraum zu erhalten. Bei den Vögeln hatte sich deshalb dieses Problem nicht gestellt, da sie fürs erste endgültig aus dem jenseitigen Himmelraum verstoßen worden waren. Ihr Exil endet erst in einer Endzeit, die in ihrer Metaphorik eben mit den immanenten Kategorien der Zeitlichkeit brechen und zugleich ein immanentes Sprechen mit Verweis auf Transzendentes ermöglichen soll. Einzig problematisch ist hier die zeitliche Chronologie, die die neutralen Engel im Sprechen über ihren Fall implizit geltend machen und die der Funktionsweise eines transzendenten Jenseitsraumes kategorial widersprechen muss. Das allerdings könnte durch die Sprechsituation, aus der Immanenz, in einem Modus der Immanenz, erklärt werden. Bei Judas liegt der Fall anders: Die ‚Pausen‘, d. h. jeder einzelne Sonntag, jeder einzelne Feiertag, den Judas nicht im jenseitigen Höllenraum, sondern auf seinem immanent jenseitigen Felsen im Meer verbringt, strukturiert die transzendente Strafe auf immanente Weise. Die Lösung, die der Text gibt, liegt ein weiteres Mal in einer Paradoxie ähnlich des materiellen Pfeiles, der die materielle Kerze mit immateriellem Licht materiell brennen lasst. Man muss sich den Zwischenraum des Judas damit erklären, dass in seinem materiellen Aufenthalt die immaterielle Gnade Gottes wirksam wird. Wie auch das Transzendente im Fall der aufleuchtenden Kerze auf die Materialität von Docht und Wachs keinen unmittelbar materiellen Einfluss hatte, so muss man wohl den Aufenthalt des Judas denken. Wie bei Ailbe die Aufhebung von Alter und natürlichem Zeitenlauf im immanenten Kloster eigentlich nicht zu erklären ist, entzieht sich der körperliche, auf verschiedene Weisen zeitlich strukturierte Aufenthalt des Judas auf dem Felsen der (immanenten) Erklärbarkeit und damit dem epistemologischen Zugang. Die immanente Transzendenz, wie sie in beiden Fällen erzählt wird, ist gerade unerklärbar, inkommensurabel und durch die grundlegende Paradoxie bestimmt. Bei Judas zeigte sich das bereits im ersten 406 Zum Problem des materiellen Feuers und der immateriellen Seele vgl. S. 192–193.
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Blick der Reisenden auf die Gestalt im Meer: Sie war eben nur eine Gestalt (formula), irgendwie einem Menschen ähnlich (formula quasi hominis), aber in ihrem Wesen nicht wirklich zu erfassen. Ob Mensch, ob Vogel, ob Schiff ist für die Reisenden nicht identifizierbar. Erst als sich Brendan, dem im Verlauf der NSB immer wieder eine nahezu prophetische Sonderrolle zugewiesen wird, dem Felsen nähert, beruhigt sich das tosende Meer. Es erstarrt und Judas wird der Reisegruppe als ein Mensch erkennbar: Der ontologische Unterschied zwischen Judas und Brendan manifestiert sich also im Zustand des Meeres, das auf Brendans Seite beruhigt erscheint, und auf der Seite des Judas weiterhin über dessen Kopf zusammenschlägt und alles andere als ‚erstarrt‘ ist.407 Judas wird als ein ‚Zwischen‘-Charakter figuriert, der nicht einmal mehr als eine bloße Ähnlichkeit mit einem Menschen aufweist. In seiner paradoxen Ausgestaltung zeigt sich im Kleinen, was der gesamte Inselraum im Großen bereits verhandelt hat: In seiner Position auf dem Felsen ist Judas selbst Zeichen der Inkommensurabilität, die im Moment eines Erscheinens von Transzendenz in der Immanenz entstehen muss. Der Verweis darauf, dass die Mönche in ihm gar einen Vogel sehen, wirft mit den irischen Intertexten die Frage auf, ob die Gestalt denn nun lebendig, also in der Form eines Menschen, oder verstorben, als ein Seelenvogel, erscheint.408 Diese nicht fassbare Ambivalenz wird erst in dem Moment zugunsten der konkreten Gestalt präzisiert, als Brendan, dessen Auftrag es schließlich ist, die Geheimnisse des Ozeans zu erschließen,409 sich in die unmittelbare Nähe zu ihm begibt. Brendan als Mittler erlaubt die Identifikation und Offenbarung von Judas‘ Zwischenposition, in einem immanenten Ruheraum aber in funktionellem Zusammenhang mit der Hölle. In der entsprechenden Figurierung als Zwischenraum führt die Zeichnung des Felsen dabei die Ambivalenz weiter, die schon im ersten Blick auf die Gestalt im Meer angelegt war: Was ein Strafort zu sein scheint, erweist sich als Ort der Gnade. Was auf den ersten Blick ein immanenter Raum ist, wird zu einem Raum, der sich in seinem Wesen aus der Referenz auf die Hölle speist und in Abgrenzung zur Hölle und als Teil der Hölle verstanden werden muss.
407 Vgl. NSB, 25, 5. 408 Vgl. die Darstellung der Seelenvögel bei der Vogelinsel der NSB, 11 (S. 85–92) sowie in der irischen Anderweltliteratur, vgl. Anm. 356. 409 Vgl. NSB, 28, 13.
2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung
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Die Insel des Eremiten Paulus Nach der Begegnung mit Judas, der nach Brendans Abreise von den Dämonen zurück in die Hölle gebracht wird, trifft die Reisegruppe auf eine kleine Insel, dessen Bewandtnis Brendan wie im Fall der Altersgruppeninsel bereits kennt: Es ist die Insel eines Eremiten namens Paulus, der dort schon seit neunzig Jahren lebt. Dreißig Jahre davon sei er von einem Tier ernährt worden, die letzten sechzig Jahre habe er ohne feste Nahrung verbracht.410 Sie umfahren die Insel, finden eine enge Hafeneinfahrt, die ihr Boot gerade durchfahren kann,411 und legen an. Brendan betritt die Insel zunächst allein. Im Osten findet er zwei Höhlen, dazwischen eine Felsenquelle, und begegnet an einem der Höhleneingänge dem Eremiten. Dieser erlaubt Brendans Mönchen, die Insel ebenfalls zu betreten, und begrüßt ein jeden namentlich.412 Wie bei den anderen Zwischenrauminseln wird die wahre Verschränkung von Diesseits und Jenseits, von Transzendenz und Immanenz erst im Dialog mit Brendan offenbar. Die grundsätzliche Spannung der Einsiedlerfigur ist von Anfang an vorstrukturiert. Noch auf dem Boot stellt Brendan ihn seinen Mönchen vor, als Paulum heremitam spiritalem, in hac insula sine ullo victu corporali commorantem per sexaginta annos.413 [Paulus, einen geistigen Eremiten, der sich auf dieser Insel ohne jede körperliche Nahrung aufhält, seit sechzig Jahren.]
Dieses Vorauswissen Brendans wird in der ‚Unterredung‘ Brendans mit Paulus bestätigt und in seiner Paradoxie ausformuliert. In der Schilderung eines alten Mannes, der außer seinen schneeweißen (candidi)414 Haaren nackt ist, bestätigt der Text die prophetische Vorausschau Brendans. Während Brendan in der Lebensweise des Paulus einen nahezu engelsgleichen Zustand sehen möchte,415 betrachtet sich Paulus selbst nur als einen 410 Vgl. NSB, 26, 37–43. 411 Vgl. NSB, 26, 10: Cum autem circuissent navigando illam insulam, invenerunt portum strictum ita ut proram naviculae vix capere potuisset […] [Als sie aber auf dem Meer die Insel umrundet hatte, fanden sie einen so schmalen Hafen, dass er den Bug des kleinen Schiffes kaum aufnehmen konnte […]]. NSB, 26, 10, vgl. auch die Flusseinfahrten zur Vogelinsel (NSB, 11, 5) und der Insel Ailbes (NSB, 12, 6). 412 Vgl. NSB, 26, 11–17. 413 NSB, 26, 6. 414 NSB, 26, 19. 415 Vgl. NSB, 26, 22: video modo in angelico statu hominem in carne adhuc sedentem illaesum a vitiis corporis [ich sehe jetzt gerade im engelsgleichen Zustand einen Menschen, der, obwohl er immer noch im Fleische hier sitzt, von den Gebrechen des Körpers unbehelligt ist.]
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armseligen Vogel: ego vero miser sedeo sicut avis in ista petra, nudus excepto meis pilis416 [ich Elendiger aber sitze wie ein Vogel auf diesem Felsen, nackt außer meiner borstigen Haare]. Dieser Austausch mag erzähllogisch in der Gegenüberstellung Brendans mit Paulus begründet sein: Paulus, der Brendans Rolle in seiner besonderen Gnade von Seiten Gotts beschreibt, und seine eigene entsprechend herunterspielt.417 Strukturell aber wird hier bereits zu Beginn der Pauluserzählung ein weiteres Mal eine Spannung zwischen irdischer Welt und Paradies, zwischen Dies- und Jenseits, und zwischen Leben und Tod aktualisiert. Wie schon bei Judas wird die Ambivalenz der Paulusfigur über ihre Ähnlichkeit zu einem Vogel erzeugt. Die Haare (pili), die ihn statt Kleidung bedecken, sind für die staunenden Mitbrüder Brendans Zeichen von Paulus‘ hohem Alter418 und beweisen damit den jahrzehntelangen Aufenthalt auf der Insel, wie ihn Brendan vor Betreten der Insel den Mönchen eröffnet hatte. Für Brendan sind die Haare bzw. das ganze Aussehen des Paulus die Manifestierung seines status angelicus, betrachtet er doch vor sich einen Menschen, der trotz seines hohen Alters körperlich unversehrt geblieben ist. Paulus dagegen sieht in seinen pili – das kann sowohl tierische wie menschliche Behaarung bedeuten419 – ein tertium comparationis zu einem bis auf seine Federn nackten Vogel. Die Figur des Paulus ist so die Verkörperung einer Zwischenraumfigur, unversehrt von immanenten Übeln, auch wenn er altert, changierend zwischen Engel und Mensch, körperlichen und geistigem, lebendigem und verstorbenem Wesen (avis). Auf diesen besonderen, engelhaften Zustand des Paulus und die Möglichkeit eines Lebens als heremita spiralis will Brendan hinaus, wenn er sich bei Paulus erkundigt, wie er denn auf diese Insel gelangt sei, wie lange er schon dort verweile und wie er dieses Leben aushalte: Natürlich, so impliziert die 416 NSB, 26, 25. Vgl. Vita Onuphrii, 2, zitiert nach PL 73, Sp. 211–220A. 417 Vgl. außerdem die Vita S. Pauli des Hieronymus, zitiert nach PL 23, Sp. 17–30A: Antonius, nachdem Brendan als Besucher eines Paulus gezeichnet worden ist, kehrt nach seinem Aufenthalt bei Paulus zu seinen Schülern zurück. Auf deren Fragen, wo er gewesen sei, antwortet er unter anderem: Vae mihi peccatori, qui falsum monachi nomen fero. (Hieronymus, Vita S. Pauli, 13, Sp. 27A) [„Weh mir armem Sünder: Ich trage zu Unrecht den Namen Mönch.“ Fuhrmann 1983, S. 18]. Im Angesicht seiner wunderbaren Begegnung mit Paulus in paradiso zweifelt Antonius hier, selbst überhaupt die Bezeichnung ‚Mönch‘ tragen zu dürfen. In der NSB wird diese Dynamik aufgegriffen und aus dem Mund des Paulus negiert: In Anbetracht der großen Gnade, die Brendan auf seiner Reise zuteilgeworden sei, sei er, Paulus, selbst nur ein nackter Vogel auf einem Stein. Man bemerke aber, dass sich Paulus hier als miser und nicht, wie Judas sich vorgestellt hatte, infelix charakterisiert ist. Trotz des parallelen Vogelmotivs bei Paulus und Judas werden die beiden hier nicht analog gezeichnet, wie es bei einer paradiesischen und einer höllischen Figur auch gar nicht geschehen darf. 418 Vgl. NSB, 26, 19. 419 Vgl. NGML, s. v. pilus.
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Inszenierung des Fragegestus Brendans in Reaktion auf die erlebte Paradoxien, drehen sich diese Fragen um die exzeptionelle Körperlichkeit. Paulus antwortet mit der Beschreibung seiner Lebensgeschichte. Fünfzig Jahre sei er im Kloster des Hl. Patrick gewesen, als er eines Tages den Auftrag erhalten habe, ein Grab zu schaufeln: Quadam vero die, cum locum sepulturae designasset mihi meus decanus cuidam defuncto ut sepelissem, apparuit mihi quidam senex ignotus qui dixit mihi: ‚Noli, frater, fossam ibi facere, quia sepulchrum alterius est‘. Cui dixi: ‚Pater, quis es tu?‘. Qui ait: ‚Cur me non cognoscis? Nonne tuus abbas sum?‘ Cui dixi: ‚Sanctus Patricius meus abbas‘. At ille respondit: ‚Ego sum. Heri enim migravi de saeculo: ipse est enim locus sepulturae meae. Hic facies sepulchrum fratris nostri; et nulli dicas quae ego dixi tibi. Cras autem proficiscere ad litus maris et invenies navim ibi in quam intrabis, quae te ducet ad locum ubi expectabis diem mortis tuae.‘420 [Eines Tages aber, als mir mein Dekan einen Grabplatz für einen gewissen Verstorbenen bezeichnet hatte, damit ich ihn dort begrabe, erschien mir ein unbekannter Greis, der mir sagte: ‚Hebe dort, Bruder, das Grab nicht aus, weil es das Grab eines anderen ist.‘ Ich entgegnete ihm: ‚Vater, wer bist du?‘ Er sagte: ‚Warum erkennst du mich nicht? Bin ich etwa nicht dein Abt?‘ Ich sagte ihm: ‚Der heilige Patrick ist mein Abt.‘ Jener jedoch antwortete: ‚Ich bin es. Gestern bin ich aus dieser Welt gegangen: genau das ist der Ort meines Grabes. Hier wirst du das Grab unseres Bruders ausheben: und du sollst keinem sagen, was ich dir erzählt habe. Morgen aber mach dich auf die Reise an die Küste. Du wirst dort ein Schiff finden in das du steigen wirst und das dich an einen Ort bringen wird, wo du den Tag deines Todes erwarten wirst.‘]
An dem designierten Grab sei ihm ein Greis erschienen, der ihn aufgefordert habe, an einer anderen Stelle zu graben, da das schon das Grab eines anderen sei. Paulus habe den Mann zunächst nicht erkannt, doch schließlich habe dieser sich als sein eigener Abt, nämlich der Hl. Patrick, erwiesen. Am Vortag sei dieser verstorben (migraui de seculo) und an der designierten Stelle sein, Patricks, Grab. Paulus solle das Grab des toten Bruders versetzen, niemandem von seiner Begegnung mit Patrick berichten und am nächsten Tag ein Boot am Ufer besteigen. Paulus habe sich entsprechend verhalten, das Boot bestiegen, und sei zu der Insel gefahren worden, auf der er nun schon seit neunzig Jahren sein Leben verbringt.421 Die Schilderung von der Erscheinung des Hl. Patrick, die Paulus als Antwort auf die Frage Brendans nach seinem Weg auf die Insel gibt, soll ganz ähnlich der Schilderungen des Abts von Ailbe oder des Judas eigentlich eine Erklärung für die Paradoxie seiner Situation und den Zwischenraumcharakter der Insel liefern. Sie reaktualisiert jedoch die Paradoxie der zwischenräumlichen Situation nur weiter, wie das auch die Lösungsangebote der 420 NSB, 26, 28–32. 421 Vgl. NSB, 26, 33–36.
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vorhergegangenen Figuren getan haben. Das geschieht unter Zuhilfenahme verschiedener Intertexte,422 die im Motiv des Grab-schaufelnden Paulus zusammenlaufen. An zentraler Stelle steht dabei die Vita S. Pauli als der Text, den Brendan mit seiner Einführung des Eremiten als Paulus heremita423 aufgerufen hatte. Wie sein Vorgänger und sein figuratives Vorbild, der ‚älteste‘ Eremiten Paulus von Theben, lebt auch der Paulus der NSB in einer Höhle. Während Paulus von Theben allerdings nur bis zum Ende seines Lebens von einem Raben mit Nahrung versorgt worden ist,424 für den Zeitraum von sechzig Jahren, benötigte der Paulus der NSB nur für die ersten dreißig Jahre seines Aufenthalts auf der Insel die Hilfe eines Otters,425 die nächsten sechzig Jahre hat er ohne Nahrung und ausschließlich mit dem Wasser einer Quelle verbracht.426 Während der Paulus aus Theben mit Palmzweigen bekleidet war,427 ist der Paulus der NSB nackt.428 Die zentrale Unterscheidung, die die Insel des Paulus entscheidend als Zwischenraum zu dynamisieren vermag, eröffnet jedoch die erwähnte Schilderung am Grab des Hl. Patrick. Was bedeutet sie für die Figurierung des Paulus? Neben einer recht pragmatischen Funktion dieses Einschubes – das Gespräch zwischen Paulus und seinem Abt Patrick429 ermöglicht die hierarchische Sanktionierung von Paulus` Abreise vom Kloster – eröffnen sich vor der Folie der Vita S. Pauli zwei weitere Bedeutungsebenen. In einem ersten Schritt ist der Paulus der NSB nach Paulus von Theben modelliert, er übertrifft diesen sogar in vielerlei Hinsicht. In der Vita S. Pauli besucht der Heilige Antonius, ein jüngerer Eremit, den Paulus von Theben. 422 Vgl. etwa Muirchú, Vita Patricii, II, 2, zitiert nach Bieler 1979: Der Hl. Patrick findet hier über einem Grab ein Kreuz und fragt den Toten, woran er denn gestorben sei. Wie sich herausstellt ist er ein Heide, und das Grab fälschlicherweise mit einem Kreuz versehen, denn die Mutter eines verstorbenen Christen habe das Kreuz versehentlich auf das falsche Grab gestellt. Patrick setzt in der Folge des Gesprächs mit dem Toten das Kreuz an die richtige Stelle. Dieser Intertext scheint zwar für die Interpretation der NSB einzelreferentiell nicht besonders ergiebig zu sein, jedoch ist es bemerkenswert, dass eine Erzähltradition von Patrick zusammen mit zwei Gräbern bereits vor der NSB existiert haben muss – Ludwig Bieler nimmt für die Vita Patricii eine Datierung zwischen 661 und 700 an (vgl. Bieler 1979, S. 1–2, für die Abhängigkeit der Patricksviten untereinander vgl. die Graphik bei CharlesEdwards 2000, S. 13). Die legendarische Überlieferung einer Unbedingtheit von Patricks Grabesort (vgl. Muirchú, Vita Patricii, II, 11) scheint auch die vorliegende Stelle der NSB zumindest diskursiv dimensioniert zu haben, vgl. auch Anm. 444. 423 NSB, 26, 6. 424 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 10. 425 Vgl. NSB, 26, 37. 426 Vgl. NSB, 26, 42. 427 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 6. 428 Vgl. NSB, 26, 25. 429 Vgl. NSB, 26, 30.
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Paulus prophezeit seinen eigenen Tod,430 stirbt,431 und wird von Antonius – denn er hat keine Hacke, um allein zu graben – mit der Hilfe zweier Löwen bestattet:432 Cumque illi recessissent, sancti corporis oneri seniles curvavit humeros; et deposito eo effossam, desuper humum congregans, tumulum ex more posuit.433 [Als sie [sc. die Löwen] verschwunden waren, beugte er seinen Rücken unter der Last des heiligen Leichnams; er legte ihn in ein Loch, häufte Erde darüber und errichtete, wie es der Brauch ist, einen Grabhügel.]434
Der Paulus der NSB dagegen, und das wird in der Szene, in der Paulus selbst ein Grab gräbt, besonders deutlich gemacht, ist eben nicht nur älter (140 statt 113 Jahre alt) als das Paulus von Theben bei seinem Tode war. Er ist nicht nur ein strengerer und explizit geistiger Eremit. Er ist eben gerade dadurch gekennzeichnet, dass er keinen körperlichen Tod stirbt und keines körperlichen Grabes bedarf. Stattdessen lebt der Paulus der NSB auf einer Insel irgendwo zwischen dem Dies- und dem Jenseits. Die weiße Farbe, die Paulus von Theben erst annimmt, als er unter Engeln, und Apostel- und Prophetenchören in den Himmel aufsteigt – [Antonius] vidit inter angelorum catervas, inter prophetarum et apostolorum choros, niveo candore Paulum fulgentem in sublime conscendere.435 [da erblickte [Antonius] Paulus, der inmitten von Engelscharen, inmitten von Propheten- und Apostelchören, von hellem Glanz umstrahlt, gen Himmel fuhr.]436
– weist der Paulus der NSB bereits auf, als er noch auf der immanenten Insel lebt.437 In einem zweiten Schritt übertrifft Paulus jedoch nicht nur seinen Namensvetter. Die Tatsache, dass Paulus kein irdisches Grab bekommt, sondern seine Lebzeiten nahezu endlos, unversehrt vom Alter, auf der Insel zubringen kann, unterscheidet ihn in einem zweiten Schritt ebenso deutlich von Heiligen wie selbst dem Hl. Patrick, dem Missionar Irlands. Patrick nämlich ist leiblich gestorben, das wird in ihrem Gespräch an der Grabesstelle manifest. Auch mit Brendan selbst wird der Paulus der Insel in dieser Hinsicht kontrastiert: Wie der Abt des Klosters des Ailbe Brendan offenbart
430 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 11. 431 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 14. 432 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 16. 433 Hieronymus, Vita S. Pauli, 16, Sp. 28B. 434 Fuhrmann 1983, S. 20. 435 Hieronymus, Vita S. Pauli, 14, Sp. 27B. 436 Fuhrmann 1983, S. 18. 437 Vgl. NSB, 26, 19.
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hat und die Erzählung später bewahrheitet, muss Brendan auch deshalb nach seiner Reise nach Hause fahren, weil Gott ihm dort, in Irland, sein Grab bereithält: Te enim oportet reverti ad locum tuum cum quatuordecim fratribus tecum, ubi praeparavit Deus locum sepulturae vestrae.438 [Du sollst nämlich mit den vierzehn Brüdern zusammen an deinen Herkunftsort zurückkehren, wo Gott den Platz eures Grabes vorbereitet hat.]
Ganz analog zu Antonius, der Paulus von Theben nicht auf seiner Reise in den Himmel begleiten darf,439 darf Brendan später nicht in der terra repromissionis bleiben und durfte das auch zuvor nicht im Kloster des Ailbe. Er hat, wie Antonius, Paulus in seinem Paradies gesehen,440 und muss durch seine Reise und in seiner Person den übrigen Brüdern als exemplum dienen,441 um nach seinem irdischen Tod als Seele, und nicht in seinem irdischen Körper,442 endgültig zu Gott zu ziehen.443 Brendan, Patrick, und Paulus von Theben müssen und mussten alle begraben werden. Brendan und Patrick haben beide haben einen festen locus sepulturae444 in Irland. Diese Begräbnispraxis, ex more, gilt für den Paulus der
438 NSB, 12, 63. 439 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 12. 440 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 13, Sp. 27A: Vidi Eliam, vidi Ioannem in deserto et vere vidi Paulum in paradiso. [„Ich habe Elija, ich habe Johannes in der Wüste gesehen, doch Paulus ganz gewiss im Paradies.“ Fuhrmann 1983, S. 18]. 441 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 12, Sp. 26B-C: Expedit tibi, sarcina carnis abjecta, Agnum sequi. Sed et caeteris expedit fratribus, ut tuo adhuc instituantur exemplo. [„Für dich wäre es von Vorteil, die Bürde des Fleisches abzuwerfen und dem Lamm zu folgen. Doch für die übrigen Brüder ist es von Vorteil, daß sie weiterhin durch dein Beispiel Belehrung erfahren.” Fuhrmann 1983, S. 17]. Analog muss die Rückkehr Brendans in sein Heimatkloster gelesen werden. 442 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 14, Sp. 27B: Timebat [Antonius] enim, quod et evenit, ne se absente, Christo debitum spiritum redderet. [„[Antonius] fürchtete nämlich – wie es auch geschah –, daß Paulus während seiner Abwesenheit dem Schöpfer das Leben zurückgäbe.“ Fuhrmann 1983, S. 18]. 443 Vgl. NSB, 29, 10–11 der Edition Selmer 1959: inter manus discipulorum gloriose migrauit ad Dominum [in der Schar seiner Schüler ging er ruhmreich zu Gott]. Vgl. auch die vorhergehende Selbstbeschreibung Patricks, NSB, 26, 31: migravi de saeculo [ich bin aus der Welt gegangen]. 444 NSB, 26, 31. Vgl. auch NSB, 12, 63. Die Praxis eines festen Grabplatzes, dessen genauer Ort göttlich legitimiert und damit unumstößlich ist – der inszenierte Auslöser also des Gesprächs zwischen Paulus und Patrick – wird auch in der Vita Patricii thematisiert. Das Begräbnis Patricks geschieht hier auf Eingebung eines Engels hin unter Zuhilfenahme zweier Rinder: Elegantur duo boues indomiti et pergant quocumque uoluerint , et ubicumque requiescunt aecclessia in honorem corpusculi tui aedificetur. (Muirchú, Vita Patricii, II, 11, 2–4) [Es sollen zwei ungezähmte Rinder ausgewählt werden und sie sollen gehen, wohin auch immer sie wollen. An welcher Stelle auch immer sie Halt machen, dort soll zu Ehren deines Leichnams eine Kirche erbaut werden.] Nachdem die beiden Rinder so den Ort des Begräbnisses ausgewählt hätten, sei
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NSB aber nicht. Über die Kopplung des Grabmotivs mit dem Intertext der Vita S. Pauli wird der Raum, in dem sich Paulus aufhält, stattdessen weiter vom immanent diesseitigen Raum abgegrenzt. Immanente Zwänge wie der irdische Tod gelten sowohl für Heilige als auch für Eremiten wie den Hl. Paulus von Theben. Es ist die Sonderrolle als spiritueller Eremit, die dem Paulus der NSB erlaubt, in einem paradiesischen Inselraum bis in eine unbestimmte Endzeit weiterzuleben: Et hic debeo modo, sicut fuerat mihi promissum, expectare diem iudicii in ista carne.445 [Und hier muss ich jetzt, wie es mir verheißen worden war, den Tag des Gerichtes erwarten, in diesem Fleische.] In seiner irdischen, immanenten Verkörperung wartet er in dem immanenten Jenseitsraum bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Für ihn, der sich an diesem besonderen Raum aufhält, gelten andere Kategorien. Er ist nicht wie Paulus von Theben vilissimo pulvere coopertus [„von nichtigem Staub bedeckt“]446 und er wird auch nicht im eigentlichen Sinne auferstehen. Ganz im Sinne von pauperculo paradisus patet [„ihm, dem armen Schlucker, steht die Welt offen“]447 ist Paulus, ärmer als sein Vorgänger, mehr Eremit als sein Vorgänger, bereits vor dem jüngsten Gericht an einem quasi-himmlischen Ort. In den untersuchten Zwischenrauminseln, von der Vogelinsel mit den neutralen Engeln, über die Klosterinsel des Ailbe, die Insel der drei Altersklassen, hin zu Paulus und Judas in ihrer kontrastierten Figurierung, scheint eine Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Dies- und Jenseits damit das primär strukturierende Moment der Raumdynamik zu sein. In der Ausarbeitung ihrer ganz spezifischen Ambivalenz, in der Art der negierten immanenten Kategorien allerdings, unterscheiden sich die Inseln teils erheblich. Es gibt Zwischenrauminseln, die eher mit den Räumen der Hölle assoziiert werden, und entsprechend unzugänglich sind, aber auch solche, die paradiesischer Natur sind. In jedem der skizzierten Fälle, außer vielleicht der Inseln der drei Altersgruppen, wo die paradiesische Versenkung der Bewohner in ihre Gesänge keinen Dialog mit Brendan erlaubt, produzieren die Räume dabei nicht nur eine ästhetische Dynamik, die die Inkommensurabilität ihres Zwischenstatus zu verhandeln versucht. Es gibt immer auch Momente der Bewusstwerdung dieser kategorialen Brüche und der Übernatürlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit der jeweiligen Inseln offenbart sich ganz besonders im Gegenüber von Brendan mit den Deuterfiguren der Ineine Kirche über Patricks Grab erbaut worden. Eine solche oder ähnliche Legende, wie sie dem Verfasser der NSB wohl bekannt gewesen sein muss, verschafft dem genauen Ort des Grabs des Patrick eine entsprechende Notwendigkeit. 445 NSB, 26, 44. 446 Vita S. Pauli, 17, Sp. 29A, Übersetzung Fuhrmann 1983, S. 21. 447 Vita S. Pauli, 17, Sp. 29A, Übersetzung Fuhrmann 1983, S. 21.
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sel. An ihnen selbst, zumeist an ihrer spezifischen Körperlichkeit bzw. deren spezifischer Transzendierung, wird die immanente Jenseitsräumlichkeit der Inseln offenbar. Nur durch sie wird im Gegenüber mit Brendan das immanent Jenseitige als eben immanent jenseitig erkannt – ohne diesen Deutungsmoment blieben die Engelsvögel Vögel, Judas ‚so etwas wie ein Schiff‘ und Paulus ein nackter Mann in einer Höhle. Das Versetzen transzendenter Figuren in den immanenten Raum bzw. immanenter Figuren in einen Raum, der ihnen eigentlich transzendent ist, lässt so Zwischenräume entstehen. Der Text schafft Räume, die das Undarstellbare darstellbar machen. Sie erzeugen in der Abarbeitung an dem zugrundeliegenden Schema Immanenz/Transzendenz zusammen mit einer Jenseitstopographie, die auch Himmel und Hölle noch zu verorten sucht, Inkommensurabilität, und brechen mit dem binären Schema durch die Schaffung tertiärer Räumlichkeiten. Es entsteht eine Paradoxie, eine ästhetische Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, die weder von den Zwischenraumfiguren, noch von Brendan, dem Text oder dem Rezipienten zugunsten der einen oder anderen Richtung entschieden werden könnte. Die terra repromissionis Die letzte Station der Reise Brendans und in seiner narratologischen Konfiguration Zwischenraum par excellence ist die terra repromissionis.448 Wie bereits bei der Untersuchung der Diskursdimensionen und Deutungshorizonte der NSB deutlich werden konnte, ist der Begriff terra repromissionis als solcher doppelt strukturiert. Sowohl die zugrundeliegenden Bibelstellen als auch die Rezeption sprechen für eine Doppelung als einerseits materiell-weltliches Land der Weltabkehr und andererseits eschatologisch-jenseitiges Land, wo die Patriarchen auf das zweite Jerusalem warten.449 Hinzu kommt, dass die terra repromissionis im Verlauf der Erzählung an mehreren Stellen selbst explizit als paradisus450 bezeichnet wird, und, wie zu zeigen sein wird, auch ihre motivische Ausarbeitung an die Darstellungstradition des irdischen Paradieses 448 Es soll hier auch nicht verschwiegen werden, dass es sich bei ‚terra repromissionis‘ um die Entsprechung des altirischen tír tairngire handelt, wie es sich in verschiedenen Glossen als Entsprechung der terra repromissionis findet, vgl. Dumville 1976, S. 80–83. Angesichts der nicht zu unterschätzenden lateinischsprachigen Überlieferung dieses Begriffes und der Besetzung von tír tairngire in den echtrai (vgl. Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I) als Anderwelt statt als christlich transzendenter Jenseitsraum, muss diese Begriffskorrespondenz allerdings eher als Eigenart einer lateinisch-irischen Mischkultur und nicht als Ansatz einer ideengeschichtlichen Genealogie verstanden werden. 449 Vgl. Hebr 11, 8–10. 450 Vgl. NSB, 1, 72; NSB, 1, 76; NSB, 1, 77; NSB, 1, 78.
2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung
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anknüpft. In der Insel der terra repromissionis ist die inhärente Spannung aus immanentem und transzendentem, aus körperlichem und unkörperlichen, aus geographischem und eschatologischem Raum im konkreten Narrativ des immanenten Jenseitsraums verhandelt. Der Raum der terra repromissionis wird innerhalb der NSB mehrmals erzählt. Das Zusammenspiel der drei Reisen von Mernoc, Barinth und Brendan eröffnet das Panorama eines Raumes, der eigentlich undarstellbar sein sollte. Die Erfahrungen von Mernoc und Barinth strukturieren die Erfahrung Brendans und seiner Mönche vor, als sie nach ihrer siebenjährigen zyklischen Reise endlich die terra repromissionis betreten dürfen. Die Inseln der Reise, als Bestandteile des Schwellenraums räumliche Figurationen eines graduellen Transzendierungsprozesses, führen so zum letzten, semantisch explizitesten, Zwischenraum. In den vorherigen Zwischenrauminseln war die Nähe zur Transzendenz mehr oder weniger transparent. Es gab einfache Inseln, es gab Inseln wie die des Paulus, und das quasi-Paradies der Engelsvögel. Mit Zunahme des Transzendenzhaften und Nähe zum letztlich transzendenten Jenseits wächst das Problem der Kommensurabilität, weshalb in der terra repromissionis eine zusätzliche Zugangsbeschränkung inszeniert werden muss: Der procurator, der sie seit ihrem ersten Aufenthalt auf der Schafinsel immer wieder mit Nahrung versorgt hatte, muss mit ihnen fahren, denn anderenfalls ist für die sie terra nicht auffindbar.451 Zusammen mit ihrem Begleiter fahren sie also für vierzig Tage – derselbe Zeitraum, der schon die erste Windstille nach dem Verlassen Irlands markiert hatte – in Richtung Osten, als sich ein dichter Nebel über das Boot legt.452 Es verstreicht eine Stunde, bis die Dunkelheit von einem gleißenden Licht (lux ingens) abgelöst wird.453 Die Insel, die sich ihnen zeigt, ist groß. Es gibt Obstbäume, Äpfel, Quellen, und so wandern sie für vierzig Tage durch das Land der Insel, bis sie an einen großen Fluss gelangen, der sie teilt. Wie schon bei Mernoc und Barinth dürfen Brendan und seine Mitreisenden diesen Fluss nicht überschreiten,454 und wie Mernoc und Barinth erscheint auch ihnen ein junger Mann (iuvenis),455 der in der Schilderung der Jenseitsreise von Mernoc und Barinth noch als ein vir magno splendore456 beschrieben wurde.
451 Vgl. NSB, 27, 11–13. 452 Vgl. NSB, 28, 3: Transactis vero diebus quadraginta, vespere imminente cooperuit eos caligo grandis, ita ut vix alter alterum potuisset videre. [Nach vierzig Tagen aber, legte sich zur Abenddämmerung ein dichter Nebel über sie, so dass der eine den anderen kaum mehr sehen konnte.] 453 Vgl. NSB, 28, 5. 454 Vgl. NSB, 1, 21 sowie NSB, 28, 9. 455 NSB, 28, 10. 456 NSB, 1, 20.
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Wie zum Teil auch die anderen immanenten Jenseitsinseln ist die terra repromissionis durch eine relative Zeitlosigkeit gekennzeichnet. Die Bäume tragen fortwährend Frucht, sind also nicht dem natürlichen Lauf des Jahres unterworfen, und es gibt keine Nacht.457 Die Aussetzung der Zeit geht sogar so weit, dass sich im Fall Mernocs und Barinth das, was sie aus ihrer Perspektive als eine Aufenthaltsdauer von fünfzehn Tagen wahrnehmen, nach ihrer Rückkehr als ein Zeitraum von einem Jahr herausstellt.458 Die immanente Zeitlichkeit ist im Inselraum ausgesetzt, im Gegenüber von immanentem Zeitempfinden und durch die größere Transzendenzhaftigkeit relativer Zeitlosigkeit figuriert sich an den Zwischenraumreisenden ein heterochroner Bruch. Das Transzendente, das im Aufenthalt auf der Insel für die immanenten Figuren erlebbar wird, macht sich außerdem dadurch bemerkbar, dass körperliche Bedürfnisse hier ausgesetzt sind.459 Was die Beschreibung der terra repromissionis den anderen Zwischenrauminseln graduell voraus hat, ist die Erklärung ihrer jenseitstopographischen Funktionalität und ihrer Modalitäten. Während die anderen Inseln einfach von Helligkeit, von Zeitlosigkeit ausgezeichnet waren, und die Frage des Warums nicht immer geklärt werden konnte, wird der Grund hier ausformuliert: Iesus Christus lux ipsius est [das Licht [des Landes] ist Jesus Christus].460 Die ‚absolute‘ Transzendenz Christi macht sich in der Immanenz der Insel durch ein Leuchten bemerkbar und damit durch eine Helligkeit also, die schon mehrere der paradiesischen Inseln immer wieder aufgewiesen hatten: die Leuchter im Kloster des Ailbe, die strahlenden neutralen Engel, die Kleidung einer der drei Altersgruppen oder die Figur des Paulus. Wie das immaterielle Licht des Klosters des Ailbe wird die Transzendenz Jesu im immanenten Medium durch ein immaterielles Licht wirksam; ein Licht, das sich im Fall der terra repromissionis in einem zweiten Schritt noch weiter bemerkbar macht, dadurch nämlich, dass der natürliche Tagesablauf und die Jahreszeiten durch es ausgesetzt sind. Wieso allerdings bleibt die zweite Hälfte der terra repromissionis unzugänglich, was ist die Funktion, die der Text
457 Vgl. NSB, 28, 17. Vgl. außerdem die Beschreibung bei Barinths und Mernocs Reise: Die Bäume stehen hier in voller Frucht, haben aber auch Blüten: NSB, 1, 18. An die Stelle der sukzessiven Jahreszeiten tritt so eine radikale Gleichzeitigkeit. 458 Vgl. NSB, 1, 17 und 24. 459 Vgl. NSB, 1, 24: weder Kleidung noch Nahrung ist hier notwendig. In der Schilderung von Brendans Aufenthalt ist dieser Aspekt weniger deutlich. Einige Handschriften, darunter Selmers Genter Leithandschrift (Gent, Universiteitsbibliotheek, 401), enthalten jedoch den Hinweis, die Reisenden äßen zwar von den Äpfeln, doch nur quantum volebant (NSB, 28, 7): Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme, die ihre Fahrt überprägt hatte, wird hier von einer absoluten Freiwilligkeit abgelöst. 460 NSB, 28, 17, vgl. auch NSB, 1, 25.
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ihr zuweist, und was bedeutet das für die Lektüre dieser Insel, und der gesamten NSB, vor einem Zwischenraummodell? Die Trennung der terra repromissionis in einen zugänglichen und einen unzugänglichen Bereich wie auch die konkrete Art der Ausgestaltung dieser Räume ist die Narrativierung der Spannung, die sowohl der Begriff terra repromissionis als auch das Konzept eines irdischen Paradieses in den Text einschreiben. Die NSB sagt selbst, dass die terra repromissionis das Land ist, „das Gott seinen Heiligen geben wird“ (quam daturus est suis sanctis).461 Diese Worte der Engelsfigur (iuvenis) an Mernoc und Barinth werden im Dialog mit Brendan noch spezifiziert: Das Lande werde den Heiligen in einer fernen endzeitlichen Zukunft zur Verfügung gestellt werden, und zwar „nach vielen Zeitläufen, wenn die Verfolgung der Christen hereingebrochen sein wird“ (post multa […] curricula […] quando Christianorum supervenerit persecutio).462 Das ist eine strenge Funktionalisierung dieses Raumes, die in ihren Konsequenzen nicht unterschätzt werden darf. Die terra repromissionis, wie sie die NSB hier zeichnet, ist zwar in Teilen und von ausgewählten Figuren zugänglich, aber sie ist hauptsächlich ein endzeitlicher Jenseitsraum. Noch scheint er unbewohnt zu sein, wie auch die Beschreibung des Todes von Brendan beweist. Nach seiner Rückkehr nach Irland nämlich und nach seinem Tod gelangt Brendan nämlich nicht etwa zurück in die terra repromissionis, zumindest vorerst nicht. Der Text sagt, „ging zu Gott“ (migravit in Dominum),463 wie dies analog auch über den Tod des Hl. Patrick ausgesagt wurde.464 Den einzigen Hinweis, den man auf die jenseitstopographische Rolle der terra repromissionis finden kann, ist der Verweis auf einen Zeitpunkt in der Zukunft und das Ende der Christanorum persecutio. Das wiederum eröffnet zwei grundsätzliche Deutungsmöglichkeiten: Eine Möglichkeit wäre das Land des tausendjährigen Reiches.465 Nachdem der Teufel in Ketten gelegt worden ist, sieht die Johannesapokalypse einen Zeitraum von eintausend Jahren vor, in dem die Märtyrer466 nach ihrer Auferstehung zusammen mit Jesus regieren werden.467 Als solches taucht die 461 NSB, 1, 21. 462 NSB, 28, 16. 463 NSB, 29, 10, zitiert nach Selmer 1959. 464 Vgl. NSB, 26, 31. 465 Vgl. Offb 20,1–6. 466 Offb 20,4: decollati propter testimonium Iesu et propter verbum Dei [„enthauptet […] um des Zeugnisses für Jesus und des Wortes Gottes willen“] 467 Vgl. Offb 20,4–6: et vidi sedes et sederunt super eas et iudicium datum est illis et animas decollatorum propter testimonium Iesu et propter verbum Dei et qui non adoraverunt bestiam neque imaginem eius nec acceperunt caracterem in frontibus aut in manibus suis et vixerunt et regnaverunt cum Christo mille annis ceteri mortuorum non vixerunt donec consummentur mille anni haec est resurrectio prima beatus et sanctus qui habet partem in resurrectione prima in his secunda mors non habet potestatem sed erunt sacerdotes Dei et Christi et regnabunt cum illo mille annis. [Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nah-
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terra repromissionis auch in der Paulus-Apokalypse auf,468 als nämlich ein Raum außerhalb des dritten Himmels, in dem die Seelen der Gerechten, die Seelen der Heiligen zusammen mit Jesus Christus für den Zeitraum von tausend Jahre herrschen werden: Haec est terra repromissionis. Adhuc non audisti quod scriptum est: Beati mansueti, quoniam ipsi haeriditabunt terram? Anime ergo iustorum cum exierint corpore, in hunc locum interim dimituntur. Et dixi angelo: Ergo terra haec manifestabitur ante tempus? Respondit angelus et dixit mihi: Quando uenit Christus, quem tu predicas, ut regnet, tunc sentencia dei dissoluitur terra prima. Et aec terra repromissionis tunc hostendetur et erit sicut ros aut nebula et tunc manifes tabitur dominus Iesus Christus rex etternus. Et cum omnes sanctos suos ueniet habitare in eam et regnabit super illos mille annos et manducabunt de bonis, quasi nunc ostendam tibi.469 [„Dies ist die terra repromissionis. Du hast immer noch nicht gehört, was geschrieben steht: Selig die Armen,470 da sie das Land (terra) erben werden?471 Wenn die Seelen der Gerechten also vom Körper geschieden sind, werden sie in diesen Zwischenort (locus interim) entlassen.“ Und ich sprach: „Wird dieses Land also vor der Zeit offenbart werden?“ Der Engel antwortete und sagte mir: „Wenn Christus kommt, den du in seiner Herrschaft preist, dann wird der Lehrmeinung nach das erste Land aufgelöst werden. Und dieses verheißene Land (terra repromissionis) wird sich dann zeigen und so wie Tau oder Nebel wird sich dann der Herr Jesus Christus, der ewige König offenbaren. Und es wird so kommen, dass alle seine Heiligen in diesem Land wohnen und er wird über sie herrschen tausend Jahre und sie werden von Köstlichkeiten essen, gleich wie ich sie dir jetzt zeigen werde.]
men, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren um des Zeugnisses für Jesus und des Wortes Gottes willen. Sie hatten das Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teilhat! Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt. Sie werden Priester Gottes und Christi sein und tausend Jahre mit ihm herrschen.] 468 Vgl. Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 21, zitiert nach der synoptischen Edition von L1 bei Silverstein und Hilhorst 1977. PaulusApokalypse bezeichnet hier nach Lenka Jiroušková (2006, S. 13–15) die lateinische Langfassung der Visio Pauli, wie sie ab dem sechsten Jahrhundert in Süditalien im Umlauf war. Im Unterschied zur Visio Pauli, der ‚Kurzfassung‘ (überliefert ab dem neunten Jahrhundert und ediert bei Jiroušková 2006), enthalten die Langfassungen nicht nur Himmel oder Himmel/Hölle, sondern zudem eine Stätte der Gerechten, vgl. Jiroušková 2006, S. 13–14. Es wird angenommen, dass alle Kurzfassungen auf eine Langfassung L1 zurückgehen, vgl. Jiroušková 2006, S. 16. Vgl. Wooding 2014, S. 98–99 zum Zusammenhang der PaulusApokalypse (bzw. ihrer Redaktionen) und der NSB. 469 Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 21, 18–32. 470 Für die Übersetzung von mansueti als „die Armen“ vgl. EÜ (2016), etwa Jes 11,4; Jes 61,1. 471 Vgl. Lk 6,20; Mt 5,2–3. Es mag hier zwar die Zitation einer Bibelstelle impliziert sein, allerdings findet sich keine biblische Entsprechung des Zitates. Es handelt sich vielmehr um die Verquickung des biblischen Konzeptes von terra repromissionis (vgl. S. 68–71) und der Makarismen der Bergpredigt Jesu.
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Die terra repromissionis ist hier Aufenthaltsort der Seelen der Gerechten, und zwar gerade während des Zeitraums zwischen Christi zweiter Niederkunft und dem himmlischen Jerusalem: quando uenit Christus. Die Gesprächssituation entspricht der NSB – ein angelus interpres spricht und deutet dem Reisenden das Land – der Zeitpunkt der zweiten Niederkunft Christi bleibt auch in sprachlicher Analogie zeitlich verhältnismäßig unbestimmt: quando Christianorum subvenerit persecutio. Neben den motivischen Parallelen wie dem strahlenden Licht472 und der ausgesetzten Fruchtfolge473 teilt die terra repromissionis der Paulus-Apokalypse mit der der NSB das Auftauchen eines Flusses.474 Der Nebel, durch den Brendan und seine Mitreisenden fahren mussten, ist in der Paulus-Apokalypse ebenfalls bereits als Markierung der terra repromissionis verheißen: et erit sicut ros aut nebula et tunc manifestabitur dominus Iesus Christus rex etternus [und so wie Tau oder Nebel wird sich dann der Herr Jesus Christus, der ewige König offenbaren]. Da die Christianorum persecutio, von der die NSB spricht, in der Bibel über Christi zweiter Niederkunft festgesetzt ist – denn gemäß der Johannesapokalypse wird nach Ablauf der tausend Jahre der Teufel wieder freigelassen und erst danach endgültig in die Hölle verbannt475 – stände einer Identifikation des verheißen Insellandes der NSB mit der terra repromissionis der Paulus-Apokalypse grundsätzlich nichts im Wege. Möglich allerdings wäre auch eine zweite Deutung, die Identität der terra repromissionis der NSB mit dem zweiten Jerusalem selbst.476 Hier gibt es Edelsteine, genau wie es die NSB hier erzählt,477 und wie das Licht Jesu die terra repromissionis erleuchtet, so scheint die Helligkeit Gottes im zweiten Jerusalem: et civitas non eget sole neque luna ut luceant in ea nam claritas Dei inluminavit eam et lucerna eius est agnus478 [Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm.]
Es herrscht auch hier keine Nacht – nox ultra non erit [es wird keine Nacht mehr geben]479 – und die Bäume sind ebenso wenig an eine natürliche 472 Vgl. NSB, 28, 17 bzw. Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 8–9. 473 Vgl. NSB, 1, 18 bzw. Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 9–16. 474 Vgl. Et circumspexi terram illam et uidi flumen currentem lac et mel [Und ich habe mich in jenem Land umgesehen und einen Fluss geschaut, der Milch und Honig mit sich führte.], PaulusApokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 1–2. 475 Vgl. Offb 20,7–9. 476 Für diese Deutung vgl. auch Jacobsen 2000, S. 86. 477 Vgl. Offb 21,18–20 und NSB, 1, 18. 478 Offb 21,23. 479 Offb 22, 5.
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Fruchtfolge gebunden wie die NSB erzählt hatte, schließlich tragen sie jeden Monat Frucht.480 Außerdem gibt es einen einzigen Fluss, der vom Thron Gottes ausgeht.481 Neben den motivischen Parallelen zum himmlischen Jerusalem der Johannesapokalypse ist die Figuration der terra repromissionis der NSB jedoch so eng an der Paulus-Apokalypse orientiert, dass ihre grundsätzliche Funktionalität als Raum des tausendjährigen Reiches wohl außer Frage steht. So sehr die Paulus-Apokalypse die räumliche Funktionalität allerdings zu klären vermag, so sehr kompliziert sie sie auch. Bei der terra repromissionis gibt es nämlich einen weiteren ‚Fluss‘, den Acherusischen See (zunächst flumina),482 den nur Auserwählte überqueren dürfen, und hinter dem die Stadt Christi liegt.483 Es handelt sich hier also um ein Moment der Zugangsregulation, das mit der Inszenierung eines ‚Flusses‘ verbunden ist. Mit derselben intertextuellen Berechtigung, mit der die terra repromissionis vor dem Fluss der Raum des tausendjährigen Reiches verortet werden muss, muss dementsprechend jenseits des Flusses das himmlische Jerusalem wenigstens aufscheinen. Die biblische und apokryphe Komplikation einer vorgelagerten Endzeit (tausendjähriges Reich) neben dem endgültigen zweiten Jerusalem werden in der NSB nicht aufgelöst, sondern in der räumlichen Struktur der Insel der terra repromissionis widergespiegelt. Die Paulus-Apokalypse mit ihrer komplexen Jenseitstopographie, selbst ein wichtiger Intertext der NSB, strukturiert die endzeitliche Funktionalität des Raumes vor, die in der NSB narratologisch ausgehandelt wird. Die Bezeichnung der terra als eines Ortes für die Heiligen – terra repromissionis sanctorum484 bzw. daturus est suis sanctis485– muss die funktionelle Frage, trotz der motivischen Unklarheiten, zugunsten eines Konzepts von tausendjährigem Reich entscheiden; – wie das eben auch die terra repromissionis in ihrem biblischen Sinn, auf den die peregrinationes-Konzeptionen immer wieder zurückgreifen, bedeutet. Dafür spräche auch die allgemeine Rolle einer praerogativa martyrum, eines irdischen Paradiesraums, wo die Märtyrer und Heiligen auf die Endzeit warten:486 Auch die NSB nämlich kennt kör480 Vgl. Offb 22, 2: ex utraque parte fluminis lignum vitae adferens fructus duodecim per menses singula reddentia fructum suum [Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, steht ein Baum des Lebens. Zwölfmal trägt er Früchte, jeden Monat gibt er seine Frucht], vgl. NSB, 28, 6, sowie NSB, 1, 18. 481 Vgl. Offb 22, 1. 482 Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 15. 483 Vgl. Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 15–26. 484 NSB, 29, 7–8, zitiert nach Selmer 1959. 485 NSB, 1, 21. 486 Vgl. Grimm 1977, S. 16–19.
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perlich entrückte Figuren, wie sie der biblische Schächer,487 Henoch und Elija vorgezeichnet hatten.488 Die Zwischenrauminsel von Paulus beispielsweise verhandelt explizit die Problematik eines solchen Entrückungsglaubens, und auch die Darstellung der anderen Zwischenrauminseln in ihrer Ambivalenz, in ihrem Verweis auf Transzendenz und Immanenz und in der Problematisierung der dadurch entstehenden Paradoxie erwächst aus der Annahme von Räumen außerhalb eines streng binären Schemas. Diese Räume des Wartens sind zwar selbstverständlich nicht identisch mit der terra repromissionis und müssen in ihrer Funktion zweifellos in klarer Differenz zu ihr betrachtet werden. Eine Tendenz der (Jenseits-)Topographie der NSB jedoch, Funktionalität und Teleologie der Einzelräume auf eine Endzeit hin zu strukturieren – als explizites ‚Warten‘ – ist jedoch zweifellos nachweisbar. Die terra repromissionis der NSB muss so, wie das Bibelstellen wie Hebr 11,8–10 vorstrukturiert hatten, als das Land aufgefasst werden, wo die Heiligen auf ein zweites Jerusalem warten. Dem geographischen Raum, Kanaan, mit dem Fluss Jordan, entspräche demnach die geographische, immanent zugängliche Darstellung des Inselraums in der NSB, der eben als terra repromissionis und damit endzeitlicher Raum immer auch auf seine transzendente Bedeutung als ein jenseitiger Raum der Endzeit mit verweisen muss. Das allerdings muss das Aufscheinen eines himmlischen Jerusalems jenseits des Flusses nicht ausschließen. Das flumen, das die Paulus-Apokalypse in der terra repromissionis erzählt hatte, fiele so in der NSB mit den flumina des Acherusischen Sees vor dem himmlischen Jerusalem zusammen. Die komplizierte Zeitenfolge der Apokalypse, wie sie in der Jenseitstopographie der PaulusApokalypse erzählt worden ist und im Hintergrund der NSB gedacht werden muss, findet ihre Entsprechung in der funktionalen Mehrdeutigkeit der Insel der terra repromissionis. Die Identifikation der terra repromissionis mit dem Ort einer apokalyptischen Endzeit verstärkt die mediale Spannung des Textes. Es ist ein irdisches Paradies, das die terra repromissionis abbilden soll – es sind so auch nur die Seelen der Heiligen,489 die hier ihre letzte Ruhe finden, nicht ihre Körper, die wie im Falle Brendans und Patricks in Irland begraben worden sind. Diese absolute Transzendenz ist nicht greifbar, nicht darstellbar. Die terra repromissionis ist in diesem Sinne auch immer nur die graduelle Annäherung an etwas, das nicht erreicht werden kann. In der Logik einer Erzählung, die das Transzendente im Immanenten abbildbar macht, indem sie immanente 487 Vgl. Lk 23,43: et dixit illi Iesus amen dico tibi hodie mecum eris in paradiso. [Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.] 488 Vgl. S. 133–134. 489 Vgl. Offb 20, 4.
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Jenseitsräume schafft, die gerade in der Überlagerung beider Pole wirken, muss mit der Darstellung der eigentlichen, absolut jenseitigen Transzendenz eine Grenze erreicht werden, im buchstäblichen Sinne. Dieses Moment der Inkommensurabilität erklärt auch die Inszenierung dieses Flusses gerade in seiner letztgültigen Liminalität. Trotz der vielen motivischen Parallelen fehlt dieser Aspekt in der PaulusApokalypse. Im Modus der Jenseitsvision sind die Inkommensurabilitätsmarkierungen eines immanenten Jenseitsraumes nämlich nicht vonnöten: Paulus schaut dieses Jenseits, während Brendan es betritt. Das immanente Betreten eines Jenseitsraumes, wie zu erzählen es die Prämisse der NSB ist, kann nur partiell realisiert werden. Die einschränkende Bemerkung des Engels an Paulus – sed non omnis homo permitetur ingredi in ciuitatem illam (aber nicht jeder Mensch wird jene Stadt betreten dürfen)490 – ist keine generelle, und bezieht sich nicht auf Paulus, der sogleich das himmlische Jerusalem (ciuitas Christi) allegorisch gesprochen ‚betreten‘ kann. Im Modus der immanenten Körperlichkeit kann dieses transzendente Jenseits jedoch nicht als zugänglich beschrieben werden und zugleich die transzendent jenseitige ciuitas Christi bleiben. Der Fluss, der die terra repromissionis in zwei Teile teilt und den Reisenden die letzte und endgültige Grenze ihrer Reise offenbart, ist eine Grenze, die die anderen Zwischenrauminseln nicht benötigten. Es handelt sich nämlich um eine Grenze, die die Defizienz immanenten Erkenntnisvermögens im Text darstellbar macht. Transzendenz ist nur als transzendente Wirksamkeit in der Immanenz darstellbar und damit nur in Räumen, die sich im Verweis auf Transzendenz wie Immanenz ambivalent konfigurieren. Transzendenz ist im Zwischenraum als immanente Transzendenz fassbar, die uneingeschränkte Transzendenz einer ciuitas Christi, des himmlischen Jerusalem dagegen übersteigt die Fähigkeiten einer immanenten Erkenntnis wie der Brendans und der Reisenden. Die terra repromissionis muss so in letzter Konsequenz eine Grenze explizieren, um in der Narration ihren Platz finden zu können, und um von immanenten Figuren (relativ) erfahrbar zu sein. Das wird mithilfe des Flusses erzählt. Die Insel und ihre letzte Begrenzung hin zur absoluten Transzendenz, wie sie in einem transzendenten Jenseitsraum gedacht wird, sind auf diese ganz spezielle Weise die Explikation der Doppeldeutigkeit der terra repromissionis als reales, erfahrbares Land und als die in dieser Allegorie bedeutete eschatologische Dimension. Zugleich ist die Insel der terra repromissionis die Explikation einer letzten Inkommensurabilität. Absolute Transzendenz, allegorisch gesprochen das himmlische Paradies als transzendenter 490 Paulus-Apokalypse, Paris [Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631], 22, 17–20.
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Jenseitsraum, entzieht sich dieser Darstellungsmöglichkeit. Sie kann in der Erzählung nicht abgebildet werden, sondern nur über eine mehrfache Verschränkung bedeutet werden. Eine Darstellung der terra repromissionis als das Paradies, das zugleich irdisch zugänglich ist, ist narratologisch nur möglich, indem das betretene Land nicht mit einem himmlischen transzendenten Paradies identisch gesetzt wird. Was betreten wird, ist ein Raum, der paradiesische Züge hat, aber noch nicht einmal in seiner narrativen Ausarbeitung die eigentlichen Merkmale des traditionell irdischen Paradieses der Genesis aufweist.491 Was Brendan und seine Mönche erfahren können, ist nur die Explikation des Transzendenzhaften in einem immanenten Inselraum, dem die Deutung des iuvenis eine Identität mit der terra repromissionis zuweist. Diese Identität aber bleibt eine gebrochene, expliziert im Fluss, und das Transzendenzhafte der ersten Inselhälfte bleibt ein bloßer Vorgeschmack492 einer Transzendenz, die in immanenter Weise nicht erfahrbar sein kann. Die terra repromissionis wird so in der NSB in ihrer spezifischen Dynamik zu einem immanenten Jenseitsraum, der eben nicht nur über die Verneinung der Kategorien, sondern durch die Explikation der letztendlichen Grenze die Spannung zwischen Transzendentem und Immanentem verhandelt. Gerade im Scheitern der Narration an der Inkommensurabilität, an ihrer letzten Schranke, wird die terra repromissionis zu einem Zwischenraum.
2.3.4 Zurück in der Welt: Funktionalisierungspotentiale Wie an der ästhetischen Dynamisierung des Inselnarrativ deutlich werden konnte, beschreibt die NSB gerade keine Jenseitsschau, sondern erzählt die Reise einer Gruppe von Personen aus Irland in einen Heilsraum, der in seiner Konfiguration als immanent jenseitig gelten darf. Die vorgelagerten wunderbaren und teilweise selbst jenseitigen Inseln bilden in ihrem breiten Spektrum die Spannung gradueller Transzendenz im immanenten Raum ab. Nach ihrem Aufenthalt auf der terra repromissionis führt die Reise Brendan und seine Mönche wieder in den immanenten Raum zurück und mit ihnen Wissen um Jenseitiges, das eigentlich über ihre immanente Perspektive hinaus geht. Durch diesen erzähllogischen Rückbezug der (immanent erfahrenen) transzendenten Wahrheiten ergeben sich pragmatische Funktionalisierungspotentiale, wie sie im Rahmen der spezifischen historischen 491 Vgl. Gen 2–3. Es fehlen beispielsweise die vier Paradiesflüsse. Als einer der wenigen Anklänge dient vielleicht der iuvenis vor dem Fluss, vgl. Gen 3,24. 492 Vgl. NSB, 1, 38: hodie nos refecit de tali gustu spiritali et potu [heute haben wir von solch geistiger Speise und Trank gegessen und getrunken].
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Dynamisierung alle drei untersuchten Zwischenraumerzählungen teilen und in dem gegenseitigen Bedingungsverhältnis einer kulturellen Erzählweise begründet sind. Der immanente Rückbezug der Erzählung Brendans Erfahrung wird nicht zuletzt über seine Rückkehr nach Irland in den diesseitigen, immanenten Raum zurückgeführt: Nach seiner Reise zur terra repromissionis fährt er mit seinen Mitbrüdern zurück nach Irland in seinen angestammten Platz (ad locum suum).493 Eine Gruppe von Handschriften, die ab dem zehnten Jahrhundert nachweisbar ist,494 schildert diese Rückführung genauer: Brendan berichtet seinen Mitbrüdern hier von den Wundern und stirbt schließlich.495 Diese Rückkopplung des Paradieserlebnisses in den Klosterraum ist insofern auffällig, als sie bereits in ähnlicher Weise im Zusammenhang mit Barinth und Mernoc gegenüber der Klostergemeinschaft auf der insula deliciosa und im Dialog Barinths mit der Klostergemeinschaft in Clonfert erfolgt ist. Aber auch in den Fassungen, die die Heimkehr Brendans verkürzt erzählen, stellt sich die Frage, wie hier das Transzendente in das Immanente (re-)integriert wird, und umgekehrt, wie dabei die Differenz des Immanenten zum Transzendenten vom Text aufrechterhalten wird. Der Schlüssel ist Brendan selbst, als die zentrale Verbindung aller vier Koordinaten der Reise, Irland und terra repromissionis, Immanenz und Transzendenz. In ihm zeigt sich eine zentrale Zugangsregulation des immanent Jenseitigen (Strukturmerkmal I). Er nämlich erschließt das Transzendente zwar, macht es erlebbar und führt es in die Immanenz zurück. Zugleich jedoch grenzt er paradoxerweise die Transzendenzerfahrung vom immanenten Diesseits ab, so dass es in dieser Abgrenzung ‚transzendent‘ bleiben kann. Möglich wird all das in der Zeichnung Brendans als Abt eines Klosters: Wiewohl auserwählt, die Reise zu machen, das Wunderbare zu sehen, die terra repromissionis zu betreten, ist er doch zuletzt der Immanenz bis zu seinem Tod verhaftet und dem Raum des immanenten Diesseits (locum suum) verpflichtet. Der Beginn der Erzählung hat das Bild eines historischen Abts eines realen Klosters in Clonfert gezeichnet. Er wird vorgestellt als Sohn, Abge493 NSB, 28, 20. 494 Die Handschriftengruppe entspricht ε1 nach der Edition von Rossanna E. Guglielmetti und Giovanni Orlandi (2014), darunter fällt auch die Genter Leithandschrift (Gent, Universiteitsbibliotheek, 401) Carl Selmers (1959, vgl. hier S. 97–98). Zur Familie ε vgl. G uglielmetti 2017, S. 305–373. 495 Nach der Edition Selmer 1959 in der Zählung 29, 1–8.
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stammter eines bestimmten Geschlechts und einer konkreten Gegend496 und so zweifellos Figur der ‚realen‘ Lebenswelt, in deren Abgrenzung sich die Inseln der Reise figurieren. Trotzdem aber beginnt Brendan eine peregrinatio, die ihn an ihrem Ende zu einer terra repromissionis führen kann, deren Jenseitigkeit manifest ist. Während der Text sich alle Mühe gibt, Brendan in der Immanenz zu verankern, wird seine Sonderposition bald deutlich: Schon vor Reisebeginn erfährt sein Wunsch, Barinths Reise nachzuvollziehen – cor meum et omnes cogitationes meae conglutinatae sunt in unam voluntatem497 [mein Herz und alle meine Gedanken richten sich auf einen einzigen Wunsch] – und damit die Reise selbst, über den Zuspruch seiner Mitmönche (quasi uno ore)498 eine göttliche Legitimierung: Sie ist schließlich voluntas Dei.499 Der Gedanke der voluntas Dei wird in der Darstellung Brendans als Rezipient einer besonderen Gnade weiter ausgeführt. Auch wenn seine Mitreisenden die diversen Inseln und die terra repromissionis ebenso wie er betreten können, ist doch Brendan während der gesamten Reise eine exzeptionelle Figur innerhalb der Reisegruppe. Er ist durch einen besonderen Wissensstand ausgewiesen: Er allein weiß schon vor dem eigentlichen Geschehen, dass drei Mönche, die kurz vor Abreise zu ihnen stoßen, nicht mit ihnen in das Kloster zurückkehren werden500 oder welche Bewandtnis die Fischinsel 496 Vgl. NSB, 1, 1. 497 NSB, 2, 2. 498 NSB, 2, 4. 499 Vgl. NSB, 2 bzw. 13. Auffällig ist der Aufbau der Einzelepisode: Brendan hat den Wunsch, die terra repromissionis zu erfahren, unter der Bedingung, das sei der Wille Gottes (voluntas Dei). (NSB, 2, 2) Um sie um Rat zu fragen, wendet er sich an seine Mönche, die ihm wiederum sagen, dass sie sich Brendan anschließen, sein Wunsch entspräche ihrem, und ihr einziger Wunsch sei, nach Gottes Willen zu handeln, vgl. NSB, 2, 6. Das Problem liegt im Konditionalsatz si voluntas Dei est. Entweder ist Brendan sich nicht sicher, was der Wille Gottes denn sei: Wenn dem so ist, ergibt die Suche um Rat bei seinen Mönchen Sinn. Sobald diese aber dann wiederum auf den Willen Gottes referieren – sie täten, was immer Gottes Wille sei – wird diese Erklärung zirkulär. Brendan fragt sie, weil er sich nicht sicher ist, was Gottes Wille ist, sie antworten, ihr Wille sei sein, Brendans, Wille. Denn sie wollten alle nur Gottes Willen entsprechen. Eine zweite Interpretation des Konditionalsatzes, die wohl zu bevorzugen ist, wäre, dass die Entscheidung zur peregrinatio als Wille Gottes bereits gefallen ist und nur noch der Legitimierung durch die Mitbrüder bedarf. Brendans Wille stimmt mit dem göttlichen Willen überein und der Dialog zwischen Brendan und seinen Mönchen hat eine funktionelle Bedeutung außerhalb der eigentlichen Erzählung. In Brendans Rückfrage bei den ihm anvertrauten Mönchen wird die peregrinatio Brendans legitimiert, denn als Abt hat er schließlich eine Verantwortung zu erfüllen. Er verhält sich so explizit konträr zu Mernoc, man denke nur an die Worte der Mönche Mernocs, nachdem dieser von dessen Reise wiederkehrt, vgl. NSB, 1, 28: Cur, patres, dimisistis vestras oves sine pastore in ista silva errantes? [Warum, Väter, habt ihr euere Schafe verlassen, die ohne ihren Hirten in diesem Wald umherirren?] Nicht die freie Entscheidung der Mönche zur peregrinatio ist an dieser Stelle zentral, sondern vielmehr die funktionale Reglementierung der allgemeinen Praxis der peregrinatio. 500 Vgl. NSB, 5, 4.
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auf sich hat.501 Er, nicht seine Mitreisenden, ist der Auserwählte Gottes. In der Interaktion mit ihnen wird sein Sonderstatus offenbar, die institutionelle Inszenierung eines Abtes trägt ebenfalls dazu bei, aber conditio sine qua non der Reise ist Brendan und nicht der einzelne Mönch der Reisegemeinschaft. Er selbst, so Paulus, friste sein Leben nur wie ein Vogel nackt auf einem Felsen.502 Brendan dagegen habe eine Sonderstellung: Deus autem de suis secretis per septem annos pascit te cum tua familia.503 [Gott aber ergötzt dich zusammen mit deiner Klostergemeinschaft über sieben Jahre hinweg an seinen Geheimnissen.] Er sei dazu berufen, im Modus dieser ganz besonders strukturierten Reise, über sieben, liturgisch überformte Jahre, deren Providenz immer wieder unterstrichen wird, die secreta Gottes zu erleben: O venerabilis pater, quanta et qualia mirabilia Deus ostendit tibi quae nulli sanctorum patrum manifestavit.504 [Ehrwürdiger Vater, welch große und welch besondere Wunder hat Gott dir doch gezeigt, die er keinem der heiligen Väter offenbart hat.]
Dementsprechend steht Brendan in seiner Sonderrolle nicht nur über seinen Mönchen, sondern sogar über dem Eremiten Paulus, ja sogar über allen anderen der sancti patres. Nur er ist derjenige, dem sich Gott offenbaren wollte, und die gesamte zyklische Strukturierung der Reise wird zum Vehikel dieser Offenbarung: Ideo non potuisti statim invenire illam quia Deus voluit tibi ostendere diversa sua secreta in oceano magno.505 [Du hast deshalb jenes [Land] nicht sofort finden können, weil Gott dir seine ganz verschiedenen Geheimnisse auf dem weiten Ozean zeigen wollte.]
Über die in der Immanenz verankerte Figur Brendans, die auf diese Weise an einer besonderen Schnittstelle zwischen Immanenz und Transzendenz, d. h. zwischen immanenter Verortung und transzendenter Berufung changierend, angeordnet ist, kann das erlebte Wunderbare, nach der Reise, auf diese Weise in das Kloster reinstitutionalisiert werden. Als immanenter Abt, der dank seiner Sonderrolle relativ transzendente Erfahrungen bis hin zum Betreten der terra repromissionis machen kann, kann seine Figur die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz in gewisser Weise überbrücken und die erlebte Transzendenz weniger auserwählten Figuren vermittelbar machen: Die Mitreisenden erleben die Wunder, weil sie mit Brendan reisen. Insofern auch 501 Vgl. NSB, 10, 4. 502 Vgl. NSB, 26, 25. 503 NSB, 26, 25. 504 NSB, 26, 23. 505 NSB, 28, 13.
2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung
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wird an der fortwährenden Differenzierung Brendans von seinen Mönchen die Gradualität des Transzendierungsprozesses offenbar. Die Interaktion des immanenten und doch auserwählten Brendan mit den transzendenten Räumen und jenseitigen Räumen vollzieht sich dabei in der Regel in mehreren Schritten, die prozessual die Paradoxie erschließen, produzieren und in Frage stellen: Nach einem Moment der Begegnung, während der das Wunderbare (im Sinne von Strukturmerkmal II) von Brendan gesehen und vom Text erzählt wird, folgt von Seiten Brendans und des Lesers der Versuch, dieses Wunderbare (etwa der wunderbar große Baum mit der unzähligen Anzahl von strahlenden Vögeln) aus der immanenten Perspektive zu erschließen. Der Versuch muss scheitern, denn während der Unterredung der Mittlerfigur Brendans mit Figuren des Zwischenraumes wird in diesem Erschließungsprozess seine epistemologische Begrenztheit verhandelt: Das Paradoxale (etwa der Engelsvögel) wird bestimmendes Moment. Die epistemologische Annäherung der immanenten Perspektive – auch natürlich des Lesers, der auf derselben Stufe mit den Mitbrüdern steht – an das (relativ) Transzendente bleibt so immer von einer grundlegenden Alterität bestimmt. Zwar kann in den Unterredungs- und Verständigungsversuchen Brendans das absolut Transzendente als Direktive des Wunderbaren ausgemacht werden, die Inkommensurabilität bleibt aber auch hier prägendes Moment. Das Transzendente wird in dieser Inkommensurabilität in seiner Unverfügbarkeit reaktualisiert (Strukturmerkmal III). Auch Brendan kann seine immanente Perspektive nicht endgültig überwinden, trotz seiner Schlüsselposition, seiner auserwählten Rolle und seiner Fähigkeit, in den Unterredungen einen Erkenntnisprozess im immanenten Modus anzustoßen. Zwar gibt es eine klare Differenz zwischen Brendan und seinen Klosterbrüdern, sei es bezüglich des Wissensstandes, des Berufungsmomentes, oder auch wenn Brendan etwa als erster und vorerst einziger die Insel des Paulus betreten darf. Aber auch Brendan wird immer wieder mit Begrenzungen und dem Defizit seines eigenen Erkenntnisvermögens konfrontiert, und wenn es nur über die Inszenierung von Gnadenmomenten ist, als sich etwa erst nach der Bitte an Gott Brendan, der Reisegruppe und dem Leser die wahre Bedeutung der Vögel erschließen kann.506 So beginnt Brendan etwa im Angesicht des Vogelbaumes507 oder im Kloster des Ailbe508 nachzudenken (cogitare/considerare), was das wohl bedeuten könnte und tritt schließlich in Kontakt mit Zwischenraumfiguren wie dem Abt, Judas und Paulus. Konfrontiert mit der Unergründlichkeit der
506 Vgl. NSB, 11, 10–12. 507 Vgl. NSB, 11, 9. 508 Vgl. NSB, 12, 45.
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Inseln sind es seine Fragen,509 teils auch sein Vorauswissen,510 die das Transzendente im Inselraum erschließen und in seiner paradoxalen immanenten Jenseitigkeit offenbar machen. Die Auseinandersetzung, die Brendan in seiner Sonderrolle mit dem Transzendenten, dem ‚Zwischen‘, vollziehen kann, macht es schließlich möglich, dass die Mitreisenden wie die Leser Brendans Transzendentes im Immanenten, das ‚Zwischen‘, erleben können. In der textinhärenten Zyklik der NSB wird die transzendente Erfahrung auf diese Weise über die Schlüsselfigur Brendans in die immanente Lebenswelt der Narration wie des Lesers rückgebunden. Wie Mernoc Barinth auf die terra repromissionis und zu ihren Wundern geführt hat, wie Barinth wiederum Brendans Mönche an seinem Erleben teilnehmen ließ, so berichtet zum Ende der NSB Brendan den Mönchen von seinen Erlebnissen.511 Die eigentliche Kernerzählung der NSB, die Reise selbst, tritt so an die funktionale Stelle der Erzählung Brendans an die daheimgebliebenen Mönche und dient, wie schon die Erzählung Barinths zu Beginn, dem Zweck des gustus spiritalis und damit dem geistigen Nacherleben der Wunder, die Brendan zuteilgeworden sind. Systematisch wird dabei schlussendlich, weil es sich bei Brendan eben um eine auserwählte Figur Gottes handelt, das erlebte Wunderbare als ‚wunderbar‘ im immanenten Erleben als Ausnahme markiert: Brendans Mitbrüder, diejenigen auf seinem Boot wie die, die zuhause auf ihn warten, ja zuletzt auch der Leser, erleben das Transzendente nur deshalb, weil Brendan sie erst in diese Räume geführt und sie ihnen erschlossen hat. Funktionalisierungspotentiale auf dem Kontinent Ein Erzählmodus, der wie der Zwischenraum mit komplexen Figuren der Doppelläufigkeit eine transzendente ‚Realität‘ im Immanenten behauptet, zugänglich macht und über die Erzählung zurückführt, entwickelt zugleich die Grundlage, diese im Sinne einer ‚historischen Dynamisierung‘ zu funktionalisieren. Wie dieser Erzählmodus kulturell begründet und dimensioniert ist, kann er im Sinne eines gegenseitigen kulturellen Bedingungsverhältnisses Funktionalisierungspotentiale begründen. In der NSB lässt sich diese kontextuelle Funktionalisierung der Erzählung nur schwer nachzeichnen, da weder ihre genaue Entstehungszeit noch ihr Entstehungsort bis jetzt zureichend geklärt werden konnten.512 Trotzdem 509 Vgl. NSB, 12, 61; NSB, 12, 67; NSB, 12, 70. 510 Vgl. NSB, 17, 1–2. 511 Vgl. NSB, 29, 3–8, zitiert nach Selmer 1959. 512 Vgl. Kapitel 2.1.
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jedoch lassen sich auch hier klare Tendenzen festmachen, die vor allem im Zusammenhang mit der iroschottischen Praxis der peregrinatio gebracht werden müssen: Die frühesten Handschriften (10./11. Jahrhundert) stammen alle aus dem rheinisch-lothringischen Raum, von wo aus sich die Erzählung bereits früh bis nach Bayern verbreitet – vermutlich durch Froumund von Tegernsee,513 möglich ist aber auch ein Zusammenhang mit der Gorze-Trierer Klosterreform.514 Das Bezeichnende der Überlieferung und der Auslöser der bis heute ungeklärten Kontroverse über den Ursprungszusammenhang ist die späte Überlieferung der NSB auf der irischen Insel angesichts ihres dezidiert irischen Gegenstands und ihrer irischen Intertexte und Diskurse. Außerdem ist bereits bei den ersten Handschriftenzeugen eine gewisse ‚Zerlesenheit‘ feststellbar – auch sie weisen bereits drei verschiedene Entwicklungsvarianten auf und sind entsprechend „nicht mehr ‚erste Generation‘“.515 Wenn auch die historische Funktionalisierung der NSB und ihre Einordnung in etwaige entstehungszeitliche Diskursfelder nicht überzeugend möglich ist, bleibt doch die Spannung eines irischen Textes im deutsch-französischen Raum. Wieso verbreitet sich gerade die Erzählung einer irischen peregrinatio über so viele Benediktinerklöster wie Tegernsee516 oder auch St. Maximin bei Trier?517 Wieso wird gerade einer Praxis, die der benediktinischen stabilitas loci518 diametral entgegensteht, auf diese Weise ein Resonanzraum geschaffen? Antworten auf diese Frage wurden im Zusammenhang zwischen der NSB und der karolingisch-benediktinischen Klosterreform gesucht: Die paradiesische Klostergemeinschaft Ailbes stellt offensichtlich eine zönobitische Gemeinschaft dar und ist möglicherweise der Benediktinerabtei Cluny nachempfunden.519 Im Gespräch zwischen Paulus, dem Namensvetter des Urvaters des Eremitentums, und Brendan wird klar, dass das zönobitische Mönchstum, welches eine Figur wie Brendans hervorbringen konnte, als höherwertig eingeschätzt werden muss als das eremitische Leben.520
513 Vgl. Jacobsen 2000, S. 88–91. 514 Vgl. Selmer 1959, S. XXVIII–XXXI. 515 Zelzer 2015, S. 262. 516 Vgl. etwa München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 29890, früher unter der Signatur 29061. 517 London, British Library, Add. 36736 ff. 168v–240v. Zum Zusammenhang der Brendan legende und den Klöstern (und Bibliotheken) des Benediktinerordens vgl. Peeters 1989, S. 170–173. 518 Vgl. Benedicti regula, 58, 15–18. 519 Vgl. Jacobsen 2000, S. 94–95. 520 Vgl. NSB, 26, 15–25. Vgl. Zelzer 2015, S. 266.
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Die Mönche des Mernoc, dem mit einem Besuch der terra repromissionis dieselbe Gnade zugekommen war wie Brendan, leben in nur „semieremitische[n] Ansiedlungen“, ebenfalls nicht rein anachoretisch.521 An einer Reihe von Textstellen kann Michaela Zelzer so eine gewisse einschränkende Tendenz hinsichtlich des rein eremitischen Lebensmodells nachweisen.522 Weiterhin könnte man die Rückführung der peregrinatio Brendans in sein Mutterkloster anführen – schließlich kehren er und seine Brüder nach dem Erreichen der terra repromissionis zurück.523 Zu nennen wäre auch, wie Brendan den Rat seiner Mitbrüder einholt,524 und wie das Kloster vor der Abreise dem Prior und zukünftigen Nachfolger übergeben wird.525 Zudem ist die gesamte NSB immer wieder von Figuren des Gehorsams gegenüber Brendan durchzogen.526 Eine ganz bestimmte zönobitische Form des monastischen Lebens wird so zum prägenden Strukturmerkmal, in das die peregrinatio, Brendan und schließlich auch seine immanente Jenseitserfahrung rückgebunden werden.527 Die NSB, wie sie seit dem zehnten Jahrhundert überliefert ist, legt den Grundstein für die Integration der peregrinatio als genuin irische Praxis in einen benediktinischen Rahmen. Sie verbreitet als erbaulicher Legendenstoff möglicherweise sogar, wie Michaela Zelzer postuliert, bestimmte Merkmale benediktinischer Observanz.528 Die zönobitischen ‚Anpassungstendenzen‘ der NSB jedoch bleiben marginal. Sie sind im Großen und Ganzen beschränkt 521 Zelzer 2015, S. 266. 522 Vgl. Zelzer 2015, S. 265–267. 523 Vgl. NSB, 28, 20. Vgl. außerdem das Kapitel 29 der Handschriftengruppe ε1 (Zählung nach Selmer 1959), wo diese Rückkehr weiter ausgearbeitet ist. 524 Vgl. NSB, 2, 4, vgl. dazu Benedicti regula, 3, 1–3, vgl. Anm. 499. 525 Vgl. NSB, 3, 2. 526 Vgl. NSB, 7. 527 Ob diese Reglementierungsmomente, wie sie die NSB zweifelsohne grundlegend bestimmen, jedoch für eine sekundäre Modifizierung eines vormals rein irisch-eremitischen peregrinatioTextes sprechen (vgl. Zelzer 2015, S. 259), sei dahingestellt. Michaela Zelzer formuliert hier die These, eine ursprüngliche irisch-lateinische Erzählfassung hätte diese zönobitischen Erzählmomente nicht aufgewiesen und erst auf das Festland geflohene Iren hätten dann diese Anpassungen im Sinne eines benediktinischen Mönchstums unternommen, um „die Beachtung der Regel Benedikts in den Klöstern des Reiches [zu] unterstützen und im Zuge der karolingischen Reformbewegung die Einführung einheitlich benediktinischer Observanz literarisch [zu] begleiten.“ 528 Ein Problem dieser Hypothese allerdings ist, dass sie unausgesprochen von einer stringenten, rein anachoretischen irischen Tradition gegenüber einer benediktinisch-zönobitischen ausgeht. Diese Opposition lässt sich allerdings nicht so klar geographisch übertragen, da mit dem Ende des achten Jahrhunderts im irischen Raum im Kreis der Célí Dé eine zunehmende Betonung der stabilitas loci nachweisbar ist, vgl. Johnston 2013, S. 52, mit Hinweis auf Hughes 1960, S. 146–147. Auch die Klosterregel des Ailbe beispielsweise verlangt stabilitas, vgl. The rule of Ailbe of Emly, 33: „that he may not leave his enclosure“, zitiert nach der Edition von O’Neill 1907, hier auch eine textkritische Edition.
2.3 Die Navigatio S. Brendani als Zwischenraumerzählung
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auf die Rückkehr Brendans, das Gehorsamsmotiv und die relative Abwertung der eremitischen vor der zönobitischen Lebensführung. Angesichts der verhältnismäßigen Notwendigkeit der peregrinatio als Modell und Gestus für die Erzähllogik müssen diese Tendenzen in den Hintergrund treten. Stattdessen sollte man vermutlich für die NSB eine weitere wichtige Funktion annehmen, die der Hypothese einer Einbettung in die Klosterreform gar nicht widersprechen muss: Nachdem eine Reihe von zönobitischen Zugeständnissen die NSB Seite an Seite von Benedicti regula und zönobitischem Mönchstum zumindest denkbar und die irische peregrinatio im Kontinent integrierbar gemacht haben, kann eine Erzählung wie die NSB eine nicht zu unterschätzende Dynamik der Geltungsproduktion entwickeln – sie kann zu einer „Propagandalegende der irischen Wandermönche“ werden, wie es Walter Haug treffend schreibt.529 Die NSB mag zwar ein integratives Moment haben, das der iroschottischen peregrinatio-Praxis ihren Platz im zönobitischen Mönchstum zuzuweisen versucht. Trotz allem jedoch wird die eschatologische Funktion der peregrinatio keinesfalls verringert, ganz im Gegenteil: Über ihre Figuration als notwendige Zugangsvoraussetzung der immanenten Jenseitsräume (bei Paulus aber natürlich auch bei Brendan) wird sie entscheidend aufgewertet, legitimiert und bezeugt: Die peregrinatio bleibt in der NSB signifikanter und exklusiver Modus des Heilserwerbs, der Transzendierung und der immanenten Jenseitserfahrung, und ist als solches zweifellos zentrales Element der Erzählung. Das Exil auf dem Kontinent erfährt damit aus der Perspektive des peregrinus eine grundlegende Umwertung. Die Fremde wird zum relativ transzendenten Heilsraum, der selbst schon Tendenzen der Jenseitigkeit verfügbar machen kann. Der Scottus peregrinus wird konsequent als Auserwählter Gottes gedacht. Heißt das jedoch, dass die schon früh verhältnismäßig große Rezeptionsgemeinschaft der NSB durch die Erzählung aufgefordert wurde, in Lederbooten das irdische Paradies zu suchen? Sich der stabilitas loci zu widersetzen und ein Leben als peregrinus zu führen? Die breite monastische Verbreitung der Erzählung lässt daran zweifeln und angesichts der narrativen Struktur der NSB als Zwischenraumerzählung, mit den entsprechenden Zugangsregulationen und Inkommensurabilitätsmarkierungen, kann und muss diese Frage verneint werden. Primär nämlich bleibt die NSB ein narrativer Text, der, unter anderem auf der Folie der irischen peregrinatio, den erzählerischen Versuch unternimmt, in einem immanenten Raum Jenseits zu beschreiben. Fasst man dieses Phänomen nun als eine Art literarischer ‚Übersprunghandlung‘ an529 Haug 1989, S. 401.
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gesichts historischer Realitäten530 – die historische peregrinatio sei verhindert, und entsprechend entwickele sich eine spirituelle Literarisierung des historischen Gestus – oder schlichtweg als eine monastische Allegorie – die die „Paradoxie der Weltflucht auf räumlicher Ebene“ verhandelt.531 Die gesamte NSB ist überprägt durch ein eschatologisches Gefüge, das ihre Räume doppelläufig jenseitig und gleichzeitig immanent lesbar machen soll.
2.4 Die Zwischenrauminseln im 12. Jahrhundert Über die Dimensionierung durch die Anderweltliteratur und den peregrinatioDiskurs kann die NSB im neunten bzw. zehnten Jahrhundert eine Raumdynamik erzählen, die das Inselnarrativ in seiner Darstellungsvalenz einer immanenten Jenseitigkeit konfiguriert. Über den Erzählmodus des Zwischenraums wird die Insel auf eine Weise erzählt, die das Inkommensurable darstellbar macht: eine Dynamik, die wiederum eigene Funktionalisierungspotentiale innerhalb ihres Entstehungskontextes vorstrukturiert. Die NSB behauptet so für das räumliche Narrativ der ‚Insel‘ eine Darstellungsvalenz immanenter Jenseitigkeit. Sie tut dies zwar mit aller erzählmodalen Ambivalenz des Zwischenraums, aber in letzter Konsequenz erzählt sie doch von der, wiewohl relativen, Zugänglichkeit des immanenten Jenseitsraumes. Diese narratologische Konfiguration des kulturellen Erzählmodus, wie er für die NSB auf der Folie ihrer diskursiven Dimensionierung aufgezeigt werden konnte, erfährt im zwölften Jahrhundert eine spezifische Rezeption. Mit den Inseln der NSB ist für weitere Diskurse eine Dynamik gesetzt, die den Inselraum unter dem Aspekt seines Darstellungspotentials immanenter Jenseitigkeit begreift. Während beispielsweise für den TPSP diese diskursive Rezeption des Zwischenraums in seiner negierenden Perspektivierung aufgezeigt werden wird, soll bei der NSB der Untersuchungsfokus auf der weiteren Affirmation dieser Dynamik liegen. Die Raumdynamik der NSB dimensioniert gerade im zwölften Jahrhundert die kulturellen Raumnarrative verschiedener weiterer Erzählungen. Das Inselnarrativ in seinem Darstellungspotential immanenter Jenseitigkeit wird über die Konfigurierung neuer Inseln nach ebendiesem Modell reaktualisiert. In der Nachfolge der NSB entstehen so eine Reihe von Zwischenraumerzählungen, die explizit den Inselraum als einen Heilsraum innerhalb einer immanenten Jen530 Elva Johnston (2013, S. 53–54) geht davon aus, dass die historische Verhinderung faktischer peregrinationes zur allegorischen Ausarbeitung von Texten wie der NSB geführt hat. 531 Vgl. Weitbrecht 2011, S. 206. Zur NSB als Allegorie vgl. auch Bourgeault 1983 sowie Bray 1995.
2.4 Die Zwischenrauminseln im 12. Jahrhundert
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seitstopographie erzählen: mithilfe einer Sonderraummotivik, innerhalb eines eschatologischen Referenzrahmens, unter ästhetischer Dynamisierung verschiedener Inkommensurabilitätsmarkierungen.. Die Vita S. Elgari Ein Beispiel hierfür ist die Vita S. Elgari (12. Jahrhundert).532 Hier wird erzählt, wie der Hl. Elgar bis zu seinem Tode ein anachoretisches Leben auf der (realen) Bardsey Island (Ynys Enlli) führt – sie ist 3,1 km von der Küste der Lleyn-Halbinsel entfernt.533 Die Insel wird hier, wie bereits in der NSB, zu einem signifikanten Schnitt- und Schlüsselpunkt innerhalb eines eigentlich binären Gefüges aus Dies- und Jenseits:534 Applicuit in insulam Enli, quae more britannico uocatur Roma Britanniae propter longinquitatem et periculosum transitum in extremitate regni sita et propter sanctitatem loci et honestatem. Sanctitatem cum .xx. milia sanctorum ibi iaceant corpora confessorum tam quam martirum; honestatem cum sit circundata undique mari et eminenti promuntorio [sic] orientali plaga occidentali uero plana et fertili gleba humida fonte dulcifluo et partim maritima et delfinis copiosa. Que omni caret serpente et omni rana et in qua nullus fratrum iunior quidem morte preoccupatur cum senior superstet hac presenti uita.535 [Er ist auf die Insel Enlli zugesteuert, die wegen ihrer Abgelegenheit, ihrer nur gefährlichen Zugänglichkeit – sie ist am äußersten Ende des Reiches gelegen –, und wegen der Heiligkeit und Erhabenheit des Ortes nach britischer Gepflogenheit das Rom Großbritanniens genannt wird. Heilig ist sie, weil die Leichname von zwanzigtausend heiligen Bekennern sowie Märtyrern dort liegen; erhaben deshalb, weil sie von allen Seiten von Meer umgeben ist, während im Osten ein Gebirge aufragt, ist sie im Westen eben, mit durch eine Süßwasserquelle bewässerten fruchtbaren Boden, an der Meeresküste auch reich an Delphinen. Auf ihr befindet sich keine Schlange, kein Frosch und sicherlich stirbt kein jüngerer Bruder, während der ältere noch in diesem gegenwärtigen Leben steht.] 532 Die Lebensbeschreibung des Hl. Elgar ist nur in einer einzigen Handschrift überliefert, als Teil des Liber Landavensis (Aberystwyth, National Library of Wales, Ms. 17110 E). Dieser beinhaltet neben einem Fragment des Matthäusevangeliums die Lebensbeschreibungen des Hl. Elgar und des Hl. Samson sowie weitere Textzeugen in Relation zum Bistum Llandaff und seiner Bischöfe. Der Liber Landavensis ist vermutlich zu Lebzeiten des Bischofs Urban von Llandaff (1119–1134) entstanden, mit Sicherheit aber bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts (vgl. einführend Jankulak und Wooding 2010, S. 16–19 sowie Davies 2003, S. 124–128). Der terminus post quem der Vita S. Elgari muss wegen der Erwähnung einer datierbaren Reliquientranslation mit dem Jahr 1120 angesetzt werden. 533 Vgl. Vita S. Elgari, 2, zitiert nach der Edition von Jankulak und Wooding 2010. Karen Jankulak und Jonathan Wooding berufen sich in ihrer Edition ihrerseits, abgesehen von wenigen Verbesserungen, auf die Edition Evans 1979 [1893]. 534 Die Erzähltradition von Brendan sollte dem Verfasser der Vita S. Elgari in Form der Vita bekannt gewesen sein, vgl. Jankulak und Wooding 2008, S. 30. 535 Vgl. Vita S. Elgari, 2.
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2 Die Insel
Die Insel ist durch und durch Sonderraum. Sie ist räumlich am äußersten Ende des Reiches (in extremitate regni) situiert, ihr Zugang durch die Gefährlichkeit einer etwaigen Reise klar reguliert. Fruchtbarkeit, Süßwasserquelle und Delphine erwecken den Eindruck eines utopischen Ortes, an dem Meerwasser und fruchtbarer Boden sich nicht gegenseitig ausschließen und landschaftliche Gegensätze synergistisch in einem Raum vereint sind. Es gibt weiterhin, auch das macht die Insel zu einem wesentlichen Ausnahmeraum, weder Frösche noch Schlangen und genauso wenig gibt es hier das Unglück eines unzeitigen Todes, denn der jüngere Bruder stirbt auf dieser Insel nicht vor dem älteren. Doch bei dieser utopischen Erzählung einer hermetischen Inselidylle bleibt es nicht, die Insel wird explizit in der Spannung einer immanenten Jenseitigkeit figuriert. Elgar lebt hier bis zu seinem Tod, verbringt dieses Leben größtenteils allein und wird währenddessen von Tieren ernährt, die eigentlich Engel sind.536 So berichtet er Caradoc bei dessen Besuch:537 Sancti spiritus sumentes sibi nutu Dei similitudinem corporeae substantiae, ita credendo testante scriptura spiritus carnem et ossa non habet, assidue die ac nocte ministrant michi ut egenti et debili ac ueluti posito in naufragio; quorum administratione nichil michi nosco deesse prosperitatis et gaudii. nichil michi adesse egestatis. et referentes michi uera referunt semper michi iusta; promittunt referentes michi presentem uitam ut flos faeni futuram ut odor balsami; confortantes ne deficiam in uia recepturus deuicto hoste coronam et premia. Seposita a me eorum coadunatione cognoscente illos prae tanta frequentatione Dubricius archipresulem dexteralis Britannie, Danielem Bancorensis aecclesiae episcopum sanctumque Paternum et multos alios quorum corpora hac insula sepulta sunt.538 [Die Geister von Heiligen, die auf Geheiß Gottes den Anschein körperlicher Beschaffenheit annahmen – ungeachtet des Glaubens, dass dem Zeugnis der Heiligen Schrift nach kein Fleisch und keine Knochen haben –, versorgen mich Tag und Nacht, wie ich bedürftig, schwach und gleichwie ein Schiffbrüchiger bin; durch ihre Versorgung wüsste ich nichts, was mir an Glück und Freude fehlt und nichts, das ich bedürfen würde. Wenn sie mit mir sprechen, sagen sie mir die Wahrheit, immer sagen sie Gerechtes. Wenn sie mit mir sprechen, verheißen sie, dass das gegenwärtige Leben wie eine gemeine Feldblume ist, die Zukunft wie der Duft von Balsam, und sie bestärken mich, von meinem Weg nicht abzukommen, weil ich nach dem Sieg über den Feind eine Krone und Belohnungen erhalten werde. Obwohl ihre Gruppe von mir Abstand hält, erkenne ich sie wegen der Häufigkeit ihrer Besuche als den Erzbischof des westlichen Großbritanniens, Daniel, den Bischof der Kirche von Bangor, den heiligen Paternus und viele andere, deren Leichname auf dieser Insel begraben sind.]
536 Vgl. Vita S. Elgari, 3. 537 Dieser Besuch Caradocs bei Elgar ist ebenfalls nach der Vita S. Pauli modelliert, vgl. dazu Jankulak und Wooding 2010, S. 29. 538 Vita S. Elgari, 5, die Zeichensetzung dieser Stelle entspricht nicht der Edition, ist zu ihrem Verständnis jedoch unabdingbar.
2.4 Die Zwischenrauminseln im 12. Jahrhundert
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Sancti spiritus hätten sich seiner angenommen und ihn versorgt, so dass es Elgar bei seinem anachoretischen Dasein auf der Insel trotzdem an nichts fehlte.539 Diese Geister treten nicht nur in Kontakt zu Elgar, sie nehmen sogar die Form (similitudo) körperlicher Wesen an und geben Elgar einen ersten Einblick in das, was im zukünftigen Jenseits auf ihn wartet: Sollte er auf dem rechten Weg bleiben, so warte im endzeitlichen Jenseits der entsprechende Lohn auf ihn. Selbst Wesen zwischen entkörperter Geistigkeit und ganz konkreter Materialität, deren genaue Wesentlichkeit nur im vagen Verweis auf ihre relative similitudo gefasst werden kann, helfen sie Elgar, sein Leben in der absoluten Weltabkehr zu führen. Durch das körperliche Auftreten der spiritus, die sich für den auserwählten Elgar über die Vielzahl ihrer Besuche als die Seelen derer erweisen, die auf Enlli begraben worden waren, ist die Insel wesentlich als ein immanenter Jenseitsraum gekennzeichnet. Innerhalb eines eschatologischen Systems ist ihr eine Sonderrolle zugewiesen: Enlli ist nicht nur ein Heilsraum, der dem auserwählten Einsiedler Elgar als desertum540 dient. Über Momente der Brüchigkeit, der Doppeldeutigkeit, wie das exemplarisch die körperlichen Seelen oder die tierischen Engel leisten, wird die binäre Struktur von Dies- und Jenseits, von Transzendenz und Immanenz in Frage gestellt. An die Stelle der Binarität kann so ein Raum treten, der in seiner wunderbaren Bedürfnislosigkeit quasi-paradiesisch und doch praesens uita ist, obwohl er von Elgar noch zu seinen Lebzeiten, aus und in der immanentdiesseitigen Welt erreichbar war. Strukturell übernimmt der Raum trotz dieser Immanenz die Rolle eines Jenseitsraumes: Wie die Seelen verhießen hatten, wird Elgar als Belohnung für das Fortsetzen seines anachoretischen Weges nach dem „Sieg über den Feind“ belohnt werden. Dieser Sieg könnte im Sinne des Eremitentums als geistiger Kriegsdienst541 den persönlichen Kampf Elgars meinen, während seines anachoretischen Daseins bis zu seinem irdischen Tod. Die Vita S. Elgari allerdings ist von jeder Schilderung eines solchen selbsttranszendierenden Kampfes (außer vielleicht mit dem Bedürfnis des Hungers)542 vollkommen frei und Dämonen selbst treten nicht auf. Eine weitere Interpretation wäre eine Interpretation der Textstelle 539 Mit der Wendung nichil michi nosco deesse prosperitatis et gaudii nichil michi adesse egestatis [nichts, was mir an Glück und Freude fehlt und nichts, das ich bedürfen würde] muss dabei wohl auch eine ganz konkrete Versorgung mit Lebensmitteln gemeint sein. So beschreibt Vita S. Elgari, 6 beispielsweise, wie einer der spiritus ihm den Auftrag gibt, am folgenden Tag in eine Höhle zu gehen, um dort Nahrung zu erhalten. 540 Vgl. Vita S. Elgari, 9: heremum. 541 Vgl. zum Motiv des eremitischen Dämonen- und Teufelskampfes Schulz-Wackerbarth 2017, S. 49–50, Anm. 35 sowie S. 181–183. In der NSB wird das monastische Leben Brendans in analoger Weise als certamen bezeichnet, vgl. NSB, 1, 2. 542 Vgl. Vita S. Elgari, 7.
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im Sinne eines (temporären) Sieges über Luzifer,543 womit – weiterhin unter der Bedingung idealer Lebensführung, also dezidiert für den Heiligen oder den Märtyrer – der Insel Enlli als Insel des Wartens auf das tausendjährige Reich die (endzeitlich zukünftige) Funktion einer Vorstufe der terra repromissionis zugewiesen wäre: Hier wäre es, wo Elgar (und die anderen Heiligen und Märtyrer) auf die erste Auferstehung und ihr Leben im tausendjährigen Reiches warten würden, um dann wiederum auf ein himmlisches ‚Jerusalem‘ zu warten. Die Insel Enllis übernähme so eine ähnliche Funktion, wie es die Inseln des Kloster Ailbes oder auch des Paulus übernommen hatten. Sie sind immanente Vorstufen der immanenten Jenseitigkeit der terra repromissionis, an denen sich die graduelle Nähe zu dem immanenten wie transzendenten Jenseits in einem Spektrum von Spannungen immanenter Transzendenz narratologisch Bahn bricht. Diese heilsgeschichtliche Funktionalität der Insel wird auch im Schicksal Elgars manifest: Als sein Besucher Caradoc ihn bittet, seine Einsiedelei auch nur für eine kurze Zeit zu verlassen, wird ihm durch die Verstorbenen eine Rückkehr von Enlli in der Welt untersagt: O pater non est michi audis licentia non est tanta audacia ut te sequar amplius in hac uita.544 [Du hörst, Vater, ich darf es nicht; ich wage es nicht, dir in diesem Leben weiterhin zu folgen.] Die Insel mit ihren verkörperten Seelen hat für und mit Elgar eine Rolle übernommen, die sich in Opposition zum Leben an sich (in hac uita) versteht, wiewohl er paradoxerweise weiterhin lebt und sein Leben auch in diesem funktionellen Jenseitsraum auf eine heilsgeschichtliche Zukunft (futura) hin ausrichtet. Der Wartezustand, wie er durch den Aufenthalt der Heiligen auf der Insel figuriert und durch deren Prophezeiung an Elgar formuliert ist, ist also immer im Blick auf ein noch unzugängliches Jenseits begründet. Ein transzendentes Jenseits wird, wie auch andererseits ein immanent diesseitiges Großbritannien, bei der Konfiguration der Insel immer mitgedacht. Während sein irdischer, immanenter Besucher Caradoc so die Insel selbstverständlich verlassen kann, steht Elgar die Rückkehr in die reine immanente Diesseitigkeit nicht mehr offen. Er ist, auch während er noch am Leben ist, Teil eines jenseitigen Systems, Teil der Gemeinschaft der verstorbenen 20.000 Heiligen auf der Insel. Entsprechend endet die Erzählung auch in seinem Tod und seinem Begräbnis auf Enlli:
543 Vgl. Offb 20,1–3. 544 Vita S. Elgari, 9.
2.4 Die Zwischenrauminseln im 12. Jahrhundert
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Post haec duxit uitam praesente Domino et humano pectori incognitam et contra finem preparauit sibi fossam paratam in oraculo et extensis [sic] iuxta illam amisit spiritum.545 [Nach diesen Ereignissen führte [Elgar] ein Leben in der Gegenwart Gottes und dem menschlichen Herzen unbekannt, und gegen Ende grub er sich ein Grab in seiner heiligen Stätte und, neben ihm ausgestreckt, hauchte er sein Leben aus.]
An die Stelle der monastischen Gemeinschaft, der er ursprünglich entstammt, trat auf der Insel Enlli die Gegenwart Gottes und eine neue Lebensführung, die sich grundsätzlich von der immanent-irdischen unterscheidet, epistemologisch über das hinausgeht, was in der immanenten Welt bekannt ist. Noch verkörpert führt er ein Leben, das über die immanenten Kategorien hinausgeht, immanent und doch in der Gemeinschaft jenseitiger Figuren, auf einer Insel, die trotz ihrer immanenten Räumlichkeit eine eschatologische Funktionalität erfüllt. Mit seinem Tod tritt Elgar in die Gemeinschaft der Heiligen ein. Der Zwischenraumcharakter der Insel jedoch bleibt auch im Tod erhalten, die Heiligen schließlich haben wie Elgar die endzeitliche Verheißung vor Augen und verbleiben solange als potentiell verkörperte Seelen auf der Insel. Weder ist der Tod somit auf Enlli ausgesetzt546 noch wird Enlli nach dem Tod zum Raum des himmlischen Jenseits – nichtsdestotrotz wird die binäre Struktur von Leben und Tod, von Dies- und Jenseits wird im Inselraum narratologisch überblendet. An ihre Stelle tritt ein immanenter Jenseitsraum nach dem Modell der NSB. De Enoch et Helia Ähnlich geschieht das auch im Pantheon des Gottfried von Viterbo (1120– 1196) im Zusammenhang mit der Erzählung von Henoch und Elija.547 Henoch und Elija, beides biblische Figuren, die dem Tod in seiner binären Not545 Vita S. Elgari, 10. 546 Vgl. die Textstelle mit dem jüngeren und älteren Bruder, Vita S. Elgari, 2. 547 De Enoch et Helia, ediert bei Isépy 2016 unter dem Titel De Enoch et Elia ubi et quomodo uiuunt, S. 220–226. Mario Esposito (2000) schlägt eine verlorene Vorlage dieser Erzählung, auf der Gottfried De Enoch et Elia basieren soll, als eine Quelle der NSB selbst vor. Hauptsächlicher Beleg dieser Hypothese ist das Prosavorwort von De Enoch et Helia (vgl. für eine Edition Esposito 2000, S. 32–33), in dem Gottfried schreibt, die Erzählung unter den Apostelakten der Benediktinerabtei Saint-Mathieu de Fine-Terre am westlichen Ende der Bretagne gefunden zu haben. Mario Esposito schätzt das Alter dieses verlorenen apokryphen Henoch buches auf das sechste oder siebte Jahrhundert (Esposito 2000, S. 37). Wie Esposito selbst feststellt, tauchen Henoch und Elija in der NSB allerdings selbst nicht auf (Esposito 2000, S. 25, Anm. 36), weshalb dieses chronologische Verhältnis von De Enoch et Helia und NSB wohl eher ausgeschlossen werden muss. Der motivische Zusammenhang bleibt nichtsdes-
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wendigkeit entgehen konnten und deren Verbleib so zu einem narrativen Impuls wurde,548 werden hier in ein topographisches System versetzt, das sich in seinen Ausformungen ebenfalls nur als immanenter Jenseitsraum fassen lässt. Der Erzählung nach sticht eine Gruppe von ‚galiläischen‘ Mönchen vom Ende der Welt in See – mira per Oceanum uidere uolunt [sie wollen auf dem Ozean Wunder sehen].549 Der Ausgangspunkt ihrer Reise konnte mit der Benediktinerabtei Saint-Mathieu de Fine-Terre auf der Pointe Saint-Mathieu, im äußersten Westen der Bretagne, identifiziert werden.550 Das Ziel dagegen übersteigt, ganz nach dem Modell des Zwischenraums, jede geographische Festschreibung: Auf einer Insel im Meer nämlich, die paradiesisch nach der Vorlage des himmlischen Jerusalem gezeichnet ist,551 treffen die Mönche Henoch und Elija. Die beiden leben auf dieser Insel, bis in eine noch unbestimmte eschatologische Endzeit, in der sie für den Kampf gegen den Antichristen in die Welt wiederkehren.552 Die Beschreibung der Mönche als Galilei ruft die anachoretische Diskursdimension auf und markiert die Reise von Anfang an als eine Suche nach dem desertum. Die Zwischenrauminsel von Henoch und Elija ermöglicht so auch hier mit paradiesischer Sonderraummotivik und eschatologischer Verweisungsstruktur, einen Jenseitsraum zu beschreiben, der eigentlich jenseits des irdischen Erlebens und inkommensurabel ist. Er ermöglicht den Mönchen von Saint-Mathieu de Fine-Terre einen Einblick in eine eschatologische Zukunft. Kritische Stimmen Die Konfiguration der Insel als immanenter Jenseitsraum, wie sie die NSB vorzeichnet, wird so die Grundlage einer Reihe weiterer Erzählungen, die totrotz manifest. Für eine weitergehende Interpretation von De Enoch et Elia und weitere Literatur vgl. Weidner 2020. 548 Vgl. Gen 5,24 zu Henoch: ambulavitque cum Deo et non apparuit quia tulit eum Deus [Henoch ging mit Gott, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen.], sowie 2. Kön 2,1 zu Elija: actum est autem cum levare vellet Dominus Heliam per turbinem in caelum ibant Helias et Heliseus de Galgalis. [An dem Tag, da der Herr Elija im Wirbelsturm in den Himmel aufnehmen wollte, ging Elija mit Elischa von Gilgal weg.] Seit der Spätantike wird das biblische Motiv der lebendig entrückten Figuren Henoch und Elijas erzählt, so beispielsweise auch bei Sedulius, Carmen paschale, 105–106 Alle griechischen, koptischen, syrischen, altkirchenslawischen und lateinischen Versionen der Paulus-Apokalypse erzählen eine Begegnung mit dem Propheten Elija, vgl. Jiroušková 2006, S. 19. Zur mittelalterlichen Rezeption Henochs und Elijas im irischen Raum vgl. Egeler 2015, S. 307–308. 549 De Enoch et Helia, Isépy 2016, S. 220, Z. 20. 550 Vgl. Esposito 2000, S. 36–38. 551 Vgl. De Enoch et Helia, Isépy 2016, S. 222, Z. 20–32. 552 Vgl. De Enoch et Helia, Isépy 2016, S. 224, Z. 23–31.
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den Raum nach demselben Modell funktional machen. Die Insel wird retextualisiert, als weder diesseitiger noch jenseitiger Raum höchsten Heils, in ihrem Darstellungspotential immanenter Jenseitigkeit. Die NSB schafft so neue Erzählimpulse, indem ihre Dynamik bei der Figurierung weiterer narrativer Inselräume dimensionierend wirkt und diese wiederum das kulturelle Narrativ im Rückgriff auf die Strukturen der NSB weiter diskursivieren. Die narratologische Prämisse der NSB, über eine besondere Konfiguration des Raumnarratives – als ‚Zwischenraum‘ – könne Inkommensurables erzählt werden, wird so auch Jahrhunderte nach der Entstehung der NSB verhandelt. Zentrales Merkmal dieser erzählmodalen Konfiguration der NSB ist gerade die Prämisse, dass immanente Jenseitigkeit zwar erzählt werden könne, aber eben nur mithilfe eines dritten Raumes, der in seiner Paradoxie und Brüchigkeit das Inkommensurable als Inkommensurables ausstellt. Damit sind immanente Jenseitsräume wie die terra repromissionis in der NSB gerade nicht ohne Weiteres immanent verortbar. Die Reise Brendans ist so erzählt, dass sie gerade in der Erkenntnis gipfelt, dass im Diesseits das irdische Paradies eigentlich nicht erreichbar und erfahrbar ist.553 Geographische Einordnungen des irdischen Paradieses müssen scheitern, da dieser Raum anderen Kategorien gehorcht, besondere Zugangsbeschränkungen hat, und eben nicht in einer bestimmten, klassifizierbaren Distanz zur Küste von Irland anzutreffen ist. Dass diese narratologischen Ambivalenzen jedoch nicht immer als solche gelesen worden sind, zeigt die Rezeption der NSB nur allzu deutlich, denn der Zwischenraum als valenter Modus der Verhandlung von Transzendenz wird in seiner Rezeption auch immer wieder herausgefordert. So verzeichnen beispielsweise eine ganze Reihe mittelalterlicher bis frühneuzeitlicher Karten das Paradies Brendans554 und untergraben über diese historisch-geographische Rezeptionsweise jede Verweisungsstruktur der Inseln Brendans als Jenseitsräume.555 Am anderen Ende des Rezeptionsspektrums wird der NSB gerade die Immanentisierung eines eschatologischen Heilsraums vorgeworfen und die Idee eines diesseitigen Paradieses der Lächerlichkeit preisgegeben.556 553 Vgl. Scafi 2006, S. 53. 554 Die Ebstorfer Weltkarte führt eine Brendaninsel auf, die Hereforder mappa mundi verzeichnet fortunatae insulae sct brendani. Für eine Liste weiterer Karten und Globi vgl. Egeler 2015, S. 317. 555 Zum Impuls der historischen Lokalisierung immanenter Jenseitsräume – obwohl die narrative Struktur als solches ebendiese Lokalisierung unterläuft – vgl. das Phänomen beim TPSP, vgl. Kapitel 3.1. 556 Zu solchen kritischen Stimmen im Zusammenhang der NSB vgl. die Untersuchungen Rossana E. Guglielmettis, die besonders auch die Lesespuren der Handschriften in den Blick nimmt (2014a; 2016a).
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Das zeigt ein satirisches Gedicht (Versus satirici), das auf einer leeren Seite einer Handschrift aus der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts überliefert ist, die gegen Ende auch die NSB beinhaltet:557 Die Vorwürfe an die NSB und ihren Verfasser sind hier vielfältig. Der Brendan der Erzählung habe seine Pflichten als Abt nicht erfüllt. Die Erzählung sei non uerum, neque uerum simile, ja sogar dogmatisch falsch.558 Am schwersten jedoch wiegt der Vorwurf, das Konzept des christlichen Paradieses grundlegend falsch verstanden zu haben: Quod promittitur in celis, hoc in salo querere; / Quod patenter prudens quisque deputat insanie. / O rem miram, risu dignam, et plenam stulticie!559 [Was im Himmel verheißen ist, in diesem Meer zu suchen. Was offensichtlich jeder vernünftige Mensch für Wahnsinn hält. Was für eine sonderbare Sache, verlachenswert und voller Dummheit!]
Das Paradies im Meer, statt im Himmel zu suchen, es so als auf der Welt, geographisch und diesseitig zugänglich zu begreifen, statt es außerhalb der irdischen Reichweite zu erkennen, das muss Dummheit sein. Statt die christliche Verheißung in einem zukünftigen Reich Gottes zu erwarten, suche Brendan sie auf der erdigen, steinigen Welt und verkenne so das wahre eschatologische Geschenk: Hinc Brendanus, paradisi situm uolens promere, / Terram nudam et lapillos nititur ingerere. / Hanc post mundi finem sanctis donandam pro munere, / Velud olim repromissam, conatur asserere. / O quam macra et infelix spes est Hibernensium, / Quibus post hanc uitam [erit] tota merces operum / Terra nuda et lapilli atque flores arborum!560 [Von hier an bemüht sich Brendan, der die Lage des Paradieses erzählen will, nacktes Land und Steinchen anzuführen: Dieses solle nach dem Ende der Welt den Heiligen zum Geschenk gemacht werden, wie einst verheißen, so versucht er zu 557 Der Text ist nur einmalig überliefert, in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Lincoln College, lat. 27 E (f. 2v), der auch die NSB enthält (ff. 187v–206r), vgl. dazu Plummer 1968/1, S. XLIII. Ich zitiere nach der Edition von Plummer 1968/2, S. 293–294, die keine Verszählung aufweist. Eine tiefergehende Textanalyse der Autorin, unter Hinzunahme weiterer Literatur, wird voraussichtlich 2020 in einem Supplementband der Wiener Studien erscheinen. 558 Damit sind wohl die neutralen Engel gemeint (vgl. NSB, 11): His fabellas addit plures, non cessando fingere / Demones saluandos fore, laudes Deo soluere; / Quod est nimis inimicum fidei catholice. [Diesen fügt er mehrere weitere Geschichten hinzu, hört nicht auf zu dichten. Dämonen sollen erlöst werden und Gott Loblieder singen: Das ist für den allgemeinen Glauben nur allzu verderblich.] 559 De sancto Brendano versus satirici, nach der Edition von Plummer 1968/2, S. 293. Der Titel ist nicht zeitgenössisch und folgt der Edition Charles Plummers, wird aber aus Gründen der Übersicht hier beibehalten. 560 De sancto Brendano versus satirici, nach der Edition von Plummer 1968/2, S. 293. Es handelt sich um ein 52-zeiliges Gedicht aus einheitlichen 15-Silbern – die einzige Abweichung von dieser Regelmäßigkeit in Vers 38 konjiziert hier Walter Berschin mit der Einführung eines erit nach uitam, vgl. Berschin 2004, S. 5.
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versichern. Wie klein und armselig ist doch die Hoffnung der Iren. Als einzigen Lohn für ihre Werke werden sie nach diesem Leben nacktes Land, Steinchen und Obstblüten bekommen.]
Sein Versuch (conari/uelle/niti), das Paradies in seiner Immanenz, d. h. in seiner irdischen Zugänglichkeit und damit auch in seiner Materialität zu erzählen (promere/asserere), müsse scheitern. Die Banalität eines einfachen Landes, von Steinen und bloßen Blüten, steht im unüberbrückbaren Kontrast zur Unermesslichkeit der Verheißung. Interessanterweise ist der Kritikpunkt der Versus satirici hier nicht etwa allein die ‚falsche Lehre‘ eines irdischen Paradieses auf dem Meer, Brendan bzw. der Erzähler der NSB wird nicht etwa als Irrlehrer verunglimpft. Stattdessen ist es die Prämisse, ein Paradies auf dem Meer erzählen zu wollen, selbst, die parodistisch in der Banalisierung eines immanenten Paradieses ad absurdum geführt wird.561 Die Annahme eines immanenten Paradieses ist so paradox angesichts dessen, was dem Nicht-Iren verheißen ist, dass die Absurdität der NSB nicht mehr nur in ihrem Inhalt, sondern in ihrem Erzählversuch selbst zu finden ist. Konsequenterweise empfiehlt der Verfasser des Gedichtes den Lesern und Schreibern der NSB, sie dem Feuer zu überantworten, um nicht selbst in der Hölle zu brennen: Ergo, frater, has fabellas, decet ignem tradere, / Vt sic saltem seuos ignes ualeas euadere562 [Also, Bruder, ist es angebracht, diese Geschichtchen dem Feuer zu überantworten, damit wenigstens du den Höllenfeuern entgehen kannst.] Die mickrigen Geschichten eines gescheiterten Erzählers müssten wegen ihrer potentiellen häretischen Implikationen als Irrlehren verbrannt werden– so der, angesichts der Handschrift natürlich performativ widersprüchliche, Rat des Satirikers.563 Der Verfasser des polemischen Gedichtes verkennt auf diese Weise, dem Anschein nach, ebenso wie die Kartographen, die narrative Struktur der NSB. Ihre selbstreflexive Verhandlung immanenter Jenseitigkeit gerade in ihrer Inkommensurabilität wird missverstanden und die Darstellungsprämisse negiert. Beide negierenden Rezeptionsweisen nehmen damit ihren 561 Zur Parodie als Phänomen der lateinischen Literatur des Mittelalters vgl. die zentralen Arbeiten von Peter Lehmann ( 21963) sowie Martha Bayless (1996). 562 De sancto Brendano versus satirici, nach der Edition von Plummer 1968/2, S. 294. Zum Vorwurf der Häresie an die NSB vgl. Esposito 2000, S. 39–40, Anm. 56. 563 Zur komplexen Struktur dieses Gedichtes vgl. den kommenden Aufsatz der Autorin, s. Anm. 557. Die performative Widersprüchlichkeit ist für eine Untersuchung der Versus satirici als ein Textzeugnis, das in der Kritik die Doppelläufigkeit der NSB reaktualisiert, von untergeordneter Bedeutung.
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Ausgangspunkt in der bewussten Doppelläufigkeit des immanenten Jenseitsraumes, wie sie eine Zwischenraumerzählung wie die NSB zu erzeugen versucht. Sie blenden die jeweils andere Perspektive aus und reaktualisieren auf diese Weise doch gerade, wie das auch die affirmierenden Zeugnisse getan haben, die narrative Ambivalenz. Die NSB selbst reklamiert allerdings keineswegs, das irdische Paradies auf einer bestimmten steinigen Insel gefunden zu haben und schon gar nicht, dass der Weg dorthin reproduzierbar sei. Die NSB ist der Versuch, einen immanenten Jenseitsraum zu beschreiben und bei diesem Versuch doch seine wesentliche Paradoxie und Unmöglichkeit zu reaktualisieren. Dass diese Interpretation des Erzählmodus nicht ahistorisch ist, offenbart nicht zuletzt auch ihre Rezeption im zwölften Jahrhundert. Zwei neue Fassungen des Erzählstoffes retextualisieren hier die Raumdynamik in einer Weise, wie das die NSB vorstrukturiert hatte.564 Sie übernehmen die narratologische Konfiguration der Insel als potentieller ‚Zwischenraum‘. Sie formulieren die Erzählung zwar innerhalb ihres pragmatischen Rahmens für die Einbettung in eigene Diskurse um, affirmieren aber doch grundlegend die Dynamik, wie sie die NSB für den Inselraum gesetzt hatte. Die Vita secunda sancti Brendani In einer Handschrift des ausgehenden zwölften Jahrhunderts ist mit der sogenannten Vita secunda sancti Brendani 565 eine Adaption der NSB überliefert, die im engen Zusammenhang mit der anglonormannischen Fassung Benedeits (um 1120) steht.566 Die Episoden der NSB sind hier großteils bei564 Zum Begriff des Wiedererzählens vgl. den noch immer richtungsweisenden Aufsatz Worstbrock 1999. Als Interpretament hat der Begriff in der Mediävistik auch in der neueren Forschung immer wieder Aufmerksamkeit erfahren, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Zum Begriff der Retextualisierung vgl. den Sammelband Bumke und Peters 2008. 565 Ediert bei Plummer 1968/2, S. 270–292, vgl. Plummer 1968/1, S. XLII. Der Text ist in zwei Handschriften überliefert. Charles Plummer ediert den Handschriftenzeugen Oxford, Bodleian Library, E Musaeo 3 (ff. 213–226) des zwölften Jahrhunderts, aus dem Kloster Valle Crucis im heutigen Wales. Daneben führt bereits Carl Selmer (1957) eine Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts auf: Lisboa, Biblioteca National, Alcobaça, CCLVI/380 (ff. 81v–91r). 566 Vgl. Grimm 1977, S. 109. Edwin Waters (1928, hier S. CV–CXV) geht im Zusammenhang seiner Edition von Benedeit Voyage davon aus, dass in der Vita secunda eine lateinische Rückübersetzung der anglonormannischen Fassung vorliegt, während Reinhold Grimm für einen Diskurszusammenhang plädiert. Für eine deutsche Übersetzung des anglonormannischen Textes vgl. Ruhe 1977. Zum Zusammenhang der anglonormannischen mit dieser lateinischen Fassung vgl. zuletzt den synoptischen Überblick bei Delzotti 2018a sowie die Untersuchung Delzotti 2018b.
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behalten: Es gibt ein Vogelparadies,567 Brendan und seine Mönche treffen auf die Klosterinsel von Ailbe,568 Judas und Paulus tauchen auf.569 Daneben wird normalisiert, was der üblichen Behandlung des Paradiesstoffes widersprach, indem beispielsweise die terra repromissionis konsequent zu einem unmissverständlicheren paradisus umbenannt wird.570 Bei diesen Momenten der klärenden amplificatio571 jedoch bleibt es nicht, es werden bei dieser neuen Fassung einige grundlegende Richtungsentscheidungen getroffen, die durchaus Rückschlüsse auf die Rezeptionsabsicht zulassen. Wohl vor dem Hintergrund von Polemiken wie den Versus satirici ist die Motivation von Brendans Reise signifikant verschoben und die Reise noch dezidierter in einem explizit christlich-heilsgeschichtlichem Rahmen verortet. War bei der NSB der Auslöser der Reise noch Besuch und phantastischer Bericht des befreundeten Abtes Barinth,572 ist es in der Vita secunda die wiederholte Bitte Brendans an Gott, er möge ihm das Paradies zeigen: Sed quoddam precipuum cotidianis orationibus a Domino impetrabat, ut scilicet paradisum sibi ostenderet, in qua prothoplaustum [sic] formauerat, que nobis ius hereditarium esset, nisi commisso Ade patris nostri defraudaremur. Hoc ideo fecit, quoniam legerat hunc locum esse deliciarum et glorie, in quo nullis, nisi crimine mundis, patet introitus.573 [Aber in täglichen Gebeten bat er den Herren eindringlich um etwas ganz Besonderes: dass er ihm das Paradies zeige, in dem er den ersten Menschen geformt hatte. Es wäre unser Erbrecht, wenn wir nicht durch die Schuld Adams unseres Vorvaters darum betrogen wären. Er hat dies deshalb getan, da er gelesen hatte, dass dies ein Ort der Freude und des Ruhms sei, und dass niemandem zu ihm Zutritt gewährt wird, außer er ist frei von Schuld.]
Zwar trifft Brendan daraufhin einen Barrus,574 der ihm von Mernocs und seiner eigenen Paradieseserfahrung erzählt und ihn so weiter motiviert575 das 567 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 19–20, nach der Edition von Plummer 1968/2. 568 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 24–27. 569 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 42–48 bzw. 50. 570 Vgl. Grimm 1977, S. 109–110. 571 Vgl. Grimm 1977, S. 109. 572 Vgl. NSB, 1. 573 Vita secunda sancti Brendani, 2. 574 Vgl. Vita secunda Sancti Brendani, 3. In der altfranzösischen Übersetzung steht an dieser Stelle Barinz, vgl. Plummer 1968/2, S. 271. 575 Vgl. Vita secunda Sancti Brendani, 3. In dieser Fassung der NSB führt Barrus sein monastisches Leben im Wald – quedam deuia nemoris habitabat cum trecentis monachis sibi subditis [Er wohnte mit dreihundert Mönchen, die ihm untergeben waren, in einer entlegenen Stelle des Waldes]. Das Paradies bleibt weiterhin auf einer Insel verortet. Die bewusste Entscheidung, Barrus den Wald als Raum zuzuweisen – die NSB bleibt an dieser Stelle für Barinth unbestimmt (vgl. NSB, 1) – lässt sich möglicherweise auf eine kontinentale Vorlage dieser Fassung zurückführen. Der Wald als Heilsraum schließlich ist, aus dem Diskurszusammenhang argumentiert, kontinental und nicht insular, vgl. Kapitel 4.0.
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Paradies zu suchen. Der erste Impuls aber stammt aus angelesenem Wissen. Dieses Schriftwissen wiederum ist ganz zentral, und orthodox, von der eigentlichen Unzugänglichkeit des Paradieses geprägt – das Paradies sei das Erbrecht des Menschen, ihm aber wegen Adams Fehltritt verschlossen, es kann nur von jemandem frei von Schuld (crimine mundi) betreten werden.576 Die immanente Jenseitsreise ist eine Gottes Erfüllung von Brendans Wunsch, wie auch der iuuenis im Paradies bestätigt: Ecce Brendane, paradisum nunc uides, quam uidere a Domino sepissime postulasti.577 [Schau Brendan, jetzt siehst du das Paradies, das zu sehen du von Gott so überaus oft gefordert hast.] An die Stelle einer zyklischen Oralität, wie sie die NSB in Mernocs, Barinths und Brendans Reise aufzeigt – und wie sie trotz des Auserwähltenstatus zweifellos eine Repetierbarkeit impliziert – tritt der Gedanke einer einzelnen Gnadenerweisung. Wie der Mönch von ‚Mönch und Vöglein‘ darum bitten wird, dass Gott ihm das Jenseits offenbare, so bittet auch Brendan, angesichts des verschlossenen Paradieses, trotz des verschlossenen Paradieses, um einen Einblick: Er will Paradies und Hölle sehen;578 – Gott bringt ihn auf den Weg dorthin, indem er ihn zu Barrus führt. Mithilfe dieser Einhegung der Brendan-Erzählung in eine Schriftwahrheit, die durch Brendans Erfahrung, folgt man der Vita secunda, nur bestätigt wurde, befreit sie sich von dem Vorwurf der Phantasterei.579 Schließlich hat Brendan nichts gefunden, behauptet die Erzählung, was er nicht vorher schon gesucht und damit bereits gekannt hatte.580 Auf diese Weise ist auch das Defizit-Argument strukturell weitaus deutlicher ausgearbeitet, als das in der NSB der Fall war. Die Exklusion des Paradieses ist in der Figur Adams bereits im Prolog aufgeführt und wird zum prägenden Movens der Erzählung. Die Grenze, die der iuuenis des Paradieses setzt, bleibt bezeichnend, wird aber mit der expliziten eschatologischen Rahmung unumstößlich. Die Worte an Brendan, er habe ja jetzt gesehen, worum er Gott sooft gebeten hätte, werden sofort eingeschränkt: Set centies milies gloria hic prope maior est quam uidisti. Nec ad tempus plura uidebis; carnaliter enim nunc uenisti, set spiritualiter cito uenies, et iudicium hic expectabis.581 [Der Ruhm hier ist fast hunderttausendmal größer als wie das, was du gesehen hast. Aber das meiste wirst du bis jetzt nicht sehen; denn jetzt bist du in fleischlicher Form gekommen, aber bald wirst du in geistiger Form kommen, und du wirst hier auf den Urteilsspruch warten.] 576 Diese Formulierung, die auch die Erbschuld des Menschen in der Folge Adams beschreibt, ist ein weiterer Moment der absoluten Begrenzung des Paradieses: Kein Mensch kann es betreten. 577 Vita secunda Sancti Brendani, 57. 578 Vgl. Vita secunda Sancti Brendani, 2. 579 Vgl. De Sancto Brendano versus satirici, S. 293 der Edition Plummer 1968/2. 580 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 58. 581 Vita secunda sancti Brendani, 57.
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Das Paradies, das in einer endzeitlichen Zukunft auf Brendan wartet (möglicherweise das himmlische, eine Unterscheidung wird auch hier nicht vorgenommen),582 wird um ein hundertfaches das, was er körperlich zu sehen vermag, übertreffen. Durch die beiden neuen Impulse, das explizierte Defizitargument zusammen mit der Verankerung in eine Schrifttradition, die von der Unzugänglichkeit des Paradieses bestimmt wird, ist in der Vita secunda sancti Brendani so der Grundstein für eine ganz spezielle Rezeptionsweise gelegt. Wenn nämlich das Paradies prinzipiell nach Adam verschlossen ist und das Paradiesische dem Menschen carnaliter nur eingeschränkter Weise vermittelt werden kann, ist die Legitimationsgrundlage eines Textes wie der Vita secunda bzw. der NSB geschaffen. Es ist dasselbe Argument, das die Erzählung immanenter Jenseitsräume im Modus des Zwischenraums begründet: Das Paradiesische ist dem Menschen grundsätzlich verschlossen, und wird, wenn überhaupt, dann nur einzelnen Auserwählten offenbart. Diese Offenbarung allerdings kann wiederum nur näherungsweise erfolgen und wird an das transzendente Jenseits nur in Abstrichen heranreichen. Die Defizitmarkierungen verhindern eine Lektüre als reine immanente Wegbeschreibung. Der Eintritt in das Paradies wird in diesem Zusammenhang auch in der Vita secunda sancti Brendani verhältnismäßig deutlicher als ‚Grenzüberschreitung‘ ausgearbeitet. Während in der NSB ein zusätzlicher Zeitraum von 40 Tagen und ein Nebel von den Reisenden überwunden werden müssen, um das Paradies zu betreten, tritt in der Vita secunda sancti Brendani an dieser Stelle583 ein Auferstehungsmotiv hinzu: Der Nebel, der das Paradies einhüllt, hält eigentlich seit Adams Vertreibung die Menschen aus dem Paradies: Nubes dense obscuritatem generabant, ne successoribus Ade in eam pateret ingressus. [Dichte Wolken verursachten eine Dunkelheit, damit den Nachfolgern Adams der Zugang zu ihr [dem Land des Paradieses] offensteht.] Für Brendan allerdings öffnet sich ein kleiner Durchgang, drei Tage verbringen die Reisenden im Nebel und kommen am vierten Tag schließlich im Paradies an: Tres dies consumunt, et die quarto exeuntes, leticia magna impleti sunt. [Sie verbringen drei Tage, und als sie am vierten Tage [den Nebel] verlassen, sind sie von großer Freude erfüllt.] Zusätzlich zu der weiteren Betonung des heilsgeschichtlichen Rahmens, des Exklusionsmotivs und des Auserwähltenstatus Brendans, wird damit die Paradoxie der erzählerischen Prämisse deutlich entschärft. Brendan mag zwar auf wunderbare Weise in der immanenten Körperlichkeit das Paradies betreten, aber auch dieser Übertritt ist nur in einem Gestus der Auferstehung, 582 Vgl. Grimm 1977, S. 109, besonders Anm. 40. 583 Vgl. Vita secunda Sancti Brendani, 53.
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nach der Figuration eines Todes, möglich. Die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits wird so auch durch diese Übergangserzählung zweifellos wieder in Frage gestellt und die implizite Grenze im Übertritt mitverhandelt. Wie die klärenden Modifikationen der Vita secunda sancti Brendani zeigen können, wird die NSB durchaus in einem Spannungsfeld aus zu vermittelndem Jenseits und immanenter Begrenzung wahrgenommen. Der Effekt des Zwischenraums wird sogar verstärkt, indem die Erzählung die immanente Transzendenzerfahrung in eine Schriftwahrheit eingehegt und der zu vermittelnde Gegenstand in seiner Unmöglichkeit deutlich markiert wird. In einem letzten selbstreferentiellen Schritt weist sich die Vita secunda außerdem einen ganz bestimmten Rezeptionsmodus zu: Eine Erzählung, die reklamiert, nur die Schriftwahrheit zu reaktualisieren, steht schließlich unter einem anderen Rechtfertigungsdruck als eine, die Neues mitzuteilen behauptet. Ihre eigene Rolle sieht die Vita secunda in der Darstellung Brendans als exemplum.584 Nach seinem Tod hinterlässt Brendan, der zu Lebzeiten nichts als Wahres aus dem Jenseits berichtet hatte und selbst immer wieder auf seine Mitmenschen berichtigend einwirken konnte, nur seine Erzählungen, die die Vita secunda den Rezipienten wiederum nun vermittelt. Was zählt, ist nicht die einzelne Ausarbeitung der Jenseitserzählung, sondern Brendans Vorbild im Vollzug durch die Erzählung. Nach seinem Beispiel können die himmlischen Freuden nachvollzogen, und letztlich der Grundstein für eine Aufnahme in den Himmel gelegt werden: Cuius [sc. paradisi] gaudia in intercessione Brendani possidere mereamur.585 [Lasst uns durch die Vermittlung Brendans einen Anspruch auf die Freuden [des Paradieses] erwerben.] Querite et inuenietis, pulsate et aperietur uobis.586 [Sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet!]
Brendans Beispiel, wie er den unmöglichen Weg in ein immanentes Jenseits geht, verdeutlicht als Allegorie eine eschatologische Heilssuche, die immanente Lebensführung an jenseitiges Heil koppelt und doch beide Einflussbereiche in ihrer Begrenzung verhandelt.
584 Vgl. Vita secunda Sancti Brendani, 58, vgl. auch Vita secunda Sancti Brendani, 1: Exemplo quidem eius multi eorum honestate morum iustiores fiebant. [Gerade durch sein beispielhaftes Vorbild wurden viele von ihnen wegen der Ehrbarkeit seines Lebenswandels gerechter.] 585 Vita secunda Sancti Brendani, 58. 586 Vita secunda Sancti Brendani, 1, vgl. Mt 7,7.
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Die Reise Eine ganz ähnliche Modifikation erfährt die NSB auch durch die sogenannte ‚Reise‘-Fassung (Reise). Die Reise ist neben der NSB die zweite Hauptredaktion des Erzählstoffes von Brendans Seereise. Sie stammt vermutlich aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts aus dem Bereich des Mittel- bzw. Niederrheins und ist in drei Überlieferungszweigen erhalten: einer mittelniederländischen Fassung in Handschriften des vierzehnten Jahrhunderts (C)587 und des fünfzehnten Jahrhunderts (H),588 einer mitteldeutschen Fassung von 1300 (M)589 respektive aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts (N)590, sowie einer bayrischen Prosafassung des fünfzehnten Jahrhunderts (P).591 Auch wenn einzelne Episoden der Reise und der NSB einander stark ähneln,592 ist die liturgisch-zyklische Struktur der NSB in der Reise durch eine kontingente Abfolge der Einzelepisoden ersetzt.593 Der entscheidende Unterschied beider Redaktionen ist, wie in der Vita secunda sancti Brendani, die veränderte Impulsgebung der Reise: Dem heilsbesonnenen Rat der polemischen De sancto Brendano versus satirici, die Lügen der NSB doch lieber zu verbrennen, um nicht selbst dem Höllenfeuer anheimzufallen,594 wird hier Folge geleistet. Brendan595 wird gleich zu Beginn der Reise als Lesender vorgestellt: Ein vil heiliger man / der was geheizen Brandan, / geborn von Yberne. / er diente gote gerne / unde begonde wunder suchen / in selzenen buchen.596 Wie auch in der NSB ist Brendan ein Mann Gottes,597 im entscheidenden Unterschied zu dem
587 ‚Comburger Handschrift‘, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et phil. 2° 22, hier f. 179r–192v. 588 ‚Van Hulthem Handschrift‘, Brüssel, Koninklijke Bibliotheek van België/Bibliothèque Royale de Belgique, Ms. 15.589–15.623, f. 1r–11r. 589 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 56, f. 13v–50v. 590 Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1203 Helmst., f. 81r–107v. 591 Zu den Handschriften der Prosafassung vgl. Holtzhauer 2019, S. 69–83, hier sind auch die einzelnen Signaturen aufgeführt. Zur Überlieferung der Reise allgemein vgl. Haug 1978, Sp. 986. Die Reise wird im Folgenden unter Verzeichnung der Handschrift nach der textkritischen Ausgabe von Hahn und Fasbender 2002 zitiert, die als Leithandschrift M abdruckt und die Varianten der anderen Handschriften entsprechend verzeichnet. Wie Walter Haug nachweisen konnte (1989, S. 384, vgl. dazu auch Anm. 133) greift die Reise vermutlich auf eine ältere Fassung der überlieferten NSB zurück. 592 Für eine jeweilige Episodenübersicht vgl. Haug 1989, S. 381–382 (NSB) und S. 382–284 (Reise). 593 Zum Zusammenhang von Reise und NSB vgl. Strohschneider 1997, S. 7–16. 594 Vgl. De sancto Brendano versus satirici, nach der Edition Plummer 1968/2. 595 In den deutschen Fassungen trägt er den Namen ‚Brandan‘, aus Gründen der Übersicht wird ‚Brendan‘ allerdings beibehalten. 596 Reise (M), 17–22. 597 Vgl. NSB, 1, 1–2.
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Brendan der NSB allerdings und in Analogie zu dem der Vita secunda598 wird er von Anfang an in seinem Interesse an den göttlichen Wundern beschrieben. In seinem Begehren wendet er sich an tradiertes Wissen, und sucht in Büchern599 bzw. je nach Fassung in einem einzelnen Buch.600 Er liest von zwei irdischen Paradiesen,601 einer Welt unter der Erde,602 er liest von drei Himmeln,603 einem Inselfisch,604 und sein Urteil fällt recht deutlich aus: Daz strafte er vil harte, / wan ez ungeloublich was.605 Als er schließlich von Judas und seiner sonntäglichen Ruhepause liest, kann und will er nicht glauben was er liest,606 und verbrennt kurzerhand das Buch: vor zorne brante er daz buch / unde tet dem tichter einen vluch.607 Dass diese Reaktion auf die beschriebene Jenseitswelt der Bücher/des Buches nicht die richtige war, wird spätestens klar, als Gottes Stimme zu ihm spricht: Lieber vrunt Brandan, / du hast vil ubele getan / daz ich von dime zorne / min wunder sehe verlorne / unde der warheit sinne.608 Um das Buch zu gelden609 muss Brendan nun also neun Jahre lange auf dem Meer nach den Wundern Gottes suchen610 – eine im Vergleich zur NSB signifikant neue Impulsgebung der Seereise. Die Wundersuche in den Büchern611 scheiterte an seinem Unglauben.612 Um das ihm Unglaubliche mit eigenen Augen sehen613 zu können, und in einem zweiten Schritt das verbrannte Buch zu ersetzen,614 muss er nun eine mehrjährige Suche im Meer unternehmen.
598 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 2. 599 Vgl. Reise (M), 22: in selzenen buchen; Reise (C), 28: (h)ouden boucken. 600 Vgl. Reise (P), 1, 5: ein buche; Reise (N): enem boke. Vgl. zu dieser Abweichung Haug 2005, S. 46–47. 601 Vgl. Reise (M), 24–25. 602 Vgl. Reise (M), 30–31. 603 Vgl. Reise (M), 34. 604 Vgl. Reise (M), 35–37. Alle diese Aspekte der Einleitung der Reise finden später ihre Entsprechung im Hauptteil während Brendans eigener Reise. Zu den einzelnen Jenseitsorten vgl. Strijbosch 1999, die sie in den relevanten Diskurskontext einzubetten vermag. 605 Reise (M), 38–39. 606 Vgl. Reise (M), 44–47. 607 Reise (M), 49–50. 608 Reise (M), 55–59. 609 Reise (M), 69: sus muste er gelden daz buch. 610 Vgl. Reise (M), 62–69. 611 Vgl. unde begonde wunder suchen / in selzenen buchen (Reise (M), 21–22) – er dar nach vant (Reise (M), 35). 612 Vgl. Reise (M), 39; 44–47. 613 Vgl. Reise (M), 60–61; 66–67. 614 In der Fassung N erhält Brendan explizit die Aufforderung, das verbrannte Buch neu zu schreiben, aber auch in den Fassungen C, M und H veranlasst Brendan eine Niederschrift der erfahrenen Wunder, vgl. Haug 2005, S. 46–47. Zum Ende der Reise (ent)steht so in jedem Fall ein neues Buch.
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Vergleicht man die beiden Redaktionen des zwölften Jahrhunderts, die Vita secunda und die Reise, fällt auf, dass in beiden die jenseitigen Wunder ausdrücklich gesucht werden, und dass in beiden die Reisemotivation einem Lektüregestus erwächst. Während bei der Vita secunda die immanente Jenseitsreise dabei eine positive Affirmation von Brendans Person und Lebensführung ist,615 ist sie in der Reise eine affirmierende Reaktion auf seinen Zweifel. Beide Begründungsmodi sind in ähnlicher Weise auch verschiedenen Fassungen der immanenten Jenseitserfahrung des Mönchs von ‚Mönch und Vöglein‘ vorgeschaltet.616 Was ändert der modifizierte Anfangsimpuls für die narratologische Modalität von Brendans Seereise? Inwiefern kann er Rückschlüsse auf einen Rezeptionsgestus zulassen? In der spezifischen Ausarbeitung der Reise fällt die Ähnlichkeit des Zweiflermotivs zu dem satirischen Gedicht De sancto Brendano versus satirici auf, das für eine bestimmte Form der kritischen Brendan-Rezeption exemplarisch sein dürfte. Die ‚falschen‘ Lehren der NSB, neutrale Engel, Fischinsel und die Immanenz des Jenseitsraums, hatten den Verfasser der Satire hier zu dem Schluss gebracht, der Texte möge besser verbrannt werden: Quas qui scribit, et qui legit, tempus habet perdere. / Expediret magis fratrem psalmos Dauid psallere, / Quam scripturis tam impuris idiotas fallere. / Ergo, frater, has fabellas decet igni tradere, / Vt sic saltem seuos ignes ualeas euadere;617 [Diese [Geschichten], die er schreibt, und die er [hier] liest, ist es an der Zeit zu vernichten. Es wäre für einen Mönch nützlicher die Psalmen Davids zu singen, als mit so verworfenen Schriften die Unwissenden zu täuschen. Also, Mitbruder, ist es angebracht, diese Geschichtchen dem Feuer zu überantworten, damit wenigstens du den Höllenfeuern entgehen kannst.]
Um nicht in die Hölle zu kommen, sei es besser, die unwahren Phantastereien zu verbrennen. Kein vernünftiger Mensch könnte an ein Jenseits glauben, wie es die NSB beschreibe,618 vielmehr hätte eine Beschäftigung mit dem Text – sowohl ihn abzuschreiben als auch ihn zu lesen – potentiell negative Konsequenzen für das jenseitige Wohl. Die Reise nimmt diese Form der Brendan-Rezeption – Rezeption nämlich als häretischer Text – auf, parodiert sie und funktionalisiert sie für die gerade gegenteilige Schlussfolgerung um. Dem Vorwurf der unhaltbaren, unbegründeten Fiktionalität wird die größtmögliche Legitimität entgegen615 Vgl. Vita secunda sancti Brendani, 2. 616 Vgl. S. 305–306. 617 De sancto Brendano versus satirici, nach der Edition Plummer 1968/2, S. 294. 618 Vgl. De sancto Brendano versus satirici, Plummer 1968/2, S. 293: Quod patenter prudens quisque deputat insanie [Was offensichtlich jeder vernünftige Mensch für Wahnsinn hält.]
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gesetzt: eine göttliche. Der Rezeptionsgestus der Kritiker, für das Seelenheil des Rezipienten müsse der Text verbrannt werden, wird aufgegriffen, umgesetzt, karikiert. Der Leser sollte nach den Versus satirici die Brendan-Erzählung verbrennen, weil sie fiktiv ist, und in genau diesem Rezeptionsgestus verbrannt Brendan auch zunächst das Buch.619 Fischinsel, Judas – das alles erscheint ihm allzu unglaubwürdig und im Zorn landet das Buch im Feuer. Dieser Rezeptionsgestus jedoch muss im nächsten Moment umgehend als grundlegend falsch erkannt werden, als nämlich gotes stimme selbst ihn verurteilt.620 Das Buch zu verbrennen war absolut falsch, da es in wahrer Weise die Wunder Gottes abbildet. Es hat keine fiktiven Phantastereien erzählt, sondern ausdrücklich von Gott selbst legitimierte Wahrheit. In der Konsequenz werden so die Bücher der Erzähltradition von Brendans Reise und zugleich eine ganz bestimmte Form des narrativen Erzählens über die göttliche Legitimierung ihrer Inhalte signifikant aufgewertet. Ein Rezeptionsgestus, der, wie es die Versus satirici empfehlen und der Brendan der Reise umsetzt, der Erzählung mit Unglauben begegnet, ist grundsätzlich falsch. Sie zu verbrennen, heißt Gottes Wahrheit verbrennen und muss entsprechend gesühnt werden. Zu Beginn der Reise wird so im Motiv der Buchverbrennung der Vorwurf der unwahren Fiktionalität rezipiert. Er wird ‚logisch‘ weitergedacht und umfunktionalisiert, um allgemein für eine göttliche Legitimation der Erzählung und textimmanent für eine inhärente Notwendigkeit des Reisevollzugs zu plädieren. Aus dem Postulat, eine unglaubwürdige, fiktive und häretische Erzählung zu verbrennen, wird so, göttlich legitimiert, eine tiefgreifende Kritik dieser polemischen Rezeption der Brendan-Erzählung. Ein negativer Rezeptionsgestus wird weitergedacht und für eine positive Lektüre desselben Textes umfunktionalisiert. In letzter Konsequenz wird so in der Ausgangsszene der Bücherverbrennung die eigene Lektüre, möglicherweise das eigene Lektürevergnügen, parodistisch gerechtfertigt.621 Die Inhalte der Brendan-Erzählung waren 619 Dieses Buch bzw. diese Bücher, die Brendan liest, sind in den verschiedenen Fassungen der Reise nicht genauer bezeichnet. Ihre Inhalte allerdings, die Brendan referiert, entsprechen denen einer Erzählung der Brendan-Tradition, womit sich der Kreis wieder schließt. Wichtig ist hier festzuhalten, dass das verbrannte Buch und seine Inhalte eben nicht wie die Johannesapokalypse mit autoritativer Legitimität vom Jenseits berichten. Es ist stattdessen gerade ein narrativer Text, dessen Inhalte im offensichtlichen Widerstreit mit der zeitgenössischen Lehrmeinung stehen. Der mögliche Zusammenhang der Versus satirici mit der Reise, im Sinne eines übergreifenden kritischen Rezeptionsgestus, wurde bereits erkannt und interpretatorisch genutzt, vgl. Kasten 1998, hier besonders S. 55–59. Der Moment der Buchverbrennung hingegen als einendes Moment beider Zeugnisse sowie die immanente Jenseitserzählung als Angriffspunkt der Fiktionalitätskritik hat bisher keine Aufmerksamkeit erfahren. 620 Vgl. Reise (M), 52–61. 621 Zur Buchverbrennung als Rezeptionsgestus der Brendan-Erzählungen vgl. den kommenden Aufsatz der Autorin, s. Anm. 557.
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nicht orthodox, Motive wie das der neutralen Engel sind sehr selten, und das wird dem Verfasser der Reise durchaus bewusst gewesen sein. Mit der Argumentationsfigur, es stamme letztlich ‚von Gott‘ wird so eine Lektüre legitimiert, die alles andere als dogmenkonform ist. Der Fiktionalitätsvorwurf wird göttlich entkräftet und bestraft. Zugleich wird gerade dem ‚fiktionalen‘ Erzählen ein neuer Platz zugewiesen: Die Reise nämlich verhandelt in ihrer spezifischen Modifikation des Brendan-Stoffes ihre eigene Rolle als Text bei der immanenten Vermittlung des Jenseitigen. Mit dem Verbrennen des Buches beginnt in der Reise eine Diskussion um literarische Medialität und ihre Leistungsfähigkeit bei der Vermittlung transzendenter Wahrheiten.622 Das Beispiel des Brendans der Reise beweist ex negativo, dass ein gläubiges Herantreten an Text wunder zu vermitteln mag. Bei Brendan gelang das nicht, da sein Rezeptionsgestus ein falscher war und er die göttliche Wahrheit der Erzählung entsprechend nicht erkennen konnte.623 Seine Wundersuche in den Büchern scheiterte und wurde mit der faktischen Wundersuche im Meer vergolten. Dieses Scheitern allerdings ändert nichts an der grundsätzlichen Leistungsfähigkeit des, nun verbrannten, (Brendan-)Buches.624 Mit der Buchverbrennung hat Brendan dieses Bedingungsgefüge zerstört. Die Restitutionslogik verlangt, dass es wiederhergestellt wird. Die Meeresreise tritt strukturell an die Position des Buches und übernimmt die Rolle des Buches als Medium der Suche und Wundervermittlung, so dass Brendan hier die Wunder Gottes ‚er-fahren‘ kann. Diese Wunderfahrt hat
622 Vgl. hier für eine ähnliche, wissenspoetologische Interpretation der oberdeutschen Prosafassung der Reise den Aufsatz von Romy Günthart (2018, besonders S. 180–182), der die spezifischen poetologischen Implikationen der epistemologischen Sonderstellung von ‚Jenseits‘ an der Reise nachvollzieht. Allerdings beruft sich auch dieser Aufsatz auf eine konsequente Unterscheidung von Diesseits und Jenseits ohne die spezielle Zugänglichkeitsdebatte, die hier zweifellos verhandelt ist, weiter im Sinne ihrer ‚wissenspoetologischen‘ Konsequenzen zu berücksichtigen. 623 Vgl. Reise (M), 55–61. 624 Peter Strohschneider (1994/1997) hat in zwei Aufsätzen versucht herauszuarbeiten, dass der Moment der Buchverbrennung gerade deshalb eine Sünde sein musste, weil in ihr ein Zweifel an der unbedingten metonymischen Entsprechung von Schrifttradition von Schöpfungsunendlichkeit zum Ausdruck kommt (vgl. Strohschneider 1994, S. 167; Strohschneider 1997, S. 18–19). Damit kann zwar die Restitutionslogik der Reise umfassend erklärt werden und die Hypothese, hier könne man das „Auseinandertreten zweier verschiedener Formen der Wissensbegründung und -organisation“ (Strohschneider 1994, S. 168) nachweisen, ist reizvoll. Allerdings kann gerade die Buchverbrennung, wie bereits gezeigt, eng an eine ganz spezifische Brendan-Rezeption rückgekoppelt werden und muss deshalb nicht unter diesem absoluten Anspruch gelesen werden. Es ist nicht das metonymische Verhältnis von sakraler Schrifttradition und Schöpfungsunendlichkeit im Allgemeinen, das hier angezweifelt wird. Es ist, viel konkreter, die Wahrheitsvalenz der Erzähltradition der Brendan-Reise für die Darstellung des Jenseitigen.
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der Reise nach allein der ungläubige Rezeptionsmodus Brendans notwendig gemacht. Ihn galt es während der Fahrt zu überzeugen, auf seiner Fahrt galt es das zerstörte Buch zu restituieren. Die immanente Jenseitigkeit, die Brendan so in allen narrativen Begrenzungen einer Zwischenraumerzählung erfahren kann, ist allerdings nicht repetierbar. Es ist die Ausnahmeerfahrung einer Ausnahmefigur, die in der Textlogik nur eingeschalten werden muss, um die Beschreibung der göttlichen Wunder in einem Buch, dem ursprünglichen Medium, zu restituieren. So endet bezeichnender Weise auch die Reise nicht etwa in einem Aufruf, in See zu stechen und Jasconius und die anderen Wunder realiter zu suchen: Sie endet in einer Defizitmarkierung, die die Rolle des Textes und die Grenzen seiner Rezeptionsgemeinschaft klarmacht: nu bitte wir den vil heiligen man, / daz er vor uns bite, daz wir entphan / mit im die himelische crone. / […] / daz wir da mit witzen / muzen die vreude besitzen, / di nimmer zugenclich ist.625 Die jenseitige Freude, die Brendan auf seiner Reise zumindest in Abstrichen zuteilwerden konnte, bleibt dem einfachen Rezipienten verschlossen, nimmer zugenclich. Die menschliche Defizithaftigkeit angesichts des Jenseitigen, der signifikante Unterschied des Rezipienten im Verhältnis zur Ausnahmefigur Brendans, macht eine immanente Jenseitsreise, wie sie Brendan erfahren hatte, unmöglich. An die strukturelle Stelle einer solchen Wundersuche im Meer tritt, gemäß der Restitutionslogik, der neu geschaffene Text der Reise, wie er dem Rezipienten nach Brendans Reise wieder vorliegt. Die beschriebene Begrenzungsstruktur zusammen mit der reaktualisierten Wahrheitsvalenz der Erzählung positioniert somit die Reise als das Medium, über das immanente Jenseitserfahrung ‚er-lesen‘ werden kann: Lektüreerfahrung statt immanent ‚realisierter‘ Jenseitserfahrung, durch Brendan, und durch den Text. Angesichts des Beginns der Reise und seiner polemischen Umwertung der Brendan-Rezeption darf so ihre Interpretation nicht an einer Differenz aus Schrift- und Erfahrungswissen626 ansetzen. Es geht hier nicht um den generellen Aufbruch von Schriftwahrheit in der Verhandlung ihrer Wahrheitsvalenz als metonymischer Verweis auf die Schöpfungsunendlichkeit.627 Die Reise postuliert keine empirische Repetierbarkeit im Sinne eines ‚Logbuches‘. Stattdessen geht es darum, einem ganz bestimmten ‚Buch‘ – der Erzählung von Brendans Seereise – das durch seine Erzählung immanenter Jenseitsräume in der Rezeption einen schwierigen Stand hatte, Wahrheitsvalenz zu verschaffen. Das Jenseits ist und bleibt immanent unzugänglich, außer im Modus der Lektüre. Brendan und die Erzählung von seiner Reise werden zu strukturel625 Reise (M), 1925–1933. 626 Vgl. Strohschneider 1994, S. 169. 627 Vgl. Strohschneider 1994, S. 167.
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len Schlüsseln, als Ausnahmefigur, als Medium, unter der vollen Legitimation von gotes stimme. Über diese mediale Selbstreferenzialität der Reise wird dem immanenten Jenseitsraum ein ganz bestimmter Platz zugewiesen, und der einzige, den er angesichts seiner paradoxen Vermittelbarkeit haben kann, der Text. Er ist so nicht mehr, wie in den De sancto Brendano versus satirici, ‚heilsabträglich‘, sondern ganz im Gegenteil notwendig. Seine Lektüre bedeutet eben nicht mehr das sichere Höllenfeuer, sondern ist die einzige strukturelle Möglichkeit in der Nachfolge Brendans im Diesseits das Jenseits zu erfahren. Bei der Vita secunda sancti Brendani und der Reise lassen sich im Verhältnis zur früheren NSB verschiedene Schwerpunktsetzungen nachweisen, der Modus der Zwischenraumerzählung jedoch bleibt erhalten. Sie alle beschreiben immanente Jenseitsräume, mit allen den notwendigen epistemologischen, räumlichen, personellen Zugangsbegrenzungen. In der Vita secunda liegt dabei der Fokus auf einer heilsgeschichtlichen Einordnung der wunderbaren Erfahrung und der absoluten Ausnahme von etwas, das nach Adam eigentlich nicht möglich ist. Die Reise legt einen selbstreferentiellen Schwerpunkt, indem sie in Auseinandersetzung mit verschiedenen Problemen der Rezeption sich selbst als Text einen eigenen, besonderen Platz zuweist, den sie wiederum auf die eigentliche Begrenzung des jenseitigen Raumes zurückführt. Die gewisse Nonchalance, mit der die NSB den immanenten Jenseitsraum beschrieben hatte, wird zurückgefahren, eingedämmt und innerhalb des Diskurssystems des zwölften Jahrhunderts befriedet. Durch eine relativierende Einordnung in heilsgeschichtliche Zusammenhänge bzw. die Verhandlung textlicher Wahrheitsvalenz erfährt die Erzählung zusätzliche Begrenzungen. Die Paradoxie wird auf unterschiedliche, leicht modifizierte Weise noch einmal ausgestellt. Der paradoxe Gegenstand jedoch ändert sich nicht und die relativierende doppelläufige Erzählweise des Zwischenraums ebenso wenig. Die zwischenräumliche Dynamik, wie sie die NSB vor dem Hintergrund verschiedener Diskurse ausbilden konnte, erfährt im zwölften Jahrhundert eine affirmierende Rezeption in weiteren Diskursen. Die Zwischenrauminsel etabliert sich als Darstellungsmodus immanenter Jenseitigkeit. Auch in der Rezeption des zwölften Jahrhunderts bleibt die Erzähltradition von Brendans Seereise dabei vor allem eine Zwischenraumerzählung, sie bleibt – mit allen narratologischen Implikationen – Erzählung eines immanenten Jenseitsraums.
3 Die Höhle Paulus von Theben soll während der Christenverfolgung unter Decius, so schreibt es Hieronymus, in die ägyptische Wüste gegangen sein, um dort in einer Höhle das Leben eines Einsiedlers zu führen.628 Der Heilsraum, den Columbanus und seine Mönche auf atlantischen Inseln und dem Kontinent finden sollten, ist hier vor jeder kulturellen Translation im Wüstenraum figuriert: im Inneren einer Höhle. Wie die Insel handelt es sich bei der Höhle um einen Raum, der aufgrund seiner besonderen Topographie Sonderräumlichkeit erzählen kann. Neben ihrer Rolle vor allem als ein Raum der Zuflucht629 fungiert die Höhle dabei bereits im biblischen Sinne immer wieder als Grab:630 So finden die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob sowie ihre Frauen in der Doppelhöhle Machpela ihre letzte Ruhestätte,631 und auch Jesus wird bekanntlich in einer Grabeshöhle bestattet.632 Schon früh sind dabei Diskurse nachweisbar, die den Höhlenraum in einer graduell-relativen Zwischenposition von Immanenz und Transzendenz verorten. Seine Heilsräumlichkeit in den Wüstenvätertexten schafft zusammen mit seiner Figurierung als Raum von Grab und Wiedergeburt und als Raum der irischen Anderwelt die diskursiven Grundlagen, die die Höhle gerade auch im zwölften Jahrhundert als immanenten Jenseitsraum narratologisch dimensionieren. Als kulturelle Narrative immanenter Jenseitsräumlichkeit treten für die Höhle Fragen etwa ihrer Lokalisierbarkeit, ihrer Jenseitsfunktionalität und der Körperlichkeit ihrer spezifischen Zugänglichkeit in den Vordergrund.
628 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 4–5. 629 Vgl. 1. Kön 18,4; 1. Kön 19,13; Jes 2,19–21. 630 Für einen ersten Einblick in andere Erzähltraditionen zur Höhle vgl. Bendix 1990. Es findet sich natürlich auch in antiken griechischen wie lateinischen Texten die Vorstellung von der Höhle besonders auch als kultischer Raum, vgl. hierzu Sporn 2007 mit weiteren Literaturhinweisen. Wie bei der Insel ist für die Höhle als immanenten Jenseitsraum aber der christliche Transzendenzbegriff prägend, weshalb im Folgenden der Schwerpunkt auf Diskursen aus dem christlichen Bereich liegen wird. 631 Vgl. Gen 23,19. 632 Vgl. Mk 16,1–8.
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3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts war im Lough Derg, einem See im Norden Irlands, eine neue Pilgerstätte entstanden.633 Wo früher, vermutlich schon seit dem fünften Jahrhundert, ein frühmittelalterliches Kloster gewesen war und Eremiten in Bienenkorbhütten gelebt hatten, hatte sich nun auf einer bzw. zwei Inseln634 des Sees ein Wallfahrtsort des Hl. Patrick etabliert.635 Als sich Peter von Cornwall (1139/1140–1221)636 im Jahre 1200 bei der Kompilation seines Liber revelationum,637 einer Sammlung von Visionstexten, mit verschiedenen Zeugnissen zum Purgatorium sancti Patricii konfrontiert sieht, steht für ihn deshalb außer Frage, dass diese Texte ebendiese Pilgerstätte zu beschreiben suchen. Im Verlauf der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts hatte sich das Purgatorium zu einem festen Begriff entwickelt.638 Jedoch widersprachen sich die Zeugnisse, wie Peter von Cornwall mit aller kompilatorischen Dis633 Die große Bekanntheit des Patrickspurgatoriums zeigt auch die spätere breite literarische Überlieferung zur Pilgerpraxis, die die Edition von Giovanni Paolo Maggioni et al. (2018) gesammelt mit italienischen Übersetzungen aufführt. 634 Zu der Diskussion, welche der beiden Inseln im Lough Derg, Saints’ oder Station Island, die ursprüngliche Pilgerstätte gewesen ist, vgl. Pontfarcy 1988a, hier S. 14: Yolande de Pontfarcy plädiert für eine Zusammengehörigkeit beider Inseln als ‚Purgatorium‘, Saints’ Island übernähme dabei die Funktion von „desert“. Ludwig Bieler (1960) argumentiert dafür, dass Saints’ Island die Insel der frühen Pilgertradition ist und die Pilgerstätte erst um das Jahr 1230 auf Station Island verlegt wurde. Die moderne Pilgerstätte befindet sich auf der größeren Insel Station Island. 635 Zur historischen Pilgerpraxis zum Patrickspurgatorium vgl. mit einem Schwerpunkt auf den späteren Pilgerberichten Walsh 1999 und Paravicini 2004. Die Augustiner Regularkanoniker, die sich (wie auch der TPSP in einem anachronistischen Vorgriff aus der Zeit Patricks berichtet, vgl. TPSP, 139–144) später auf Station Island niedergelassen hatten, haben die Lage einer zu diesem Zeitpunkt verlassenen keltischen Klosteranlage übernommen, vgl. Carville 1982, S. 3 (Map) sowie S. 59–62. Im neunten Jahrhundert war das keltische Kloster verschwunden und seit den 1130er Jahren ist das Priorat der Augustiner Regularkanoniker nachweisbar (vgl. Zaleski 1985, S. 468–469 und Easting 1986a, S. 167). 636 Zu Peter von Cornwall vgl. einführend Easting und Sharpe 2013, S. 1–21. 637 Zum Liber revelationum vgl. Gebauer 2013, S. 49–80. Der Text ist in nur einer einzigen Handschrift (London, Lambeth Palace Library, Ms. 51) überliefert und kann durch verschiedene Hinweise genau datiert werden, vgl. Easting 1978, S. 781. Weitere einführende Bemerkungen sowie eine Edition des gesamten Liber revelationum finden sich bei Easting und Sharpe 2013, für die Edition allein der Purgatoriumsvision (Item aliter de eodem Purgatorio) vgl. Easting 1979, S. 409–416. Wegen der durchgehenden Zeilenzählung der Textpassage wird die Purgatoriumsvision im Folgenden nach Easting 1979 zitiert werden, überlieferungsbedingt unterscheiden sich beide Editionen nur bezüglich ihrer modernen Normalisierung. Für einen ersten Vergleich des TPSP mit Peters von Cornwall Beschreibung des Patrickspurgatoriums sowie Überlegungen zum Inhalt der eigentlichen Vision vgl. Pontfarcy 1988b, S. 43–48. 638 Mit der Frage, inwiefern die spezifische jenseitstopographische Konfiguration des TPSP ein irisches Phänomen ist, das im ideengeschichtlichen Zusammenhang des zeitgenössischen Irlands begründet werden muss, beschäftigt sich Pontfarcy 2013.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
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tanz feststellen konnte, vor allem in der Lokalisierung dieses Purgatoriums erheblich: […] diuerse sunt quorumdam sententie de introitu ipsius Purgatorij. Dicunt enim quidam quod introitus illius est per portam quondam, sicut continetur in libro de quo prius fecimus mentionem est scriptus de Purgatorio Patricij. Alij autem dicunt quod quedam sedes extra curtem cuiusdam senis qui ibi manet sunt parate quasi in quodam herbario siue uiridario. Ad quas sedes qui intrat, non multa mora interueniente, accedunt ad eum demones et ut illi uidetur ducunt eum per diuersa loca et tormenta.639 [[…] über den Eingang zum Purgatorium selbst gibt es etliche verschiedene Ansichten. Einige nämlich sagen, dass sein Eingang durch eine Art von Tor führt, so wie es in dem Buch, das ich eben aufgeführt habe, über das Purgatorium Patricks geschrieben steht. Andere aber meinen, dass es eine Art von Sitzen gibt, die außerhalb des Hofes eines alten Mannes, der dort verweilt, bereitet sind, scheinbar in einem Garten oder Park. Wer zu diesen Sitzen geht, zu dem werden nach kurzer Zeit Dämonen kommen und ihn, wie es ihm scheint, durch verschiedene Orte und Folterqualen führen.]
Die beiden Quellen, auf die er hier Bezug nimmt, sind der Tractatus de purgatorio sancti Patricii (TPSP), der vor der zitierten Stelle vollständig in die Kompilation integriert ist,640 sowie das Zeugnis Geralds von Wales (alij dicunt). Beide Quellen verorten den Zugang zu demselben Purgatorium signifikant anders. Der Tractatus de purgatorio S. Patricii des H. von Sawtry Beim Tractatus de purgatorio S. Patricii (TPSP) handelt es sich um einen mittellateinischen Prosatext, der zwischen 1180 und 1185/6641 von dem nicht wei639 Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 27–35. Für eine englische Übersetzung vgl. Easting und Sharpe 2013. 640 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 1. 641 Anhaltspunkt dieser Datierung ist der Zeitraum, innerhalb dessen der Widmungsträger Hugo von Wardon (de Sartis) als Abt tätig gewesen war: 1173–1185/6, vgl. Easting 1978, hier besonders S. 782 und Pontfarcy 1988a, S. 8. Datierungen in das dreizehnte Jahrhundert (Locke 1965) konnten mittlerweile unter anderem wegen des Liber revelationum (ca. 1200) von Peter von Cornwall entkräftet werden: Der dadurch gesetzte terminus ante quem im Jahr 1200 schließt eine Identifikation des H. de Sartis mit Henry der Abtei Wardon (Abbiat vermutlich 1213–1215) aus. Die enge Eingrenzung des Verfassungszeitpunkts auf die Jahre 1179–1181, wie sie Robert Easting vorschlägt (Easting 1978, S. 782), ist nur schwer haltbar. Als terminus post quem allerdings muss zumindest das Jahr 1180 gelten, für das Gilberts Nachfolger in Basingwerk, Matthew, belegt ist, vgl. Knowles 22001, S. 126. Wie der TPSP nämlich schreibt, war Gilbert, als er H. von Oweins Geschichte erzählt haben soll, nicht mehr Abt von Basingwerk, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1104–1105: in monasterio cui prefui [in dem Kloster, dem ich vorstand].
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ter identifizierbaren Mönch H. von Sawtry (de Saltereia), einer Zisterzienserabtei in der englischen Grafschaft Huntingdonshire, verfasst worden ist.642 Als erste überlieferte Quelle spricht der TPSP von einem ‚Purgatorium des Hl. Patrick‘.643 Bei ihrer Missionierung durch den Hl. Patrick hätte allein die Verheißung eines himmlischen und eines höllischen Jenseitsraumes die Iren nicht von dem neuen Glauben überzeugen können. Sie hätten darauf beharrt, dass einer von ihnen das versprochene, abstrakte Jenseits mit seinen eigenen Augen erleben durfte: quatinus rebus uisis certiores fierent quam promissis644 [weil sie durch sichtbare Dinge [im Glauben] sicherer wurden als [nur] durch solche, die verheißen sind]. Dem Hl. Patrick wurde also ein entlegener Ort (locus desertus) offenbart, der ebendieses Bedürfnis, das Jenseits erleben zu wollen, erfüllen sollte: Sanctum uero Patricium Dominus in locum desertum eduxit, et unam fossam rotundam et intrinsecus obscuram ibidem ei ostendit, dicens, quia quisquis ueraciter penitens uera fide armatus fossam eandem ingressus […] ab omnibus purgaretur tocius uite sue peccatis, sed per illam trans iens non solum uisurus esset tormenta malorum uerum etiam, si in fide constanter egisset, gaudia beatorum.645 [Der Herr aber führte den heiligen Patrick an einen entlegenen Ort und zeigte ihm dort eine runde Höhle, nach innen hin dunkel. Dabei sprach er, dass jeder, der wahrhaftig Buße tut, und der gewappnet mit dem wahren Glauben diese Höhle betritt […] von allen Sünden seines ganzen Lebens gereinigt würde. Beim Durchschreiten der Höhle jedoch würde er nicht nur die Folterqualen der Verworfenen schauen, sondern auch, wenn er sein Leben beständig im Glauben geführt hätte, die Freuden der Seligen.]
642 Für eine allgemeine Bibliographie zum TPSP bis zur Jahrtausendwende vgl. Easting 1997, S. 42–48. 643 Es gibt überraschend wenig einführende Lexikonartikel zur Erzähltradition des Fegefeuers des hl. Patrick, eine Ausnahme stellt Palmer 1980 dar. Zu den Quellen des TPSP vgl. Byrne 2016, S. 76–80. Zu den vielfältigen Legenden um den Hl. Patrick vgl. zuletzt Flechner 2019. 644 H. von Sawtry, TPSP, 115–116. Hier und im Folgenden zitiert nach der Edition und unter der Zeilenangabe von Easting 1991b. Eine angemessene textkritische Edition des TPSP bleibt ein Desiderat, auch weil zusätzlich zu dem großen Handschriftencorpus zwei Fassungen des Textes überliefert sind (vgl. Warnke 1938, S. VII–IX sowie Ward und Herbert 1893, S. 435–492), deren chronologisches Verhältnis noch nicht entschieden werden konnte. Karl Warnke gibt unter stilistischen Gesichtspunkten der kürzeren α-Fassung den Vorzug (Warnke 1938, S. XXXI), Yolande de Pontfarcy argumentiert dafür, dass beide Fassungen von demselben Autor H. stammen, α allerdings β zeitlich vorausgegangen sein muss (Pontfarcy 1984, S. 464; Pontfarcy 1988b, S. 55–57). Robert Easting hält die längere β-Fassung für vorgängig (1986a, S. 168–169 sowie 1991b, LXIX–XC). Hinsichtlich der zusammenhängenden Struktur der β-Fassung wird im Folgenden statt der Edition Karl Warnkes (Warnke 1938, α-Fassung) die Edition von Robert Easting (1991b) zitiert werden. Sie ist die erste Ausgabe der vollständigen β-Fassung. Eine moderne englische Übersetzung findet sich bei Picard 1985, die erste deutsche Übersetzung, besorgt durch Maximilian Benz, soll 2020 erscheinen. 645 H. von Sawtry, TPSP, 127–134.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
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Wer die Höhle (fossa), die Jesus Patrick offenbart hatte, unter bestimmten Bedingungen betritt, der wird von seinen Sünden gereinigt (purgaretur).646 Er erlebt die Qualen der Hölle und wird, sollte er sich als glaubensfest erweisen, paradiesische Freuden schauen. In dieser Höhle vollzieht sich die zentrale Handlung der eigentlichen Binnenerzählung, ganz wie es Gott Patrick laut dem vorgeschobenen Paratext verheißen hatte. Ein Ritter namens Owein647 sucht sie mehrere Jahrhunderte nach Patricks Missionierung Irlands auf. Um wahrhaftig Buße zu tun (ueraciter penitens), betritt er die Höhle. Wie Christus es Patrick verheißen hatte, erlebt er hier jenseitige Qualen und die Freuden (tormenta malorum bzw. gaudia beatorum) und bestätigt damit die christliche Jenseitsverheißung sowie die verheißene purgatoriale Funktion des Jenseits im performativen Verlauf des Höllenaufenthaltes. Wohl auch mithilfe des TPSP und der Geschichte des Ritters Owein sollte sich das Wissen um das Patrickspurgatorium in ganz Europa verbreiten. Der Text ist weitläufig überliefert, es gibt mindestens 150 lateinisch-sprachige Handschriften648 und vergleichbar viele volkssprachliche Übersetzungen.649 Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Pilgerberichte und Erzählungen vom Patrickspurgatorium,650 so dass der TPSP zweifelsohne als der Ausgangspunkt sowohl des Begriffs des (Patricks-)Purgatorium als auch des Ansturms auf die Pilgerstätte selbst betrachtet werden kann – wenn der TPSP auch trotz der zeitlichen Koinzidenz mit dem Aufkommen der Pilgerstätte im Lough Derg diese nicht nennt. Letztlich konnte der TPSP maßgeblich dazu beitragen, die Jenseitstopographie zugunsten eines dritten bzw. vierten Ortes, nämlich des Purgatoriums, zu verändern.651 646 Zum Begriff des Purgatoriums allgemein vgl. Intorp 1984. 647 Robert Easting (1986a) sieht in der Figur Oweins und seinem Besuch der Höhle eine historische Tatsache und datiert den beschriebenen Höhlenbesuch aufgrund historisch referenzierbarer Hinweise des Prologs auf die Jahre 1146/7. Problematisch wird die Argumentation, sobald Easting die Vision des Owein eklektisch als historisch wahr und mehrfache, zentrale, Hinweise des Textes auf die Körperlichkeit der Jenseitsreise Oweins zugleich als fiktiv verstehen will, vgl. bspw. Easting 1986a, S. 162. Fiktionalität kann kein Kriterium sein, das erst dann greift, wenn arbiträre Kriterien historischer Plausibilität ins Leere laufen. 648 Vgl. Pontfarcy 1988b, S. 48, hier findet sich auch eine Karte mit den aktuellen Aufbewahrungsorten der Handschriften. Zusätzliche Handschriften, die nicht aufgeführt sind und im Rahmen der Patrick-Forschung noch wenig Aufmerksamkeit erhalten haben, sind bei Weitemeier 2006, S. 213–215 aufgeführt. 649 Vgl. zu diesen Übersetzungen beispielsweise die Diskussion zu Marie de France (vgl. Warnke 1938), für eine Besprechung der mittelenglischen Übersetzungen vgl. Easting 1991a, hier besonders S. 154–169, sowie Palmer 1980, Sp. 716–717. 650 Vgl. Le Goff 21991, S. 243–245. Eine chronologische Übersicht der Pilgerdarstellungen findet sich bei Pontfarcy 1988a, S. 5–6. 651 Vgl. Le Goff 21991, S. 238–241. Die zentrale These Jacques Le Goffs fußt auf dem späten weitläufigen Auftauchen des Begriffs purgatorium in den Texten des Mittelalters, das er als
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3 Die Höhle
Die Topographia Hibernie des Gerald von Wales Die zweite Quelle, die Peter von Cornwall in seinem Liber revelationum, wenn auch nicht nennt, so doch inhaltlich wiedergibt, ist die Topographia Hibernie des Gerald von Wales. Im Jahre 1187/8,652 kurz nach der Entstehung des TPSP, erzählt Gerald von Wales hier von einer zweigeteilten Insel mit Engeln und Dämonen.653 Bei seiner Verfassung der Topographia Hibernie hatte er trotz einiger Parallelen vermutlich keine Kenntnis von dem früheren TPSP, was die signifikante Abweichung in der Beschreibung erklärt:654 Est lacus in partibus Vltonie continens insulam bipartitam. Cuius pars altera, probate religionis ecclesiam habens, spectabilis ualde est et amena; angelorum uisitacione, sanctorumque loci illius uisibili frequentia, incomparabiliter illustrate. Pars altera, hyspida nimis et horribilis, solis demoniis dicitur assignata; que et uisibilibus cacademonum turbis et pompis fere semper manet exposita. Pars ista nouem in se foueas habet. In quarum aliqua si quis forte pernoctare presumpserit, quod a temerariis hominibus nonnunquam constat esse probatum, a malignis spiritibus statim arripitur, et nocte tota tam grauibus penis crucitur, tot tantisque et tam ineffabilibus ignis et aque uariique generis tormentis incessanter affligitur, ut mane facto vix uel minime spiritus superstitis reliquie misero in corpore reperiantur. Hec, ut asserunt, tormenta si quis semel ex iniuncta penitencia sustinuerit, infernales amplius penas, nisi grauiora commiserit, non subibit.655 [Es gibt in der Gegend von Ulster einen See, der eine zweigeteilte Insel beinhaltet.
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Zeichen der eigentlichen ‚Geburt‘ des Gegenstandes interpretiert: Als neuer Jenseitsort sei das Purgatorium zwischen 1170 und 1180 im theologischen Diskurs, zwischen 1180 und 1215 in der Visionsliteratur ausgestaltet worden, vgl. Le Goff 21991, S. 240. Gegen die Behauptung Le Goffs, der TPSP wende sich gegen die vierfache Jenseitstopographie des Augustinus, vgl. Easting 1986b, S. 31. Auch Hugo von St. Viktors De sacramentis Christiane fidei, der die direkte Vorlage des (zu Großteilen einzig paraphrasierenden) Prologes des TPSP darstellt (vgl. Anm. 816), widerlegt Le Goffs These. Hugo von St. Viktor spricht von vier Jenseitsräumen, vgl. De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 4 (Berndt 2008, S. 555 Z. 28–S. 556, Z. 1): Maxima tormenta locum in imo habent. Maxima gaudia in summo. Media autem bona et mala in medio hoc est in hoc mundo mixta sunt. [„Die größten Qualen haben ihren Ort zuunterst, die größten Freuden zuoberst, die mittleren Güter und Übel aber sind in der Mitte, das heißt in dieser Welt, vermischt.“ Knauer 2010, S. 616, Z. 555–557]. Die korrespondierende Textstelle der TPSP-Paraphrase (H. von Sawtry, TPSP, 50) muss zweifelsohne analog auf eine Vierteilung der Jenseitstopographie hin gelesen werden. Zur Datierung, besonders mit Blick auf die verschiedenen Rezensionen der Topographia Hibernie vgl. die Besprechung des Handschriftencorpus bei Dimock 1876, S. XI–XXVIII. James Dimock unterscheidet hier nicht weniger als vier „editions“ des Textes, bei denen er die Eigenrezension Geralds von Wales annimmt. Vgl. Gerald von Wales, Topographia Hibernie, 2, hier und im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, zitiert nach O’Meara 1949, S. 137, die Kapitelzählung folgt der Edition James Dimock (1867). John O’Meara ediert nach einer Leithandschrift aus dem zwölften Jahrhundert (Cambridge, University Library, Mm 5.30) in der Fassung der ersten Rezension Geralds. Eine Gegenüberstellung des TPSP mit der Topographia Hibernie findet sich bei Zanden 1927. Gerald von Wales, Topographia Hibernie, 2, 5.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
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Einer seiner Teile, auf dem eine Kirche des anerkannten Glaubens steht, ist sehr ansehnlich und schön; durch den Besuch von Engeln und den offensichtlich häufigen Besuch jenes Ortes durch Heilige ist er in unvergleichlicher Weise herrlich. Der andere Teil, allzu struppig und abschreckend, ist, so sagt man, nur den Dämonen zugewiesen. Auch durch die sichtbaren Scharen böser Geister und durch ihre Umzüge behält man diesen Ort im Blick. Dieser Teil weist neun Gruben auf. Wenn jemand in einem dieser Teile zufällig eine Nacht durchlebt – bisweilen ist das bekanntlich von verwegenen Menschen versucht worden – wird er auf der Stelle von bösen Geistern weggerissen und für eine ganze Nacht mit so schweren Strafen gemartert und unermüdlich von so großen und so unaussprechlichen Qualen – durch Feuer, Wasser und Dinge anderer Art – heimgesucht, dass am Morgen kaum mehr Überreste eines überlebenden Geistes in seinem armseligen Körper gefunden werden. Wenn jemand diese Folterqualen, so sagt man, einmal aus Reue ertragen hat, wird er die höllischen Qualen, außer er begeht Schlimmeres, nicht weiter erdulden.]
Während im TPSP das Purgatorium noch in einer Höhle verortet wurde, findet sich bei der Darstellung Geralds von Wales der Läuterungsort auf einer Insel im Lake Ulster. Tormenta und gaudia sind hier geographisch getrennt. An einen über Lichttopos, Engel und Heilige als paradiesisch ausgezeichneten Teil der Insel schließt ein purgatorialer Bereich an: In neun Gruben (foveae)656 werden hier die Besucher nachts von Dämonen (demonii/ spiritus maligni) heimgesucht und gefoltert. Wenn sie allerdings eine Nacht in diesen Gruben überstehen (pernoctare),657 müssten sie, außer sie begingen danach schwere Sünden, nach ihrem Tod nicht die Strafen keine künftigen Höllenstrafen auf sich nehmen. Wie beim TPSP ist die Bedingung dafür allerdings eine Haltung der Buße (ex iniuncta penitencia).658 Obwohl die Purgatoriumsbeschreibung des Mönches H. (in einer entlegenen Höhle) und die Beschreibung des Geralds von Wales (auf einer zweigeteilten Insel) erheblich divergieren, sind beide Orte zweifellos in ihrer Funktionalität und in Teilen ihrer Figuration äquivalent. Während der TPSP allerdings, von der ältesten überlieferten Handschrift an, den Begriff des ‚Pat rickpurgatoriums‘ in verschiedenen Variationen im Titel aufgeführt,659 im-
656 In Peters von Cornwall Gegenüberstellung des TPSP mit der Topographia Hibernie werden die neun Gruben als sedes bezeichnet, vgl. dazu Bieler 1960, S. 140. Archäologische Befunde weisen darauf hin, dass es sich hier um die Überreste frühmittelalterlicher Bienenkorbhütten handeln könnte, vgl. Pontfarcy 1988a, S. 14. Für eine Interpretation der sogenannten „penitential beds“ vgl. Turner und Turner 1978, S. 111–115. 657 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 130–131. 658 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 129: ueraciter penitens [wenn er wahrhaftig Buße tut]. 659 Vgl. London, British Library, Royal 13 B viii, f. 100v, beschrieben bei Ward und Herbert 1893, S. 435–452.
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3 Die Höhle
mer wieder im Text genannt660 und die feste Etabliertheit suggeriert hatte,661 fällt er in der zitierten ersten Rezension der Topographia Hibernie nicht. Erst ab der zweiten Rezension wird er integraler Bestandteil des Textes: Spätere Rezensionen fügen an der zitierten Stelle eine Identifikation der Insel mit dem Patrickspurgatorium hinzu.662 Man kann also durchaus annehmen, dass Peter von Cornwall um 1200 diese begriffliche Zuordnung gekannt hat und genau diese Zuordnung ihn vor das Problem der widersprüchlichen Quellen gestellt hat. Wie nämlich mit Zeugnissen umgehen, die einerseits begriffliche Identität und andererseits topographische Differenz bedeuten? Die Vita S. Patricii des Jocelin von Furness Neben dem TPSP und der Topographia Hibernie gibt es ein weiteres, ebenso widersprüchliches Zeugnis zu dem Ort, den alle ‚Patrickspurgatorium‘ nennen: die Vita S. Patricii des Jocelin von Furness.663 Wie die Topographia Hibernie ist sie fast zeitgleich mit dem TPSP zu datieren, in das Jahr 1185.664 In huius igitur montis cacumine ieiunare, ac vigilare consuescunt plurimi, opinantes se postea numquam intraturos portas inferni: quia hoc impetratum a Domino existimant meritis & precibus S. Patricij: referunt etiam nonnulli, qui pernoctauerant ibi, se tormenta grauissima fuisse perpessos, quibus se purgatos a peccatis putant, vnde & quidam illorum locum illum purgatorium S. Patricij vocant.665
660 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 173; 177; 185; 192; 209; 217; 220. 661 Bei Oweins Besuch des Purgatoriums, hiis temporibus […] regis Stephani [zu den Zeiten des Königs Stephan], H. von Sawtry, TPSP, 206–207), d. h. zu Lebzeiten des Königs Stephan von Blois 1135–1154, ist der Begriff, so suggeriert der Text, bereits als solcher etabliert, so dass Owein die Pilgerstätte überhaupt erst aufsuchen kann. 662 Hic autem locus Purgatorium Patricii ab incolis vocatur. [Dieser Ort aber wird von den Einwohnern das Purgatorium des Patrick genannt.], zitiert nach der Edition Dimock 1867, S. 83, vgl. hier auch Anm. 2 und 3. Die Handschriften, die diesen Passus enthalten, sind alle aus frühestens der zweiten Rezension der Topographia Hibernie und frühestens Ende des 12. (London, British Library, Royal 13 B viii), bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden. Zur frühen Handschriftenüberlieferung der Werke Geralds von Wales vgl. Rooney 2018. 663 Als viertes Zeugnis des zwölften Jahrhunderts, das sich mit diesem Thema beschäftigt, muss wohl auch ein Text des David von Würzburg gelten. Es würde sich hier um die älteste bekannte Quelle handeln, die zeitlich sogar dem TPSP vorausgehen würde, denn der Tod Davids wird im Jahre 1147 angesetzt. Nach Johannes Trithemius, der Anfang des sechzehnten Jahrhunderts mit der Reform des Schottenklosters von Würzburgs betraut war, soll David einen De purgatorio Patricii lib. 1 verfasst haben, vgl. Flanagan 2010, S. 226–227, Anm. 164. Der Text ist jedoch nicht erhalten. 664 Vgl. Birkett 2010, S. 6–7. 665 Jocelin von Furness, Vita S. Patricii, 150, zitiert nach der Edition der AASS Martii II, Sp. 575 A.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
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[Sehr viele Leute pflegen auf dem Gipfel dieses Berges also zu fasten und Nachtwachen zu halten, weil sie meinen, dass sie [so] später niemals die Höllenpforte durchschreiten würden: weil sie glauben, dies sei durch das Verdienst und die Gebete des heiligen Patrick von Gott erfolgreich erbeten worden; einige auch, die dort übernachtet hatten, berichten, sie hätten die härtesten Folterqualen durchlitten, und glauben, dass sie durch diese von ihren Sünden gereinigt seien. Einige von ihnen bezeichnen daher jenen Ort das Purgatorium des heiligen Patrick.]
Nach der Beschreibung von Patricks Aufenthalt auf dem Croagh Patrick,666 wie er bereits in früheren Viten Patricks ähnlich geschildert worden war,667 identifiziert Jocelin den Berg mit dem Purgatorium S. Patricij. Wer auf dem Gipfel des Croagh Patrick übernachten würde, so der Volksglaube, von dem Jocelin berichtet (opinantes; referunt; putant; vocant), würde von seinen Sünden gereinigt, ihm bliebe die Hölle erspart: numquam intraturos portas inferni [dass sie niemals die Höllenpforte durchschreiten würden]. Die Identifikation des Patrickspurgatoriums mit dem Croagh Patrick wird, als die einzige dieser Art, in der Regel mit einer Verwechslung erklärt.668 Die Zeugnisse bleiben jedoch gerade im Punkt der Verortung auffällig widersprüchlich: Mal ist das Purgatorium auf einem Berg im Westen Irlands, mal eine Insel im Lough Derg oder in einer Höhle an einem abgeschiedenen Ort. Die Lokalisierung im Diskurszusammenhang Die relative zeitliche Nähe der Zeugnisse mag eine Erklärung für die Divergenz der Quellen sein. Die relative inhaltliche Nähe der Quellen – das Moment der Übernachtung, das Moment der Reinigung von Sünden und nicht zuletzt die Erfahrung der Jenseitsqualen bzw. -freuden – mag in der Verbreitung einer mündlichen Tradition um einen konkreten Ort in Irland begründet sein. So jedenfalls argumentiert in überwiegendem Maße die Forschungsliteratur zu dem Narrativ des Patrickpurgatoriums: In der Anfangsphase der konkreten historischen Pilgerstätte sei es zu zunächst widersprüchlichen Zeugnissen gekommen, deren Widersprüchlichkeit müsse jedoch nichtsdestotrotz mit einer historischen Pilgerpraxis zu der konkreten Pilgerstätte im Lough Derg verbunden werden.669 666 Vgl. Jocelin von Furness, Vita S. Patricii, 150. 667 Vgl. Birkett 2010, S. 7, Anm. 33. 668 Vgl. die Versuche einer ‚Fehlergenese‘ bei Bieler 1960, S. 138 sowie AASS Martii II, S. 589, vgl. Benz 2013, S. 205, Anm. 876, für eine Übersetzung der Textstelle. 669 Das Für und Wider einer Identifikation mit dem Pilgerort ist bestimmendes Merkmal der modernen Forschungspositionen, die dieselbe Begründungsarbeit zu leisten versuchen, derer sich auch Peter von Cornwall angesichts des diversen Befundes angenommen hat. Die Widersprüchlichkeit der Quellen untereinander wird konstatiert, ihr Verhältnis zur konkreten Pil-
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3 Die Höhle
In diesem Forschungsnarrativ bringt ein Textzeuge wie die Erzählung des Peter von Cornwall die erwartete Auflösung. Angesichts derselben Quellen, die auch der modernen Forschung Schwierigkeiten bereiten, löst er die Widersprüche der beiden ihm verfügbaren Quellen mit Verweis auf einen Augenzeugenbericht recht nonchalant auf: Sed qualiscumque fuerit introitus predicti Purgatorij, ad ea que Walterus dixit Bricio et Bricius mihi accedamus: Predictum igitur Purgatorium distat a ciuitate Duuelina per quattuor dietas aquilonem uersus. Vna enim dieta est a Duuelina usque ad Mellifonsem, et una dieta a Mellefonse usque ad monasterium Sancti Patricij. Et un dieta ab illo monasterio usque ad Armacha […]. Et ab Armacha una dieta fere usque ad quondam insulam aliquantulum magnam que dicitur Mabeoch. Et inter hanc insulam et insulam paruam in qua est Purgatorium predictum non est nisi quoddam flumen, per quod de maiore insula ad minorem transire quis potest uehiculo parue cimbe.670 [Aber wie auch immer es um den Eingang zu dem bereits genannten Purgatorium bestellt ist, lasst uns zu dem voranschreiten, was Walter dem Bricius und Bricius mir berichtet hat: Das genannte Purgatorium also ist von der Stadt Dublin vier Tagereisen in Richtung Norden entfernt. Denn eine Tagereise ist es von Dublin nach Mellifont, und eine Tagereise von Mellifont zum Kloster des heiligen Patrick. Eine Tagereise ist es von jenem Kloster nach Armagh […]. Und von Armagh ist es ungefähr eine Tagesreise zu einer etwas größeren Insel, die man Mabeoch nennt. Und zwischen dieser Insel und der kleinen Insel, auf der das bereits genannte Purgatorium liegt, ist nichts außer einem Fluss, auf dem man von der größeren zur kleineren Insel mithilfe eines kleinen Kahns übersetzen kann.]
Aus der Widersprüchlichkeit seiner Quellen und ihren vagen Lokalisierungsansätzen macht Peter von Cornwall eine konkrete Wegbeschreibung: Das Purgatorium, so habe ihm ein gewisser Bricius berichtet, läge genau vier gerstätte im Lough Derg reflektiert. Besonders aussagekräftig ist hier die Forschung Robert Eastings (1979), die diesbezüglich als exemplarisch gelten kann. Er zeigt den schwierigen Befund zwar immer wieder auf, schlägt etwa für Jocelin von Furness auch eine unabhängige purgatoriale Pilgerstätte vor (S. 397 f, Anm. 4, vgl. mit einer ähnlichen Argumentation auch Birkett 2011, S. 7, besonders Anm. 34) und setzt eine feste begriffliche Zuschreibung des Patrickspurgatoriums zum konkreten Pilgerort erst mit Peter von Cornwall an. Allerdings argumentiert auch er trotzdem zumeist anachronistisch unter Annahme einer Identifikation des erzählten Raumes im TPSP mit der Pilgerstätte im Lough Derg (etwa 1991b, S. XVII– XVIII): Jocelins Identifikation mit Croagh Patrick wird aus dieser Perspektive zur „confusion“ (Easting und Sharpe 2013, S. 117) und die divergierenden Positionen Geralds von Wales und H.s von Sawtry werden im Sinne Peters von Cornwalls integriert: „This can be explained simply by these two authors‘ having each heard of only half the penitential practices.“ (Easting und Sharpe 2013, S. 120) – Gerald von Wales und H. von Sawtry gäben schlichtweg zwei Perspektiven desselben zeitgenössischen Pilgerortes wieder. Eine der wenigen Forschungsarbeiten zum TPSP, die die Divergenz der Quellen bezüglich des konkreten Ortes ihrer Argumentation tatsächlich zugrunde legen, ist die Arbeit von Maximilian Benz (2013, besonders S. 201–207). 670 Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 37–49.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
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Tagesreisen nördlich von Dublin (Duuelina), d. h. eine Tagesreise in Richtung Mellifont, eine zweite zum Kloster des Hl. Patrick und eine dritte nach Armagh, so dass der Reisende am vierten Tag die Insel namens Mabeoch erreicht. Mabeoch wiederum kann mit dem Schutzheiligen des Lough Derg in Verbindung gebracht werden,671 so dass die geographische Beschreibung Peters durchaus als eine Wegbeschreibung zu einer Insel im Lough Derg und damit dem Ort der modernen Pilgerstätte betrachtet werden kann.672 Dieser Umstand bringt seinen Editor Robert Easting bezüglich der Verortung des Patrickpurgatoriums zu der aufschlussreichen Abschlussbemerkung, Peter von Cornwall sei „the first witness to do so with any accuracy“.673 Diese ‚Akkuratesse‘ ist zweifellos neben der modern anmutenden Wegbeschreibung auch den diversen Qualifizierungen des Reisefortgangs geschuldet: Neben den Ortsnamen und genauen Zeitparametern tragen zu diesem Eindruck auch die genauen Beschreibungen etwa der Inseln oder die Empfehlung einer Flussquerung im (wohl bereitgestellten) Kahn bei: eine solche Beschreibung kann nur, so suggeriert der Text, wenigstens mittelbar von einem Augenzeugen stammen, muss mit der Realität des Patrickpurgatoriums übereinstimmen und dementsprechend ‚wahr‘ sein. Peter von Cornwall ist in der Tat der Erste, der sich um eine referenzialisierbare Beschreibung des realhistorischen Ortes des Patrickspurgatorium bemüht, die vage Angabe eines locus desertus ist mit der Auflistung verschiedener Tagesetappen nicht zu vergleichen. Im Rückgriff mit einer Tradition außerhalb des eigentlichen Textes verbindet seine Rezeption den TPSP mit dem konkreten Pilgerort im Lough Derg – und so wird der TPSP dann auch im Weiteren gelesen. Über dessen Verbreitung wiederum mag sich rückwirkend die Pilgerstätte auf Station Island zunehmend etabliert haben können.674 Allerdings ändert das nichts daran, dass der TPSP selbst weder vom Lough Derg noch von einer Insel erzählt, weshalb die realhistorische Referenz auf einen realen historischen Ort nicht das zentrale Moment dieser Erzählung sein kann. Wie eine Übersicht der drei Quellen und ihrer inhaltlichen Schwerpunkte zeigen kann, teilen die drei Quellen des zwölften Jahrhunderts eine Reihe signifikanter Merkmale:
671 Vgl. Easting 1979, S. 402. 672 Robert Easting (1979, S. 402) sieht in dem Hinweis auf die insula Mabeoch, die er mit Saints’ Island, der kleineren der beiden für das Patrickspurgatorium relevanten Inseln, identifiziert, außerdem den Beweis für eine frühere Pilgertradition auf Saints’ Island. Das spräche wiederum für einen späteren Wechsel der Pilgerstätte auf Station Island, wo bis heute die Pilgerstätte besucht werden kann. 673 Easting 1979, S. 402. 674 Vgl. Pontfarcy 1988a, S. 19–21.
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3 Die Höhle H. von Sawtry, TPSP (1180–1184/5)
Gerald von Wales, Topographia Hibernie, 2, 5 (1187/8)
Jocelin von Furness, Vita S. Patricii, 150 (1185)
Begriff
Purgatorium sancti Patricii 675
Purgatorium Patricii 676
Purgatorium S. Patricij
Aufenthaltsdauer
ein Tag und eine Nacht
Übernachtung
Übernachtung
unius diei ac noctis spacio677 (für die Dauer eines Tages und einer Nacht)
si quis pernoctare persumpserit (wenn jemand eine Nacht durchlebt)
pernoctaverant ibi (sie hatten dort übernachtet)
Figuration körperliche Qualen der (Jenseits-) und Freuden678 Erfahrung
körperliche Qualen
körperliche Qualen
a malignis spiritibus statim arripitur, et nocte tota tam grauibus penis cruciatur, tot tantisque et tam ineffabilibus ignis et aque uariisque generis tormentis incessanter affligitur [man wird auf der Stelle von bösen Geistern weggerissen und für eine ganze Nacht mit so schweren Strafen gemartert, unermüdlich von so großen und so unaussprechlichen Qualen – Feuer und anderer Art – heimgesucht]
referunt […] se tormenta grauissima fuisse perpessos (sie berichten, sie hätten die härtesten Folterqualen durchlitten)
675 Die Bezeichnung taucht mehrmals im Text und in den Titeln auf, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 173; 177; 185; 192; 209; 217; 220. 676 Zusatz der zweiten Redaktion, vgl. Dimock 1867, S. 83, Anm. 2 und 3. 677 H. von Sawtry, TPSP, 130–131. 678 Vgl. Kapitel 3.3.3.
3.1 Das Purgatorium des Hl. Patrick
Funktionalität
H. von Sawtry, TPSP (1180–1184/5)
Gerald von Wales, Topographia Hibernie, 2, 5 (1187/8)
Jocelin von Furness, Vita S. Patricii, 150 (1185)
Sündenerlass ab omnibus purgaretur tocius uite sue peccatis679 [sie würden von allen Sünden ihres ganzen Lebens gereinigt werden]
Sündenerlass hec […] si semel […] sustinuerit, infernales amplius penas nisi grauiora commiserit, non subibit [Wenn jemand diese Folterqualen […] einmal […] ertragen hat, wird er die höllischen Qualen, außer er begeht Schlimmeres, nicht weiter erdulden.]
Sündenerlass purgatos a peccatis putant [sie glauben, sie seien von den Sünden gereinigt]
zweigeteilte Insel in einem See im Norden Irlands (lacus in partibus Vltonie continens insulam bipartitam)
Cruachán Aigle, anhand der Beschreibung identifizierbar682
Glaubensaffirmation680
Verortung
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Höhle an einem ent legenen Ort (locus desertus; fossa)681
Neben der Begrifflichkeit des Patrickspurgatoriums stimmen sie auch etwa darin überein, dass ein Aufenthalt über Nacht erfolgen muss. Der Besucher soll hier körperliche Folterqualen erleben. Er wird jedoch, wenn er sie übersteht, mit der Reinigung von früheren Sünden belohnt, so dass ihm die Hölle erspart bleiben kann. Was diese grundlegenden Fragen des Patrickpurgato riums betrifft, herrscht also bei den Quellen eine überraschende Einstimmigkeit. Der einzige Punkt, an dem sich Quellen des zwölften Jahrhunderts einstimmig uneinig sind, ist gerade die Frage des Ortes – entgegen der geläufigen These, die Texte seien literarische Quellen einer konkreten Pilgerstätte im Lough Derg. Wenn man also annimmt, dass die drei Quellen voneinander unabhängig sind (was der Fall zu sein scheint),683 muss man zweifelsohne angesichts der inhaltlich erheblichen Übereinstimmungen eine Erzähltradi679 H. von Sawtry, TPSP, 131–132. 680 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 133–134. 681 H. von Sawtry, TPSP, 127; 128. 682 Vgl. Birkett 2010, S. 7, Anm. 34. Es handelt sich um einen Berg (Croagh Patrick) im Nordwesten Irlands. 683 Vgl. Birkett 2010, S. 7.
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tion vor den drei Quellen und unabhängig von der konkreten Pilgertradition annehmen.684 Die realhistorische Pilgerstätte im Lough Derg als den Anfangsimpuls der einzelnen Texte festzumachen und die Texte so primär als Narrativierung einer bestehenden Pilgertradition an einem bestimmten Ort zu verstehen, ist angesichts der textlichen Inhalte mindestens problematisch, wenn nicht schlichtweg unhaltbar. Sinnvoller muss es also sein, den narrativen Impuls der Texte vorgängig anzusetzen: als eine separate Erzähltradition, die sich dann zum Ende des zwölften Jahrhunderts zunehmend mit einer entstehenden Pilgertradition zum Lough Derg verknüpft. Statt das zentrale Moment in dem einzigen Punkt zu suchen, in dem die drei frühen Quellen differieren – dem konkreten Ort, wenn auch wohlweislich nicht dem Impuls der realen Verortung – sollte eine Untersuchung des TPSP vielmehr dort ansetzen, wo das bezüglich der Gattungstradition Neue und letztlich das den Zeugnissen Gemeinsame zu finden ist: bei dem körperlichen Eintreten und körperlichen Erleben des Purgatoriums. Damit stellt sich die Frage nach einer Erzähltradition, die unabhängig vom realhistorischen Ort und vor der Etablierung der Pilgerstätte existiert hat, nach einer Erzähltradition, deren zentrales Moment die körperliche Reise in den Jenseitsraum ist. Wie schon bei Brendan ergibt sich daraus ein erhebliches Spannungspotential, an dem sich die Erzählung strukturell abarbeitet und das über einen Zwischenraum produktiv aufgelöst und reaktualisiert wird: Die Höhle an einem entlegenen Ort, nicht zuletzt Insel und Berggipfel, schaffen die Grundlage, auf der die Spannung der immanenten Jenseitserfahrung ausgearbeitet wird. Wie zeichnet der TPSP den Höhlenraum in diesem Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz und wie nutzt er ihn für die Darstellung eines neuen Jenseitsraums? Wie erlaubt die Konfiguration des Zwischenraums überhaupt erst die Entstehung eines in der Topographie neuen Jenseitsraumes? Und nicht zuletzt: Was bedeuten die Lokalisierungsfragen für die ästhetische Wirksamkeit des immanenten Jenseitsraumes?
684 Vgl. etwa auch Maggioni 2017. Die Verbindung der Erzähltradition mit der eigentlichen Pilgerstätte jedoch kann nicht erst im vierzehnten Jahrhundert vollzogen worden sein, wie Peter von Cornwall eindrücklich beweist.
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3.2 Diskursdimensionen der Höhle als immanenter Jenseitsraum Insbesondere angesichts der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der frühen Zeugnisse des Patrickspurgatoriums drängt sich die Vermutung einer Erzähltradition auf, die der eigentlichen Pilgerstätte des Patrickspurgatoriums vorgängig ist. Für die spezifische Raumdynamik des Höhlennarrativs im TPSP ist neben dem bereits untersuchten Anderweltdiskurs insbesondere die diskursive Verknüpfung des Höhlenraumes mit Grab und Wiedergeburt relevant. Auf der Grundlage einer narratologischen Raumdynamik, wie sie auch im Zusammenhang mit Christi Geburt, Grab und Wiederauferstehung funktional ist, wird die Höhle in der legendarischen Erzählung der sieben Schläfer von Ephesos innerhalb eines Verweisungssystems von Immanenz und Transzendenz ausformuliert. Weiter dimensionierend wirkt zudem der Höhlenraum der Wüstenvätererzählungen: Wie der Insel im Zuge des peregrinatio-Diskurses wird auch der Höhle über diesen Diskurszusammenhang die funktionale Rolle eines Heilsraums zugewiesen, der seinerseits wiederum Analogien zu einem jenseitigen Raum zu bedeuten vermag.
3.2.1 Die Pforte in die Anderwelt Die Höhle ist wie die Insel wichtiger Raum des irischen Anderweltdiskurses. Sowohl natürliche Höhlen als auch Grabhügel werden hier unter dem Begriff der sídhe [Feenhügel] subsumiert und als Zugang zu, und innerhalb einer gesonderten Kategorie der Tale List, den „uatha“,685 als Raum der Anderwelt erzählt. Zudem wird auch hier, wie bei der Insel, eine Überlagerung von geographischem Raum und anderweltlicher Bedeutung gedacht, wie sie vor allem die literarischen Verhandlungen einzelner realhistorischer Höhlen als ‚Anderwelten‘ nahelegen.686
685 Vgl. O’Curry 1861, S. 242–243; 586–587, hier auch eine Auflistung der ursprünglichen Tale List mit Vermerken auf die entsprechende Überlieferung. Es handelt sich um die einzige Gattungskategorie, die nach einem topographischen Merkmal benannt ist, vgl. dazu O’Curry 1861, S. 586, Anm. 141. Interessanterweise ist das semantische Wortfeld von uath eng verknüpft mit Angst/Schrecken und in frühen Texten ebenfalls im Wortfeld des Grabes nachweisbar. Diese Äquivalenz hat bis in das moderne Irische Bestand, vgl. Dowd 2015, S. 6. 686 Ohne die kartographische Verortung weiter problematisieren zu wollen, findet man bei Löffler 1983, Bd. 1, S. 620–621 in einem Appendix ein Verzeichnis der sídhe nach literarischer Quellenlage. Für eine Einführung vgl. McCafferty 2012.
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Eine dieser Erzählungen ist Uath Angeda [Die Höhle von Ainged], auch Echtra Nerai [Die Abenteuer Neras]687 genannt. Sie ist im Leabhar Buidhe Lecain [‚Das gelbe Buch von Lecan‘], einer Handschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert überliefert und stammt vermutlich aus dem zehnten Jahrhundert.688 Die Höhle von Crúachain, um die es hier geht, dient wie andere natürliche oder bestattungsfunktionelle Höhlen als Zugang in die Anderwelt. An Samain, dem Vorabend des 1. November, an dem traditionell in der mittelalterlichen Erzähltradition Irlands die Grenzen zwischen Welt und Anderwelt verschwimmen,689 bindet Nera, ein Krieger im Dienste des Königs Alill mac Mágach, als Mutprobe einem gehängten Mann eine Weidenrute um den Fuß.690 Der Tote beginnt zu sprechen und bittet, von Nera zu einem Haus getragen zu werden, um dort etwas zu trinken. Ein erstes Haus können sie nicht betreten, weil es von einem Flammenmeer umgegeben ist, ein zweites wegen Wassers, beim dritten Haus haben sie schließlich Erfolg. Der Tote trinkt, spuckt den Rest seines Getränks auf die Bewohner des Hauses und tötet sie.691 Nera trägt den Toten wieder zu seinem Galgen, doch als er zurückgehen will, sieht er den Hof brennen und seine Leute getötet von einem Heer, dem er schließlich in die Höhle von Crúachain folgt.692 Hier trifft er den König, der ihn zu einer Feenfrau schickt. Er verbringt dort einige Zeit, bis sie ihm versichert, dass die Zerstörung des Hofes, die er gesehen hatte, noch nicht geschehen sei, und er sie verhindern könne: ‚That is not true indeed‘, said the woman, ‚but an elfin host came to thee. That will come true‘, said she, unless he would reveal it to his friends. ‚How shall I give warning to my people?‘ said Nera. ‚Rise and go to them‘, said she. ‚They are still round the same caldron and the charge has not yet been removed from the fire.‘ Yet it had seemed to him three days and three nights since he had been in the sid.693 687 Zitiert nach der Edition von Meyer 1889, in der sich der Originaltext und englische Über setzung seitenweise abwechseln. Für einen Einblick in weitere Höhlenerzählungen vgl. Löffler 1983, Bd. 1, S. 108–110. 688 Vgl. Thurneysen 1921, S. 312; 668. Zur Struktur der Erzählung vgl. außerdem Carey 1988, im Besonderen „Table 1“ auf S. 69. Echtra Nerai wird hier nur exemplarisch für eine ganze Reihe von literarischen Texten behandelt, die dem Feenhügel bzw. der Höhle unter/ in dem Feenhügel eine ausgenommene Stellung zuweisen. Wie Bernd Roling (2011) nachweisen konnte, verbreitet sich das Motiv des Feenhügels schon früh auf dem Kontinent, wenn es hier auch über den Topos des locus amoenus eine verschobene Ausgestaltung erfährt. 689 Zu ‚Samain‘ vgl. Maier 1997, S. 242. 690 Vgl. Echtra Nerai, 1–3. 691 Vgl. Echtra Nerai, 4–5. 692 Vgl. Echtra Nerai, 6. 693 Echtra Nerai, 8, 80–86: ‚Ni fir eím on‘, ol in bean, ‚acht is sluag siabra dotainicc. Firfaigthir inni sin‘, ol si, mano foilsetsom dia chelip. ‚Cinnus berut-si robud dom muinntir?‘ ol Nero. ‚Eircc a n-dochum‘, ol si. ‚Atat immon caire cetno beus, 7 ni tallad in lucht don tinig cuse.‘ Sech bao hairem tri laa ocus teoro n-aidqi leissium bui issin tsid.
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Um die Leute des Hofes von Crúachain von der Wahrheit seines Berichtes zu überzeugen, nimmt er als Beweis die sommerlichen Früchte der Höhle mit694 und warnt die Bewohner von Crúachain.695 Diese besiegen in der Höhle das feindliche Anderweltheer696 und können so ihre eigene Vernichtung verhindern. Nera dagegen bleibt mit der Fee, die inzwischen ein Kind von ihm geboren hat, in der Anderwelt. Wie schon in den Anderwelterzählungen, die im Kontext Brendans und der Insel von Relevanz waren, ist die Anderwelt, auf die Nera in der Höhle von Crúachain gestoßen ist, von einem paradoxen Zeitverständnis geprägt: Während Nera glaubt, drei Tage und drei Nächte in der Höhle verbracht zu haben, scheint die zeitliche Entsprechung in der Welt nicht einmal die eines Abends zu sein, derselbe Kessel hängt schließlich noch über dem Feuer. Als Beweis für seinen Besuch der Anderwelt dienen – wohlweislich Ende Oktober – Früchte des Sommers, wie sie nur in einem außer- bzw. anderszeitlichen Raum wie der Anderwelt zu dieser Zeit zur Verfügung stehen. Noch heißer Kessel und schon sommerliche Früchte korrelieren so als Signifikanten zweier Zeitenläufe, deren Bruch bzw. Aussetzung erst im Zuge des Übertrittes durch Nera relational offenbar werden kann. Das subjektive Zeitempfinden Neras, das in der erzählten Zeit innerhalb der Höhle über die Liebesgeschichte mit der Feenfrau ausgestaltet wird („yet it had seemed to him“), wird im Gegenüber mit dem Kessel in seiner Heterogenität manifest und damit zur Grundlage des Wissensvorsprunges, der den entscheidenden Impuls für die weitere Geschichte setzt. Wenn auch in der Gesamterzählung Außernatürliches geschieht, wie der sprechende Tote oder die Vision des Nera, die ihm die Anderweltfrau als solche offenbart, sind diese Merkmale doch als solches wieder klar begrenzt: auf die Nacht des Samhain, als ‚Einbruch des Anderen‘.697 Auf diese Weise bleibt die Differenz der Anderwelt – figuriert im Höhlenraum – zur restlichen Welt erhalten und in gewisser Weise bezüglich des wunderbaren, transzendenten Geschehens auf den Bereich der Höhle bzw. der Anderwelt klar begrenzt (Strukturmerkmale I und II). Das Auftreten einer einzigen Nacht, die sich gerade über ein grenzüberschreitendes Moment definiert und so Anderweltliches ohne zusätzliche Markierungen in der Welt auftreten lassen kann, vermag es im Gegenteil, rückwirkend auf jede andere Zeit des Jahres die Differenz zu schärfen. In diesen und weiteren Texten des Anderweltdiskurses wird so die Höhle, wie auch schon die Insel, als ein Zugang in die Anderwelt dimensio694 Vgl. Echtra Nerai, 10. 695 Vgl. Echtra Nerai, 11. 696 Vgl. Echtra Nerai, 15–17. 697 Vgl. S. 46–50.
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niert und damit als eine bedeutende Scharnierstelle zwischen zwei wesentlich differenten Welten inszeniert.698 Wie bei der Insel wird im Anderweltraum ‚Höhle‘ ein ‚Einbruch‘ des Anderen in der Normwelt erzählt, die Anderwelt aber prinzipiell räumlich abgetrennt gedacht. Kategoriale Brüchigkeiten markieren die wesentliche Differenz der beiden Welten und Inkommensurabilitätsmarkierungen des immanenten Besuchers eine ‚Transzendenz‘ des Anderweltlichen. Die konkrete Verortbarkeit der literarisch verhandelten ‚Anderwelthöhle‘ (wie im Beispiel in der Höhle von Crúachain), ihre Identifikation mit realhistorischen topographischen Formationen, produziert dabei bereits die literarische Spannung, die der TPSP zwei Jahrhunderte später für seine eigene Höhle über bestimmte eigene Erzählmodi zu lösen versucht.
3.2.2 Grab, Geburt und Wiedergeburt Die Parallelisierung von natürlicher Höhle und funktionalem Grabeshügel, wie sie in den Anderwelterzählungen vorgenommen wird, findet sich auch innerhalb christlicher Diskurse: In der Lebensgeschichte Christi wird – je nach Fassung – sowohl seine Geburt als auch sein Begräbnis in einer Höhle erzählt. Während die besondere Konfiguration der Figur Christi narratologisch noch keine Dynamisierung des Höhlennarratives im Sinne eines immanenten Jenseitsraumes notwendig macht, entwickeln sich jedoch auf dieser Grundlage Variationen wie die Legende der sieben Schläfer. Die Höhle wird zum Raum von Grab und Wiedergeburt, in der konkrete Räumlichkeit und immanente Körperlichkeit über die Figur der Auferstehung dynamisiert und aufgelöst werden. Biblische Höhlenvariationen Während die Vulgata den Geburtsort Christi in einem Haus699 bzw. den neugeborenen Jesus in einer Krippe in Bethlehem sieht,700 spricht die Überlieferung des zweiten Jahrhunderts von der Geburt Christi in einer Höhle. Justinus der Märtyrer schreibt von einem σπήλαιον, in dem Maria Jesus zur Welt bringt und in die Krippe legt701 und auch im Protoevangelium des Jakob ist von einer Höhle (σπήλαιον) die Rede.702 Hauptsächlich über das Proto698 699 700 701
Für spätere literarische Quellen zur Höhle von Crúachain vgl. Waddell 2014. Vgl. Mt 2,11: domus [Haus]. Vgl. Lk 2,7; 2,12; 2,16: praesepium [Krippe]. Vgl. Justinus der Märtyrer, Dialogus cum Tryphone Judaeo, 78 (σπήλαιον), nach der Edition der PG 6, Sp. 657D, in deutscher Übersetzung bei Greschat et al. 2005. 702 Vgl. Protoevangelium des Jakob, 18, 1; 19, 1–3; 20, 4; 21, 3, ediert bei Strycker 1961.
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evangelium verbreitet sich die Vorstellung von einer Geburtshöhle Christi so weiträumig,703 dass sie in der Bearbeitung des Pseudo-Matthäus-Evangeliums (PsMt) schließlich sogar Eingang in die Legenda aurea des Jacobus de Vo ragine findet.704 Allerdings wird die Immanent-Werdung des Gottessohnes hier narratologisch nicht weiter in ihrer Kommensurabilitätsproblematik ausgehandelt. So sind etwa keine relevanten Zugangsregulationen des Höhlenraumes funktional. Sie kann, so die Erzählung des Protoevangeliums des Jakob, von Salome und Hebamme betreten werden,705 und auch topographisch ist sie nicht zusätzlich begrenzt. Zwar findet hier die Geburt statt, aber abgesehen von einer Wolke über der Höhle, die bei Jesu Geburt davon zieht,706 wird die Geburt des Gotteskindes vor der Folie ihrer Inkommensurabilität narratologisch nicht weiter an der Höhle problematisiert. Die Höhle ist hier Schauplatz, nicht Ausnahmeraum immanenter Transzendenz. Ähnlich geschieht dies auch in der späteren mittelalterlichen Bibelepik, wie etwa bei Gottfried von Viterbo, der erzählt, dass das Gewand Christi in einer Höhle aufbewahrt worden ist: Als Maria, Joseph und Jesus vor dem Kindermord in Bethlehem fliehen müssen, lassen sie zusammen mit den drei Gaben der heiligen drei Könige ein wunderbares göttliches Gewand in einer Höhle zurück.707 Interessanterweise geht diese Episode Gottfrieds auf die Syrische Schatzhöhle aus dem späten sechsten, frühen siebten Jahrhundert,708 zurück, die diese Höhle zumindest topographisch durchaus hinsichtlich ihrer immanenter Transzendenz erzählt. Adam und Eva sollen hier nämlich nach ihrer Vertreibung, so die Syrische Schatzhöhle, über einen hohen Berg hinab auf die Welt gestiegen sein. Das Paradies ist nach dieser Erzählung, die in diesem Aspekt auch Texte wie De ave Phoenice des Laktanz immer wieder dimensioniert,709 über den höchsten Bergen der Welt situiert: „Das Paradies aber war hoch oben und überragte alle hohen Berge um drei Spannen nach dem Masse des Geistes und umgab die ganze Erde.“710 Als Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies über den heiligen Berg auf die Erde steigen, verweilen sie eine Zeit in einer Höhle
703 Vgl. zur Verbreitung des Protoevangeliums des Jakob Strycker 1961, S. 21–50. 704 Vgl. Jacobus de Voragine, Legenda aurea, 6, zitiert nach der Edition Maggioni 21998, für die neueste deutschsprachige Übersetzung vgl. Häuptli 2014. 705 Vgl. Protoevangelium des Jakob, 19, 1–3 (Hebamme) sowie 20, 1–4 (Salome). 706 Vgl. Protoevangelium des Jakob, 19, 2. 707 Vgl. Gottfried von Viterbo, Quod triginta denarii, ediert und übersetzt bei Isépy 2016, S. 235– 237, hier S. 236, Z. 6–25. 708 Vgl. Toepel 2006, S. 6, für eine Einführung vgl. besonders S. 1–23. 709 Vgl. S. 254–255. 710 Syrische Schatzhöhle, 3, 15, zitiert nach der Übersetzung von Bezold 1883, S. 5, vgl. außerdem Gottfried von Viterbo, De creatione Ade […], in der Edition von Isépy 2016, S. 188, Z. 11, hier auch eine deutsche Übersetzung.
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innerhalb dieses Berges, der ‚Schatzhöhle‘.711 Sie lassen dort Gold, Myrrhe und Weihrauch „von den Grenzen des Paradieses“712 zurück und steigen herab in die Welt. Im weiteren Verlauf der Erzählung fungiert die Höhle als Grabstätte für Adam und seine Nachkommen.713 In der Syrischen Schatzhöhle ist so die ontologische Differenz von Paradies und irdischer Welt, von Immanenz und Transzendenz topographisch über die vertikale Strukturierung eines verbindenden Berges überbrückt. Die (Schatz-)Höhle vermag es, zu einem Zeitpunkt der Geschichte, als über den Sündenfall eine binäre Strukturierung gesetzt ist, topographisch wie wesentlich – als Grabstätte – eine Zwischenposition zwischen immanentem und transzendentem, diesseitigem und jenseitigem Raum einzunehmen. Die Höhle, in der nach Gottfried von Viterbo das Gewand Christi versteckt wird, ruft diese Referenzen aber nur auf und gestaltet die Spannung immanenter Transzendenz explizit nicht innerhalb einer räumlichen Begrenzung. Die zitierten Stellen mögen zwar nahelegen, dass Gottfried (und Andere) auch einzelreferentiell mittelbar auf die Motive der Syrischen Schatzhöhle Zugriff hatte(n) – man siehe auch das Motiv des ungenähten Wundergewandes,714 das neben Gottfried von Viterbo715 auch beispielsweise der mittelhochdeutsche Orendel (frühestens 12. Jahrhundert) aufgreift.716 Die mittelalterliche Rezeption der Syrischen Schatzhöhle auf dem Kontinent bedarf allerdings einer grundlegenden Aufarbeitung, weshalb diese Querverweise skizzenhaft bleiben müssen. Die Höhle, wenn auch früh im Spannungsfeld immanenter Transzendenz verortet, bleibt zumeist Handlungsraum, der diese Spannung nicht über die Konfiguration eines Ausnahmeraumes (Strukturmerkmale I und II) oder eines Zwischenraums (Strukturmerkmale I–III) für die Darstellung einer Inkommensurabilität dynamisiert. Diese Raumdynamik ändert sich bei der Höhle, in der Christi Grab erzählt wird.717 Das Grab ist in der Bibel eine zentrale Funktion der Höhle,718 711 Vgl. Syrische Schatzhöhle, 5, 15–17, vgl. Ri 2000, S. 178–183. 712 Syrische Schatzhöhle, 5, 17, in der Übersetzung von Bezold 1883, S. 8. 713 Vgl. Syrische Schatzhöhle, 6, 7–16. 714 Vgl. Syrische Schatzhöhle, 50, 7–8. 715 Vgl. Quod triginta denarii, nach Isépy 2016, S. 236, Z. 7–11. 716 Vgl. Orendel, 27: er wart gewurket und nit genat, nach der Edition Steinger 2016. Einführend zum Orendel vgl. Curschmann 1989. Für einen extensiven Überblick gerade seiner Datierungsforschung vgl. die Studie Rabea Kohnens (2014, hier S. 13–28), die zwar eine Datierung ins zwölfte Jahrhundert methodisch voraussetzt, allerdings eine spätere Datierung bis ins fünfzehnte Jahrhundert als grundsätzliche Möglichkeit offenhält. 717 Bei Jesus ist zwar nicht von einer Höhle, jedoch von einem in Stein gehauenen Hohlraum die Rede, in den Joseph den Leichnam Jesu legt, Mk 15,46: et posuit eum in monumento quod erat excisum de petra et advolvit lapidem ad ostium monumenti [und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war. Dann wälzte er einen Stein vor den Eingang des Grabes]. 718 Vgl. Gen 23,11; Gen 23,19; Gen 25,9; Gen 49,29; Gen 50,13.
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als solches der zentrale Raum für das Wunder der Auferstehung und damit Handlungsraum transzendenten Heilsgeschehens. Anders als die Geburtshöhle, die nicht dezidiert innerhalb eines Spannungsfeldes von Immanenz und Transzendenz erzählt wurde und einfacher Handlungsraum war, ist die Grabeshöhle entsprechend dynamisiert. In den Höhlen der Lebensgeschichte Christi sind Leben und Tod über die liminalen Momente der Geburt, der Bestattung und der Wiederauferstehung verklammert, aber nur bei der Auferstehungshöhle erfährt diese Verklammerung ihre narratologische Entsprechung über Inkommensurabilitätsmarkierungen, die mit denKriterien des Zwischenraums gefasst werden könnten. Während des Auferstehungswunders erfährt der Höhlenraum des Grabes eine räumliche Begrenzung. Erst als Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, am Sonntag nach Christi Tod zum Grab gehen, treffen sie es offen an. Der Stein vor dem Grab ist weggerollt.719 Das Wunder der Auferstehung selbst wird im Markusevangelium nur ex post narrativiert – eine apophatische Inkommensurabilitätsmarkierung – der Höhlenraum ist währenddessen über den Felsen verschlossen und nicht einsehbar. Auch die Engelsfigur (iuvenem […] stola candida),720 die Maria Magdalena und Maria von der Auferstehung Jesu berichtet, tritt nicht ohne Grund innerhalb der Höhle auf. Das ‚Wunderbare‘ bleibt so zunächst auf den Höhlenraum begrenzt (Strukturmerkmal II). Wie Jesus wird auch Lazarus721 nach seinem Tode in einer Höhle bestattet, ein Felsen verschließt den Eingang. Konfrontiert mit dem Zweifel der Juden, Martas und Marias, lässt Jesus Lazarus, der zu diesem Zeitpunkt seit vier Tagen tot gewesen ist, auferstehen: Der Verstorbene kommt aus der geöffneten Höhle und ‚sogar‘ einige der Juden finden auf diese Weise den Glauben an Jesus. Niemand betritt, wie im Fall Jesu die beiden Marias, die Höhle (Strukturmerkmal I). Das Wunder der Auferstehung findet nur innerhalb der Höhle statt und ist entsprechend als Wunder markiert (Strukturmerkmal II). Erst mithilfe einer strukturellen Begrenzung des Höhlenraumes und der wesentlichen Abgrenzung des Innenraumes vom Außenraum wird die Höhle zu einem Raum, der die Transzendenz des Auferstehungswunders figurieren kann. Es zeigt sich eine spezifische Konfiguration des Handlungsraumes ‚Grabhöhle‘ im Sinne einer Transzendenzfigurierung, die die Dynamik der Höhle im Weiteren diskursiv bestimmt.
719 Vgl. Mk 16,4. 720 Mk 16,5: et introeuntes in monumento viderunt iuvenem sedentem in dextris coopertum stola candida et obstipuerunt [Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr.] 721 Vgl. Joh 11,1–45.
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Todesschlaf und Wiedergeburt in Ephesos Zusammen mit der naturalistischen Funktion der Höhle als Zufluchtsort722 verbindet sich diese Verschränkung, die das Höhlennarrativ als Figurationsraum der Auferstehung nach dem Markusevangelium erfährt, in der Legende der sieben Schläfer von Ephesos mit einem neuen hermeneutischen Bezugssystem. Es entsteht ein immanenter Raum transzendent-jenseitiger Erfahrung. Die Legende erzählt in allen Fassungen von einer Gruppe junger Christen aus Ephesos, die im Jahre 251 vor der Verfolgung des Kaisers Decius in eine Höhle fliehen und hier einen Zufluchtsort finden.723 Die jungen Männer schlafen ein und Decius verschließt die Höhle mit Steinen, um sie lebendig zu begraben. Als einige hundert Jahre später724 der christliche Kaiser Theodosius II in Bedrängnis gerät – Häretiker bestreiten die Auferstehung – werden auf Gottes Geheiß hin die Steine vom Eingang der Höhle entfernt und die Sieben wachen aus ihrem Schlaf auf. Nach anfänglicher Verwirrung – zunächst meinen sie, nur eine einzige Nacht geschlafen zu haben – erkennen sie schließlich das Wunder, das ihnen zuteil geworden war und bezeugen vor Kaiser Theodosius II ihre Auferstehung. Die Männer entschlafen endgültig, die Höhle wird zu ihrer Grabstätte. Die Legende ist frühestens in der syrischen Fassung des Jacob von Sarug (um 500 n. Chr.) überliefert,725 das erste Zeugnis in lateinischer Sprache
722 Vgl. auch 1. Kön 18,4; 1. Kön 19,13; Jes 2, 19–21; Ri 6,2; 1. Sam 13,6; Ps 56,1 [=EÜ (2016) Ps 57,1]; Ps 142,1 [=EÜ (2016) Ps 141,1]. 723 Vgl. als Gegenfolie Jos 10,16–27: Die Schutzsuche der fünf Könige in einer Höhle bei Makkeda endet mit ihrer Ermordung durch Josua: Er schlägt sie tot, hängt sie auf und lässt sie schließlich in dieselbe Höhle werfen, die ihnen hätte Schutz bieten sollen. Die Höhle wird daraufhin mit Steinen verschlossen. 724 Jacobus de Voragine spricht von 372 Jahren, ist sich der Problematik seiner Quellen aber durchaus bewusst. Die widersprüchlichen, und schlichtweg unmöglichen, zeitlichen Angaben früherer Quellen thematisiert er zum Ende der Legende und errechnet als einzig mögliche Dauer 196 Jahre. Vgl. Legenda aurea, 97, S. 83–84: Quod CCCLXXII annis dormisse dicuntur dubium esse potest quia anno domini CCCCXLVIII surrexerant. Decius autem regnavit uno tantum anno et tribus mensibus, scilicet anno domini CCLII, et ita non dormierunt nisi CXCVI annis. [„Daß sie 372 Jahre geschlafen haben sollen, kann man bezweifeln, da sie im Jahre des Herrn 448 auferstanden, Decius aber nur ein Jahr und drei Monate regierte, nämlich im Jahre des Herrn 252. Sie schliefen folglich nur 194 oder 193 Jahre.“, Häuptli 2014/2, S. 1315]. 725 Eine Edition des syrischsprachigen Texts findet sich bei Bedjan 1910, S. 323–330, eine englischsprachige Übersetzung bei Brock 2007. Sowohl Jacob von Sarug als auch der spätere Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94 berufen sich auf eine frühere Quelle, die heute leider verloren ist, vgl. Horst 2015, S. 106–107. Der Liber de Gloria martyrum ist zitiert nach der Edition von Krusch 1885. Der Text hier ist besser als in der PL 71, Sp. 787–789, die die sieben Schläfer unter dem Kapitel 95 aufführt. Der Liber in Gloria martyrum entspricht dem ersten Buch der Libri octo Miraculorum. Zur Überlieferung mit besonderem Schwerpunkt auf
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stammt von Gregor von Tours.726 Die zentralen erzählstrukturellen Merkmale behalten auch spätere Fassungen wie die des Jacobus de Voragine bei.727 Wie das viele Jahrhunderte später bei der Höhle des Patrickpurgatoriums ebenfalls der Fall sein sollte, divergieren die Fassungen gerade bezüglich der Detailfragen: Die Namen von Schläfern und Berg sowie die Dauer des Schlafes variieren, es gibt Fassungen mit oder ohne Hund,728 der grundsätzliche Inhalt allerdings bleibt derselbe.729 Inwiefern die Differenz des Höhlenraums zu seiner narrativen Rahmung, d. h. dem beschriebenen Raum außerhalb der Höhle, sowie zu dem rahmenpragmatischen Wirkungsraum der Erzählung funktional genutzt wird, ist an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung. Für eine erste Bewertung der Funktionalität des Höhlenraumes reicht ein Blick auf die Struktur der Erzählung aus. Die Höhle als topographischer Raum der Zuflucht, der sich als Schutzraum signifikant von Ephesos selbst unterscheidet, wird, in der frühen Fassung des Gregor von Tours nach einem Gebet der sieben Christen zu Gott,730 zu einem Ort des Heilsgeschehens. Möglich wird das durch die Differenzierung des Höhlenraums. Die ontologische Differenz (Strukturmerkmal II) findet dabei an der Schwelle des Höhleneingangs (Strukturmerkmal I) seine topographische Ausformung: Das Innere der Höhle, die zu diesem Zeitpunkt der Erzählung die bereits schlafenden Christen birgt, steht in strengem Kontrast zu ihrem Äußeren. den syrischen Quellen vgl. zudem Brock 2007, S. 13–22. Eine deutsche Übersetzung ist nicht publiziert, für eine englische vgl. Dam 1988. 726 Von Gregor von Tours sind zwei Fassungen überliefert, neben einer kürzeren innerhalb des Liber in Gloria martyrum auch eine eigenständige unter dem Titel der Passio sanctorum septem dormientium, ediert von Bruno Krusch 1885. Für die folgenden Einordnungen sind diese Differenzierungen von untergeordneter Bedeutung. Für weitere lateinische Zeugnisse und die volkssprachliche Überlieferung der Legende der sieben Schläfer vgl. die Arbeiten von Michael Huber, besonders 1910. 727 Vgl. Jacobus de Voragine, Legenda aurea, 97 [101], in Klammern die abweichende Kapitelzählung der Übersetzung von Häuptli 2014. 728 Vgl. Waldner 2008. Ein Punkt, in dem alle lateinischsprachigen Quellen ebenfalls differieren, ist die Begrifflichkeit der Höhle: Gregor von Tours spricht von spelunca, antrum und caverna (Liber in Gloria martyrum, 94), Jacobus de Voragine von spelunca (Legenda aurea, 97, 15), Paulus Diaconus von antrum (Historia Langobardorum, I, 4, nach der Edition von Waitz 1878, S. 45–187), Aelred von Rievaulx wiederum von spelunca (Vita S. Edwardi regis, PL 195, Sp. 767B–769A), usw. Relevant scheint an dieser Stelle nicht die Begrifflichkeit, sondern die Bezeichnung des topographischen Ortes zu sein. 729 Für eine Übersicht der frühen Zeugnisse vgl. Koch 1883, S. 81–122 und Huber 1910, S. 128–214. Für die komplexe Erzähltradition der sieben Schläfer – es gibt jüdische Quellen wie 4. Baruch (Paralipomena Ieremiae), griechisch-römische Quellen zum Schlaf des Epimenides (Diogenes Laertios, De clarorum philosophorum vitis, I, 109), eine Legende von Schläferfiguren auf Sardinien (Aristoteles, Physica, IV, 11, 218b23–26) sowie eine muslimische Tradition, die sich auf Basis der Sure 18 des Koran entwickelt hat – vgl. Horst 2015, S. 94–106 sowie Griffith 2008. 730 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 5–7.
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Der Kaiser, wiewohl er weiß, dass die Christen sich im Inneren der Höhle aufhalten,731 überschreitet diese Grenze nicht – in keiner der Fassungen – sondern macht sie durch die vor dem Höhleneingang aufgestapelten Steine offenbar732 und markiert dadurch die Alterität. Nur einer der sieben Schläfer verlässt in jeder der Fassungen (wohlweislich nach dem wunderbaren Schlaf) die Höhle und kehrt danach wieder zu den anderen zurück. Nicht ohne Grund ist damit der Höhlenraum erst nach Vollzug des Wunders für andere Menschen zugänglich und einsehbar.733 Innerhalb dieser topographischen Differenz, die alle Fassungen in den Steinen vor dem Höhleneingang und den besonderen Zugangsbedingungen figurieren, kann damit das Heilsgeschehen und eine ontologische Differenz Innen/Außen (Strukturmerkmal II) wirksam werden. Deutlich wird das im Einzelnen an den sieben Schläferfiguren, dem Wunder, das sich an ihnen vollzieht, sowie an der kategorialen Differenz, die sich ihnen, den Figuren des erzählten Rahmens und den Lesern nach der Öffnung der Höhle offenbart. Die Steine, mit denen Decius die Sieben in der Höhle einsperrt und scheinbar zum Tode verurteilt,734 konnten den sieben Christen nichts mehr anhaben, denn sie sind längst eingeschlafen. Die Steine sollten einen sehr immanenten Zweck erfüllen, nämlich das Leben der sieben Christen beenden, finden aber keinen Angriffspunkt: Innerhalb der Höhle befinden sich die Schläfer schließlich bereits in einem transzendenzartigen, jenseitigen Zustand, der sich signifikant von den immanenten Kategorien außerhalb der Höhle unterscheidet, zu denen auch eine binäre Strukturierung von Diesseits und Jenseits zu zählen ist. Die Steine könnten ihren Zweck nur erfüllen, gälten für die Schläfer innerhalb der Höhle weiterhin dieselben immanenten Bedingungen – dies ist nicht (mehr) der Fall. Den Menschen außerhalb der Höhle, wie beispielsweise dem Bürger aus Ephesos, der für seine Schafe einen Unterschlupf bauen möchte und die Steine vor der Höhle entfernt, bleibt das Geschehen innerhalb der Höhle ein Geheimnis.735 Auch der Leser erfährt nichts von dem Schicksal der Sieben während der Jahre ihres Schlafes. Erst als einer der sieben Schläfer (puer) 731 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 7–8: imperator didicisset, eos in hoc antro morari [der Kaiser hatte erfahren, dass sie sich in dieser Höhle aufhalten]. 732 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 8: iussit os speluncae magnis lapidibus oppilari [er befahl, die Öffnung der Höhle mit großen Felsen zu versperren]. 733 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 24. 734 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 8–9: imperator […] dicens: ‚Ibi intereant qui diis nostris immolare noluerunt.‘ [der Kaiser […] sprach: ‚Sie sollen dort sterben, weil sie unseren Göttern nicht opfern wollten.‘] bzw. Jacobus de Voragine, vgl. Legenda aurea, 97, 15: ut ibi morerentur fame et inopia conclusi [„damit sie dort eingesperrt vor Hunger und Mangel umkämen“, Häuptli 2014/2, S. 1309]. 735 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 16.
3.2 Diskursdimensionen der Höhle als immanenter Jenseitsraum
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den Höhlenraum verlässt, um in die Stadt zu gehen, wird das eigentliche Wunder offenbar:736 In der Höhle hatte eine essentiell andere Zeitlichkeit geherrscht – die Sieben meinen nur eine Nacht geschlafen zu haben, außerhalb der Höhle sind aber hunderte Jahre vergangen. Sie waren nach einem jahrhundertelangen Schlaf, während dessen sie offenbar unbeeinflusst waren von den Bedürfnissen des menschlichen Lebens und anscheinend nicht gealtert sind,737 wieder aufgewacht. Die Andersräumlichkeit der Höhle, ihre inhärente kategoriale Differenz zu dem Raum außerhalb der Höhle, wird puer wie Leser erst dann offenbar, als sie aus der Perspektive der immanenten Zeitlichkeit gelesen werden kann. Das transzendente Geschehen, wie es im Raum der Höhle und an den sieben Schläfern wirksam werden konnte, kann erst nach der Grenzüberschreitung von einem immanenten Standpunkt aus verstanden werden. Der puer verlässt den transzendenten Raum lebendig, sprechend, fähig mit der immanenten Welt in Verbindung zu treten, und macht entsprechend an sich selbst und der Höhle, die erst er offenbart, das Wunder sichtbar. Die Tatsache, dass in Gregors Fassung Bischof und Richter, als sie zu der Höhle gelangen, inmitten der Steine vor der Höhle in einem verschriftlichten Märtyrerbericht einen zusätzlichen Beweis des Wunders finden (müssen),738 fungiert als ein weiterer Beschränkungsmechanismus: Die immanente Erkenntnisfähigkeit bleibt eingeschränkt und bedarf als solche des immanenten Mediums, um von ihrem eigenen Standpunkt aus die Wirksamkeit der Transzendenz im Höhlenraum und an den sieben Schläfern abgebildet sehen zu können. Sei sie in Ephesos oder auch wie bei Paulus Diaconus in Germanien,739 denn der konkrete realhistorische Ort bleibt von untergeordneter Bedeutung und austauschbar: im immanenten Raum einer Höhle kann auf diese Weise in all seinen Begrenzungen Transzendenz innerhalb einer immanenten Lebensweltlichkeit abgebildet werden. Dem immanenten Betrachter oder Besucher des Höhlenraums offenbart sich eine immanente Jenseitigkeit, wie sie etwa auch Maria Magdalena und Maria in der Grabhöhle Jesu erfahren konnten. Die Begrenzungen der Transzendenzerfahrung auf einzelne Figuren und Zugangsbeschränkungen wie nicht zuletzt die Problematisierung einer inkommensurablen Erkenntnisfähigkeit erlauben dabei, die Transzendenz weiterhin als relative ‚Transzendenz‘ zu markieren. Sie ist ein grundlegend Anderes und bedarf entsprechend eines narrativen Sonderraumes, um dar736 Vgl. dazu auch Dan 3,8. 737 Vgl. die Bezeichnung dessen, der die Höhle schließlich verlässt, als puer (Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 18). 738 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 24–S. 102, Z. 2. Dieser Passus der Erzählung taucht so auch bei Jacobus de Voragine auf, vgl. Legenda aurea, 97, 69. 739 Vgl. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, I, 4.
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stellbar zu sein. Die Höhle wird zu einem Ort der Heilswirkung, der nur über die besondere räumliche Konfiguration als transzendente Wirksamkeit gelesen werden kann. Doch dabei bleibt es nicht. Die Höhle, wie sie die Legende der sieben Schläfer bei Gregor von Tours wie spätere Fassungen zeichnen, ist nicht nur ein Raum, an dem sich Transzendentes vollzieht. Wie das später bei den Erzählungen vom Patrickspurgatorium der Fall sein wird, wird die Höhle hier in Anklängen bereits zu einem Ort des (immanenten) Jenseits. Ob die Sieben nämlich tatsächlich geschlafen haben, wie es der Titel der Legende in allen betitelten lateinischsprachigen Fassungen suggeriert, oder ob sie vielleicht sogar eine Art Tod erlebt haben, lassen die Texte offen. Sie alle, von Gregor von Tours ausgehend, spielen mit einer gewissen Doppeldeutigkeit, die erhebliche Konsequenzen für die Konfiguration der Höhle mit sich bringt. Bei Gregor heißt es, die Sieben hätten sich in einem Gebet an Gott gewendet740 und seien dann eingeschlafen, prostrati solo obdormierunt (auf dem Boden ausgestreckt schliefen sie ein).741 Ab diesem Zeitpunkt wird das Geschehen innerhalb der Höhle nicht mehr beschrieben, bis schließlich Gott sie wiedererweckt: Dominus autem inmisit septem viris spiritum vitae, et surrexerunt […]742 [Der Herr aber hauchte den sieben Männern den Lebensgeist ein, und sie erhoben sich aus dem Schlaf […]] Der puer geht in die Stadt, bringt Bischof und Richter mit in die Höhle, die beiden erkennen das Wunder. Daraufhin holen sie den Kaiser Theodosius II, er spricht mit den sieben Schläfern und sie schlafen wieder ein: Viri autem iterum prostrati in terram, obdormierunt.743 [Die Männer aber streckten sich wieder auf dem Boden aus und schliefen ein.] Obdormire, wie Gregor es hier schreibt, kann sowohl ‚schlafen‘/‚einschlafen‘ als auch ‚sterben‘ bedeuten.744 In der Vulgata des Hieronymus ist die letzte Bedeutung mehrmals bezeugt.745 Auch surgere, mit dem Gregor von Tours zuvor die Erweckung der sieben Schläfer beschrieben hatte, kann sowohl das einfache ‚aus dem Schlaf aufstehen‘ als auch im Sinne einer Wiedererweckung ‚auferstehen‘ bedeuten und zeichnet die Ambivalenz aus natürlichem Schlaf und Tod entsprechend vor.746 Nachdem die sieben Schläfer zuletzt, im Beisein des Theodosius ‚einschlafen‘, möchte der Kaiser ihnen Grabstätten aus Gold bauen lassen.747 Wenn ihn auch eine Vision daran hindert, spricht der Versuch doch zumindest dafür, dass die sieben Schläfer we740 741 742 743 744 745 746 747
Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 5–7. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 7. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 101, Z. 16–17. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 102, S. 8–9. Vgl. NGML s. v. obdormio. Vgl. Jes 43,17; Apg 7,59 [=EÜ (2016) Apg 7,60]; Ps 12,4 [=EÜ (2016) Ps 13,4]. Vgl. GML 6 (1954), S. 678, vgl. hier surgere im Sinne von suscitare. Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 102, Z. 9–11.
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nigstens aus der abermals immanenten Perspektive als Verstorbene gesehen werden. Gleichermaßen gibt es natürlich Zeugnisse, die obdormire als ‚Schlaf‘ belegen, allen voran in der Genesis.748 Zentrales literarisches Motiv der Legende der sieben Schläfer ist zweifellos die Ambivalenz von Leben und Tod, wie sie im Schlaf changierend abgebildet werden kann. Die Doppeldeutigkeit bleibt zentrales Moment des Höhlengeschehens. Einen intertextuellen Hinweis bietet hier die Genesis, in der Gott Adam vor der Erschaffung Evas in einen Schlaf (sopor) versetzt, um ihm eine Rippe entnehmen zu können: inmisit ergo Dominus Deus soporem in Adam cum que obdormisset tulit unam de costis eius et replevit carnem pro ea749 [Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.]
Auffällig ist inmisit, wie es in der Legende der sieben Schläfer des Gregor von Tours neben obdormire ebenfalls auftaucht: Die sieben Männer waren (ent-)schlafen und mit der Eingabe (inmisit) des Lebensgeistes (spiritus vitae) wiedererweckt worden. Spiritus vitae ist nur ein weiteres Mal in einem ähnlichen Kontext belegt, nämlich im pseudoepigraphischen vierten Buch Esra (um 100 n. Chr.): o Domine Dominator, tu dixisti ab initio, quando plantasti terram, et hoc solus, et imperasti pulveri, et dedit Adam corpus mortuum. sed et ipsum figmentum manuum tuarum erat, et insuflasti in eum spiritum vitae, et factus est vivens coram te. et induxisti eum in paradisum, quem plantavit dextera tua antequam terra adventaret.750 [Herr, Herrscher, du hast doch am Anfang, als du ganz allein die Erde gebildet hast, gesprochen und hast dem Staub befohlen, daß er Adam als leblosen Körper hergebe. Aber auch dieser war ein Gebilde deiner Hände. Du hast ihm den Lebensatem eingehaucht. Da wurde er lebendig vor dir. Du hast ihn in das Paradies geführt, das deine Recht gepflanzt hatte, bevor die Erde kam.]751
An beiden zitierten Stellen, sowohl in der Genesis als auch im 4. Buch Esra, geht es um Adam und seine Körperlichkeit. Beide Male ist er entweder im Paradies oder auf dem Weg in das Paradies. Das Bild vervollständigt sich bei einem erneuten Blick in den Text Gregors von Tours,. Das Wunder der sieben Schläfer wird hier im Text als Beweis für den Auferstehungsglauben herangezogen.752 Die sieben Schlä748 Vgl. exemplarisch Jos 2,8; 1. Kön 19,5–6; Lk 8,23. 749 Gen 2,21. 750 4. Esr [=PsEsr] 3,4–6. 751 Zitiert nach Schreiner 1981, S. 312. 752 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 102, Z. 2–7.
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fer – ihre Worte sind durch das an ihnen vollzogene Wunder von Jahrhundertschlaf und Wiederauferstehung von transzendenter Geltung – mahnen Kaiser Theodosius II, sich nicht durch häretischen Unglauben dem Reich Gottes zu entsagen: Surrexit, gloriosae auguste, hereses, quae populum christianum a Dei promissionibus conatur evertere, ut dicant, non fieri resurrectionem mortuorum. Ergo ut scias, quia omnes iuxta apo stolum Paulum repraesentandi erimus ante tribunal Christi, idcirco iussit nos Dominus suscitari et tibi ista loqui. Vide ergo, ne seducaris et excludaris a regno Dei.753 [Es hat sich, ruhmvoller Augustus, ein Irrglaube erhoben, der das christliche Volk von den Verheißungen Gottes abzuwenden versucht, um sie zu der Überzeugung zu bringen, dass es keine Auferstehung der Toten gibt. Deshalb, damit du also weißt, dass wir alle gemäß dem Apostel Paulus vor dem Gericht Christi vorstellig werden müssen, hat uns der Herr geboten, aufzuerstehen und dir dies zu sagen. Sieh also zu, dass du nicht verführt und vom Reich Gottes ausgeschlossen wirst.]
Die Höhle als Raum aktualisierten Heils fungiert zugleich als Allegorie auf das Reich Gottes als Ganzes. Die vorgelagerte Teilhabe am göttlichen, jenseitigen Heil, wie sie die sieben Schläfer erfahren durften, wird zum Beleg einer verheißenen Zukunft und bewahrheitet die Heilserwartung der Christen bereits jetzt über das vorgeführte Exempel. Die siebe Schläfer, gleichwohl deren Erfahrung im eigentlichen Sinne exklusiv sein mag, eröffnet die Möglichkeit weiterer Inklusion: Wer an die Auferstehung der Toten zu glauben bereit ist, wird in Analogie zu den Schläfern am Reich Gottes teilhaben und die verheißene Auferstehung der Toten am eigenen Leibe erfahren können. Im Gegensatz zu der haereses, die allenthalben anstelle des ‚wahren‘ Glauben um sich greift (surrexit) und die eigentlich surrectio verkennt, erlaubt der Glaube dem Christen die mittelbare Teilhabe an dem (noch) transzendenten Raum, an dem Jenseits der Christen. Der immanente Jenseitsraum, wie ihn die Legende der sieben Schläfer somit hier konfiguriert, erlaubt eine Überbrückung der epistemologisch problematischen Trennung von Diesseits und Jenseits. Er verräumlicht und verkörpert das Verheißene und realisiert ein diesseitiges, immanentes Zeugnis verheißener Transzendenz, das Kaiser Theodosius wie Rezipienten von der Glaubenswahrheit zu überzeugen vermag. Die Auferstehung der Toten, an die es zu glauben gilt, hat sich dabei in der Logik des Exempels an den Körpern der sieben Schläfer vollzogen und bewahrheitet, denn die sieben Schläfer fungieren natürlich, auch über das Höhlenmotiv, als eine Reaktualisierung des Auferstehungswunders. Die spätere Fassung des Jacobus de Voragine wird im Gespräch der sieben Schläfer mit dem Kaiser Theodosius deutlich: 753 Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, 94, S. 102, Z. 3–7.
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Tunc dixit sanctus Maximianus ad eum: ‚Crede nobis, quod propter te resuscitavit nos deus ante diem magne resurrectionis, ut credas indubitanter, quod resurrectio mortuorum est. Vere enim resurreximus et uiuimus, et sicut infans est in utero matris non sentiens lesionem et uiuit, sic fuimus uiuentes, iacentes et dormientes et non sentientes.‘754 [Da sagte der heilige Maximianus zu ihm: ‚Glaube uns, daß uns der Herr deinetwegen vor dem Tag der großen Auferstehung erweckt hat, damit du unerschüttlich [sic] glaubst, daß es eine Auferstehung der Toten gibt. Denn wir sind wirklich auferstanden und leben, und wie ein Kind im Mutterleib keinen Schaden spürt und lebt, so waren auch wir am Leben, lagen, schliefen, spürten nichts.‘]755
Die sieben Schläfer, so berichtet in dieser Fassung einer der sieben Schläfer, der Hl. Maximian, seien aus ihrem Schlaf aufgewacht, um Kaiser Theodosius anhand ihres Beispiels von der Wahrheit der Wiederauferstehung (resurrectio mortuorum) zu überzeugen. Sie seien auferstanden, lebten und hätten die Zeit bis dahin wie das Kind im Bauch der Mutter verbracht: lebendig, doch schlafend und ohne ihre Umwelt wahrzunehmen.756 Es gibt keinen Grund, diese verdeutlichenden Bemerkungen nicht auch für die Erschließung der Legende bei Gregor von Tours, zu Rate zu ziehen, zumal sie ohne jegliche Widerstände mit Gregor vereinbart werden können: Die Doppeldeutigkeiten, was den ‚Siebenschlaf‘ betrifft, ob er nur einen Zustand des tatsächlichen Schlafes oder einen Tod bedeutet, müssen über die Denkfigur der Auferstehung gelesen werden. Die Schlafenden leben zwar auf eine ganz bestimmte Weise, aber nur insofern als sie, wie das Kind im Leib der Mutter seine Geburt, in ihrem Höhlen-‚Grab‘ das Jüngste Gericht und in seiner Folge die magna resurrectio erwarten.757 Vielleicht kann man vor dem Hintergrund der Vorstellung einer terra repromissionis als eines Aufenthaltsortes der Heiligen und Märtyrer758 bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes auch von einer Art paradiesischen Zustandes ausgehen, besonders in Anbetracht der ausgesetzten Zeitlichkeit und nicht zuletzt der intertextuellen Verweise auf Adam. Siebenschlaf und letzter Schlaf fallen schließlich im Inneren der Höhle zusammen: Die sieben Schläfer bleiben, nachdem sie ein
754 Jacobus de Voragine, Legenda aurea, 97 [101], 76–78. 755 Häuptli 2014/2, S. 1315. 756 Die Höhle als Figurationsraum von Grab und Geburt findet sich in dieser Form, wie bereits beschrieben, auch schon bei Geburt und Grab/Auferstehung Jesu. Die entsprechende alttestamentarische Präfiguration in der Erzählung des Jona (Jon) gehört zweifellos in dieselbe Gruppe, der so auch die sieben Schläfer und letztlich das Patrickspurgatorium zuzuordnen sind. An die Stelle der Höhle tritt hier das Bild des Wales. 757 Dieser Verweischarakter auf eine transzendente Kategorie, die über die Transzendenzerfahrung der Höhle noch hinausgeht, mit der damit einhergehenden formulierten Grenze in Richtung eines transzendenten Jenseits, schafft als drittes Strukturmerkmal eine strukturelle Analogie zu Zwischenräumen beispielsweise des TPSP. 758 Vgl. S. 116–117.
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zweites Mal eingeschlafen waren, in der Höhle, donec deus eos iterum resuscitaret759 [„bis der Herr sie ein zweitesmal erwecke“].760 Die Vorstellung einer Grabhöhle, wie sie in der Bibel auch für Lazarus und Jesus formuliert worden war, dimensioniert so die Konfiguration des immanenten Jenseitsraumes, im Spannungsfeld aus Immanenz und Transzendenz, aus Körperlichkeit und Nicht-Körperlichkeit. Es ist diese Art des räumlichen Erzählens, die auch im TPSP funktional wird.
3.2.3 Die Höhle der anachoretischen Weltabkehr Ein letztes zentrales Diskursfeld, das die literarische Funktionalität der Höhle und ihre Ausgestaltung als Raum innerhalb der Koordinaten Immanenz und Transzendenz nachhaltig bestimmt, ist die Höhle als ein Raum der Wüstenväter. Im Zusammenhang mit der Weltabkehr ist sie, bei aller Variation der einzelnen Erzählungen, hauptsächlich in Relation zu der erzählten ‚Normwelt‘ der Rahmenhandlung zu verstehen: Die narrative Ausarbeitung kann von der bloßen Topik über räumliche Begrenzungsmomente bis zur Allusion eines paradiesischen Raumes reichen. Paulus im Paradies Während Athanasius’ Lebensbeschreibung des Hl. Antonius noch nicht explizit von einer Höhle spricht – auch wenn ein Grab (μνῆμα)761 und eine verlassene Festung762 in der Wüste Sonderräume markieren, innerhalb derer Antonius sich mit Dämonen konfrontiert sieht, fastet und in Abschottung lebt –, nimmt sie in der Lebensbeschreibung des Paulus eine weit zentralere Rolle ein. Paulus, so schreibt Hieronymus, lebte nach dem Tod seiner Eltern bei seiner Schwester und deren Gatten, musste allerdings aus Angst, von diesem als Christ verraten zu werden, in die Berge (ad montium deserta) fliehen:763 759 Jacobus de Voragine, Legenda aurea, 97, 81. 760 Häuptli 2014/2, S. 1315. 761 Athanasius, Vita Antonii, 8–10, zitiert nach Gemeinhardt 2018, dessen griechischer Text auf der Ausgabe Bartelink 1994 beruht. Für die neueste deutsche Übersetzung vgl. Gemeinhardt 2018. In der lateinischen Übersetzung des Evagrius – also in der Form, in der der Text in Irland zur Verfügung gestanden haben muss – wird dieser Begriff mit sepulcra übersetzt, vgl. Evagrius, Vita beati Antonii abbatis, 7, zitiert nach PL 73, Sp. 127A–167, Sp. 131C. Zur Wirkungsgeschichte der Vita Antonii – nur noch durch die Confessiones des Augustinus übertroffen, vgl. Gemeinhardt 2018, S. 82–85. 762 Vgl. Athanasius, Vita Antonii, 11–15. Nach Evagrius allerdings gibt es hier cavernae [Höhlen], vgl. Evagrius, Vita beati Antonii abbatis, 12 (PL 73, Sp. 133D). 763 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 2–5.
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Tandem reperit saxeum montem, ad cujus radices haud grandis spelunca lapide claudabatur. Quo remoto (ut est cupiditas hominum occulta cognoscere), avidius explorans, animadvertit intus grande vestibulum, quod aperto desuper coelo, patulis diffusa ramis vetus palma contexerat, fontem lucidissimum ostendens.764 [Er entdeckte schließlich einen felsigen Berg, an dessen Fuß ein Stein den Zugang zu einer nicht allzu großen Höhle versperrte. Als er den beiseite geräumt hatte (wie die Menschen sind: es treibt sie, Verborgenes zu erkunden), fand er, gierig suchend, im Inneren eine große Halle, die himmelwärts offen war. Dort gab eine alte Palme mit weit ausladenden Ästen Schutz, und es zeigte sich ein silberheller Quell.]765
Die Höhle (spelunca), die er dort als eine räumliche Realisation der Weltabkehr nicht zuletzt im topischen desertum findet, ist mit einem Stein verschlossen. Er bewegt ihn von ihrem Eingang weg, betritt sie und findet eine große Halle (vestibulum), die zum Himmel hin offen ist, eine Wasserquelle und eine Palme. Hier verbringt Paulus sein ganzes Leben in Gebet und Einsamkeit.766 Als Nahrung dienen ihm dabei einzig die Dattelpalme767 – er bekleidet sich auch mit ihren Blättern – und ein halbes Brot, das ihm ein Rabe täglich bringt.768 Als Raum Gottes769 handelt es sich so um einen homöostatischen Raum, innerhalb dessen Palme, Wasserquelle und auch der Rabe dem Einsiedler Paulus alles Notwendige bieten und so ein Leben in Abkehr von der Welt ermöglichen. Bezeichnenderweise ist das Innere der Höhle, in dem Paulus bis zum Ende seines (diesseitigen) Lebens sein sollte, auch ihm also zunächst verschlossen. Die räumliche Zugangsregulation über den Felsblock findet ihre metaphorische Entsprechung in einer epistemologischen – daran lässt die Sentenz zur cupiditas hominum als generellem menschlichen Streben nach Verborgenem (occulta) keinen Zweifel. Paulus findet hier in der Höhle Zugang zu einem Raum und zugleich zu einer Daseinsweise, die dem Menschen eigentlich verschlossen bleiben. Auf das Entfernen der räumlichen Beschränkung folgt die begierige Suche (avidius explorans), daraufhin die sinnliche Wahrnehmung dessen, was eigentlich verschlossen war (animadvertit) und schließlich der freie, vollkommen unversperrte Blick gen Himmel (aperto desuper caelo), der im absoluten Kontrast zur hermetischen Abgeschlossenheit des Höhlenraumes steht. Unterstrichen wird diese Inszenierung einer abgeschlossenen, selbsterhaltenden Enklave abseits der Zivilisation durch verschiedene weitere Me764 Hieronymus, Vita S. Pauli, 5, PL 23, Sp. 21A. 765 Fuhrmann 1983, S. 10. 766 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 6 sowie Vita S. Pauli, 1. 767 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 6. 768 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 10. Beim Besuch des Antonius verdoppelt sich die Ration, vgl. dazu Ex 16,22–23. 769 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 6.
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chanismen der Begrenzung: Neben dem Stein vor dem Höhleneingang fällt auf, dass Paulus einzig von Antonius Besuch erhält. Die Rolle des Helfers, die in der Vita Antonii noch von Vertrauten erfüllt wurde – sie brachten ihm etwa bei seinem Aufenthalt in den Gräbern Brot770 –, übernimmt hier ein Rabe.771 Selbst Antonius, als er Paulus in seiner Höhle besuchen will, steht zunächst einmal vor verschlossener Türe und muss sich, wie schon Paulus, in einem mehrschrittigen Prozess das Verborgene der Höhle erschließen: Einen dunklen Eingangsbereich der Höhle kann Antonius so zwar betreten, doch sobald Paulus ihn hört, schließt dieser sich in einen, vermutlich weiter hinten liegenden Bereich der Höhle772 ein und Antonius aus. Erst nachdem Antonius über mehrere Stunden um Einlass gebeten hatte, öffnet Paulus ihm die Tür zum Inneren der Höhle. Wie Antonius, als er die Höhle wieder verlässt, selbst sagt, handelt es sich bei diesem hinteren, verschlossenen und primär unzugänglichen Höhlenraum um einen nahezu paradiesischen Sonderraum: Vidi Eliam, vidi Joannem in deserto et vere vidi Paulum in paradiso773 [„Ich habe Elia, ich habe Johannes in der Wüste gesehen, doch Paulus ganz gewiss im Paradies.“]774 Die wunderbare Fürsorge, die Paulus hier durch Gott zuteilwird, schafft neben der Zugangsregulierung die Ausgangsbedingung für eine Einsiedlerfigur, die sich in absoluter Weltabkehr dem Gebet zu Gott widmen kann. Das Paradiesische des Lebens in der Höhle ist die relative Transzendierung des Anachoreten – der weltlichen Bedürfnisse – und die korrelierende graduelle Nähe zu Gott. Wie schon beim ersten Kontakt des Paulus mit der Höhle ist hier immer auch ein epistemologischer Transzendierungsprozess implizit, während dessen eine räumliche wie epistemologische Abgrenzung einerseits mit einer (räumlichen wie epistemologischen) Öffnung in Richtung göttlicher Transzendenz andererseits parallel gedacht wird. Aus der relativen immanenten Perspektive des Besuchers Antonius muss diese transzendente Position des Paulus, wie sie sich in seinem anachoretischen Höhlenraum präsentiert, notwendigerweise ‚paradiesisch‘ – im Sinne von nicht diesseitig – und ‚transzendent‘ erscheinen. In ähnlicher Konfiguration taucht die Höhle auch in anderen Einsiedlererzählungen auf: In der Historia Lausiaca des Palladius von Helenopolis, 770 Vgl. Athanasius, Vita Antonii, 8. 771 Dass die eigene Ernährung nicht mehr selbst gewährleistet werden muss, sondern auf diese Weise göttlich realisiert wird, ist ein Narrativ ganz besonderer göttlicher Auszeichnung, vgl. dazu Wooding 2003. 772 Hierbei muss es sich um den Teil der Höhle, der sich zum Himmel hin öffnet und in dem Palme und Quelle lokalisiert sind, handeln: Antonius läuft einem Licht entgegen, als Paulus den Eingang verschließt, vgl. auch H. von Sawtry, TPSP, 259–260. 773 Hieronymus, Vita S. Pauli, 13, Sp. 27A. 774 Fuhrmann 1983, S. 18.
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verfasst 420 n. Chr. und als Teil des Corpus der Vitae patrum verbreitet,775 wird von einem Elpidius erzählt, der außer an Samstagen und Sonntagen in einer Höhle (spelunca)776 fastet und die ganze Nacht Psalmen singt.777 Als ein Helia, der ebenfalls in einer Höhle lebt, Besuch mehrerer Brüder erhält, erscheinen wundersamer Weise drei Brotlaibe, von denen zwei ausreichend Nahrung für zwanzig Brüder bieten, der übrige Brotlaib genügt Helia weitere 25 Tage.778 Als Apollonius und seine Mitbrüder am Ostertag in ihrer Höhle nur wenige trockene Brote haben, bitten sie Gott um Hilfe und prompt bringen ihnen Unbekannte paradiesische Früchte, die ihnen ihrer Art nach unbekannt sind und zu dieser Jahreszeit nicht reif sein sollten, an die Höhlenschwelle.779 Die Höhle des Hl. Benedikt Die Lebensbeschreibung von Paulus und Antonius werden diskursprägend und bestimmen weitere monastische Lebensbeschreibungen entscheidend. So etwa auch die des Hl. Benedikt, die Gregor der Große im zweiten Buch seiner Dialogi780 entwirft: Benedikt sucht hier in einem Gestus der Weltflucht einen entlegenen Ort (deserti loci secessum)781 und findet ihn ebenfalls in einer Höhle, in arctissimo specu.782 Allerdings erfährt das Moment der Weltabkehr hier keine konsequente homöostatische Ausformung, denn anders als Paulus wird Benedikt immer wieder von Außenstehenden in bzw. bei seiner Höhle aufgesucht: An Ostern besuchen ihn zwei Priester783 und Hirten versorgen
775 Vgl. Hoffmann und Williams 1999, Sp. 449–466. Der ursprünglich griechische Text wurde schnell übersetzt, unter anderem ins Lateinische. Zu der schwierigen Überlieferungssituation vgl. die Edition von Adelheid Wellhausen (2003, S. V–VI, sowie S. 288–342) an deren kritischen Text wie Kapitelzählung (S. 483–694) ich mich halte. In eckigen Klammern wird die Zählung von Rosweyde 31628 aufgeführt. 776 Vgl. Palladius von Helenopolis, Historia Lausiaca, 48, 1 [8, 106]. 777 Vgl. Palladius von Helenopolis, Historia Lausiaca, 48 [8, 106]. 778 Vgl. Palladius von Helenopolis, Historia Lausiaca, 51 [8, 108]. In den Apophtegmata Patrum taucht die Höhle nahezu nicht auf, vgl. Dodel 1997, S. 80–81. 779 Vgl. Rufinus von Aquileia, Historia monachorum, 7, 10, ediert bei Schulz-Flügel 1990. Diese Episode der Historia monachorum ist interessanter Weise auch Teil der Sammlung des Liber revelationum Peters von Cornwall (II, 440, f 284r, vgl. Sharpe und Easting 2013, S. 475), und wurde entsprechend nachweislich im Zusammenhang mit dem TPSP gelesen. 780 Für Text und Übersetzung dieses zweiten Buches vgl. die zweisprachige Textausgabe der Salzburger Äbtekonferenz 22008. 781 Gregor der Große, Dialogi, II, 1, 3, zitiert nach Vogüé 2013 [1979]. 782 Gregor der Große, Dialogi, II, 1, 4, vgl. auch 1, 5; 1, 6; 1, 8. 783 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, II, 1, 7.
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ihn mit dem Lebensnotwendigen,784 ein Mönch namens Romanus versorgt ihn fortwährend mit Brot.785 Die Höhle wird zwar insofern topisch als Moment der Weltabkehr funktional, als sie ein relatives desertum bietet, in ihrer Radikalität allerdings erfährt sie nicht immer absolute Beschränkungen.786 Vielleicht erklärt sich auch hiermit eine grundlegende Handlungsdifferenz, die die Vita des Paulus von der des Antonius sowie des Benedikt unterscheidet und die strukturell für die Konfiguration der Patrickshöhle von großem Interesse ist: Sowohl Antonius als auch Benedikt sind nämlich in ihren respektiven Höhlen bzw. höhlenartigen Räumen dämonischen Qualen bzw. Versuchungen ausgesetzt.787 Paulus auf der anderen Seite hat diese Erfahrungen nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Umstand narratologisch in der besonderen, absoluten Konfiguration des desertum ‚Höhle‘ begründet liegt, die sich konzeptionell stark unterscheidet. Die Höhlenräume der genannten Lebensbeschreibungen des Antonius und des Benedikt sind zwar als Räume der Weltabkehr funktionalisiert und stellen topisch den nicht-zivilisatorischen Raum788 dar, sind jedoch keine eigenständigen Gegenmodelle. Erst in dem Moment, in dem die Höhle, wie das bei Paulus der Fall ist, von der Welt unabhängig existieren kann, hat das desertum das narratologische Potential eines immanenten Jenseitsraumes. Transzendentes Erleben, wie es für Paulus in seiner homöostatischen Höhle erfahrbar und etwa über die wunderbare göttliche Fürsorge durch den Raben erzählt wird (als Nähe zu bzw. Wirksamkeit von ‚Transzendenz‘), kann als solches erst in einem Raum erzählt werden, der von seiner Umwelt nicht nur topisch different ist. Erst so kann die Höhle zu einem paradiesischen Ort werden, innerhalb dessen sich in strikter Abgrenzung zur immanenten Welt eine göttliche Transzendenz vollziehen kann, an der der Einsiedler wiederum teilhaben bzw. der er sich graduell annähern kann. Bei Antonius und Benedikt indessen ist der Höhlenraum bis zum Schluss mit seiner Umgebung im Austausch. Man könnte zwar dafür argumentieren, dass Antonius in den Gräbern innerhalb des, explizit verschlossenen, Raumes von Dämonen heimgesucht wird, jedoch beschreibt die Erzählung ähnliche Situationen 784 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, II, 2, 3. 785 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, II, 1, 5–6. 786 Anders die Höhle des Marcius, die wieder mehr in ihrer Abgeschiedenheit und ‚paradiesisch‘ figuriert wird: Sobald dieser sich für eine Höhle entscheidet, entspringt eine Quelle, die genau seine Bedürfnisse stillt (vgl. Ex 17,1–6). In Form einer Schlange versucht der Teufel, ihn aus der Höhle zu vertreiben, scheitert allerdings daran (vgl. Gregor der Große, Dialogi, III, 16). 787 Vgl. beispielsweise Athanasius, Vita Antonii, 8; Gregor der Große, Dialogi, II, 1–3. 788 Selbst bei den Gräbern, in denen sich Antonius aufhält, ist das der Fall: Zwar handelt es sich hier nicht um eine natürliche ‚Höhle‘, allerdings sind auch diese gerade in ihrer topographischen Distanz zum Dorf beschrieben, vgl. Athanasius, Vita Antonii, 8.
3.2 Diskursdimensionen der Höhle als immanenter Jenseitsraum
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auch unabhängig des Grabes bzw. der Festung.789 Die Höhle bzw. das Grab mag so einen Raum markieren, der in gewisser Weise topographisch getrennt ist (Strukturmerkmal I), jedoch ist er ontologisch nicht zur restlichen Erzählung different. Das zeigt sich auch in der irischen Hagiographie: Die Lebensbeschreibungen des Paulus und Antonius waren, wie die Benedikts, in Irland bekannt,790 weshalb es nicht überrascht, dass in Irland entsprechend dimensionierte Heiligenbeschreibungen entstehen, in denen der Höhlenraum eine signifikante Rolle einnimmt. Auch bei den irischen hagiographischen Texten ist diesen Vorbildern entsprechend dabei für die Höhle primär die anachoretische Funktion bestimmend,791 wenn auch ihre strenge ontologische Abgrenzung nicht bestimmendes Moment ist. Eine Reihe realhistorischer Höhlen in Irland wurden auf diese Weise mit Aufenthalten verschiedener Heiliger in Verbindung gebracht, so dass hier, wie in den Anderwelterzählung, eine Verschränkung von realhistorischem und transzendentem Raum ebenfalls nachweisbar ist.792 Ein Beispiel wären hier etwa die hagiographischen Erzählungen zu dem Hl. Coemgenus (St. Kevin von Glendalough), die sowohl in drei mittelirischen als auch in einer späteren lateinischsprachigen Fassung überliefert sind.793 Coemgenus, so alle Texte, verbrachte einen großen Teil seines Lebens im abgeschiedenen Tal Glendalough – dem ‚Tal der zwei Seen‘ (uallis duorum stagnorum).794 Die Höhle, in der er sich beizeiten aufhält, ist keinesfalls ein hermetisch abgeschlossener Raum, wie das in der Lebensbeschreibung des Paulus von Theben der Fall gewesen war. Coemgenus verlässt die Höhle, kehrt wieder zu ihr zurück – der Einsiedler ist hier nicht etwa von seiner Umwelt abgeschottet. Genauso wenig ist transzendente (im Sinne von wunderbare) Wirksamkeit räumlich auf die Höhle und in Differenz zum Außenraum beschränkt: Die irische Lebensbeschreibung Betha Coemgin I 795 schreibt zwar, wie eine Kuh in der Höhle des Coemgenus an seinen Füßen leckt und
789 Vgl. Athanasius, Vita Antonii, 5; 12; 14. 790 Vgl. beispielsweise ihre Abbildung auf Hochkreuzen, Harbison 1992, S. 304–305. Im Liber revelationum des Peter von Cornwall sind die Lebensbeschreibungen Benedikts (Gregor der Große, Dialogi, II), die lateinische Übersetzung der Vita Antonii des Evagrius sowie die Vita S. Pauli des Hieronymus neben dem TPSP als Teil eines Codex (London, Lambeth Palace Library, Ms. 51) aufgeführt, vgl. Sharpe und Easting 2013, exemplarisch S. 418; 386. 791 Vgl. Pontfarcy 1988a, S. 8–15. 792 Vgl. eine Auflistung einer Reihe von Höhlen in Irland bei Manning 2005, S. 110–116. 793 Zur Überlieferungssituation vgl. Plummer 1968/1, S. LIV-LVI sowie Plummer 1922/1, S. XXVII–XXXII. 794 Vita sancti Coemgeni, 17, vgl. auch Vita sancti Coemgeni, 6 (ediert bei Plummer 1968/1). 795 Ediert bei Plummer 1922/1, S. 125–130, die Übersetzung entstammt dem zweiten Band, Plummer 1922/2, S. 121–126.
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daraufhin deutlich mehr Milch als die Kühe ihrer Herde gibt.796 Andererseits aber vollziehen sich mehrere ähnliche Wunder auch in ihrer Umgebung, beispielsweise als ein Otter den Psalter des Coemgenus – er war in den See gefallen – vom Boden des Sees hervorholt und die Tinte völlig unversehrt geblieben ist,797 oder ein Auferstehungswunder.798 Die Höhle ist hier also mehr topisch auf der Folie des Väterdiskurses und weniger in ihrer funktional räumlichen Strukturiertheit zu betrachten, da sie weder eine Begrenzung im Sinne einer Zugangsregulierung oder physischen Schranke erhält (Strukturmerkmal I), noch das transzendente Wirken des Heiligen innerhalb des Raumes besonders wirksam wird (Strukturmerkmal II).799 Auch eine Beschreibung des Höhlenraumes im Sinne einer jenseitsräumlichen Ausarbeitung zeigt sich nicht. Zu der anachoretischen Funktion tritt im irischen Diskurs stattdessen der Bußgedanke. Wie schon die peregrinatio sowohl im monastischen Sinne anachoretischen Impulsen folgte und zugleich als ‚Buß-peregrinatio‘ als Ausstoß von der zivilen Gemeinschaft eine Form der Strafe darstellte, sind auch Höhlen bereits früh als Bußorte belegt.800 Dieses kulturelle Verständnis dimensioniert die Höhle des späteren TPSP neben ihrer anachoretischen Funktion entscheidend.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii Vor dem Panorama dieser Erzähltraditionen und ihren spezifischen Ausarbeitungen der Höhle entsteht in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts der Tractatus de purgatorio sancti Patricii. Die Höhle übernimmt innerhalb 796 Vgl. Betha Coemgin I, 9, 15–17. 797 Vgl. Betha Coemgin I, 9, 14. 798 Vgl. Betha Coemgin I, 9, 18. 799 An dieser Strukturierung ändert im Übrigen auch die weitere Rezeption dieser Höhle, genannt St. Kevin’s Bed, nichts. In der späteren Vita des St. Laurence O’Toole hält sich Laurence immer wieder in dieser Höhle auf, die Kevin zugeschrieben wird (vgl. die Vita sanctissimi Laurencii, 10 in der Edition von Plummer 1914). Vgl. außerdem die Lebensbeschreibung des Columbanus, der sich für eine Zeit in einer Bärenhöhle aufhält: Jonas von Bobbio, Vita Columbani, I, 27, S. 126, Z. 1–21. 800 Vgl. den Old-Irish Table of Penitential Commutations aus der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, 8; 26 (ediert und ins Englische übersetzt bei Binchy 1962, zur Datierung vgl. Binchy 1962, S. 47; Hughes 1966, S. 178); Betha Brenainn Clúana Ferta, 7, 14 (nach der Edition Plummer 1922/1, S. 46, eine Übersetzung findet sich bei Plummer 1922/2, ebenfalls S. 46). Die Zitate aus den Lebensbeschreibungen von Plummer 1922 sind unter Nennung der Kapitelnummer zitiert, unter der Hinzufügung des Sinnabschnitts, wo notwendig. Zur Höhle als Bußort vgl. außerdem Vita Sancti Ruadani, 15, hier fovea (Plummer 1968/2, S. 246).
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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seines narrativen Gefüges eine neue Funktion: Die Erfahrungen des Ritters Owein im Purgatorium darstellbar zu machen stellt den Text vor ganz neue Herausforderungen. Das heißt nämlich nicht nur, einen transzendenten Annäherungsprozess räumlich abzubilden, wie das in Grundzügen in der Höhle des Paulus etwa realisiert werden konnte. Mit dem Auftreten einer immanenten Figur im eigentlich unverfügbaren Jenseits- bzw. hier Purgatoriumsbereich, mit dem Verständnis der Höhle als eines topographischen Scharniers in eine andere Topographie, kommt es zur Ausprägung eines narratologischen Raumkonzeptes, das die Grenzen immanenter Darstell- und Verfügbarkeit reflektiert: eines Zwischenraums. Im TPSP zeigen sich die Zusammenhänge dieses Konzeptes neben der eigentlichen Höhlendarstellung in Topographie und Beschränkungsmechanismen auch in den fundierten narratologischen Überlegungen des Prologes. Nicht zuletzt ist im TPSP auch die konsequente pragmatischen Nutzung der der Zwischenraumerzählung impliziten Funktionalisierungspotentiale nachweisbar.801
3.3.1 H.s Theorie körperlichen Erzählens Die Erzählung eines Jenseitsraumes, der aus der diesseitigen Welt einem immanenten Protagonisten zugänglich sein soll, bringt erhebliche konzeptionelle Probleme mit sich. Dass genau diese Spannung aber im TPSP angelegt ist, zeigt bereits der Prolog. Der Mönch H. von Sawtry beruft sich hier explizit auf zwei Autoritäten, Gregor den Großen und Augustinus802 und entwickelt scheinbar auf deren Grundlage eine Theorie des inkommensurablen Erzählens, die in letzter Konsequenz die Konfiguration des Zwischenraums bedingt. 801 Der narratologischen Argumentation ist dabei geschuldet, dass sich die folgende Analyse nur schematisch mit den pragmatischen Potentialen der Erzählung beschäftigt. Der Schluss von der Erzählung auf die Pilgerstätte soll dabei nichtsdestotrotz aufgrund des textuellen Befundes konsequent vermieden werden. 802 Die Referenz auf Augustinus kann dabei gegenüber Gregor dem Großen vernachlässigt werden, beläuft sie sich doch nur auf ein, nicht weiter in den Argumentationszusammenhang eingeordnetes, Zitat, dessen Funktion einzig die Bestätigung der Gedanken Gregors ist, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 56–60. Bei der zitierten Stelle handelt es sich wohl um Augustinus, Enchiridion de fide, spe et caritate, 29, 109, 1–4, zitiert nach Evans 1969: Tempus autem quod inter hominis mortem et ultimam resurrectionem interpositum est, animas abditis receptaculis continet, sicut una quaeque digna est uel requie uel aerumna pro eo quod sortita est in carne dum uiueret. [„Während der Zeit zwischen dem Tod des Menschen und der letzten Auferstehung verweilen die Seelen in verborgenen Aufenthaltsräumen, je nachdem die einzelne Seele Ruhe oder Schmerz verdient hat, d. h. je nach dem Los, das ihr während ihres Lebens im Fleische zugefallen ist.“ Barbel 1960, S. 181] Das Zitat taucht so auch in Augustinus, De octo Dulcitii quaestionibus, 2, 4, 57 auf, zitiert nach der Edition Mutzenbecher 1975.
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Der TPSP als inkommensurable Erzählung Schon zu Beginn stellt H. sich und seinen Text in die Tradition der Jenseitsvisionen, wie sie Gregor der Große im vierten Buch der Dialogi erzählt: Iussistis, pater uenerande, ut scriptum uobis mitterem, quod de Purgatorio in uestra me retuli audisse presentia. […] Uestram uero minime lateat paternitatem me numquam legisse quicquam uel audisse, unde in timore et amore Dei tantum proficerem. Et quoniam beatum papam Gregorium legimus multa dixisse de hiis, que erga animas fiunt terrenis exutas, et corporali narratione plurima proposuisse, ut et tristibus negligentium animos terreret et letis iustorum affectum ad deuotionem inflammaret, fiducialius quod iubetis ad profectum simplicium perficiam.803 [Ihr habt mir aufgetragen, verehrter Vater, dass ich für euch das über das Purgatorium niederschreibe, von dem gehört zu haben ich in eurer Gegenwart berichtet habe. […] Eurer Vaterliebe ist wohl keineswegs verborgen, dass ich niemals etwas gelesen oder gehört habe, durch das ich in Furcht und Liebe zu Gott solche Fortschritte gemacht habe. Weil ich gelesen habe, dass der selige Papst Gregor viel darüber gesagt hat, was mit Seelen, die ihre irdischen Hüllen ablegen, geschieht und dass er das Meiste in körperlicher Erzählung dargelegt hat, um durch Betrübliches die Gemüter der Nachlässigen und durch Glückliches die Leidenschaft der Gerechten zur Frömmigkeit zu entflammen, werde ich das, was ihr mir auftragt, umso zuversichtlicher zum Fortschritt der einfachen Leute ausarbeiten.]
Die Erzählung, die er im Auftrag des Bischofs Hugo von Wardon zu schreiben im Begriff ist – also die Erzählung von Owein im Purgatorium –, habe H. selbst zutiefst getroffen. Kein anderer Text sei in der Lage gewesen, ihn so mit Liebe zu Gott (amor dei) und Furcht (timor) (vor den Qualen des Jenseits) zu erfüllen.804 Wie Gregors Berichte von den Erfahrungen der Seelen darauf ausgelegt sind, den Rezipienten (animos) in Angst zu versetzen oder zu tieferem Glauben zu inspirieren,805 so hat die Erzählung von Oweins Purgatoriumsbesuch, wie H. sie von einem Gilbert erfahren hat, bei ihm eine ähnliche Reaktion hervorgerufen – nur umso stärker. Analog zu seinem eigenen Fortschritt in Gottesliebe und -furcht (proficere), wie er dem Bischof von Wardon im persönlichen Bericht offenbar geworden sein muss, soll H.s Niederschrift den Fortschritt weiterer Rezipienten erzeugen: profectus simplicium. Der TPSP, wie er auf diesen Prolog folgt, ist die notwendige Vollendung sowohl des Auftrages des Bischofs als auch eines mehrstufigen Vermittlungsprozesses, wie er in der Logik der Dialogi Gregors des Großen für die Überzeugung Ungläubiger und den Einblick in verborgene Jenseitigkeit notwendigerweise vollzogen werden muss: Das 803 H. von Sawtry, TPSP, 6–18. 804 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 11–13. 805 Vgl. die notwendige Funktion der Jenseitserzählung in den Dialogi: Gregor der Große, Dialogi, IV, 5, 40–43.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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Fortschreiten H.s in Gottesliebe, wie es durch seine eigene Erfahrung vom Purgatorium angestoßen wurde (proficere), findet erst im Fortschreiten seiner potentiellen Rezipienten seine Vollendung: ut […] perficiam. Der nun folgende Text, so impliziert diese Parallelisierung von TPSP und Dialogi, ist also sowohl in seiner rezeptionsästhetischen Funktionalität als auch in seiner spezifischen Erzählweise – der narratio corporalis – mit den Schilderungen Gregors gleichzusetzen. Die Kontrastierung einer narratio corporalis mit der Metapher der entkörperten Seelen (animae terrenis exutae) bleibt an dieser Stelle als erstes paradoxales Moment ohne weitere Erklärung. Der wichtigste Aspekt der gregorianischen Tradition, in die H. seinen Text auf diese Weise einschreibt, ist eine inhärente Erkenntnisdifferenz:806 Sed et ipsas animas, adhuc in corpore positas, ante exitum multa aliquando de hiis, que uentura sunt super eas, siue ex responsione conscientie interiori siue per reuelationes exterius factas prescisse fatetur. Raptas etiam et iterum ad corpora reductas uisiones quasdam et reuelationes sibi factas narrare dicit siue de tormentis impiorum seu de gaudiis iustorum / et in hiis tamen nichil nisi corporale uel corporibus simile recitasse: […]807 [Aber er [Gregor] bekennt, dass die Seelen selbst, wiewohl immer noch im Körper, vor dem Lebensende, das irgendwann kommt, vieles von dem, was einmal über sie kommen wird, vorherwissen, sei es aus einer inneren Antwort auf das Gewissen oder durch Offenbarungen, die außerhalb gemacht worden sind. Er sagt, dass sie nach ihrer Entrückung und Wiederrückführung zu ihren Körpern auch erzählen, ihnen seien gewisse Visionen und Offenbarungen eingegeben worden, oder dass sie von den Folterqualen der Unseligen oder den Glückseligkeiten der Gerechten, und dabei trotzdem nichts, das nicht körperlich oder Körpern ähnlich wäre, erzählt haben: […]]
Es gäbe Seelen, so H., welche noch im Körper ein Wissen um das Geschehen im Jenseits hätten, das eigentlich über ihren Wissensstand hinausgeht (prescire). Dieses erhalten sie entweder aus sich selbst heraus (ex responsione conscientie interiori) oder wegen einer anderweitigen Offenbarung (exterius per 806 Vgl. S. 1–5. 807 H. von Sawtry, TPSP, 21–28, vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 29–S. 552, Z. 4): Sed et ipsas animas adhuc in corpore positas ante exitum multa aliquando de his que futura sunt super eas siue ex responso conscientie interiori siue per reuelationes exterius factas prescisse cognouimus. Raptas etiam aliquando et iterum ad corpora reductas uisiones quasdam et reuelationes sibi factas narrasse siue de tormentis impiorum siue de gaudiis iustorum, et in his omnibus tamen nichil nisi uel corporale uel corporalibus simile recitasse [„Aber wir haben auch erkannt, dass die Seelen selbst, die noch im Leib eingesetzt sind, manchmal vor dem Ausgang viele Dinge von denen, die über sie hin künftig sind, sei es aus der inneren Antwort des Gewissens oder durch äußerlich geschehene Offenbarungen, vorausgewusst haben; auch dass sie manchmal, hinweggerissen und danach zu den Leibern zurückgeführt, manche ihnen geschehene Visionen und Offenbarungen erzählt haben, sei es über die Qualen der Gottlosen oder die Freuden der Gerechten, und dass sie sie doch in allen diesen Dingen nur Leibliches und leiblichen Dingen ähnliches wiedergegeben haben.“, Knauer 2010, S. 611, Z. 21–28].
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reuelationes). Die Berichte dieser Seelen, denen bereits vor ihrem leiblichen Tod Jenseitsvisionen zuteilwurden, sind das Medium, das die Erkenntnis der nicht-praescienten Seelen ermöglicht. Die Rezipienten werden, wie das H. von Sawtry von sich schreibt, in einem Konversionsmoment zu Furcht und Gottesliebe geführt. Implizit dreht sich die Jenseitserzählung in diesem gregorianischen Konzept, auf das sich H. hier beruft, um eine strikte Grenze, deren zeitliches und räumliches ‚Vor‘ und ‚Nach‘ über die Frage der Medialisierung ausgehandelt wird. Die Seelen sind „noch“ (adhuc) verkörpert, zu einem Zeitpunkt „vor dem Lebensende“ (ante exitum). Ihr „Vorwissen“ (prescire) von Künftigem (uentura) ist entsprechend ungewöhnlich und dadurch erzählenswert. Was H. mit diesem ‚Vor‘ und ‚Nach‘ bezeichnen will, erschließen die Dialogi als intertextuelle Referenz wie auch das Patrickspurgatorium als der dezidierte Gegenstand der folgenden Erzählung: Gemeint hier ist das ‚Vor‘ und ‚Nach‘ des irdischen Lebens, und verhandelt wird die Erzählbarkeit von Jenseitigem. Schon im Prolog entspinnt sich die Frage der Jenseitserzählung dabei um das Problem der Modalität der Jenseitsschau, die mit der strikten Grenzziehung einhergeht. Der exitus, der den Zeitpunkt der eigentlichen Jenseitserfahrung der Seelen darstellen würde und an dessen ‚Zuvor‘ der Sonderstatus der vorauswissenden Seelen festgemacht wird, kann sowohl ganz konkret den ‚Tod‘ als auch allgemeiner ein ‚Hinausgehen‘ bezeichnen.808 Der Erkenntnismodus der Seelen setzte ihre Entrückung aus dem Körper (rapi) als auch ihre Rückführung (reduci) in den Körper voraus. Die konzessive Bemerkung, ihre Erzählweise sei nichil nisi coporale verweist auf die Annahme einer entkörperten Jenseitserfahrung, deren Modalität sich trotzdem nicht in einer entsprechend entkörperten Erzählweise widerspiegelt. Conditio sine qua non der Jenseitsschau, auf dieser Annahme fußt das Konzept, ist die Entkörperung als Notwendigkeit der Jenseitsschau. Implizit ist die binäre Trennung eines präsentischen Diesseits von einem zukünftigen Jenseits, das noch verschlossen ist, nur von der entkörperten Seele geschaut und einzig in Referenz auf eine solche Schau (sei sie selbst erlebt oder nur vermittelt) erzählt werden kann. Die Selbststilisierung H.s, primär in der Rolle des Rezipienten, sekundär in der des Schreibers, erhält so eine besondere Nuancierung. Mit der Vorstellung von einer Gruppe von Seelen, zu denen Owein zweifellos gehört, die zu Lebzeiten Jenseitsvisionen erfahren und davon berichten, geht die Auffassung eines entsprechenden Kreises von Nicht-Eingeweihten Hand 808 Vgl. MLW, s. v. exitus: Belegt ist neben der eigentlichen Bedeutung (de motu im Sinne von egressio/exodus) sowohl der exitus animae, wie er hier Verwendung findet (MLW 3 (2007), Sp. 1608–1609), als auch das Lebensende (Sp. 1609).
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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in Hand. Der Erkenntnisvorsprung Oweins korrespondiert mit einem Erkenntnisdefizit H.s (und weiterer Rezipienten), denen erst die Offenbarungen der eingeweihten Seelen das Jenseits erschließen können. So spricht H. beispielsweise von „uns“ (nobis) in Differenz zu den „entrückten Seelen“ (animae raptae) und inszeniert zwei qualitativ in ihrem Erkenntnisstatus unterschiedene Gruppen.809 Er spricht von in hoc mundo in Differenz zu der Welt, die den Seelen offenbart worden ist.810 Keine inhaltliche Beschreibung des Jenseits wird angeführt, ohne dass sie mit distanzierenden Markern als ‚vermittelt‘ gekennzeichnet wäre: dicitur,811 creduntur,812 creditur.813 Immer wieder folgt zudem nach jeder Skizzierung des Jenseitigen – selbstverständlich vermittelt und als solches klar gekennzeichnet – die Referenz auf seine eigene (bzw. Oweins) Erzählung: Sein Text entspräche inhaltlich anderen Jenseitsberichten von Seelen, denen dieser außergewöhnliche Erkenntnismodus zuteilwurde, und wird – wie er selbst – dadurch mittelbar Teil eines über die Außergewöhnlichkeit des Gegenstandes geadelten Medialisierungsimpulses.814 Die Erkenntnisdifferenz, die auf diese Weise im Verlauf des Prologs etabliert wird, zieht eine klare Linie zwischen dem Rezipienten und seiner Erkenntnisfähigkeit gegenüber der jenseitsvisionären Erkenntnis, und ruft sie immer wieder in Erinnerung. H. ist ganz genau wie der Leser des Textes Rezipient, und als solcher erlauben ihm nur Berichte wie die Oweins, die H. weiterzuerzählen strebt, einen Blick ins Jenseits. An die Stelle eigener Erfahrung tritt die Vermittlung der Erfahrung anderer. Vor dem Hintergrund dieser medialen Problematisierung eröffnet sich das zentrale Problem des TPSP, ja der Jenseitserzählung überhaupt: Auf welche Weise erfahren diese besonderen Seelen, wenn sie vom Körper gelöst sind, denn überhaupt von den tormenta impiorum und gaudia iustorum,815 und wie können vor diesem Hintergrund jenseitserzählende Texte wie der TPSP deren Erkenntnis, deren Erfahrungen vermitteln? 809 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 37–39: Que, quia a nobis sunt abscondita, magis nobis sunt timenda quam querenda. Quis enim umquam cum securitate in incerto perrexit itinere? [Wir müssen dies, weil es vor uns verborgen ist, eher fürchten als dass wir es suchen sollten. Wer nämlich ist jemals mit Sicherheit auf einem unsicheren Weg vorangeschritten?] Diese Passage des TPSP entspricht fast wörtlich Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 549, Z. 17–19). 810 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 30–31. 811 H. von Sawtry, TPSP, 46; 47. 812 H. von Sawtry, TPSP, 47. 813 H. von Sawtry, TPSP, 53, vgl. außerdem Gregor der Große, Dialogi, IV, 2, 10–16. 814 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 34: nostre minime repugnant narrationi [sie widersprechen unseren Erzählung kaum]; 51: hu`i’c uidetur congruere narrationi [es scheint dieser Erzählung zu entsprechen]; H. von Sawtry, TPSP, 61: ista uidentur etiam affirmari narratione [dies wird durch die Erzählung scheinbar auch bekräftigt]. 815 H. von Sawtry, TPSP, 27.
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Inkommensurables Erzählen Über die Referenz auf Gregor den Großen positioniert H. den TPSP in diesem Problemfeld. In der Paraphrase und Wiedergabe ausgewählter Gedanken von Hugos von St. Viktor De sacramentis Christiane fidei 816 schafft er die theoretische Grundlage und Berechtigung seiner Erzählung: Er beruft seinen Text auf eine Theorie des inkommensurablen Erzählens. In Rückgriff auf Hugo von St. Viktor (1096–1141)817 schreibt H. von Seelen, die sich ihrer irdischen Hülle entledigt haben (animae […] terrenis exutae).818 Trotzdem würden sie an den Händen gezogen, an den Füßen gezerrt, am Hals aufgehängt, ausgepeitscht und auf andere Arten am ganzen Körper gequält.819 Entsprechend ihrer Sünden in der Welt würden sie für eine bestimmte Zeitdauer (ad tempus) gefoltert, und an physischen Plätzen (loca corporalia) physischen Qualen (corporales) ausgesetzt.820 Soweit stimmt das mit den Vorstellungen Gregors von einem körperlichen Fegefeuer überein, welches unkörperliche Seelen zu quälen vermag. Das Problem des körperlichen Feuers an unkörperlichen Wesen löst Gregor in den Dialogi wie folgt: Teneri autem per ignem spiritum dicimus, ut in tormento ignis sit uidendo atque sentiendo. Ignem namque eo ipso patitur quo videt, et qui concremari se aspicit concrematur. Sicque fit ut res corporea incorpoream exurat, dum ex igne uisibili ardor ac dolor inuisibilis trahitur, ut per ignem corporeum mens incorporea etiam incorporea flamma crucietur. Quamvis collegere dictis euangelicis possumus quia incendium anima non solum videndo, sed etiam experiendo, patiatur.821 816 Diese direkte Abhängigkeit des TPSP-Prologes von Hugo von St. Viktor wurde meines Wissens das erste Mal von Robert Easting thematisiert, vgl. Easting 1986b, S. 28–32. Paraphrasiert werden die Unterkapitel De exitu animarum (II, 16, 2) und De locis penarum (II, 16, 4). Die Parallelen sind frappierend: Nahezu der gesamte Mittelteil des Prologs des TPSP entstammt dem De sacramentis Christiane fidei (im Folgenden zitiert nach der Edition von Berndt 2008, vgl. einführend Berndt 2010, S. 17–28), die Hugo von St. Viktor in den dreißiger Jahren des zwölften Jahrhunderts (Rorem 2009, S. 59) geschrieben hat. So entsprechen H. von Sawtry, TPSP, 18–33 Hugos von St. Viktor De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 27–S. 552, Z. 8); TPSP, 34–41 entspricht II, 16, 2 (S. 549, Z. 15–24); TPSP, 41–44 entspricht II, 16, 4 (Berndt 2008, S. 556, Z. 13–15); TPSP, 45–50 entspricht II, 16, 4 (S. 555, Z. 22–S. 556 Z. 1, diese Stelle ist im TPSP zusammengefasst, bleibt jedoch in Teilen wörtliches Zitat); TPSP, 51–53 entspricht II, 16, 4, (S. 556, Z. 3–6); TPSP, 64–65 findet seine Entsprechung in II, 16, 4 (Berndt 2008, S. 557, Z. 22–23), TPSP, 67 in II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 16–21). 817 Einführend zu Hugo von St. Viktor vgl. Rorem 2009, zu De sacramentis Christiane fidei im Besonderen Rorem 2009, S. 59–68, für eine Besprechung der Einzelkapitel hier S. 69–115, vgl. außerdem Dillard 2014. Zu Hugos theologischem Werk im Allgemeinen vgl. Coolman 2010, besonders S. 1–29. 818 H. von Sawtry, TPSP, 14–15. 819 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 32–33. 820 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 42–47. 821 Gregor der Große, Dialogi, IV, 30, 8–17.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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[Wenn wir aber sagen, daß der Geist vom Feuer erfaßt werde, so meinen wir damit, daß er sehend und fühlend sich in Feuersqual befindet. Denn schon dadurch duldet er das Feuer, daß er es sieht, und er wird gebrannt, wenn er sich brennen sieht. So kommt es, daß etwas Körperliches ein geistiges Wesen brennt, in dem das sichtbare Feuer eine unsichtbare Hitze und einen unsichtbaren Schmerz erzeugt, so daß das körperliche Feuer den körperlosen Geist auch mit körperloser Flamme peinigt. Indessen können wir aus den Worten des Evangeliums schließen, daß die Seelen das Brennen nicht bloß im Sehen, sondern auch im wirklichen Erfahren leidet.]822
Der Schlüssel liegt hier darin, das Feuer zwar weiterhin als körperlich anzunehmen, von seiner physischen Präsenz allerdings eine Art transzendenten Schmerz ausgehen zu lassen (ardor ac dolor invisibilis trahitur). Allein das Sehen des Feuers (videre/aspicere) solle dabei die Brücke zwischen immanentem Feuer und transzendentem Erleben schaffen, die jedoch explizit eine erlebende Erfahrung (experiendo) und kein bloßes Schauen (videndo) bedeutet. Die Art und Weise, wie dieses Zusammenspiel und das Mehr an Erfahrung allein durch das Schauen entstehen soll, lässt Gregor offen. Für die Jenseitserzählung stellt sich für Gregor dieses Problem wohl bemerkt auch überhaupt nicht: Er erzählt von Visionen und Entrückungen, ein körperlicher Aufenthalt im Jenseits taucht bei ihm nicht auf. Was im Sinne eines ‚körperlichen‘ Erzählens bei Gregor reflektiert wird, ist indessen eine theologische Debatte, die sich gerade an der Entkörperung der Seele entspinnt: Wie kann eine Seele körperlich leiden, so lautet seine Frage, nicht, wie ein Körper Jenseitiges erfahren kann. Letzteres steht gar nicht erst zur Debatte, denn die Entkörperung ist, wie bereits gezeigt, implizite und nicht weiter verhandelbare Voraussetzung der Jenseitsschau.823 H.s TPSP verschärft die bekannten und autoritativ etwa bei Gregor ausgehandelten Komplikationen der seelischen ‚körperlichen‘ Qualen, indem er sie konsequent spiegelt: Wenn eine Seele körperlich (also an ‚Immanentem‘, auf immanente Weise) leiden kann, wieso kann dann nicht ein Körper ‚seelisch‘ (also ‚Transzendentes‘, auf transzendente Weise) schauen? Hugo von St. Viktor de fine hominis Die Theorie ‚körperlichen Erzählens‘, die H. hier entwirft, unterstellt er zwar Gregor, sie basiert jedoch auf Überlegungen Hugos von St. Viktor, die dieser im sechzehnten Teil des zweiten Buches seiner theologischen Synthese De sacramentis formuliert hat.
822 Funk 1933, S. 224. 823 Vgl. S. 8–11.
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Hugo spricht hier im Zusammenhang mit dem ‚Ende des Menschen und dem, das auf das Ende folgt‘ (de fine hominis et de consequentibus finem)824 von Zugänglichem und Unzugänglichem – im Sinne von ‚verborgen‘ als abscondita825 oder occulta.826 Er postuliert eine klare epistemologische Grenze. Wissen wie das um die genaue Trennung der Seele vom Körper, jenseitige Aufenthaltsorte und ähnliches überschreite die Erkenntnisfähigkeit des Menschen entscheidend und sei keine eigentliche Angelegenheit des Menschen. Er beharrt auf einer Trennung von Diesseits und Jenseits und damit der Inkommensurabilität des Fragegegenstandes: Vsque ad mortem meritum est. post mortem uero premium. Mors media est in qua dies domini incipit. dies hominis finem accipit. In die suo homo sibi relinquitur. ut quod uult operetur. In die uero domini iam in potestate sua non est homo sed in illius potestate ad quem uenit ut remuneretur. Propterea ad hominem pertinet ut id solum quod sibi commissum est bene disponere studeat. illud uero quod non commissum sed promissum sibi est illius arbitrio a quo illud impleri oportet relinquat.827 [Bis zum Tod gibt es Verdienst; nach dem Tod aber Belohnung. Der Tod liegt in der Mitte; in ihm beginnt der Tag des Herrn, der Tag des Menschen empfängt das Ende. An seinem Tag wird der Mensch sich überlassen, damit er, was er will, wirke. Am Tag des Herrn aber ist er bereits nicht in seiner Macht, sondern in der Macht dessen, zu dem er kommt, um entgolten zu werden. Deshalb ist es Sache des Menschen, sich zu bemühen, nur das, was ihm anvertraut worden ist, gut zu ordnen, das aber, was ihm nicht anvertraut, sondern verheißen worden ist, der Entscheidungsmacht dessen zu überlassen, von dem es erfüllt werden muss.]828
Diesseits und Jenseits im Sinne eines raumzeitlichen ‚Vor‘ und ‚Nach‘ dem menschlichen Tod trennen zwei Bereiche, commissum und promissum stehen sich kontrastierend gegenüber und separieren den menschlichen vom göttlichen Wirkbereich. Das, was nach seinem Tode kommen wird, liegt außerhalb des menschlichen Einflussbereiches und außerhalb seiner Erkenntnis-
824 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, Kapitelüberschrift des 16. Teiles. 825 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 549, Z. 17–19): Sed hec omnia magis timenda sunt quam querenda. Ideo quippe abscondita sunt ne querantur aut inueniantur. sed timeantur. Quis enim securus esse potest in incertum pergens? [„Aber alle diese Dinge sind eher zu fürchten, als dass nach ihnen zu fragen ist. Deshalb nämlich sind sie verborgen, damit man nicht nach ihnen fragt oder sie findet, sondern sie fürchtet. Wer kann nämlich sicher sein, wenn er zum Ungewissen weitergeht?“ Knauer 2010, S. 608]. 826 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 14): Sed nos in occultis nimis curiosos esse non oportet ne forte plus presumamus quam possumus. [„Aber wir dürfen in den verborgenen Dingen nicht allzu neugierig sein, damit wir uns nicht etwa mehr anmaßen, als wir können.“ Knauer 2010, S. 610]. 827 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 549, Z. 23– S. 550, Z. 2). 828 Knauer 2010, S. 609.
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möglichkeiten: Que sit uia spiritus deus nouit qui fecit eum.829 („Welches der Weg des Geistes ist, weiß Gott, der ihn geschaffen hat.“)830 Trotzdem denkt Hugo das Jenseitige grundsätzlich aus einer allgemeinen moraltheologischen Position: Hoc autem solum incertum esse non debet. quia bonam uitam mala mors sequi non potest.831 [„Dies allein aber darf nicht ungewiss sein, dass einem guten Leben nicht ein schlechter Tod folgen kann.“]832 Insofern unterscheidet sich Hugos Text zum einen erheblich von dem H.s von Sawtry, der in allen Nuancierungen weit mehr als nur funktionelle erste Einblicke in das Jenseits erzählt. Zum anderen führt dieser Aspekt an dieser Stelle zu einem zentralen Problem: Wenn nämlich der Zeitraum nach dem Tode des Menschen außerhalb seiner epistemologischen Möglichkeiten liegt und stattdessen der „Entscheidungsmacht“833 (arbitrium) Gottes zuzurechnen ist, kann der Mensch streng genommen nichts über ihn wissen. Das Wissen um das Jenseits des Menschen allerdings braucht Hugo argumentativ zumindest in groben Zügen, um seine moraltheologische Prämisse eines guten Todes als Folge eines guten Lebens aufrechterhalten zu können. Es ist nur konsequent, dass Hugo sogleich die Quelle dieses eigentlich inkommensurablen Wissens thematisiert. Es folgt die Stelle, die H. von Sawtry zitiert: Multis tamen exemplis didicimus in exitu animarum angelorum malorum siue bonorum presentiam adesse que illas pro meritis uel ad tormenta pertrahant uel ad requiem deducant. Sed et ipsas animas adhuc in corpore positas […]834 [Durch viele Beispiele jedoch haben wir gelernt, dass beim Ausgang der Seelen die Gegenwart der guten oder der bösen Engel anwesend sei, die jene gemäß den Verdiensten entweder zu Qualen oder zu Freuden hinziehen, entweder zu Strafen oder zu Ruhe hinführen. Aber wir haben auch erkannt, dass die Seelen selbst, die noch im Leib eingesetzt sind […]] 835
Noch im Leib könnten manche Seelen über eine „Antwort des Gewissens“ (responsum conscientie) oder „Offenbarungen“ (reuelationes) Zukünftiges, eigentlich Inkommensurables, bereits schauen. Manche Seelen gar würden
829 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 15). 830 Knauer 2010, S. 610. Ungeachtet dessen bestreitet Hugo von St. Viktor das Interesse des Menschen an jenseitigen Zusammenhängen nicht und macht den menschlichen Fragegestus gar zum bestimmenden Prinzip seiner Argumentation, vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 549, Z. 15–18). 831 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2, (Berndt 2008, S. 549, Z. 21–22). 832 Knauer 2010, S. 608. 833 Knauer 2010, S. 609, Z. 10. 834 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 27–30). 835 Knauer 2010, S. 611.
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entrückt (rapi) und in ihren Körper zurückgeführt.836 Hugo also denkt zwar aus philosophischen Beweggründen eine integrale diesseitige Einheit von Körper und Geist,837 um jedoch moraltheologische Potentiale weiter aufrechterhalten zu können, konzediert er notwendigerweise die Möglichkeit einer Jenseitsschau. Die ‚körperlichen‘ Erzählungen, von denen die Seelen verkörpert wie entkörpert erfahren sollen – que nisi corporali nature conuenire omnino non possunt 838 [was „überhaupt nur einer leiblichen Natur zukommen“839 kann] – verbindet Hugo mit der Frage der Vermittlung von Inkommensurablem. Es folgt zu diesem Zwecke das exemplum eines Mönches, der in einem Wald von der trügerischen Erscheinung des Hl. Jakobus zur Selbsttötung überredet wird: mit dem Versprechen einer großen (jenseitigen) Belohnung (premium magnum) und der Schilderung der Entsetzlichkeiten des diesseitigen Lebens. Um einen Wirtsmann davor zu bewahren, für den Toten verantwortlich gemacht zu werden, kehrt die Seele des Mönchs in seinen Körper zurück und offenbart den Beistehenden die Umstände seines Todes und die Entrückung seiner Seele in den Himmel, zum (wahren) Hl. Jakobus.840 Das verkörperte Schauen des transzendenten Jakobus scheitert am Trugbild und führt im irregeleiteten Versuch, den Tod ohne die notwendige Furcht selbstgesteuert in der eigenen Tötung zu suchen,841 in die Irre: Die Furcht vor dem ungewissen Tod gilt es um jeden Preis aufrechtzuerhalten, etwaigen körperlichen Trugbildern dessen, das außerhalb des Einflussbereiches des Menschen liegt, gilt es zu misstrauen. Die eigentliche Pointe des exemplum in der Argumentation Hugos jedoch liegt anderswo. Der Mönch, dessen Seele das Jenseits schauen konnte, kehrt zurück: ecce qui mortuus fuerat
836 Vgl. S. 189–190. 837 Als Antwort auf die Frage nach dem Ende des Menschen denkt Hugo ganz generell eine diesseitige Verbindung der Seele mit dem Körper – bis zu seinem Tod, vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 551, Z. 25–27: Hoc unum scimus quia recedente anima corpus moritur. et ipsa separatio anime mors corporis est. Hoc uobis sufficit scire quia recedit. Quomodo recedat ex habundanti est perscrutari. [„Dies eine wissen wir, dass, wenn die Seele entweicht, der Leib stirbt; und eben die Trennung der Seele ist der Tod des Leibes. Dies genügt für euch: zu wissen, dass sie weicht. Wie sie weicht, ist überflüssig zu erforschen.“ Knauer 2010, S. 611]). Das ist nicht unproblematisch. Wie nämlich kann Hugo zunächst den Tod des Leibes beim Ausgang der Seele postulieren und nur wenige Zeilen später die generelle Möglichkeit eines raptus wieder einräumen? Zum Problem des raptus in der (früh) scholastischen Philosophie vgl. Benz 2013, S. 209, Anm. 887. 838 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 552, Z. 8–9). 839 Knauer 2010, S. 611. 840 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 552, Z. 12– S. 553, Z. 17). 841 Vgl. an dieser Stelle auch Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 549, Z. 19–20).
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surrexit. et rem gestam cunctis astantibus et mirantibus exponens.842 [„siehe, da stand plötzlich, der tot gewesen war, auf und erklärte das Geschehene allen, die dabeistanden.“]843 Fluchtpunkt des exemplum ist eine Legitimation ‚körperlichen‘ Erzählens, das zugleich die Seele im Jenseits nicht eigentlich ‚körperlich‘ denkt. Hugo entwickelt für die Jenseitserzählung in diesem Zusammenhang die ‚Prämisse einer medialen Adäquatheit‘. Seelen, die der Jenseitsvermittlung wegen mit den Menschen in Kontakt treten – das detaillierte ‚Wie‘ bleibt bezeichnenderweise bei Hugo offen – erführen das Jenseitige bereits auf eine spezifische Art und Weise, die spezifisch den epistemologischen Fähigkeiten des Menschen angemessen ist: Ihm schließlich gelte es, dieses Jenseits zu vermitteln.844 Das Körperliche im Jenseits ist (esse) somit nicht körperlich, sondern entspricht in angemessener Weise (conuenire) den epistemologischen – ‚körperlichen‘ – Begrenzungen seines Rezipienten. Die Idee einer körperlich gedachten Seele als absurdum kann abgewiesen,845 die Inkommensurabilität des Jenseitigen in der Absurdität der exemplifizierten Selbsttötung manifestiert und zugleich die grundsätzliche (und moraltheologisch notwendige) Möglichkeit jenseitigen Wissens im Diesseitigen beibehalten werden. Um das Jenseits der Seele dabei nicht generell körperlich zu denken – weder bezüglich ihrer Leidensfähigkeit noch bezüglich ihrer Lokalisierung846 – lässt Hugo außerdem offen, ob nur die ‚berichtende‘ Seelen auf diese ‚körperliche‘ Art und Weise schauten.847 Möglich sei durchaus, dass gerade die Qualen (der Hölle) auch auf körperliche Weise vollzogen würden. Für die Seelen, die dieses Schicksal allerdings nicht teilten und auch nicht des Berichtes wegen in körperlicher Weise das Jenseits schauen, bleibt die Qualität des Jenseitserlebens unbestimmt.848 Hugos Argumentation braucht eine Prämisse medialer Adäquatheit, um mit der nötigen Legitimation etwa die Höllenstrafen beschreiben zu können.849 Er benötigt sie argumentativ für den moralischen Rückbezug 842 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 6–7). 843 Knauer 2010, S. 612. 844 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 11– 23), vgl. auch Anm. 857. 845 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt, 2008, S. 552, Z. 8–12). 846 Von der entkörperten Seele hinsichtlich ihrer Verortung zu sprechen schließt Hugo kategorial aus, vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 3. 847 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 23– 27). 848 Das Jenseits der Seelen würde sonst immer von vornherein in seinem epistemologischen Zugang, wenn nicht gar in seiner kategorialen Qualität immer auf die medialen Möglichkeiten des verkörperten Menschen hin eingeschränkt. 849 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 3.
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des Jenseits und um trotzdem die Inkommensurabilität beizubehalten. Wie zu zeigen sein wird, übernimmt H. von Sawtry in großen Teilen diese Argumentation, jedoch ergeben sich bei Hugos theologischen Überlegungen auch eine Reihe narratologischer Probleme – die der TPSP H.s von Sawtry erzählerisch zu lösen versucht. Wie etwa muss man sich die Rückkehr der Seele in den Körper vorstellen? Die Auferstehungsmetaphorik ist manifest (surrexit),850 jedoch bleibt die Frage, wie die zweite Verkörperung der wiedergekehrten Seele hier zu denken ist. Wenn nur die Seele das Jenseits schauen kann – hierin lässt Hugo keinen Zweifel, denn er führt mit dem exemplum des Mönchs das Gegenbeispiel einer gescheiterten Schau an; wenn die Seele dies auf eine körperliche Weise tut, um sie danach adäquat erzählen zu können: Schaut die Seele das Jenseits dann auch räumlich? Dies ist dem Anschein nach notwendige Voraussetzung, um etwa die loca poenarum851 erzählen zu können. Jedoch denkt Hugo den Aufenthalt der Seele dezidiert nicht insofern ‚körperlich‘, als sie etwa ‚verortet‘ gedacht werden könnte.852 Auch eine diesseitige Vorbereitung auf das Jenseits im Sinne einer ‚Reinigung‘ denkt Hugo zwar an, führt die Implikationen aber nur bedingt aus.853 Körperliches Erzählen Die narratio corporalis,854 die der Prolog H.s von Sawtry entwirft, greift auf die Überlegungen Hugos von St. Viktor zurück und legitimiert seine Erzählung mit dessen Prämisse medialer Adäquatheit. Seine spezifische Erzählung, der TPSP und seine spezifische Dynamik, wird retrospektiv in einer Erzählpraxis verortet, die allein durch die Erkenntnisdifferenz und die Inkommensurabilität eines Sprechens vom transzendenten Jenseits bestimmt ist: In pena uero purgatoria, qua post exitum purgantur electi, certum est alios aliis plus minusue pro meritis cruciari; que quidem ab hominibus non possunt diffiniri, quia ab eis minime possunt sciri.855 [Bezüglich der Fegefeuerstrafe aber, durch die Auserwählte nach ihrem Tod gereinigt werden, ist es sicher, dass die einen gemäß ihren Verdiensten mehr oder weniger gepeinigt werden als andere. Dies kann allerdings von den Menschen nicht näher bestimmt werden, weil man von diesen Dingen nur sehr wenig wissen kann.] Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 7). Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 4. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 3. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 29– 32). 854 H. von Sawtry, TPSP, 15. 855 H. von Sawtry, TPSP, 62–65, vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 4 (Berndt 2008, S. 557, Z. 22–23). 850 851 852 853
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Die Tatsache eines Purgatoriums sei, auch oder vor allem durch die Autoritäten Augustinus und Gregor, gesetzt, wie auch das Entsprechungsverhältnis seiner Folterqualen zu den ‚Verdiensten‘ auf Erden. Die Art und Weise der Qualen – que – allerdings, zu bestimmen oder gar zu wissen, läge absolut (minime) außerhalb der Möglichkeiten der Menschen. Das ist argumentatorisch ein signifikanter Sprung innerhalb eines Prologes, der von Seelen erzählt hat, die geschleift und aufgehängt wurden.856 Widerspricht das nicht grundlegend den Jenseitsbeschreibungen, die H. zuvor noch angeboten hatte? Widerspricht das nicht den präzis ausgearbeiteten Qualen, auf die Owein in seiner folgenden Erzählung trifft? Ein Lösungsversuch wäre es, die homines, die von der Art und Weise der Qualen nichts wissen können, in den Menschen zu suchen, deren Seelen keine Jenseitsschau erfahren durften. H. und die Rezipienten des Textes wären dann in dieser Gruppe anzutreffen und der problematische Satz wäre nur mehr eine weitere Betonung der Erkenntnisdifferenz, die der Prolog schon zuvor gezogen hatte. Das jedoch kann hier nicht der Fall sein. Es handelt sich um die einzige Stelle, die den allgemein integrativen Begriff der homines nennt – wohlweislich nicht animae, nicht nobis in Differenz zu animae, sondern explizit homines. Neben der Erkenntnisdifferenz zwischen denen, die das Jenseits nicht schauen können – die Gemeinschaft der Rezipienten, als deren Teil sich H. präsentiert – und denen, deren Seele das Jenseits zu schauen vermochte, wird auf diese Weise eine weitere Differenz gezogen, deren Bedeutung in ihrer Reichweite nicht genug betont werden kann: eine Differenz zwischen den Menschen, deren Erkenntnismodus immanenten Kategorien gehorcht, und dem, diese Kategorien transzendierenden, Jenseits. Legt man beide Differenzen übereinander, offenbart sich das Problem, mit dem sich schließlich jede Jenseitserzählung, die eine Erfahrung vermitteln möchte, konfrontiert sieht als das Problem inkommensurablen Erzählens. Wenn manche entkörperten Seelen nämlich das Jenseits sehen, und davon geht H. in Anschluss an Gregor zweifelsohne aus, wie soll diese transzendente Erfahrung dann einem Rezipienten vermittelt werden, der nur in immanenten Kategorien denken und verstehen kann? H. löst diese paradoxale Spannung mit den skizzierten (erzähl-)theoretischen Überlegungen Hugos von St. Viktor, die die Figurierung des immanenten Jenseitsraumes in der Purgatoriumserzählung Oweins in einzigartiger Weise bedingen:
856 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 32–33.
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3 Die Höhle Ab eis tamen, quorum anime a corporibus exeunt et iterum iubente Deo ad corpora redeunt, signa quedam corporalibus similia ad demonstrationem spiritualium nuntiantur, quia, nisi in talibus et per talia ab animabus corporibus exutis uiderentur, nullo modo ab eisdem, ad corpora reuersis, in corpore uiuentibus et corporalia tantum scientibus, intimarentur.857 [Von denen jedoch, deren Seele aus den Körpern gehen und auf Befehl Gottes ein zweites Mal zu ihren Körpern zurückkehren, werden eine Art von Zeichen (signa) berichtet. Sie ähneln dem Körperlichem und dienen der Darlegung des Geistigen, weil sie nur, wenn sie auf diese Art und Weise trotz ihrer Entkörperung von den Seelen gesehen wurden, denen vermittelt werden können, die noch in ihren Körpern leben und nur Körperliches verstehen.]
Die Erfahrung derer, die in entkörperter Weise das Jenseits schauen durften, kann wegen der Differenz zwischen den immanenten Menschen und dem ihnen zu vermittelnden transzendenten Gegenstand nur in einer ganz spezifischen Weise dargestellt werden, nämlich über das, was H. signa nennt. Der Begriff entstammt nicht der Vorlage Hugos von St. Viktor. Die Seelen, die das Jenseits deshalb schauen, um ihre Erfahrungen den Menschen mitzuteilen (intimare), müssen das entkörpert und in einer Weise tun, die denen, die immanent leben und nach immanenten Kategorien denken (in corpore uiuentes et corporalia talia scientes), vermittelbar ist. Dies wiederum, so H., ist über den Modus der Zeichenhaftigkeit (signa) möglich. Über eine Art des Sprechens, die über immanente Kategorien organisiert ist – das heißt eine Art des Sprechens, die das transzendent Erlebte zum Signifikat eines immanenten Signifikanten macht, und so immanente Bilder verwendet, um Transzendentes zu beschreiben –, kann der Mensch das Jenseits begreifen. Es handelt sich damit um eine Art des ‚körperlichen Sprechens‘: in hiis tamen nichil nisi corporale uel corporibus simile recitasse: flumina, flammas, pontes, naues, domos et nemora, prata, flores, homines nigros uel candidos, et cetera qualia hoc mundo solent uel ad gaudium amari uel ad tormentum timeri.858 857 H. von Sawtry, TPSP, 65–71. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 553, Z. 16–20): si animabus a corporibus egressis signa quedam corporalibus similia ad demonstrationem spiritualium presentatur. quia nisi in talibus et per talia ab animabus corpore exutis uiderentur. nullomodo ab eisdem ad corpora reuersis in corpore uiuentibus et corporalia tantum scientibus dicerentur [„wenn den aus den Leibern hinausgegangenen Seelen manche Zeichen, die den leiblichen ähnlich sind, zum Aufweis geistlicher Dinge vorgestellt werden, weil, wenn sie nicht in solchen und durch solche Dinge von den des Leibes entkleideten Seelen gesehen würden, keine den im Leib Lebenden und nur Leibliches Wissenden von denselben zu den Leibern zurückgekehrten gesagt werden könnten.“ Knauer 2010, S. 613]. Hier handelt es sich um den argumentativen Schluss, den Hugo aus dem exemplum des Mönches und der Modalität seiner erzählten Jenseitserfahrung zieht. 858 H. von Sawtry, TPSP, 27–31. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 2 (Berndt 2008, S. 552, Z. 3–5): et in his omnibus tamen nichil nisi uel corporale uel corporalibus simile recitasse flumina. flammas. pontes. naues. domos. nemora. prata. flores. Homines nigros. candidos. et
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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[dass sie bei diesen Dingen trotzdem ausschließlich Körperliches berichtet haben und solches, das den Körpern ähnlich ist: Flüsse, Flammen, Brücken, Schiffe, Häuser und Haine, Blumenwiesen, Blumen, schwarze und weiße Menschen und anderes, welches auf dieser Welt üblicherweise geliebt wird, weil es Freude bringt, oder was als Folterqual gefürchtet wird.]
Die jenseitsschauenden Seelen, die hier das Subjekt sind, berichten auf eine Weise, die sich der Erkenntnismöglichkeiten ihres Rezipienten äußerst bewusst ist und sie zum strukturierenden Merkmal ihres Erzählens macht. Sie passen den Modus ihrer Vermittlung dem Erkenntnismodus derer an, die ihre Jenseitsberichte rezipieren, und beschreiben den transzendenten Gegenstand auf eine immanente, wie es hier steht, ‚körperliche‘ Art und Weise. Blumen und Haine, Feuer, Flüsse und Brücken werden auf diese Weise als signa zum immanenten Schlüssel einer transzendenten Wahrheit.859 In gewisser Weise sind sie Modi des allegorischen Erzählens, aber immer nur im Sinne einer Inkommensurabilitätsüberbrückung, die letzten Endes auch das Scheitern dieses ‚allegorischen‘ Erzählens an seinem Gegenstand mitreflektieren muss. Das körperliche Erzählen, die narratio corporalis, wie H. auch die Schilderungen Gregors des Großen bezeichnet,860 erweist sich damit als einzig möglicher Modus des Erzählens von Inkommensurablem: Vnde et in hac narratione a corporali et mortali homine spiritalia dicuntur uideri quasi in specie et forma corporali.861 [Daher soll auch in dieser Erzählung von einem körperlichen und sterblichen Menschen Geistiges gleichsam seiner äußeren Gestalt nach körperlich erscheinen.]
H. bezieht Hugo von St. Viktors Theorie des Erzählens von Inkommensurablem, in kleineren Abweichungen, auf den eigenen Text862 und schafft
859
860 861 862
cetera qualia in hoc mundo uideri et haberi solent [„dass sie doch in all diesen Dingen nur Leibliches und leiblichen Dingen ähnliches wiedergegeben haben: Flüsse, Flammen, Brücken, Schiffe, Häuser, Haine, Wiesen, Blumen, schwarze Menschen, weiße, und die übrigen Dinge, wie man sie in dieser Welt zu sehen und zu haben und entweder zur Freude zu lieben oder zur Qual zu fürchten pflegt“, Knauer 2010, S. 611], vgl. dazu auch Benz 2013, S. 209. Vor diesem Hintergrund wird auch die indirekte Rede und die repetitiv auftauchende Distanzierung durch Formulierungen wie dicit, dicitur, dicuntur etc. erklärbar: So markiert H. nicht nur das Defizit seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit gegenüber der der jenseitsschauenden Seelen. Vielmehr handelt es sich hier um einen Modus des Sprechens von Jenseitigem, der als solches bereits defizitär oder zumindest vermittelt ist, und entsprechend als ‚Sprechen über‘ markiert werden muss. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 15. H. von Sawtry, TPSP, 71–73. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 33–34: que nostre minime repugnant narrationi [dies entspricht unserer Erzählung nahezu vollständig]; TPSP, 50–51: quod et hu`i’c uidetur congruere narrationi [dies
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3 Die Höhle
ihm die theoretische Berechtigung seines Modus und Gegenstandes: Die konkrete Ausgestaltung des jenseitigen Raumes allerdings, wo Hugo von St. Viktor noch relativ unbestimmt geblieben ist – certum non est [es ist nicht gewiss]863 – liefert die ganz konkrete Narrativierung des TPSP. Gerade hier liegt seine Neuartigkeit. Er setzt seine Erzählung an die Leerstelle, die die theologischen Überlegungen Hugos von St. Viktor narratologisch offengelassen hat. Die epistemologische Problemstellung, wie sie Hugo skizziert, wird nicht etwa zurückgenommen,864 sondern narratologisch konsequent zu Ende gedacht und auserzählt: Die Reise in corpore, wie sie H. von Sawtry erzählt, ist die notwendige Schlussfolgerung der Problemstellung Hugos. H. treibt die Vorstellung des „körperlichen“ Erzählens – so fasst H. wohl hier den spezifischen Erzählmodus, den Hugo von St. Viktor für die jenseitsberichtenden Seelen entwirft – auf die Spitze: Der TPSP erzählt für den jenseitsschauenden Owein dezidiert keine Trennung von Seele und Leib und keinen physischen Tod, der als solcher klar ersichtlich wäre. Eine verkörperte Seele betritt verkörpert ein ‚Jenseits‘, erfährt dieses, obzwar seiner epistemologischen Begrenztheit angemessen, am eigenen Leib, kehrt verkörpert wieder und berichtet, in einer narratio corporalis, seine körperlichen Erfahrungen. Der TPSP löst so die Frage der Vermittlung jenseitigen Wissens auf eine noch elegantere Weise, als dies bereits Hugo vorgeschlagen hatte: Indem die Jenseitsschau Oweins im eigentlichen Sinne körperlich erzählt wird, von einem Körper das Jenseits geschaut wird, bedarf es keiner paradoxen Vorstellungen einer ‚körperlich‘ schauenden Seele. Auch eine mögliche Differenz der jenseitsberichtenden Seelen von den anderen muss nicht mehr aufrechterhalten werden, denn auf diese Weise läuft die Erzählung nicht Gefahr, die Modalität der seelischen Schau über die Vermittlungsprämisse a priori qualitativ und epistemologisch zugunsten der körperlichen Rezipienten einzuschränken. Der körperliche Owein schaut, wie das auch die Rezipienten tun würden, und das macht seine Erzählung in ganz außerordentlicher Weise der Vermittlung an ihre Rezipienten adäquat. Sie ist narratio corporalis im eigentlichsten Sinne. Wie die Seelen dieses Jenseits schauen, ist keine Frage, der eine Erzählung angemessener Weise eine Antwort liefern kann – sie kann das nur vermittelt und entsprechend inadäquat leisten. Wieso also nicht gleich einen Körper das Jenseits betreten lassen? Eine Erzählung des verkörperten Owein in den diversen Jenseitsräumen ist ebenfalls entproblescheint auch mit dieser Erzählung übereinzustimmen]; TPSP, 53–54: narra/-tione ista nichilominus asseritur […] [in dieser Erzählung wird nichtsdestoweniger bestätigt […]]. 863 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christiane fidei, II, 16, 4 (entspricht Berndt 2008, S. 556, Z. 3). 864 Vgl. Benz 2013, S. 209.
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matisiert, denn die Verräumlichung der entkörperten Seelen, wie sie Hugo kategorisch ausgeschlossen hatte, ist damit nicht Gegenstand der Erzählung. Räume werden selbstverständlich als Kategorien des Jenseitsaufenthaltes denkbar und das philosophische Problem der Lokalisierung der Seele erübrigt sich. Nicht zuletzt kann natürlich auch eine körperliche Reinigung, wie sie Hugo vage eröffnet, im Zusammenhang eines körperlichen Aufenthaltes in jenseitigen Bußräumen dezidiert auserzählt werden. Das epistemologische Problem der Jenseitsschau wird über die Erzählung einer körperlichen Grenzüberschreitung in den jenseitigen Raum zum zentralen Moment. Die notwendige Explikation einer letzten epistemologischen Grenze, die bei der Schau einer Seele, die ‚körperlich‘ schaut, zu schwierigen Binnendifferenzierungen der einzelnen Seelenschauen führen musste, wird über den tatsächlich ‚körperlichen‘ Erzählmodus ausformuliert. Die epistemologische Grenze seiner Jenseitsschau ist dem Unterfangen von Oweins körperlicher Reise immer schon eingeschrieben, denn modal muss sich das Jenseits seiner Schau in letzter Konsequenz notwendigerweise entziehen. H. von Sawtry also, indem er Oweins Reise als eine Antwort auf die theologisch-erkenntnistheoretischen Fragen Hugos von Sankt Viktor erzählt, verhandelt die Kommensurabilität seines eigenen Textes zu seinem Gegenstand und legt damit die theoretische Grundlage des folgenden Hauptteiles. Er expliziert die Inkommensurabilität des Jenseits – am und über den Körper Oweins.
3.3.2 Die Topographie des Zwischenraums Der Text zeichnet bereits im Prolog die Spannung, vor der die Erzählung des Textes zu lesen und zu deuten, und vor der nicht zuletzt das zentrale Problem seiner Rezeption zu erklären ist. Das Jenseits ist und bleibt (vorerst) inkommensurabel und damit jegliche Narrativierung eine Hilfskonstruktion, die sich über verschiedene Beschränkungsmechanismen, Ambivalenzen und strukturelle Vorbedingungen als solche reflektieren muss. Strukturell möglich wird das über die narratologische Konfiguration eines Zwischenraums, wie er sich in der Höhle des TPSP gerade durch eine besondere Topographie auszeichnet: auf der einen Seite – diesseits der Höhle – in der Auseinandersetzung und Abgrenzung des immanenten Jenseitsraumes mit dem, das die Erzählung als immanentes Diesseits figuriert; auf der anderen Seite – jenseits des Höhleneingangs – über eine spezifische heteromorphe Überformung des Höhleninneren.
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3 Die Höhle
Diesseits der Höhle Die Erzählung vom Ritter Owein865 weist zwei Bereiche auf, die strukturell klar voneinander zu unterscheiden sind. Die Erzählung beginnt zunächst im immanenten Diesseits. Owein reist durch Irland zur Purgatoriumshöhle und kehrt nach seinem Purgatoriumsbesuch auch wieder in ein einfaches, lebensweltliches Irland zurück.866 In klarer Abgrenzung davon, und eingebettet darin, findet sich jenseits des Höhleneingangs der zweite Bereich der Owein-Erzählung: der relativ transzendente Höhlenraum.867 Der Ausnahmecharakter der Höhle ist in der Differenz zu dem charakterisiert, das nicht ‚Höhle‘ ist. Dieser immanente Raum diesseits des Höhleneingangs ist die Folie, vor der sich ex alio das Jenseits der Höhle manifestieren kann: Contigit autem in hiis temporibus nostris, diebus scilicet regis Stephani, militem quemdam nomine Owein, de quo presens est narratio, ad episcopum, in cuius episcopatu prefatum est Purgatorium, confessionis gratia uenire.868 [Es geschah in dieser unserer Zeit aber, also in den Tagen des König Stephan, dass ein Ritter namens Owein, von dem die vorliegende Erzählung handelt, zu dem Bischof, in dessen Episkopat das genannte Purgatorium liegt, kam, um Beichte abzulegen.]
Owein tritt seine Reise zum Purgatorium zu einem Zeitpunkt an, der sich innerhalb eines immanenten Zeitverständnisses klar festlegen lässt, zur Regierungszeit König Stephans von Blois, d. h. irgendwann zwischen 1135 und 1154. In der Normwelt also, in der Owein seine Reise beginnt, gelten immanent zeitliche Kategorien. Die erste Einordnung seiner Reise in hiis temporibus nostris, die in der Rezeption zu einigen Schwierigkeiten geführt hat,869 muss dabei zweifelsohne als Markierung eines immanenten Bezugssystems gelesen werden, das sich über ein gemeinsames Zeitverständnis organisiert und dem der Protagonist und seine Perspektive zuzuordnen sind. Owein geht, der Beichte wegen, zu dem Bischof, in dessen Episkopat sich das Patrickspurgatorium befindet. Als ihm die Schwere seiner Sünden 865 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 205–1096. 866 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 917–1096. 867 Was seine Konfiguration betrifft, soll an dieser Stelle ein Hinweis auf die Tatsache genügen, dass sich allein hier ‚Transzendentes‘ vollzieht (Strukturmerkmal II), wodurch der Raum des Immanenten von dem des Transzendenten an der Schwelle des Höhleneintritts wesentlich unterscheidbar bleibt, vgl. das Auftauchen der Dämonen (H. von Sawtry, TPSP, 309–317), das innerhalb der Kirche beim Purgatorium als solches in dieser spezifischen narratologischen Konfiguration undenkbar wäre. 868 H. von Sawtry, TPSP, 206–209. 869 Vgl. Easting 1978, S. 779.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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bewusst wird, äußert er den Wunsch, das Purgatorium zu besuchen. Der Bischof rät ihm mit dem Hinweis auf die Gefahr von dem Unterfangen ab, als Owein jedoch auf seinem Wunsch beharrt, schickt er ihn mit einem Brief zum Prior der Purgatoriumskirche.870 Auch der Versuch des Priors, Owein von seinem Vorhaben abzubringen, scheitert und er erlaubt Owein schließlich die Kirche zu betreten. Nach fünfzehntägigem Beten und Fasten geleiten ihn die Brüder und der Prior zusammen mit Klerikern aus der Nachbarschaft der Purgatoriumskirche zum Höhleneingang. Ein drittes Mal versuchen sie ihn mit Erzählungen von den Qualen des Purgatoriums abzuschrecken, er beharrt allerdings auf seinem Wunsch.871 Mit einer Anweisung des Priors, glaubensfest zu bleiben, bekreuzigt sich Owein und übertritt die Schwelle. Der Prior verschließt die Türe.872 Der Weg Oweins in das Purgatorium ist auf diese Weise stark ritualisiert873 und durchläuft verschiedene Momente der Zugangsregulierung (Strukturmerkmal I). Im Dialog mit Bischof, Prior und Gemeinschaft darf Owein sich nicht von seinem Wunsch abbringen lassen.874 Das Fasten bereitet ihn körperlich auf sein Unternehmen vor, und das Übertreten der Schwellen von Kirche und Höhle schließlich figuriert das Einschreiten in einen Raum des Transzendenten über die Inszenierung einer räumlichen Grenze. In der Erzählung selbst finden die warnenden Worte von Bischof, Prior und Brüdern im Purgatorium ihre ‚reale‘ Entsprechung.875 Als letzte Instanz vor dem Eintreten in das Purgatorium kann etwa der Prior ihm auf der Basis der Erzählungen früherer Purgatoriumsbesucher876 die Ereignisse in der Höhle, wie sie dann auch tatsächlich geschehen, voraussagen.877 Der Ablauf bis zum Höhleneingang wird auf diese Weise sowohl durch die vorgeschobenen paratextuellen Zeugnisse als auch durch die verschiedenen Dialogsituationen mit Owein immer wieder proleptisch vorstruk870 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 209–228. Diese Kirche ist ein weiteres Moment der Zugangsregulierung: Patrick, so sowohl die β- als auch α-Fassung des TPSP, habe diese bei der Purgatoriumshöhle errichten lassen und den Augustinerkanonikern unterstellt. Über und durch diese Kirche (den Prior, diverse Rituale der Reinigung) ist der Zugang zur Höhle, die wiederum im östlich angrenzenden Friedhof lokalisiert ist, ihrerseits eingemauert und verschlossen, überwacht und eingeschränkt, vgl. TPSP, 137–144. 871 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 228–239. 872 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 239–255. 873 Zur Ritualisierung des Patrickpurgatoriums, wenn auch anhand der realhistorischen Pilgerstätte in Lough Derg, vgl. die sozialanthropologische Studien Victor Turners und Edith Turners, (1978) sowie Dorothea R. French (1994). 874 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 9. 875 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 221: narrauit [er erzählte]; TPSP, 229: proposuit [er legte dar]; TPSP, 237: dissuasum est [es wurde abgeraten]. 876 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 245–246: Sic enim habetur euenisse hiis qui ante te introierunt. [So nämlich soll es denen geschehen sein, die vor ihm eingetreten sind.] 877 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 241–246.
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3 Die Höhle
turiert und in der Folge realisiert. Die ritualisierten Zugangsregulationen, als eine consuetudo seit der Zeit Patricks mit dem Patrickspurgatorium verknüpft, seien bereits vor der Erzählung Oweins und von ihr vollkommen unabhängig eingesetzt worden: Der Brief vom Bischof, der Prior, selbst die Hand, mit der Owein das Kreuzzeichen machen wird, sind in der Tradition bereits vorbestimmt.878 Diese traditionell vorstrukturierte Abfolge findet ohne Abweichung bei Owein ihre Entsprechung, so dass aller Regulation zum Trotz auch die potentielle Repetierbarkeit des Purgatoriumsbesuchs über seine Einschreibung in größere Traditionszusammenhänge suggeriert werden kann. Die Szene, während der Owein das ‚Purgatorium‘ betritt und der Prior hinter ihm die Pforte schließt, wird erst durch eine vorausgegangene Schilderung verständlich. Patrick, so der kurze Paratext, der sich mit der legendarischen Genese des Purgatoriums beschäftigt, habe die Höhle eingemauert, und den Schlüssel der Türe dem Prior der Kirche übergeben: Fossam autem predictam, que in cimiterio est extra frontem ecclesie orientalem, muro circumdedit et ianuas seraque apposuit […]. Clauem autem custodiendam commendauit priori eiusdem ecclesie.879 [Die genannte Grube aber, die sich auf einem Friedhof außerhalb der östlichen Seite der Kirche befindet, umgab er mit einer Mauer und versah sie mit Pforte und Riegel […]. Den Schlüssel vertraute er zur sorgsamen Aufbewahrung dem Prior derselben Kirche an.]
Nur im Rückgriff auf und informiert durch den vorausdeutenden Paratext wird das Eintreten Oweins in eine Türe (porta)880 verständlich und eine weitere physische Begrenzung offenbar. Die präsentische Beschreibung des Höhlenortes, wiewohl vage, suggeriert die bestehende Existenz der Höhle, deren Zusammenhang mit der ‚überlieferten‘ Patrickslegende ihre besondere Funktion zu erklären vermag. Was die zugrundeliegende Differenz aus dem Höhleninneren auf der einen und Oweins Weg zur Höhle auf der anderen Seite betrifft, fällt ein weiteres Mal auf, wie vage die konkrete Lokalisierung der Höhle trotz der verschiedenen Zeugnisse im TPSP doch bleibt. Die Immanenz des Weges zum Purgatorium wird nicht durch eine konkrete narrative Verortung im irdischen Irland realisiert. Diese resultiert zwar aus der paratextuellen Patricks-Episode,881 wird aber in der Owein-Erzählung nicht wiederholt. Auch 878 879 880 881
Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 172–204 H. von Sawtry, TPSP, 139–144. H. von Sawtry, TPSP, 253–254. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 79: Qui dum in Hybernia uerbum Dei predicaret […] [Als er in Irland das Wort Gottes verkündigte […]].
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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erfolgt kein konkreterer Hinweis auf etwa einen See. Die Immanenz des normweltlichen Raumes, aus dem Owein das Patrickspurgatorium betritt, wird nicht über eine spezifische Ortskategorie erzeugt. Stattdessen erfolgt sie, weshalb die Vorstrukturierung der Owein-Erzählung über die paratextuellen Zeugnisse von so großer Bedeutung ist, über die Immanenz der textuellen Verweisungsstruktur. Das wiederkehrende Motiv des TPSP, nämlich die Darstellung von ‚Text‘ als Modus, in dem Transzendentes erfahren werden kann,882 verankert den Jenseitsbericht Oweins in seiner Transzendenzerfahrung nicht primär an einem immanent lokalisierbaren Ort, sondern in einer immanenten Erzähltradition, die sich in Differenz zu Transzendentem versteht. Die Differenz, die der Prolog gezogen hatte – zwischen der Seelen, die das Jenseits schauen, und denen, die davon nur aus zweiter Hand hören – wird konsequent beibehalten; so auch beim Prior, der Owein nur aus zweiter Hand in die Erfahrung, die ihm bevorsteht, einweisen kann.883 Die regulatorischen Figuren, denen Owein auf seiner Reise in die Höhle begegnet, haben zwar mittelbar ein außergewöhnliches Wissen um das Jenseits des Höhleneingangs, sie waren aber ausnahmslos nicht selbst in der Höhle. Die Immanenz des Außerhöhlenraumes wird nicht über die Kategorie des irdischen Raumes, sondern sekundär über die Perspektive einer defizitären Erkenntnisfähigkeit strukturiert. Es entwickelt sich eine immanente Verweisstruktur, die textuell organisiert ist, da sie nach dem Muster der ‚körperlichen Erzählung‘ funktioniert und somit dem Innenraum der Höhle, in der die Narrativierung kategorial alteritär verläuft, diametral entgegensteht. Die Verhandlung der Purgatoriumshöhle in den als paratextuell präsentierten Zeugnissen884 vor und nach der Kernerzählung Oweins weisen dem 882 Vgl. auch die Anweisung Patricks an die Bewohner der Kirche neben dem Purgatorium, die Berichte der Jenseitsreisenden zu verschriftlichen, H. von Sawtry, TPSP, 146–150: […] regredientes et tormenta se maxima perpessos et gaudia se uidisse testati sunt. Quorum relationes iussit beatus Patricius in eadem ecclesia notari. Eorum ergo attestacione ceperunt alii beati Patricii predicationem suscipere. [[…] auf dem Rückweg bezeugten sie, sowohl die schrecklichsten Qualen als auch die schönsten Freuden geschaut zu haben. Deren Berichte befahl der selige Patrick in derselben Kirche niederzuschreiben. Nach ihrer Bezeugung also begannen die anderen, für die Verkündigung des seligen Patrick empfänglich zu sein.] 883 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 245–246: Das Vorauswissen des Priors um den Ablauf der Purgatoriumserfahrung ist hier eben nicht in eigener Erfahrung begründet. 884 Diese zusätzlichen Zeugnisse sind der zentralen Owein-Erzählung, die sich in ihrem Schwerpunkt auf das Jenseitige von den übrigen Zeugnissen signifikant unterscheidet, vor- bzw. nachgeordnet. Die Zeugnisse vor der Owein-Erzählung dienen primär dazu, die Genese und Funktionalität des Patrickspurgatorium auszuloten, die Zeugnisse danach beschäftigen sich mit Detailfragen der Owein-Erzählung in ihrer Konsequenz für die Welt außerhalb der Höhle. (Körperliche Zeichen der Jenseitsbesuchenden, etc.) Alle Zeugnisse sind Authentifizierungsbemühungen bezüglich der Kernerzählung. Dazu kommen außerdem in der
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3 Die Höhle
Patrickspurgatorium als von erster, zweiter oder noch weiter distanzierter Hand Erzähltem in der Immanenz des TPSP einen festen Platz zu. Sie erzählen von Menschen, die das Purgatorium besucht haben, von der Furchtlosigkeit eines alten Iren885 angesichts der Folterqualen des Purgatoriums, von der legendarischen Gründung der Purgatoriumshöhle und ihrer Funktionalisierung zur Bekehrung der Iren.886 Das Zugangsritual wird beschrieben,887 und nach der Kernerzählung zu Owein werden einige weitere Zeugenberichte zum Purgatorium,888 dem Problem der Körperlichkeit seiner Besucher889 und weitere Aspekte aufgeführt. Diese Testimonien von Gilbert und verschiedenen Äbten beschäftigen sich dabei ausschließlich aus der Außenperspektive mit dem Purgatorium. Es erfolgt keine Schilderung der transzendenten Erfahrung innerhalb der Höhle, und der Verfasser H. beansprucht auch nicht für sich, mit einem der Purgatoriumsbesucher selbst gesprochen zu haben. Neben der Rahmenerzählung des eigentlichen TPSP verknüpfen auf diese Weise eine Reihe von sekundär vermittelnden Quellen die beschriebenen Erfahrungen mit dem Höhlenraum, ohne den immanenten Jenseitserfahrungen in der Patricks höhle jedoch ihren Ausnahmecharakter zu nehmen. Die wesentliche Differenz der Erfahrungswelt Oweins zu der der Personengruppen und Zeugen außerhalb der Höhle, in Rahmenerzählung wie Paratexten, bleibt auf diese Weise erhalten. Allen Zeugen ist ein nur partieller Blick gemein: eingeschränkt, wie das die im Prolog beschriebene Erkenntnisdifferenz postuliert hatte. Zusammen mit der strukturellen sowie physischen Begrenzung des immanenten Jenseitsraumes innerhalb der Kernerzählung bewirkt dies eine Markierung der immanenten Jenseitserfahrung in ihrer Exzeptionalität, wie sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen ausgewählten Personen zuteilwerden konnte. Diese weitere Regulation des Jenseitsraumes in seiner Erfahrbarkeit ist ebenfalls auf die Inkommensurabilität des in der Höhle zu erfahrenden Gegenstands zurückzuführen. Die Erfahrung nämlich ist qualitativ different: Räumlich, durch die Höhle, so dass eine Ver-
885 886 887 888 889
Fassung β zwei Homilien, vgl. dazu vgl. Warnke 1938, S. XXVI–XXIX. Diese inhaltliche Gliederung spiegelt sich in der Edition Easting 1991b allerdings nicht wider, da hier auf eine interpretierende Kapitelgliederung und moderne Überschriften, die diese Zeugnisse als solche abheben würden, verzichtet wird. Stattdessen werden Kurzüberschriften (De Purgatorio …, Item de Purgatorio …, etc.) aus der Leithandschrift L (London, Lambeth Palace Library, Ms. 51) übernommen. Eine zusätzliche Hervorhebung in der Handschrift erfahren nur die letzten drei Erzählungen. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 82–107. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 109–152. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 172–204. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1129–1134. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1097–1106; 1107–1128.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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mischung der Jenseits- mit der Diesseitstopographie verhindert wird – mit der entsprechenden Konsequenz für die Darstellbarkeit der Transzendenz als ‚Transzendenz‘; strukturell, durch die Zugangsregulierung, die sich in der besonderen Bedeutung erzählter wie geschriebener Zeugnisse fortsetzt, die den Blick aus der Immanenz auf die physisch – in der Terminologie des Prologs corporaliter – verborgenen Wirksamkeiten der Transzendenz erst geben können und so den Ausnahmecharakter der Transzendenzerfahrung noch weiter verfestigen. Die Topographie jenseits des Höhleneingangs Die Höhle ist der Knotenpunkt, an dem die (immanente) Jenseitstopographie auf der einen und die immanente Topographie – und Perspektive – auf der anderen Seite zusammentreffen und sich in spezifischer Weise überlagern. Diese Überlagerung führt dazu, dass auch der Höhlenraum von zwei Seiten betrachtet und analysiert werden muss. Der Begriff der Höhle beispielsweise – fossa 890 bzw. concavitas 891 – ist nur von außerhalb des Höhlenraumes, aus immanenter Perspektive relevant. Nur von außen zeigt sich die Höhle völlig dunkel (intrinsecus obscura),892 im Inneren der Höhle offenbart sich hingegen eine grundlegend andere topographische Situation. Anfangs durchläuft Owein einen schleusenartigen ersten Durchgangsbereich, fovea, der in seiner topographischen Ausformung noch am ehesten dem entspricht, was im Inneren einer Höhle zu erwarten wäre – es wird immer dunkler, bis Owein nichts mehr sieht.893 Schließlich leuchtet ihm vom Ende der Höhle ein Licht entgegen:
890 H. von Sawtry, TPSP, 128; 139–140. Der Begriff der fossa überrascht hier ohnehin: Zwar war in den lateinischsprachigen Erzählungen vor dem TPSP, in denen ein Höhlenraum eine zentrale Rolle eingenommen hatte, der Begriff selbst recht flexibel: spelunca, antrum, cavea, etc. Allerdings fiel nur selten der Begriff fossa. Die Texte, die diesen Begriff verwenden, setzen Grab und Höhlenraum synonym (vgl. entsprechend NSB, 26, 29; Vita S. Elgari, 10). Entsprechend findet sich fossa bzw. fodere auch in der Vulgata (vgl. Tob 8,13 oder Gen 50,5). Was alle Belegstellen der Vulgata außerdem, ganz in Übereinstimmung mit dem Wortfeld von fodere/ fossa gemein haben, ist der Aspekt der Produziertheit, Artifizialität im Gegensatz zu einer natürlichen Höhlung (vgl. im Zusammenhang von Brunnen Gen 21,30; 26,18; 26,22). Die Bedeutung der fossa als (künstlich ausgehöhltes) ‚Grab‘ (vgl. MLW, s. v. fossa) verstärkt so den Heteromorphie-Effekt der sich öffnenden Höhle und fügt sich in den Tod/Wiedergeburtsgedanken, wie er im TPSP und bei den sieben Schläfern wirksam wird, vgl. S. 172–180. 891 H. von Sawtry, TPSP, 240. 892 H. von Sawtry, TPSP, 128. 893 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 254–259.
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3 Die Höhle Tandem ex aduerso lux paruula cepit eunti per foueam tenuiter lucere. Nec mora ad campum predictum peruenit et aulam. Lux autem ibi non apparuit nisi qualis hic in hyeme solet apparere post solis occasum. Aula uero non habebat parietem integrum, sed columpnis et archiolis erat undique constructa in modum claustri monachorum.894 [Schließlich begann ihm auf seinem Weg durch die Höhle ein sehr kleines Licht schwach entgegen zu leuchten. Unverzüglich gelang er auf das genannte Feld und zu einer Halle. Dort aber schien kein Licht außer dem, welches hier üblicherweise im Winter nach Sonnenuntergang scheint. Die Halle hatte keine durchgehende Wand, sondern war von allen Seiten aus Säulen und Bögen gebaut, nach Art eines Mönchsklosters.]
Der geschlossene Höhlenraum bricht auf, wird heteromorph, und Owein gelangt auf ein offenes Feld (campus), auf dem eine Halle (aula) steht.895 Während er vorher in völliger Dunkelheit durch die Höhle gelaufen war, findet er jetzt ein eigentümliches Licht – qualis hic in hyeme solet apparere post solis occasum [welches hier üblicherweise im Winter nach Sonnenuntergang scheint]. Aus dem, was zu Anfang einzig eine dunkle Höhle gewesen war, ist ein offener (und transzendenter) Raum geworden, wie die besondere Qualität des Lichts schon andeutet und spätestens die Ankunft der fünfzehn nuntii Dei 896 bestätigt.897 Sie setzen sich zu ihm in die Halle, einer von ihnen weist ihn, ein weiteres Mal, in den Ablauf der Prozedur ein, warnt ihn vor den Täuschungen der Dämonen, erklärt ihm, wie er mithilfe der Anrufung des Herrn Jesus Christus den Foltern entkommen kann und verlassen ihn.898 Der Raum der Halle wiederum, in dem Owein zuvor noch ruhig gewandelt und deren wunderbare Schönheit er gerade bewundert hatte, füllt sich unter großem Getöse mit Dämonen und wird so zum Raum der ersten Folter. Owein spürt die Qual bereits, doch unter Anrufung Jesu Christi wird
894 H. von Sawtry, TPSP, 259–264. 895 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 1. 896 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 242. Die entsprechende Benennung der Mönche erfolgte bereits in den Worten des Abtes, bevor Owein den Höhlenraum betreten hatte: Wie schon bei den verschiedenen Stufen von Oweins Reise ist auch dieser Aspekt des Jenseitsraumes verheißen. 897 Die Heteromorphie des Höhlenraumes jenseits ihres Eingangs wird so für die (eben gebrochene) Darstellung eines immanenten Jenseitsraums funktionalisiert. In ähnlicher Weise findet sich dieses Phänomen allerdings auch für die Darstellung der Anderwelt, so beispielsweise bei Walter Map, De nugis curialium, I, 11 (Edition James 1983). König Herla geht hier in die Höhle eines Zwerges: Cauernam igitur altissime rupis ingrediuntur, et post aliquantas tenebras in lumine, quod non uidebatur solis aut lune sed lampadarum multarum, ad domos pigmei transeunt, mansionem quidem honestam per omnia qualem Naso regiam describit Solis. [Sie betreten eine abgründig tiefe Höhle und nach einer ziemlich langen Dunkelheit gelangen sie im Schein eines Lichtes, welches nicht von der Sonne zu stammen schien, noch vom Mond, sondern einer Vielzahl von Lampen, zu dem Haus des Zwerges, einer edlen Wohnung nämlich hinsichtlich aller Dinge, wie sie Ovid für den königlichen Palast des Sonnengottes beschreibt.] 898 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 269–275.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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ihm der Scheiterhaufen erspart.899 Die Dämonen verlassen die Halle und zerren Owein mit sich. Sie gehen in Richtung Norden und wenden sich nach rechts, um durch ein Tal in den Süden zu gelangen. Wie das schon bei dem Durchschreiten des Anfangsbereiches der Höhle der Fall war,900 bleibt auch hier die eigentliche Dauer dieses Weges ausgesprochen vage – diutius901 – und auch die scheinbar konkreten Richtungsangaben verlaufen wegen des unklaren Ausgangspunktes und der, wie es scheint zirkulären, Bewegung ins Nichts. Einzig klar scheint zu sein, dass es sich hier um ein internes Bezugssystem handelt, während dessen sich die Richtungsangaben explizit auf den epistemologisch transzendenten Ausgangspunkt der Halle irgendwo innerhalb der ‚Höhle‘ beziehen. Der Weg ist im Sinne eines immanenten topographischen Bezugssystems und in Referenz zur Normwelt nicht nachverfolgbar. Außerdem verläuft das Bewegungsmuster der Dämonen allein auf einer vertikalen Ebene, was im weiteren Verlauf der Topographie von Bedeutung werden wird. Die Dämonen und Owein jedenfalls treffen am Ziel ihres Weges auf mehrere Felder, in denen Owein jeweils mit Folterqualen aller Art konfrontiert wird: Felder etwa, auf denen nackte Menschen auf dem Boden festgenagelt und ausgepeitscht werden,902 auf einem scheinen Drachen Menschen zu zerreißen und zu fressen,903 ein Flammenrad,904 Gebäude, in denen Menschen in flüssigem Metall baden.905 Diese Felder sind topographisch nicht zueinander in Beziehung gesetzt, bis schließlich bei der achten Folter ein Wirbelwind die Dämonen, Owein und eine Menschenmenge Richtung Süden zu einem Schlund (puteus) trägt, der Flammen und Schwefel speit.906 Et quo profundius descendit, eo latiorem puteum inuenit, sed et grauiorem penam pertulit. Adeo namque fuit intolerabi/-lis ut pene sui saluatoris sit oblitus nominis. Deo tamen inspirante red iens ad se, ut potuit, nomen Domini Ihesu Christi clamauit. Statimque uis flamme cum reliquis sursum eum in aerem proiecit. Descendensque iuxta puteum solus aliquandiu stetit.907 [Und je tiefer er hinabstieg, desto breiter der Schlund, welchen er vorfand, aber desto härter auch die Strafe, welche er erlitt. Sie war in der Tat so unerträglich, 899 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 339–348. Es ist immer die Anrufung Christi, die Owein von den Qualen erlöst bzw. sie ihm gleich erspart, vgl. exemplarisch TPSP, 387–388; 410–411; 425–426 etc. Ganz ähnlich entgeht Patrick in der Vita S. Patricii des Jocelin von Furness den Dämonen, vgl. Vita S. Patricii, 24; 150. 900 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 257. 901 H. von Sawtry, TPSP, 358. 902 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 369–388. 903 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 354–368. Spätestens die Worte der Erzbischöfe im irdischen Paradies beweisen diese Annahme endgültig, vgl. TPSP, 863–864. 904 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 448–463. 905 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 464–487. 906 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 507–535. 907 H. von Sawtry, TPSP, 522–528.
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3 Die Höhle dass er beinahe den Namen seines Erlösers vergaß. Als er mit der Hilfe Gottes dennoch wieder zu sich zurückkehrte, schrie er, sobald er vermochte, den Namen seines Herrn Jesus Christus. Sofort katapultierte die Kraft des Feuers ihn wieder zusammen mit den übrigen in die Luft. Er kam herunter und stand er eine Zeit lang allein neben der Grube.]
Owein wird mit dem Feuer in die Tiefe gezogen (profundius descendit). Neben der ersten Qual auf dem Scheiterhaufen verspürt er nur hier, nämlich auf dem Weg tiefer und tiefer in den Feuerschlund, tatsächlich die angedrohten Schmerzen, so dass er nahezu vergisst, sich auf den Namen Jesu Christi zu berufen.908 Als er das im letzten Moment doch tut, wird er aus dem Schlund wieder in die Höhe katapultiert, kann den Qualen entrinnen und findet sich alleine neben dem Schlund wieder. Hierbei handelt es sich zweifellos um den Eingang in die Hölle, wie es die neue vertikale Ausrichtung nach unten909 und auch die Steigerung der Qualen mit zunehmender Tiefe des Schlundes, und damit Nähe zur eigentlichen Hölle, bestätigt. Die Aussagen der Dämonen, es handele sich um den Eingang der Hölle, und ihre darauffolgende Verneinung, das sei sie doch nicht gewesen, entkräften die Dämonen selbst mit dem Lügner-Paradox: Consuetudinis nostre semper est mentiri [Es entspricht unserer Gewohnheit, zu lügen].910 Vom Hölleneingang gelangen die Dämonen und Owein zu einem übelriechenden Fluss. Eine Brücke führt darüber, rutschig, schmal und so steil,911 dass ihr Anblick grauenerregend ist. Owein jedoch betritt sie, im Vertrauen auf Gott: Et quo altius ascendit, eo spaciosiorem pontem inuenit. Et ecce post paululum tantum creuit pontis latitudo ut etiam duo carra exciperet sibi obuiantia. Porro demones, qui militem illuc [usque] perduxerant, ulterius progredi non ualentes, ad pedem pontis steterunt, quasi lapsum militis prestolantes.912 [Und je höher er aufstieg, desto geräumiger war die Brücke, welche er vorfand. Und siehe da, nach nur kurzer Zeit verbreiterte sich die Brücke, so dass sie auch zwei Wägen aufnehmen konnte, welche sie betraten. In der Ferne standen die Dämonen, die den Soldaten dorthin [bis jetzt] geführt hatten, standen, weil sie nicht weiter voranzuschreiten vermochten, am Fuß der Brücke, als würden sie auf den Fall des Soldaten warten.] Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 522–525. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 51–52. H. von Sawtry, TPSP, 532–533. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 553: […] alte protendebatur in aere. [[…] erstreckte sich hoch in die Luft.] Alte macht die vertikale Differenz zwischen dem Bereich des Purgatoriums und dem des irdischen Paradieses manifest. 912 H. von Sawtry, TPSP, 561–567.
908 909 910 911
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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Die Brücke wird immer breiter, und die Gefahr von ihr herab in den Fluss zu stürzen entsprechend geringer. Die Brücke, während die Dämonen sie gar nicht erst betreten können, führt Owein immer höher, bis er schließlich zu einer hohen Mauer gelangt: Procedens igitur miles, iam liber ab omni demonum uexatione, uidit ante se murum quendam magnum et altum in aere a terra erectum. Erat autem murus ille mirabilis et inconparandi decoris structure.913 [Auf seinem Weg also schaute der Soldat, bereits frei von aller Qual der Dämonen, vor sich eine große Mauer, welche sich von der Erde hoch in die Luft erhob. Jene Mauer aber war wunderbar und sein Mauerwerk von unvergleichlicher Zierde.]
Es zeigt sich eine hohe Mauer von wundervollem Anblick und unvergleichbarer Zierde, wie sich herausstellt, die physische Grenze zum irdischen Paradies.914 Der Übergang zwischen purgatorialem und paradiesischem Bereich wird so im Text durch die vertikale Anordnung beider Räume angezeigt, untereinander verbunden sind sie nur durch die eine Brücke. Der ontologische Unterschied wird außerdem durch die von den Dämonen letztlich nicht zu überschreitende Brücke markiert. Die entlastende Verbreiterung der Brücke figuriert die zunehmende topographische Nähe zu dem paradiesischen Raum, die in den ansteigenden Qualen auf dem Weg in die Tiefe des Höllenschlundes ihre strukturelle Entsprechung findet. Der Raum jenseits der Brücke, in den Owein von einer Prozession durch ein reich verziertes Tor geleitet wird, ist ausgezeichnet von einem ganz besonderen Duft, einer besonderen Helligkeit und den Harmonien verschiedener Chöre.915 Owein verspürt hier weder Hitze noch Kälte – prägende Momente in den Qualen des Fegefeuers, denen er noch kurz zuvor ausgesetzt gewesen war.916 Bischöfe, die ihn ansprechen, deuten Owein diesen Raum schließlich als das irdische Paradies, aus dem Adam vertrieben worden war917 und zu dem die Menschen, die nicht in die Hölle verstoßen werden, nach ihrer Reinigung im Fegefeuer Einlass finden. Ein interessanter neuer Aspekt 913 H. von Sawtry, TPSP, 752–755. 914 In Analogie der Prozession zum Purgatorium (vgl. H. von Sawtry, TPSP, 234–235) markiert auch hier wieder eine Prozession den Übergang in den ontologisch differenten Raum (vgl. TPSP, 766–779). 915 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 751–825. 916 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 825–827. 917 Der TPSP gibt hier wieder, was Gregor der Große (Gregor der Große, Dialogi, IV, 1) ebenfalls als den Anfangspunkt der Erkenntnisdifferenz gesetzt hatte. Während Gregors Impetus allerdings der war, die Notwendigkeit von Jenseitsberichten im Allgemeinen durch das Erkenntnisdefizit der Menschen angesichts ihres entfremdeten Zustandes zu begründen, ist an dieser Stelle des TPSP der Fokus leicht verschoben, um die viergeteilte Jenseitstopographie zu begründen.
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3 Die Höhle
ist dabei die Tatsache, dass sich das irdische Paradies innerhalb der von den Bischöfen mit der Legitimationskraft des irdischen Paradieses erklärten Jenseitstopographie als ebenfalls begrenzt erweist: Diese Begrenzung ist nicht übergreifend endzeitlich organisiert, wie das etwa bei der terra repromissionis in der NSB oder der Höhle der sieben Schläfer der Fall ist, wo die Heiligen auf die zweite Niederkunft Christi warten.918 Stattdessen steigen von hier unvermittelt immer wieder Bewohner des irdischen Paradieses letztgültig in das himmlische Paradies auf.919 Beim irdischen Paradies jenseits der Purgatoriumshöhle handelt es sich also um einen immanenten Jenseitsraum, dessen jenseitstopographische Funktionalität individuell figuriert ist. Dieses himmlische Paradies, dessen Pforte Owein nur von einem Berg aus im Himmel schauen kann, und dessen himmlische Speise die Bewohner des irdischen Paradieses (damit bei seinem Besuch auch Owein) einmal täglich über eine Flamme vom Himmel empfangen, bleibt Owein verschlossen. Obwohl er im irdischen Paradies bleiben möchte, muss er auch dieses letzten Endes, auf demselben topographischen Weg, auf dem er gekommen war, wieder verlassen. Er kehrt in hoc seculum,920 d. h. in die immanente Welt, mit ihrer eigenen Topographie und ihren eigenen Kategorien, zurück: et clausa est ianua [und das Tor ist verschlossen].921 Mit Betreten des transzendenten Höhlenraumes eröffnet sich eine vollkommen andersartige Topographie: Mit zunehmender Reise in Richtung der absoluten Transzendenz, des himmlischen Paradieses, entzieht sich der innere Aufbau des ‚Höhlenraumes‘ Kategorien irdischer Topographie. Was zunächst ein Schacht ist, öffnet sich zur Halle, führt zu Feldern, einem Haus, der Hölle, dem irdischen Paradies, dem Tor zum himmlischen Paradies. Die Jenseitstopographie, die auf diese Weise am Höhleneingang einsetzt, eben auf der anderen Seite des Priors und seiner Mönche, setzt so zwar, ganz im Sinne eines körperlichen Erzählens, an der Höhle an. Im Verlauf von Oweins Reise jedoch wird mit gerade am zunehmenden Bruch mit dem topographischen Innenraum einer eigentlichen ‚Höhle‘ die graduelle Näherung an die absolute Transzendenz offenbar.
918 Vgl. die terra repromissionis in der NSB (S. 110–119) oder auch die Vorstellung einer letzten Auferstehung bei den sieben Schläfern (S. 172–180). 919 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 882–884. 920 H. von Sawtry, TPSP, 911. 921 H. von Sawtry, TPSP, 915–916.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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3.3.3 Grenzen der Darstellbarkeit Noch deutlicher wird dieser Effekt in seiner ambivalenten Struktur aus immanenter Darstellungsweise und transzendentem Inhalt an der konkreten narratologischen Ausarbeitung des Zwischenraums. Als interpretatorische Maxime muss dabei gelten, dass die Narrativierung eine explizit ‚körperliche‘922 ist, und als solche die Abbildung des Purgatoriums- bzw. des Jenseitsraumes primär defizitär ist, sich über ein ‚quasi‘ an Transzendenz versteht und epistemologische Begrenzungen stets mitreflektiert. Die Reise Oweins ist, wie beschrieben, eine graduelle Annäherung an das himmlische Paradies. Dieser Raum ist als Kulmination transzendenter Jenseitigkeit erzähllogisch in Kategorien immanenter Topographie vom Höhleneingang maximal entfernt, wesentlich über diese Kategorien nicht mehr zu fassen. Die Jenseitsreise Oweins figuriert sich so, vom Höhleneingang an, über eine zunehmende Negierung immanenter Kategorien, bis der Blick vom irdischen Paradies auf die Pforte zum himmlischen die topographische Grenze transzendenter Erlebbarkeit versinnbildlicht. Die Grenzen der Zugänglichkeit des immanent Jenseitigen – selbst in einem narrativen Raum, der es sich zum Ziel gemacht hat, dieses mittels bestimmter Erzählmodalitäten darstellbar zu machen – werden so auf zwei gegenlaufenden Ebenen der Narrativierung offenbar: in einem Gradienten abnehmender körperlicher Erfahrbarkeit und in einem Gradienten zunehmender Inkommensurabilität. Innerhalb des jenseitstopographischen Gefüges nehmen das Purgatorium und das irdische Paradies als die jenseitstopographischen Räume, die von Owein betreten werden können, eine besondere Rolle ein. Hölle und himmlisches Paradies dagegen bleiben dem Jenseitsreisenden verschlossen. Dementsprechend wird die Zwischenposition der beiden zugänglichen Orte in der Differenz zu den beiden bestimmenden Polen, immanente Diesseitigkeit und transzendente, also unverfügbare, Jenseitigkeit, herausgearbeitet. Der Besucher aus dem immanenten Irland, dessen Kategorien immanent bleiben,923 wird im Verlauf seiner Reise, in der spezifischen Narrativierung seiner Erfahrungen, zu einem Indikator der Wirksamkeit beider Pole. Sein, in Kategorien körperlicher Erfahrung beschriebenes, Erleben von mehr und mehr ‚Transzendentem‘, kann so zum Gradmesser einer zunehmenden Spannung werden, die die Narration beim Ende der Reise an die Grenzen ihrer Darstellbarkeit führt.
922 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 15. 923 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 68–71.
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3 Die Höhle
Bereits im Prolog des TPSP erschien die corporalis narratio924 als der einzige Modus des Erzählens, der einer immanenten Perspektive sowohl des Jenseitsreisenden als auch des Rezipienten das Transzendente vermitteln kann.925 Mithilfe dieses Kniffs, die Körperlichkeit zu einem Modus des Erzählens zu erklären, hatte der TPSP der bei Gregor wie Augustinus durchaus präsenten Problematik eines körperlichen Feuers und seiner körperlichen Qual für entkörperte Seelen eine alternative, erzählmodale Lösung gegenübergestellt. Die Seelen sind im Purgatorium zwar von ihren Körpern gelöst, aber zumindest die Gruppe der Jenseitsreisenden erfährt das Jenseits auf eine körperliche Weise, um davon im immanenten Raum erzählen zu können. ‚Körperlich‘ meint hierbei, das wird angesichts verschiedener paradoxer Gegenüberstellungen deutlich, eine Art der uneigentlichen Jenseitserfahrung über immanente Modi und das, daraus resultierende, uneigentliche Sprechen (quasi)926 darüber. Diese uneigentliche Jenseitserfahrung über immanente Modi wiederum ist im Fall einer Reise ins Jenseits im eigentlichen Sinne eine ‚körperliche‘ – anders wäre sie gemäß der Argumentation des Prologes nicht vermittelbar. Die Form der körperlichen Jenseitserfahrung, wie sie innerhalb der Höhle beschrieben wird, ist aus der immanenten Perspektive zutiefst ambivalent. Die Höhle als fossa konnotiert das Grab927 und nicht ohne Grund ist sie der paratextuellen Legende nach bereits zu Lebzeiten Patricks928 inmitten von anderen Gräbern auf einem Friedhof (in cimiterio)929 zu finden. Das Verlassen der immanenten Welt ist schließlich auch mit einer konkreten Gefahr verbunden: der Gefahr, nicht in die Immanenz zurückkehren zu können, und so einen tatsächlichen Tod zu sterben. Diese Gefahr wird fortwährend zum prägenden Merkmal der Patrickshöhle: Der Bischof, der Prior, seine Begleiter zum Purgatorium930 – sie alle wiederholen diesen Aspekt als den für den immanenten Purgatoriumsbesucher bedrohlichsten. Auch die Gottesboten innerhalb des Höhlenraumes prophezeien ihm den Tod von Körper und Seele,931 sollte er nicht fest im Glauben verharren. Ab dem Moment, H. von Sawtry, TPSP, 15. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 64–73. Vgl. auch H. von Sawtry, TPSP, 29–31. Vgl. Anm. 890. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 139–144. H. von Sawtry, TPSP, 140, vgl. Athanansius, Vita Antonii, 8. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 219–221: Episcopus uero quam plurimam in Purgatorio perdicionem […] narrauit [Der Bischof aber erzählte möglichst viel von dem Verderben im Purgatorium […]]; TPSP, 229: perditionem periculumque pro-/posuit [er legte das Verderben und die Gefahr dar]; TPSP, 236–237: enumeratis tormentorum intolerabilium generibus [über die Aufzählung der Arten von unerträglichen Folterqualen]. 931 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 278: anima et corpore peribis [in Seele und Körper wirst du zugrunde gehen]; TPSP, 285: corpore et anima pariter, ut dixi, peribis [in Körper und Seele wirst du, wie ich gesagt habe, gleichermaßen zugrunde gehen].
924 925 926 927 928 929 930
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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an dem der Prior den Riegel vorlegt,932 bis er ihn am nächsten Tag wieder entfernt, ist Oweins Überleben – verstanden als Rückkehr in die immanente Welt – vollkommen abhängig davon, dass er sich in der Konfrontation mit den Dämonen als glaubensstark erweist.933 Den Zustand zwischen Tod und Leben fokussieren auch die paratextuellen Zeugnisse, die im TPSP auf die Owein-Erzählung folgen: Ein Bischof namens Florentianus beispielsweise, in dessen Diözese das Purgatorium liegt, erzählt davon, dass die Besucher des Purgatoriums, wenn sie denn zurückkämen, körperlich gezeichnet seien: Sed qui forte redeunt ob immanitatem tormentorum que passi sunt languore siue pal/-lore diuturno tabescunt.934 [Aber wer eben zurückkehrt, siecht wegen der Entsetzlichkeit der Folterqualen, die er ertragen hat, in Entkräftung oder andauernder Angst dahin.]
Sie kehren körperlich geschwächt und leichenblass wieder und verbleiben auch eine ganze Zeit in diesem Zustand. Ein anderer Mönch soll von Dämonen gequält worden sein und bis zu seinem Tode mehrere Jahre später gleichsam frische Wunden (aperta et quasi recentia) behalten haben, die keine Medizin heilen konnten.935 Aus der immanenten Perspektive, sei es in der konkreten Erzählung vor dem verschlossenen Höhleneingang oder in Zeugnissen über in die immanente Welt zurückgekehrte Reisende, wird der Reisende in seiner Körperlichkeit begriffen. In der Immanenz offenbart sich das transzendente Erlebnis an seinem Körper. Sein Schritt in die Höhle wird als ein Schritt aus der immanenten Welt und in einen Raum temporären bzw. potentiellen Todes, seine Rückkehr dementsprechend als eine neue Geburt, frei von Sünden, verstanden. Der Wiedereintritt in die Immanenz ist eine Art der Wiederauferstehung.936 Innerhalb der Höhle wird die Körperlichkeit zum Gradmesser 932 Die verschlossene Höhle ähnelt in dieser Weise in ihrer Struktur der Höhle der sieben Schläfer – die ebenfalls freiwillig ihren Höhlenraum betreten hatten, und daraufhin eingeschlossen wurden – und den Grabhöhlen von Lazarus und Christus. Erst nach dem vollbrachten Wunder verlassen alle drei Figuren(-gruppen) ihren Höhlenraum, sodass mit dem Überschreiten des Höhleneingangs in die Welt die wirksam gewordene Transzendenz Eingang in die Immanenz findet. 933 Yolande de Pontfarcy spricht im Sinne der Pilgertradition, in die sie die Rituale um das Patrickspurgatorium einordnet, von einem „death to the world“ und verweist auf die spätere literarische Tradition, in der der Raum als „sepulchre“ bezeichnet wurde, vgl. Pontfarcy 1988a, S. 12–13. 934 H. von Sawtry, TPSP, 1141–1142. 935 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1108–1119. 936 Vgl. die Bemerkungen in Turner und Turner 1978, S. 115–123, zu dem Ritus unter dem Aspekt ‚womb‘/,tomb‘. Im Text geht der dementsprechend inszenierte Neuanfang mit einer grundlegenden Neuinterpretation seiner Rolle auch innerhalb des Zisterzienserklosters einher, vgl. S. 222–223.
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3 Die Höhle
wachsender Transzendenz, denn am Körper des Jenseitsreisenden vollzieht sich die Differenz aus transzendenter Wirksamkeit und immanenter Person über den Modus der körperlichen Empfindung. Als die Dämonen mit Tosen und Brausen die Halle, in der Owein auf die Gottesboten getroffen war, übernehmen, in ihrer Mitte ein großes Feuer errichten und Owein mit Eisenhaken durch die Flammen ziehen, empfindet Owein körperlichen Schmerz (graue tormentum).937 Wie bereits erwähnt wird der wesentliche Unterschied zwischen Hölle und Purgatorium wiederum durch eine Steigerung des Schmerzes, also ebenfalls ‚körperlich‘, figuriert.938 Selbst bei den Folterqualen in den Feldern zwischen der Halle und dem Eingang zur Hölle, die immer nur vorgeführt werden und an Owein selbst nicht vollzogen werden, wird die Wirksamkeit der graduellen Transzendenz am Körper Oweins abgebildet: ex negativo, über den ersparten, körperlichen, Schmerz. So beispielsweise in der Situation des Feuerrades: Cumque iactassent militem super rotam et in aerem rotando leuassent, inuocato Christi nomine descendit illesus.939 [Obwohl sie den Soldaten auf ein Rad geworfen und ihn durch eine Drehbewegung in die Luft gehoben hatten, stieg er, als er den Namen Christi angerufen hatte, unbeschadet herab.]
Die Dämonen haben ihn bereits auf das Rad geworfen, Owein ist im Begriff in die Höhe geschleudert zu werden – und entgeht der Folter nach der Anrufung Christi körperlich unversehrt (illesus). Die Wirksamkeit göttlicher Transzendenz, den Dämonen übermächtig, vermag es dergestalt, den Körper Oweins vor Nägeln, Drachen und Peitschen zu bewahren. Diese göttliche Transzendenz, die so schon im Verlauf des Purgato riums die Qualen der Dämonen aussetzen kann und deren Übermacht der Text so in wunderbaren Momenten körperlich figuriert, wird im irdischen Paradies in einem räumlichen Gefüge abgebildet: Hier nähert sich Owein graduell einer absoluten Transzendenz an – dieser graduelle Fortschritt manifestiert sich in der Konfiguration des irdischen Paradieses. Die Figur Oweins, im Purgatorium noch den Qualen ausgesetzt oder zumindest mit ihnen konfrontiert, empfindet hier keine Schmerzen mehr. Er sieht nicht einmal mehr etwas, das ihm auch nur potentiell Schaden zufügen könnte.940 937 938 939 940
H. von Sawtry, TPSP, 343–344. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 523–524. H. von Sawtry, TPSP, 461–462. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 825–827: Nec estum nec frigus ibi sentiebat, nec quod ullo modo posset offendere uel nocere quicquam uidebat. [Er nahm dort weder Hitze noch Kälte wahr und er sah, dass nichts ihn [mehr] auf irgendeine Weise verletzen oder ihm Schaden zufügen konnte.]
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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Anhand der körperlichen Versehrt- bzw. Unversehrtheit Oweins wird so während der gesamten Erzählung innerhalb der Höhle die jenseitstopographische Reise auch im Aspekt ihrer Transzendierung am Körper Oweins abgebildet. Das Eintreten in und das Heraustreten aus dem Höhlenraum wird aus immanenter Perspektive wahrgenommen als Momente des Todes und der Wiedergeburt. Innerhalb des Höhlenraumes dagegen erlebt Owein am eigenen Körper die Wirksamkeit göttlicher Transzendenz, die den Qualen des Purgatoriums und den noch schlimmeren Qualen der Hölle diametral entgegensteht. Diese Wirksamkeit göttlicher Transzendenz zeichnet sich dabei jedoch nicht, wie zu zeigen sein wird, durch die vollkommene Aussetzung körperlicher Wahrnehmung aus. Vielmehr steigt mit zunehmender Nähe zum himmlischen Paradies, also der topographischen Figurierung absoluter Transzendenz, der Grad an Inkommensurabilität, bis die Narrativierung an der Schranke des Himmelstores sein jähes Ende findet. Betrachtet man die Jenseitserfahrung Oweins als Ganzes, so zeichnet sich ihre Narrativierung, wie das entsprechend dem Modell des körperlichen Erzählens zu erwarten war, durch die Defizithaftigkeit ihrer sprachlichen Kategorien aus. Nach einer ersten Phase staunender Bewunderung in der eigentümlich beleuchteten Halle941 laufen die Sprache und ihre Beschreibungskategorien wieder und wieder ins Leere. Sie vermögen nur näherungsweise zu beschreiben, was sich Owein offenbart: Die Halle, deren Wände nur aus Säulen und Bögen geformt ist, ähnelt in gewisser Weise (in modum) einem Klostergewölbe,942 das Leuchten entspricht irgendwie (qualis) dem Licht im Winter nach Sonnenuntergang,943 die Gottesboten sind Mönchen vergleichbar (quasi)944 Das Getöse, das die Dämonen daraufhin in der Halle entstehen lassen, ist gewaltig, als ob sich die ganze Erde bewegte und alle ihre Lebewesen in Aufruhr wären (si/si).945 Die Dämonen wiederum sind paradoxerweise ungestalte Gestalten ( formae deformes).946 Immer wieder taucht quasi auf, um die Entsprechung der bildlichen Sprache zu ihrem Gegenstand zu relativieren,947 die Szenen des Purgatoriums werden mit irdischen verglichen948 und Situationsbeschreibungen im Nachhinein als bloßer Anschein (uideri) in ihrer Aussagekraft eingeschränkt.949 Irreale Konjunktive, Konditionalsätze und Vergleichskonstruktionen nähern 941 942 943 944 945 946 947 948 949
Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 265–267. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 264. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 261–262. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 269–271. H. von Sawtry, TPSP, 309–311. H. von Sawtry, TPSP, 318. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 366; 395–396; 402; 436; 511–513. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 420. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 361; 460–461; 541.
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3 Die Höhle
sich dem, was Owein im transzendenten Raum erlebt, nur an, um im selben Moment die eigene Tauglichkeit für die Beschreibung des Gegenstandes wieder zu negieren. Außerdem kommt die Erkenntnisfähigkeit von Owein selbst immer wieder an seine Grenzen: Die Ausdehnung dreier Folterfelder ist so groß, dass er sie nicht mit seinen Augen erfassen kann,950 und die Drehung des Feuerrades so schnell, dass er die aufgespannten Menschen nicht ausmachen kann.951 Diese Momente der defizitären Sprache, und der Reflektion derselben mithilfe relativierender Marker, prägen so die Narrativierung des Jenseitsraumes in entscheidender Weise, was angesichts der Theorie des körperlichen Erzählens auch nicht überrascht. Interessanter Weise jedoch ist der Raum des Purgatoriums von dem Raum des irdischen Paradieses auch hinsichtlich der Begrenzung seiner Narrativierung klar zu differenzieren. Auch hier entzieht sich beispielsweise die Brücke (unermesslich verbreitert) oder die Größe des irdischen Paradieses dem Blick Oweins.952 Es werden Vergleiche aller Art gezogen,953 wo ein eigentliches Sprechen, da es immanentes ‚Sprechen‘ ist, nicht möglich sein kann. Wo im Purgatorium Figuren des nur näherungsweisen Sprechens für die Entsetzlichkeit oder die schier unbeschreibliche Vielzahl an Folterqualen zum Einsatz kam,954 können ähnliche Formeln im irdischen Paradies nun nur noch wenige Einzelaspekte annähernd beschreiben. Im Purgatorium war die Imaginierbarkeit der Schmerzen das Zentrale: Folterszenarien wurden ausgeschildert – allerweltliche Gegenstände wie Nägel und Rad, zweckentfremdet und brutal verzerrt, machen die Grausamkeit der Qualen immanent nachvollziehbar. Der Modus der Körperlichkeit hatte dabei die immanente Perspektivierung ermöglicht. Das irdische Paradies im Gegenzug funktioniert in seiner Narrativierung grundlegend anders: Oweins Erfahrungen hier sind zwar in ersten Andeutungen in immanenten Begriffen fassbar, jedoch immer durch ein signifikantes ‚Mehr‘ gekennzeichnet, dem der Begriff nicht gerecht werden kann. Der Glanz der Eingangspforte ist wunderbar (mirabilis),955 der Duft übertrifft alle Düfte der Welt zusammen,956 und scheint, was alle immanenten Kategorien sprengt, die Einwohner irgendwie zu ernähren.957 Niemals gibt es hier
Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 371; 405–406; 467–468. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 458–461. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 575; 791–792. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 757; 759; 813. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 440–441: Omnia genera tormentorum que excogitari possunt ibidem uisa sunt. [Man kann ebendort alle Arten von Folterqualen, die man sich ausdenken kann, sehen.] 955 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 756–757. 956 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 759–760. 957 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 820–821. 950 951 952 953 954
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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Nacht.958 Die Harmonien der Chöre sind zwar oberflächlich ein immanentes ‚Bild‘, auditiv zugänglich, aber in seiner Qualität auf Erden so ungehört.959 Was nicht auf diese Weise als ein ‚Mehr‘ im Vergleich zum Immanenten beschrieben ist, weil es nicht beschrieben werden kann, ist explizit in seiner Inkommensurabilität markiert: [M]ulto plura quam ipse uel aliquis hominum peritissimus lingua uel calamo possit explicare delectabilia iocundaque perspexit.960 [Er erblickte weitaus mehr Erfreuliches und Angenehmes als er selbst oder irgendein überaus gelehrter Mensch mit seiner Zunge oder seiner Feder ausdrücken könnte.] Multo plura uidit in illa requie quam aliquis hominum umquam loqui sufficeret aut scribere.961 [Er sah weitaus mehr an jenem Ruheplatz als irgendein Mensch jemals ausreichend erzählen oder niederschreiben würde.]
An die Stelle einer näherungsweisen Beschreibung tritt so in der Narrativierung des irdischen Paradieses eine bewusste Leerstelle. Die Grenze immanenter Beschreibungskategorien ist damit explizit dort gesetzt, wo das Jenseitige die Sprache, selbst in ihrer uneigentlichen ‚körperlichen‘ Erzählweise, endgültig transzendiert. Diese Grenze, wie sie die der Sprache inkommensurable Transzendenz darstellt, erfährt eine letzte Konkretisierung an der Pforte des himmlischen Paradieses: Nur von einem Berg aus, im Himmel in weiter Ferne, können die Bewohner des irdischen Paradieses gerade einmal den Eingang zum himmlischen Paradies sehen.962 Selbst im irdischen Paradies, und zwar für all seine temporären Bewohner, ist das himmlische Paradies nicht unmittelbar erschließbar: […] quasi flamma ignis de celo descendit, que patriam totam cooperuit et, quasi per radios diuisim super singulorum capita descendens, tandem in eos tota intrauit. Sed et super militem inter alios descendit et intrauit. Vnde tantam dilect[at]ionis dulcedinem in corde et corpore sensit ut pene pre nimietate dulcedinis non intellexerit utrum uiuus an mortuus fuisset.963 [[…] eine Art von Feuerflamme kam vom Himmel herab, welche das ganze Heimatland überdeckte, sich scheinbar über die Strahlen verteilt über den Häuptern der einzelnen [Bewohner] absenkte, und schließlich ganz in sie eindrang. Aber es senkte sich inmitten der anderen auch über den Soldaten herab und drang in ihn 958 959 960 961 962 963
Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 796. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 778. H. von Sawtry, TPSP, 786–787. H. von Sawtry, TPSP, 828–829. Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 884–888. H. von Sawtry, TPSP, 892–898.
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3 Die Höhle ein. Er fühlte deshalb eine so genussvolle Süße in seinem Herz und seinem Körper, dass er vor lauter Übermaß an Süße beinahe nicht mehr zu beurteilen wusste, ob er lebendig oder tot war.]
Über eine Art Flamme vermittelt, dringt Manna, der cibus celestis,964 in die Bewohner des irdischen Paradieses ein, in einer Weise, die wieder nur näherungsweise beschrieben werden kann (quasi) und mit einem immanenten cibus wohl nur recht wenig gemein hat. Momente uneigentlichen Sprechens wie auch expliziter Grenzen der Darstellbarkeit schaffen auf diese Weise eine Ambivalenz aus immanentem Medium und transzendentem Gegenstand: Sie erzeugen in ihrem Changieren zwischen Körperlichkeit und Nicht-Körperlichkeit das ‚Zwischen‘, welches die Transzendenz letztlich im immanenten Raum ästhetisch zu dynamisieren vermag. Das himmlische Paradies bricht absolut mit den Kategorien der Immanenz, und topographisch wie epistemologisch fungiert die Pforte zu ihm als die Grenze, als narratologische Grenze des immanenten Erzählens von Transzendenz. An diesem Ort, der rückwirkend die Jenseitstopographie wie auch die Erzählweise von Oweins Jenseitsreise strukturiert und dem Erlebten Bedeutung gibt, laufen die beiden Ebenen des körperlichen Erzählens wie des Erzählens von Inkommensurablem zusammen: Genau in dem Moment, in dem Owein das himmlische Manna empfängt, löst sich jede immanente Differenz von Leben und Tod in einem notwendigen, kulminierenden Moment absoluten Unverständnisses auf: et non intellexerit.
3.3.4 Der TPSP als Zisterziensererzählung Während eine ‚einfache‘ Jenseitsvision aus immanenter Perspektive immer mittelbar bleibt, präsentieren Zwischenraumerzählungen wie der TPSP immanente Jenseitsräume unmittelbar körperlich erlebt. Diese inszenierte Unmittelbarkeit verankert das ‚Transzendente‘ im Diesseits und produziert damit einen Geltungsüberschuss. Es entwickeln sich Funktionalitätspotentiale, die transzendente Geltung wird an Institutionen, Personen oder Inhalte rückgebunden und entsprechend historisch dynamisiert. Beim TPSP wird dieser Geltungsüberschuss im Rahmen propagandistischer Bemühungen der Zisterzienser wirksam gemacht: Als Owein aus der Höhle zurückkehrt, reist er nach Jerusalem965 und arbeitet schließlich in königlichem Auftrag für den Zisterzienser Gilbert als Übersetzer.966 Über 964 H. von Sawtry, TPSP, 890. 965 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1065–1067. 966 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1070–1085.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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diesen Weg gelangt die Erzählung von Oweins Jenseitsreise schließlich zu dem Verfasser des TPSP, dem Mönch H. aus Sawtry. Dass Owein gerade in den Dienst eines Zisterziensers tritt, ist nicht zufällig, daran lässt die Rahmenerzählung des TPSP keinen Zweifel. Der TPSP beschreibt, wie viele Jenseitsvisionen, die Konversion seines Protagonisten über und durch die Jenseitserfahrung967 und verknüpft so Oweins Jenseitserfahrung eng mit seinem späteren Verhalten im Diesseits. Über seinen Körper und sein späteres Leben also wird das Erfahrene immanente Jenseits im Diesseits manifest. Als der König Owein nun nach seiner Rückkehr in die diesseitige Welt den Auftrag gibt, in zisterziensischen Dienst zu treten, kann er nicht umhin, dem König auf Grundlage seines Ausnahmewissens diesen Orden anzuempfehlen: ‚Gratanter ei seruire debeo. Sed et uos cum magna gratiarum actione monachos Cysterni ordinis in regno uestro susci/-pere debetis, quoniam, ut uerum fatear, in sanctorum requie non uidi homines tanta gloria preditos ut huius religionis uiros.‘ 968 [‚Mit Freuden bin ich verpflichtet, ihm zu dienen. Aber ihr seid verpflichtet, die Mönche des Zisterzienserordens mit großer Danksagung in eurem Reich aufnehmen, da ich ja, wie ich wahrlich bekennen werde, am Ruheort der Heiligen keine Menschen gesehen habe, die so ruhmvoll waren wie die Männer dieses Ordens.‘]
Er, der es als einer der wenigen nach seiner immanenten Jenseitsreise ‚gesichert‘ beurteilen kann, weiß, dass die Zisterzienser selbst verglichen mit den Heiligen im irdischen Paradies einen außerordentlichen Rang haben. Non uidi homines tanta gloria preditos ut huius religionis uiros lässt dabei dezidiert offen, um welche Männer genau es sich hier handelt, sowohl die zisterziensischen Vertreter im irdischen Paradies als auch die Zisterzienser im Allgemeinen wären hier denkbar. In jedem Fall wird die herausragende Position der Zisterzienser, die Owein im Jenseits erfahren und legitimiert (körperlich) sehen durfte, zu einer Handlungsempfehlung für den König im Diesseits: Ihrer herausragenden Stellung im Jenseits möge doch auch ihre Stellung im Diesseits entsprechend gemacht werden, so das Postulat Oweins, ja so das Postulat der Erzählung. Der TPSP verhandelt aber durchaus auch in weiteren Aspekten den Zisterzienserorden in seiner besonderen Heilsrelevanz: Seine Produktions- und Entstehungsbedingungen, wie es die Rahmung herausstreicht, sind zister967 Vgl. hierzu das Bedingungsgefüge, das der Prolog des TPSP auf der Grundlage Hugos von St. Viktor skizziert, H. von Sawtry, TPSP, 34–40: Auf ein gutes Leben im Diesseits folgt ein gutes Leben im Jenseits, auf ein schlechtes ein dementsprechend schlechtes. Jenseitsvisionen sollen einen Einblick in diese Abhängigkeit geben, abschreckend und als moralische Richtschnur fungieren. 968 H. von Sawtry, TPSP, 1081–1085.
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3 Die Höhle
ziensisch. Der Autor H. ist aus Sawtry, Gilbert aus Louth, der Widmungsträger H. Abt von Warden Abbey. Alles drei sind zisterziensische Häuser unter dem Episkopat von Lincoln, England.969 Die immanente Jenseitserfahrung ist über ihre Lokalisierung in ein Irland ausgelagert, dessen Darstellung als eine wilde und zu missionierende fremde Welt970 zunächst grundsätzlich different zum monastischen Entstehungsrahmen der Erzählung ist.971 Die Perspektive der Erzählung ist von außen auf Irland – anders als das beispielsweise bei der NSB der Fall war. Die Erfahrung in der anderen Welt der (irischen) Höhle wird über die Rückkoppelung an die zisterziensischen Ausgangsbedingungen der Erzählung in den regulierten monastischen Rahmen zurückgeführt: Es ist eine Erfahrung innerhalb einer Antistruktur, im Inneren einer Höhle, in Irland; ein Tod für die Welt, wie das an vielen Stellen bereits betont worden ist.972 Aber in dieser Ausnahme-Erfahrung wird auch die spezifisch zisterziensische Struktur der Rahmung rückwirkend legitimiert. So begegnet Owein in der Halle innerhalb der Höhle, vor der Ankunft der Dämonen, einer Gruppe von Personen, die der Prior der Augustinerchorherren als „Gottesboten“ (Dei nuntios) bezeichnet hatte.973 Die Türe zum Höhleneingang ist zu diesem Zeitpunkt der Erzählung wohlweislich geschlossen und Owein befindet sich im Bereich des immanenten Jenseitsraumes: ecce quindecim uiri quasi religiosi et nuper rasi, albis uestibus amicti, domum intrauerunt et, salutantes illum in nomine ,Domini‘, consederunt.974 [siehe da, es betraten fünfzehn Männer, scheinbar einem Orden zugehörig und vor kurzem rasiert, gegürtet in weißen Kleidern, das Haus. Sie grüßten ihn im Namen des Herren und setzen sich hin.]
Die fünfzehn Männer sind dem Anschein nach Mönche (uiri quasi religiosi ), und tragen weiße Gewänder. Der Gewandfarbe, die innerhalb der NSB noch ‚nur‘ ein Zeichen größerer Heilsgewissheit bzw. verhältnismäßiger Nähe
969 Vgl. Zaleski 1985, S. 477–478. 970 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 110–116. Die Entstehung der Purgatoriumshöhle und die Niederlassung der Augustinerchorherren werden im TPSP eng an das Konversionsmotiv gekoppelt. Zum Zusammenhang der Zisterzienser mit Irland gerade im zwölften Jahrhundert vgl. French 1994, S. 108–109. 971 Vgl. Zaleski 1985, S. 478. Diese Differenz schafft in der Erzählung die Notwendigkeit einer Ansiedlung vor allem auch zisterziensischer Klöster im irischen Raum, wie sie auch der TPSP beschreibt und im zwölften Jahrhundert praktiziert wurde, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1087– 1088. Zur Ansiedlung der Zisterzienser in Irland vgl. French 1994, S. 108. 972 Vgl. exemplarisch Turner 1977. 973 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 242. 974 H. von Sawtry, TPSP, 269–272.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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zum paradiesischen Raum war,975 muss dabei hier eine spezifische Funktion zugewiesen werden. So betont der TPSP auch an zwei weiteren Stellen die Entsprechung der Kleiderfarbe im jenseitigen Raum zu der im diesseitigen Raum. Als Owein im irdischen Paradies ist, zeigt sich ihm Folgendes: Ibi uidit homines [unius]cuiusque ordinis ac religionis diuerse etatis et utriusque sexus. Alios quasi archiepiscopos, alios ut episcopos, alios ut abbates, canonicos, monachos, presbiteros et singulorum graduum sancte ecclesie ministros, sacris uestibus ordini suo congruentibus indutos. Omnes uero, tam clerici quam laici, eadem forma uestium uidebantur induti in qua Deo seruierunt in seculo.976 [Dort sah er Menschen jeder einzelner Stellung und jedes einzelnen Ordens von unterschiedlichem Alter und beider Geschlechter. Die einen, gleichsam Erzbischöfen, die anderen wie Bischöfe, andere wie Äbte, Kanoniker, Mönche, Presbyter und Diener der einzelnen Grade der heiligen Kirche, gekleidet in den heiligen Gewändern, welche ihrem eigenen Orden entsprachen. Alle tatsächlich, Kleriker wie Laien, schienen in dieselbe Art von Gewand gekleidet, in der sie in der Welt Gott dienten.] Et sicut stella differt a stella in claritate, ita erat quedam differentia concors in eorum uestium et uultuum claritatis uenustate. Alii enim induti uestitu uidebantur aureo, alii argenteo atque alii uiridi, purpureo, iacinctino, ceruleo, candido. Forma tamen habitus qua singuli utebantur in seculo.977 [Und wie sich ein Stern von einem [anderen] Stern an Klarheit unterscheidet, so gab es eine einträchtige Unterscheidung in der Schönheit ihrer Kleider und des Glanzes ihrer Antlitze. Die einen nämlich schienen in goldenes Gewand gekleidet, andere in silbernes und wieder andere grünes, purpurnes, blaues, dunkles, helles. Denn jeder Einzelne nutzte dieselbe Kleidung wie in der Welt.]
Die Ordenstracht bleibt, daran lässt der Text keinen Zweifel, im Jenseits beibehalten. Damit ist zum einen die Grundlage für Oweins Bemerkung vor dem König gelegt, da er ja anhand der Kleidungsdifferenz die besondere Auszeichnung der Zisterzienser im Kreis der Heiligen ablesen und in Relation faktisch erkennen konnte. Zum anderen lässt diese Bedingtheit der Kleiderfarbe im jenseitigen Raum auch den ausschlaggebenden Rückschluss für die fünfzehn Mönche zu Beginn zu: Sobald die Farbe des Gewandes zum Verhandlungsgegenstand geworden und das Entsprechungsverhältnis zum einzelnen Orden als Tatsache gesetzt ist, liegt nahe, um wen es sich gehandelt haben musste: Es müssen, so legt der Text durch narrative Strategien wie die Betonung der jenseitigen Ordenstracht nahe, Zisterzienser gewesen sein. Ihr weißes Gewand war schon früh zum entscheidenden Merkmal und damit zum Sinnbild der programmatischen Differenz dieses neuen Ordens 975 Vgl. S. 81–84. 976 H. von Sawtry, TPSP, 770–777. 977 H. von Sawtry, TPSP, 806–810.
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3 Die Höhle
geworden. Mit den Cluniazensern hatte sich ein einheitliches Mönchsgewand durchgesetzt, von dem sich die Zisterzienser im ersten Drittel des zwölften Jahrhunderts durch die bewusste Wahl eines weiß(-grauen) Gewandes abzusetzen begannen.978 Diese Distinktion wurde schon früh als programmatisch begriffen979 und entsprechend heftig kritisiert,980 blieb aber entscheidendes Merkmal des zisterziensischen Ordens und markierte auch gerade in einer Reihe von Jenseitsberichten die Sonderstellung der Zisterzienser. Im Dialogus miraculorum des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (1180–1240) sind es so weiß gekleidete Figuren, die die Seele ausgewählter Verstorbener (ins Jenseits) wegführen,981 und die analog zu den Mönchen des Zisterzienserklosters figuriert sind.982 Ein vom Purgatorium erlöster Mönch erscheint im weißen Gewand.983 Maria,984 Christus985 wie auch die visionäre Figurationen der Zisterziensermönche selbst treten in Weiß auf.986 Die Implikation der relativen Nähe zum Transzendenten, zum Jenseitigen, über die Gewandfarbe und damit die Sonderrolle der Zisterzienser in der Heilsver978 Vgl. Rüffer 1999, S. 181. Zur Ordenstracht der Zisterzienser und ihren Implikationen vgl. Rüffer 1999, S. 179–190. 979 Zur Programmatik eines gerade weißen Gewandes vgl. Mt 17,2 zur Wandlung von Christi Gewand: et transfiguratus est ante eos et resplenduit facies eius sicut sol vestimenta autem eius facta sunt alba sicut nix [Und er wurde vor ihnen verwandelt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie [Schnee]]. Analog Mk 9,2 [=EÜ (2016) Mk 9,2]); Mt 28,3 über den Engel der Auferstehung: erat autem aspectus eius sicut fulgur et vestimentum eius sicut nix. [Sein Aussehen war wie ein Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee.]. Vgl. außerdem Mk 16,5; Apg 1,10; Offb 4,4; Offb 7,9 etc. Das weiße Gewand ist so bereits in der Bibel als Auszeichnung besonderer Transzendenzhaftigkeit (nach der Wandlung, nach Christi Auferstehung, im Jenseits, zur Auszeichnung von Engeln) und relativer Nähe zum Jenseitigen angelegt. 980 Vgl. exemplarisch Rupert von Deutz, Super quaedam capitula Regulae Divi Benedicti Abbatis, III, 13 (nach PL 170, Sp. 477C–538B). 981 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 7, 50 (Nösges und Schneider 2009/3, S. 1476, Z. 28: turba candidatorum – „Schar in weißen Gewändern“, Nösges und Schneider 2009/3, S. 1477); 11, 8 (Nösges und Schneider 2009/5, S. 2064, Z. 8: conventus hominum albatorum – „Konvent weißgekleideter Männer“, Nösges und Schneider 2009/5, S. 2065). Nösges und Schneider 2009/1–5 berufen sich auf die zweibändige Edition von Strange 1851, die 1966 neu aufgelegt wurde. 982 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 11, 8, Nösges und Schneider 2009/5, S. 2064, Z. 10–15: Itaque gemina felicis huius fratris substantia, a gemino conventu albatorum ad beatam requiem, corpus vero a canventu albandorum ad ecclesiam; utroque sane pro eo quod deferebant, in Dei laudes, quanquam differenter, concrepante. [„So wurde das zweifache Wesen dieses glücklichen Bruders von einem zweifachen Konvent fortgebracht und geleitet: Die Seele wurde nämlich von den Weißgekleideten zur seligen Ruhe getragen, der Leib wurde von denen, die einmal weiße Gewänder tragen sollen (sc. von den Mönchen), in die Kirche getragen. Beide aber sangen für ihn, als sie ihn forttrugen, das Lob Gottes, wenn auch in verschiedener Weise.“ Nösges und Schneider 2009/5, S. 2065]. 983 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 2, 2. 984 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 8, 82. 985 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 8, 11. 986 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 8, 91.
3.3 Die Zwischenraumerzählung des Tractatus de purgatorio S. Patricii
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mittlung ist auf diese Weise zentrales Moment des Dialogus miraculorum und weiterer Jenseitserzählungen der Zeit. Um es mit den Worten der Seele eines Verstorbenen an einen (zu konvertierenden) Nekromanten zu sagen: Non est via securior quam ordo Cisterciensis, neque inter omne genus hominum pauciores de scendunt ad inferos, quam personae religionis illius.987 [Es gibt keinen Weg, der sicherer wäre als der Orden der Zisterzienser; denn aus dem ganzen Menschengeschlecht steigen nirgends so wenige zur Hölle herab wie aus diesem Orden.]988
Die zisterziensischen Jenseitsberichte formulieren damit teils direkt, teils implizit das Postulat der Konversion, indem sie die zisterziensische Ordenszugehörigkeit in dieser Art und Weise eng mit dem sicheren Heil im Jenseits verknüpfen.989 Die Zisterzienser, so schreibt es Carol Zaleski, „were especially sensitive to the propaganda value of otherworld journey literature“990 und produzierten so eine Vielzahl an Jenseitsberichten, die in der Konversion endeten oder sie zumindest nahelegten.991 Auch der bereits erwähnte Liber revelationum des Peter von Cornwall, der neben dem TPSP eine Vielzahl weiterer Visionsberichte erhält, kann unter dem Aspekt dieser Funktionalisierung als ‚Zisterzienserpropaganda‘ subsumiert werden.992 Die Zisterzienser erzählten sich an eine auserwählte Position innerhalb der jenseitigen Topographie und legitimierten ihren diesseitigen Heilsanspruch und ihre Heilswirksamkeit für potentielle Konvertiten.993 987 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 1, 33, 21–23. 988 Zitiert nach der Übersetzung Nösges und Schneider 2009/1, S. 299. 989 So beschreibt auch Peter von Cornwall die Jenseitsvision eines Augustiner Regularkanonikers, der, unsicher, welchem Orden er beitreten solle, eine jenseitige Gerichtsszene schaut: Die Zisterzienser befinden sich hier bezeichnenderweise unter dem Mantel Marias (zum Motiv der Schutzmantelmadonna vgl. auch Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 7, 59), und nachdem Augustinus und Benedikt ihren Teil zur Verurteilung beigetragen hatten, muss der Säkularkanoniker in die Hölle – was erwartbarer Weise zur Konversion des Visionärs führt (vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 185 Rubrica, ediert bei Sharpe und Easting 2013, S. 290–295). 990 Zaleski 1985, S. 479. 991 Vgl. Zaleski 1985, S. 479; 483–484. 992 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 8; I, 185; I, 187; II, 582; II, 888; II, 890, vgl. dazu Sharpe und Easting 2013, S. 269–271. 993 Möglich wird dieser Zusammenhang von Ordenszugehörigkeit und zukünftigem Heil auch dadurch, dass in Erzählungen wie dem TPSP zwar der Zusammenhang individueller Handlung und jenseitigem Schicksal zunehmend herausgearbeitet wird, allerdings zugleich dieses jenseitige Schicksal als Teil einer Ordensgemeinschaft inszeniert wird: Mag auch das individuelle Handeln der ausschlaggebende Impuls sein, so treten die Paradiesbewohner doch in ihren Kutten als Teil monastischer Gemeinschaften auf. Mit der Aufnahme in die monastische Gemeinschaft tritt der Einzelne hinter dem Ordensgefüge zurück, so suggeriert zumindest der TPSP: Der Schluss Oweins (und des Rezipienten) muss ein Bedingungszusammen-
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3 Die Höhle
So überrascht es auch nicht, dass mit dem TPSP gerade ein Text an die Zisterzienser rückgebunden wird, der eine immanente Jenseitserfahrung mit allen Konsequenzen dieser Erzählweise zu beschreiben reklamiert. Die inszenierte Unmittelbarkeit der Jenseitserfahrung wird in ihrer nun transzendenten Geltung zum inhaltlichen Impuls für das Diesseits: Aspekte wie beispielsweise die neuaufkommende nova militia994 – an der der Zisterzienserorden erhöhtes Interesse hatte995 – aber auch die theologische ‚Tatsache‘ eines Fegefeuers und damit einer veränderten Jenseitstopographie996 können so mit neuer Legitimation eingeführt und systematisch verankert werden. Vor allem jedoch schafft der TPSP mit der strukturellen Rückführung in den Zisterzienserorden – über die erzählten Entstehungsbedingungen des Textes und den Weg des ‚Konversen‘ Owein zu Gilbert – den Zisterziensern eine Plattform, um die herausragende Stellung des Mönches im Allgemeinen und des zisterziensischen Mönches im Besonderen zu verhandeln. Der Orden legitimiert sich aus der erzählten Jenseitserfahrung selbst, über die erzählte immanente Jenseitigkeit, die inhaltlich seine Sonderrolle bestätigen und ihm formal die Rolle der Jenseitsvermittlung zuweisen kann. Die Handlungsempfehlung, die der Protagonist in der Höhle erfahren konnte, die er dem König mitgeteilt hatte und die der Text dem Rezipienten in seiner Erzählung wiederum formuliert, kann neben dem engen Bedingungszusammenhang aus diesseitigem Leben und jenseitigem Schicksal nur eine Handlungsempfehlung für den zisterziensischen Orden sein. Es ist dieser Orden, der quasi im Paradies leben darf. Es sind gerade die weißen Mönche, die Owein auf seinem Weg ins immanente Jenseits begleiten, im Unterschied zu den Augustinerchorherren Diesseits des Höhleneingangs.997 Sie sind es, die (im Übrigen auch in Analogie zu Gregor dem Großen) die unabdingbare Aufgabe der Vermittlung dieser Jenseitswahrheiten übernehmen. hang von Ordenszugehörigkeit und relativer Heilsgewissheit sein, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1081–1085. 994 Zur nova militia im Zusammenhang mit dem TPSP vgl. Kaeuper 2009, S. 133–137. 995 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Ad milites templi. De laude novae militiae, zweisprachig herausgegeben von Winkler 1990. 996 Zur Rolle der Zisterzienser bei der Verbreitung des Fegefeuer-Gedanken, vor allem auch im dreizehnten Jahrhundert vgl. Le Goff 21991, S. 203–210, vgl. außerdem French 1994, S. 109. Die These der historischen Dynamisierung dieser Jenseitsbeschreibung soll dabei nicht bestreiten, dass der TPSP nach seiner Entstehung, während derer er diese noch ganz bestimmte propagandistische Zwecke zisterziensischer Geltungsproduktion verfolgt und entsprechend zur dogmatischen Festigung des Fegefeuers beigetragen hatte, ab dem dreizehnten Jahrhundert gerade als Lektüre der Erbauung rezipiert worden ist, vgl. dazu Zaleski 1985, S. 471–472. 997 Dass Augustiner Regularkanoniker und nicht Zisterzienser die Kirche neben dem Purgatoriumseingang innehaben, ist dabei zum einen (argumentiert man ex post von der historischen Pilgerstätte) historische Tatsache und schlichtweg narratologisches Mittel der Faktualitäts-
3.4 Die körperliche Parodie Peters von Cornwall
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3.4 Die körperliche Parodie Peters von Cornwall Im Zusammenhang mit dem TPSP wurde bereits die Überlegung formuliert, dass die spezifische körperliche Erzählweise im Zusammenhang mit den Zisterziensern einer besonderen Lektürepraxis geschuldet sein könnte: Statt eine körperliche Reise anstoßen zu wollen, sei der TPSP vielmehr gerade im Zusammenhang mit den Zisterziensern Impuls einer ‚geistigen Reise‘.998 Dieser These ist nur beizupflichten, der geistige Nachvollzug in der NSB etwa scheint ganz ähnlich angelegt zu sein.999 Verbindet man sie mit der Unverfügbarkeitsprämisse und dem raumnarratologischen Konzept des TPSP, wird die fehlende Lokalisierung nicht nur erklärbar, sondern als conditio sine qua non offenbar: Eine Konkretion des TPSP im Sinne einer realhistorischen Pilgerstätte unterliefe die Unverfügbarkeitsprämisse des immanenten Jenseitsraumes, wie sie auch etwa der Prolog formuliert. Erzählt wird eben nicht eine generelle Zugänglichkeit der Jenseitstopographie. Vielmehr erzählt und fungiert der TPSP als ein Annäherungsmodus, der körperlich und räumlich zu denken ist und doch die Unverfügbarkeit des Jenseits formal beizubehalten vermag. Dieses Jenseits ist in der Lektüre vermittelt, nicht in einer real-körperlichen Erfahrung. Der TPSP formuliert vielmehr ein narratologisch-ästhetisches Problem und seine Lösung: Der Pilgergestus wird zum geistigen und nicht zum realen Nachvollzug erzählt. Das Potential historischer Dynamisierung, wie es für den TPSP im Zusammenhang mit dem Zisterzienserorden aufgezeigt werden konnte, ist dabei in seiner Funktionalität notwendigerweise an die Zwischenraumdynamik gebunden. Die jenseitige Legitimation etwa der Zisterzienser kann nur wirksam werden, wenn im Höhlenraum mithilfe der entsprechenden ästhetischen Dynamisierung immanente Jenseitigkeit abgebildet werden kann, die wiederum rückwirkend im ‚Diesseits‘ Einfluss nehmen kann. Diese narratologische Raumdynamik, wie sie die Diskursfelder dimensionieren und der TPSP konfiguriert, ist dabei allerdings in ihrer Darstellungsvalenz immanenter Jenseitigkeit in der Nachfolge der Erzählung immer wieder herausgefordert worden. Der Erzählmodus wurde in seiner Tauglichkeit, Inkommensurables angemessen erzählen zu können, immer wieder negiert.
erzeugung. Zum anderen aber ist es wichtig festzuhalten, dass die Regularkanoniker Irlands zu dieser Zeit besonders enge auch programmatische Verbindungen zum Zisterzienserorden pflegen – Dorothy French spricht von „Canonico-Cistercians“ (1994, S. 110). Entsprechend fügt sich auch das Auftreten von Regularkanonikern in den Gesamtzusammenhang zisterziensischer Geltungsproduktion. 998 Vgl. Benz 2013, S. 221–223. 999 Vgl. S. 138–142 zur Vita secunda sancti Brendani.
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3 Die Höhle
Der formulierte Anspruch des TPSP, einen körperlichen Jenseitsbesuch und damit genuin Inkommensurables zu erzählen, erwies sich in der Rezeption nämlich als durchaus problematisch. Der Prolog des TPSP lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das körperliche Erzählen – d. h. eine Form der Narrativierung, die sich immanenter Kategorien bedient und selbst immer sogleich als defizitär begreift – als das bestimmende Prinzip der Erzählung verstanden werden muss. Die Zwischenraumdynamik in ihrer erzählmodalen Vorsicht wurde jedoch immer wieder missverstanden. Folgt man dem Prolog des TPSP, dann müssen die Momente der tatsächlichen Körperlichkeit, die sich aus dem physischen Eintreten Oweins in die Höhle ergeben, vor der Spannung inkommensurablen Erzählens gelesen werden. Der Text behauptet nicht, dass das Jenseits im Allgemeinen körperlich zugänglich ist, sondern bedient sich nur dieser Beschreibungskategorien, um der rezeptionsbestimmten Funktion der Jenseitsberichte Sorge zu tragen. Der TPSP ordnet sich ein in eine Reihe von Jenseitsberichten. Seine Funktionalität formuliert er im Sinne von Abschreckung und Glaubensinspiration und nicht als Referenzialisierung einer realhistorischen Pilgerstätte. Um diesen Abschreckungscharakter erfüllen zu können und um Einblicke in Aspekte der Jenseitstopographie bieten zu können, konfiguriert der Text dabei im Zwischenraum eine narrative Situation, die auf verschiedenen Ebenen das Erzählen von Inkommensurablem möglich machen soll. Anders, nahezu chiastisch verschränkt, die Funktionalität, die dem Text in seiner Rezeption beispielsweise bei Peter von Cornwall unterstellt wird: Wie bereits beschrieben, sah er sich bei seiner Abfassung des Liber revelationum im Jahr 1200 mit der Frage konfrontiert, wo denn das Patrickspurgatorium genau zu finden sei. Er zeigt die widersprüchliche Überlieferung auf, und ‚löst‘ das Problem mithilfe einer relativ genauen geographischen Ortsbeschreibung zu einer Insel hin auf, die als das heutige Station Island identifiziert werden kann.1000 Mit einer derartigen konkreten Verortung des Patrickpurgatoriums an einem realhistorisch referenzalisierbaren Ort entsteht für die Rezeption ein erhebliches Problem. Der Schwerpunkt des Textes verschiebt sich mit einer solchen Modifikation nämlich auf der Lokalisierung der Jenseitsschwelle und sein Funktionszusammenhang hin auf die Etablierung einer tatsächlichen Pilgerstätte. Das ‚Jenseits‘ ist damit tatsächlich immanent geworden, wie das auch kartographischen Abbildungen des Purgatorium S. Patricii eindrücklich zeigen, und nicht mehr nur hinsichtlich seiner narratologischen Gestaltung.1001
1000 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 37–64. 1001 Vgl. Haren und Pontfarcy 1988, S. 4.
3.4 Die körperliche Parodie Peters von Cornwall
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Mit diesem Schritt laufen die Markierungen inkommensurablen Erzählens, wie sie der Zwischenraum für den TPSP leistet, ins Leere, da sich die Schwerpunktsetzung signifikant ändert. Es geht dann nämlich nicht mehr darum, eine Jenseitserfahrung im textlichen Medium als Jenseitsbericht zu vermitteln, und alleine hier sind Inkommensurabilitätsmarkierungen vonnöten. Mit der konkreten Verortung der Jenseitsschwelle im Lough Derg, als Endpunkt einer sehr immanenten, sehr realhistorischen Pilgerreise, verschiebt sich der Standpunkt des ‚Purgatoriumsreisenden‘. Er ist jetzt nicht mehr die Figur, an deren körperlichem Erleben die Differenz von Transzendenz und Immanenz vermittelt werden muss; die Körperlichkeitsmarkierungen, die allein medientheoretische Zwecke verfolgten, werden nun unglaubwürdig. Deutlich macht diese notwendige Konsequenz die TPSP-Rezeption von Peter von Cornwall. Neben der (ausgesprochen konkreten) Lokalisierung des Patrickpurgatoriums bietet er direkt im Anschluss an eine Abschrift des TPSP1002 auch ein neues Zeugnis: Zur Regierungszeit Henrys II betritt ein Ritter das Purgatorium. Er kommt in die Halle, in der Owein schon war (quaedam aula), diese ist nun aber als ein herrschaftlicher Saal beschrieben.1003 Diener gehen ein und aus, und schließlich kommt mit großem Getöse – quasi totus mundus concuteretur1004 [als würde die ganze Welt erschüttert] – der Hausherr, König Gulinus.1005 Dieser fragt den Ritter nach dem Grund seines Besuches,1006 auf die Antwort des Ritters geht der Text jedoch nicht genauer ein. Stattdessen verliebt er sich in die Tochter des Königs, deren Schönheit, wie im TPSP noch die Unermesslichkeit des Paradieses oder die Entsetzlichkeit des Purgatoriums, alle immanenten Vergleichswerte übertrifft.1007 Gulinus gibt ihm seine Tochter und lässt den beiden ein Bett richten.1008 Statt einer Liebesnacht jedoch verkehrt sich im Moment des körperlichen Aktes die Situation, alle Erwartungen werden unterlaufen: Et ecce cum crederet se miles uti connubio illius puelle, aperti sunt oculi eius et uidit truncum uetustissimum et aridissimum et deformem iacere inter amplexus eius, et uirilem ipsius uirgam in quodam foramine facto in illo trunco coartatam, quam minister ad hoc deputatus a Gulino contriuit et eneruauit percutiendo uiriliter […].1009 1002 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 1–4, nach Easting und Sharpe 2013, S. 130. 1003 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 65–70. 1004 Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 73–74, vgl. TPSP, 309: ac si totus commoueretur orbis. [als würde die ganze Welt erschüttert]. 1005 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 70–74. 1006 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 77–78. 1007 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 80; 83–84. 1008 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 85–86. 1009 Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 86–91.
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3 Die Höhle [Und siehe da, als der Soldat glaubte, dass er den Beischlaf mit jenem Mädchen vollzieht, öffneten sich seine Augen und er sah einen Baumstamm – sehr alt, sehr spröde, gestaltlos in seinen Armen liegen, und er sah seine männliche Rute eingezwängt in eine Art Spalt, die man in jenen Stamm geschlagen hatte und die ein Diener, der von Gulinus dazu bestimmt worden war, mit Füßen trat und der er durch ein mannhaftes Peitschen die Kraft nahm […].]
Die schöne Königstochter entpuppt sich als ein alter verdorrter Baumstamm, und sein Geschlechtsteil – uirilis uirga – steckt fest. Als wäre das nicht genug, malträtiert ihn ein Diener des Gulinus dazu auch noch mit Hammer und Nägeln. Das ist nur der Beginn seiner Folterqualen: Gulinus kommt und fragt ihn, ob er ein warmes Bad wolle – nur um ihn in brodelnd heißes Wasser werfen zu lassen, das seine Glieder schmelzen lässt.1010 Er fragt, ob er zur Abkühlung in kühles Wasser eintauchen möchte – und lässt ihn in Wasser werfen, das so kalt ist, dass die Kälte wie Metall in sein Fleisch schneidet und seinen Körper aufreißt.1011 Ob er Lust auf ein Spiel hätte – nur um ihn kopfüber an einem Seil aufgehängt wie einen Spielball durch ein mit Steinen gespicktes Haus hoch und runter ziehen zu lassen.1012 Als am nächsten Tag zur selben Stunde seines Eintritts in das Purgatorium1013 schließlich Gulinus und seine Diener plötzlich verschwinden, kann der Ritter das Purgatorium verlassen.1014 Diese Erzählung des Gulinus ist zweifellos parodistisch zu verstehen. Mit der Auflösung der Doppelläufigkeit des Zwischenraumes formuliert Peter von Cornwall den Höhlenaufenthalt immanent aus und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Neben einer engen Anlehnung an den Aufbau der Purgatoriumstopographie im TPSP, wie es die Halle und auch die Übernahme eines Hauses zeigen, gibt es inhaltliche Parallelen, wie das Getöse oder die genau eintägige Aufenthaltsdauer. Zudem greift die Erzählung des Gulinus auch einen bestimmten Erzählmodus auf: Die Qualen werden immer schlimmer und sind nur im Verhältnis zueinander oder näherungsweise im Vergleich zu immanenten Referenzen beschreibbar.1015 Das parodistische Element knüpft an zentrale Momente des TPSP-Purgatoriums an und pervertiert sie. Der Ritter, statt seinen (vorauszusetzenden) Wunsch nach Buße irgendwie weiterzuverfolgen, im Vertrauen auf Gott glaubensstark zu blei1010 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 104–110. 1011 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 110–124. 1012 Vgl. das Lügner-Paradoxon bei den Dämonen des TPSP (H. von Sawtry, TPSP, 532–533): Alle Dämonen lügen. 1013 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1062–1063. 1014 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 144–150. 1015 Vgl. Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 109–110; 107–108; 116–117; 121–124; 143– 144.
3.4 Die körperliche Parodie Peters von Cornwall
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ben und letztlich zum irdischen Paradies zu gelangen, gibt im Angesicht der Königstochter seinem körperlichen Verlangen nach. Durch die übermäßige Herausstellung der Körperlichkeit des Ritters, als etwa sein Geschlechtsteil plötzlich in einem Astloch steckt und malträtiert wird, ist die scheinbare Absurdität einer körperlichen Purgatoriumsreise ausgestellt. Die Reise im TPSP, so der Subtext der Parodie, muss eine spirituelle sein, um den Verweischarakter auf das transzendente Heil aufrechterhalten zu können und nicht zugunsten einer basalen Körperlichkeit zu verlieren: Licet hec omnia ut illi dicunt non in rei ueritate corporaliter sed ymaginarie spiritualiter ei contingant.1016 [Es mag sein, dass dies alles, wie jene sagen, ihm [sc. Owein] nicht in der Wahrheit der Sache körperlich, sondern der Vorstellung nach geistig widerfährt.]
Angesichts der im Liber revelationum neuen lokalen Verortung des Purgatoriums verstärkt sich so der Eindruck, dass mit der späteren Verbindung der Pilgerstätte in Lough Derg mit dem TPSP ein Missverständnis der spezifischen Erzählweise des TPSP erfolgen musste. Mit der realhistorischen Verankerung musste sich die Rezeption von dem ‚körperlichen Erzählen‘ des Mönches H. entfernen. Ein konkreter Ort, d. h. eine Referenzialisierung, die nicht nur ‚Immanenz‘ als Gegenpol von ‚Transzendenz‘ erzählerisch markiert und funktionalisiert, sondern Immanenz als eigentlich begreift, gar kartographisch festsetzt, ist mit transzendenter Erfahrung als solches nicht in Einklang zu bringen. Die Vorstellung, im realen immanenten Raum eine uneingeschränkte immanente Jenseitserfahrung zu erleben, produziert eine Widersprüchlichkeit, die nicht aufrechterhalten werden kann. So wird also letztlich zugunsten der Verhandelbarkeit der realen Pilgerstätte im Lough Derg auf die Spannung eines immanenten Transzendenzerlebens verzichtet und diese zugunsten eines rein spirituellen Visionsverständnisses aufgelöst. Körperliches Erzählen, wie es der TPSP beschreibt, kann nur den Anspruch, immanent Jenseitiges zu beschreiben, erfüllen, wenn dieses Körperliche im Erzählverlauf immer wieder transzendiert wird. Der TPSP erzählt zwar durchaus von körperlichen Strafen, in allem Detailreichtum. Diese ‚Körperlichkeit‘ allerdings ist kein Selbstzweck, sondern im TPSP als einziges immanentes Mittel begründet, Transzendentes zu beschreiben. Es wird von körperlichen Qualen, von blühenden Feldern und allem Anderem nur deshalb gesprochen, weil im eigentlichen Sinne nicht von Transzendentem gesprochen werden kann. Sobald die Rezeption diese Verweisungsstruktur auf das Transzendente mit der konkreten Lokalisierbarkeit unterläuft 1016 Peter von Cornwall, Liber revelationum, I, 5, 35–37.
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3 Die Höhle
und die immanenten ‚Körperlichkeiten‘ radikal immanent realhistorisch denkt, wird statt einer medientheoretischen Paradoxalität eine unbedingte Gleichung eröffnet, die nur ins Leere laufen kann. Die Funktionsweise der Zwischenraumerzählung wird grundlegend verkannt und statt ihrer medialen Notwendigkeit eine radikale Entsprechung von realer Höhle und transzendentem Jenseits behauptet, die realiter nicht eingelöst werden kann – weil sie medial gedacht ist. Ein immanenter Jenseitsraum, wie ihn der TPSP erzählt, kann und darf nicht konkret lokalisierbar sein, um immanenter Jenseitsraum bleiben zu können. Der Erzählmodus der Körperlichkeit ist genau das: ein narratologischer Modus, der mit Entsprechungen arbeitet und keine Realitäten behauptet. Sobald diese Paradoxie, wie sie in der Zwischenraumerzählung durch den Verweis auf beide Pole herbeierzählt, und wie sie im TPSP in der Theorie körperlichen Erzählens medientheoretisch unterfüttert wird, zugunsten immanenter Realität aufgelöst wird, bricht diese Struktur auf. Es bedarf der erzählerischen Struktur eines Zwischenraumes in all seiner Paradoxie, um immanente Jenseitsräume erzählen zu können. Spätere Rezeptionen, die diese Paradoxie zugunsten einer Immanentisierung des Raumes aufheben, negieren zugleich die komplexe narrative Raumdynamik und ebnen den Weg für fantastische Parodien wie die des Gulinus. In ihrem ganz eigenen Blick auf den TPSP jedoch identifizieren sie auch dessen zentrales narratives wie narratologisches Moment, die Erzählung eines immanenten Jenseitsraums.
4 Der Wald Wie sein Biograph Jonas von Bobbio schreibt, gelangen der irische Wandermönch Columbanus und seine Schüler nach langer Pilgerschaft schließlich in das norditalienische Bobbio. Dieser Ort, an dem er sein letztes Kloster gründen sollte, befindet sich – aus gutem Grund – in einem Wald.1017 Der spirituellen Einsamkeit (desertum), die in der NSB noch im atlantischen Ozean gesucht und auf verschiedenen Inseln gefunden worden ist, wird in den Narrativen des Kontinents ein neuer Raum zugewiesen. Hier gibt es weder die Wüste der Wüstenväter noch das zum Westen hin endlose Meer, wo der eremitische Mönch seinen spirituellen Lebensraum finden könnte. An deren Stelle tritt der Wald,1018 der wie Insel und Höhle in Begriff, Narrativen und historisch-kultureller Realität die Antithese zum geordneten Kulturraum figurieren kann.1019 Das Verständnis des Waldes als exzeptioneller Heilsraum schafft die Grundlage seiner narratologischen Ausarbeitung als ein Zwischenraum, in dem immanent Jenseitiges erfahren werden kann. Der Wald darf dabei jedoch nicht einzig als eremitischer Heilsraum verstanden werden, wie das auch die Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ zeigen wird: Cluny, der Zisterzienserorden und auch die Kartäuser finden im Wald eine strukturelle ‚Freiheit‘, die sich nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von Klostergründungen, gerade im Wald, niederschlägt.1020 1017 Vgl. Jonas, Vita Columbani, I, 30, S. 220, Z. 10–S. 222, Z. 18 (ediert von Krusch 1905), vgl. auch Le Goff 1990, S. 86–87. 1018 Dies führt soweit, dass silva mit desertum teils synonym verwendet wird, vgl. Le Goff 1990, S. 90–91. In althochdeutschen Glossen konnte eine Gleichsetzung von eremus mit walt aufgezeigt werden, vgl. Hiestand 1991, S. 64. Damit ist keine chronologische oder gar teleologische Entwicklung von der ‚Meereswüste‘ zur ‚Waldwüste‘ postuliert. Es scheint sich vielmehr um eine entsprechende Anpassung des Gestus der peregrinatio bzw. des Eremitenlebens an die kulturellen wie geographischen Gegebenheiten Mittel- und Westeuropas zu handeln, die wiederum zu einer entsprechenden Anpassung des Narrativs führt. Zur topischen Funktion von Wüste und Meer vgl. McGinn 1994. 1019 Vgl. Schnyder 2008, 124–125; Vavra 2008, S. 3–5; Saunders 1993, S. 1–10. Wie das auch beim Ozean der Fall ist (vgl. Sobecki 2008, S. 39), wird ‚Wald‘ dabei semantisch mit dem primordialen Chaos gleichgesetzt, vgl. für ὕλη und silva etwa Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIII, 3, 1. Zu diesem semantisch-metaphorischen Zusammenhang vgl. Schnyder 2008, S. 123–124 sowie Saunders 1993, S. 19–24. 1020 Vgl. Hiestand 1991, S. 64–67.
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4 Der Wald
4.1 Die Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘ Ab dem zwölften Jahrhundert verbreitet sich auf dem Kontinent in lateinischen wie volkssprachlichen Fassungen die Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘.1021 In pragmatischer Funktionalität, motivischer und sprachlicher Ausarbeitung sind sie vielfältig, der Kern der Erzählfassungen1022 jedoch bleibt derselbe: Einem Mönch1023 erscheint eines Tages ein Vogel. Er verlässt sein Kloster und folgt dem Vogel in einen nahegelegenen Wald – in einigen Fassungen in einen Garten –, wo er seinem Gesang lauscht. Als der Vogel wegfliegt, kehrt der Mönch in sein Kloster zurück. Statt allerdings nur wenige Minuten oder Stunden mit dem Vogel verbracht zu haben, so stellt sich heraus, ist er einige hundert Jahre verschwunden gewesen. Ihm ist eine Jenseitserfahrung zuteilgeworden. Wo war der Mönch während all dieser Jahre, war er im Wald? Wieso ist er nicht gealtert? Wieso entspricht sein Zeitempfinden nicht der erzählten ‚Realität‘ der Normwelt? Im Versuch, sich diesen Fragen anzunähern, verwendet die Forschungsliteratur an verschiedenen Stellen den Begriff der „Entrückung“,1024 also eine die physischen Fähigkeiten des Menschen übersteigende zeitliche und räumliche Entfernung unter Aufhebung aller physikalisch erklärbaren Gesetzmäßigkeiten in den jenseitigen Raum […], in eine ferne Gegend, aber auch in eine irreale Umwelt.1025
Dieser Vorstellung von ‚Entrückung‘ liegt ein binäres Konzept von ‚Diesseits‘ und ‚Jenseits‘ zugrunde, das kategoriale System der jenseitigen steht dem der diesseitigen Welt diametral gegenüber. Der resultierende Konflikt, wie er hier als ‚Entrückung‘ gefasst ist, vollzieht sich am Körper des Entrückten und kann auf verschiedene Weisen offenbart und erzählt werden. In ‚Mönch und Vöglein‘ lassen etwa das heterochrone Erleben des Protagonisten und die Exzeptionalität des Vogelgesangs1026 keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich hier um die Beschreibung einer außerwelt1021 Für einen ersten Einblick in diese Erzähltradition vgl. den EM-Artikel Wagner 1999, eine längere und umfassendere Ausführung findet sich bei Wagner 2006. 1022 In der Klassifizierung von Antti Aarne, Stith Thompson und Hans-Jörg Uther trägt dieser Erzähltyp die Nummer ATU 471A (vgl. Uther und Thompson 2004, Bd. 1), im Index von Frederic C. Tubach (1969) die Nummer 3378. 1023 Die Ordenszugehörigkeit des Mönchs bleibt in den frühen Fassungen offen, erst später kann er vereinzelt als Benediktiner-, Zisterzienser- oder auch Bettelmönch identifiziert werden, vgl. Roessler 2003, S. 5. 1024 Vgl. Wagner 2006, S. 239, Wagner 1999, Sp. 788, Röhrich 1962, S. 275. 1025 Daxelmüller 1984, Sp. 43. 1026 Vgl. die Tabellen auf S. 261 sowie S. 264.
4.1 Die Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘
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lichen, paradiesischen Erfahrung handelt. Gesetzmäßigkeiten werden ausgesetzt, kategoriale Erklärbarkeit zumindest herausgefordert. Allein wird diese Kategorie der ‚Entrückung‘ der Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ aber trotzdem nicht gerecht. Subsumiert man die Erzählung unter den Begriff der ‚Entrückungssage‘1027 und sieht ihren Schwerpunkt folglich im Moment des Verschwindens als einer Realisierung von kategorial konfligierendem Dies- und Jenseits, verkennt man die komplexen narratologischen Komplikationen und Explikationen dieses kategorialen Konflikts. In der Erzählung wird eben nicht einzig eine momenthafte, etwa als im definierten Sinne ‚transzendente‘ Erfahrung1028 inszeniert – die Komplikationen einer solchen ‚Entrückung‘ werden vielmehr narratologisch ausgehandelt. Um diese spezifische Aushandlung, wie sie sich gerade im Handlungsraum der Entrückung zeigt, beschreibbar zu machen, ist eine Lösung vom strengen Entrückungsbegriff notwendig. Anstelle des binären Gegenübers von Welt und „irreale[r] Umwelt“ bedarf es einer narratologischen Annäherung an die spezifische Modalität dessen, was sich als Entrückung figuriert und doch im Kern Binarität und damit das zentrale Moment des Entrückungsbegriffs unterläuft. ‚Mönch und Vöglein‘ nämlich erzählt einen Überlagerungsraum, der zwar im Verhältnis zur Ausgangswelt eine ‚Entrückung‘ darstellt, aber immer auch die Inkommensurabilität einer ‚absoluten‘ Entrückung durch das nie vollends erreichte transzendente Jenseits mitverhandelt. Die Erzählung arbeitet nicht mit einem binären Gegenüber, sie fokussiert den Raum dazwischen.1029 Die Relevanz dieses Raumes in ‚Mönch und Vöglein‘, wie er im Wald bzw. im Garten ausgestaltet wird, lässt sich anhand der verschiedenen Erzählfassungen1030 zeigen: Die früheste überlieferte Fassung stammt aus der altfranzösischen Predigtsammlung1031 des Maurice de Sully, des Nachfolgers von Petrus Lombardus auf dem Pariser Bischofssitz. Die Predigten sind sowohl lateinisch- als auch volkssprachig überliefert, das exemplum1032 von ‚Mönch und Vöglein‘ allerdings fehlt in der lateinischen
1027 Röhrich 1962, S. 275. 1028 Vgl. S. 5–8. 1029 Aus diesem Grund und um dieser Forschungstradition trotzdem Rechnung zu tragen, wird in seiner Paradoxie im Folgenden mit dem Begriff des ‚Entrückungsraumes‘ in Abgrenzung zum Begriff des ‚Referenzraums‘ operiert. 1030 Zur Überlieferung der Erzählung vgl. Wagner 1999, Sp. 788–793, 789. 1031 Die Erzählung taucht als ein exemplum in der Predigt des dritten Sonntages nach Ostern auf (incipit: mulier, cum parit, tristitiam habet, quia venit hora ejus – Wenn die Frau gebären soll, hat sie Trauer, weil ihre Stunde gekommen ist (Joh 16,21)). Zu den Predigten des Maurice de Sully vgl. Longère 2004 und Reeves 2015, S. 74–77. 1032 Zur Textsorte des exemplum vgl. für einen ersten Überblick Palmer 1996, S. 582–588, vgl. außerdem Studer 2013, S. 28–35.
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Fassung der Predigt,1033 bei der es sich wohl um die ursprünglichere Version handelt.1034 Vor dieser Fassung des Maurice de Sully soll es eine chronikale Fassung aus der Abtei Affligem in Belgien gegeben haben,1035 der Text ist jedoch nur als ‚Nachdruck‘ aus dem achtzehnten Jahrhundert überliefert.1036 In der Nachfolge des Maurice de Sully, der weitgehend als – zumindest mittelbare – Quelle der weiteren Fassungen Akzeptanz gefunden hat,1037 taucht die Erzählung meist als exemplum im Kontext der Predigt auf, so auch in den zeitlich nächsten Fassungen des dreizehnten Jahrhundert, bei Odo von Cheriton,1038 Jakob von Vitry1039 und Martin von Troppau.1040 Die Erzäh-
1033 Vgl. dazu Meyer 1867, S. 467. Dieses Fehlen muss angesichts der signifikanten Abweichungen der Fassungen (vgl. Spieralska 2007, S. 96–98) allerdings nicht bedeuten, dass ein lateinisches Äquivalent des exemplum verloren gegangen ist. Es kann sich schlichtweg um eine Hinzufügung in der späteren altfranzösischen Fassung handeln. 1034 Vgl. dazu Spieralska 2007, S. 96. Die lateinischen Predigten sind bis heute nicht kritisch ediert worden. Eine paläographische Studie von Jean Longère (1988) gibt einen Überblick über 39 Handschriften. Wie bereits das exemplum von ‚Mönch und Vöglein‘ und seine Überlieferung einzig in der altfranzösischen Fassung suggeriert, weichen die altfranzösischen Predigten stark von den lateinischen ab (vgl. Meyer 1867, S. 467, Spieralska 2007, S. 96–98). Die französischen Predigten sind von Charles Robson (1952) ediert worden, die besprochene ist hier unter der Nummerierung 18 der Predigten aufgeführt, welche auch im Weiteren beibehalten wird. Die Prämisse dieser Edition jedoch, eine bestimmte Handschrift rekonstruieren zu wollen, um daraus Rückschlüsse auf den historischen Überarbeitungsprozess von Maurice de Sully erhalten zu können (vgl. Robson 1952, S. VIII und 75), macht diese Edition für die Untersuchung des exemplum weniger tauglich, zumal diese Handschrift gerade an dieser Stelle eine signifikante Lücke aufweist. Stattdessen sei auf die ältere Edition Paul Meyers verwiesen (1867, hier S. 473–474, Fortführung auf S. 485), die auch bei Röhrich 1962, S. 128–130 abgedruckt ist und der die folgenden Zitationen folgen. 1035 So Gerould 1902, S. 63, der den Text entsprechend der Chronikaussage auf das Ende des elften Jahrhunderts datiert. Der Text wird immer wieder gerne im Kontext von ‚Mönch und Vöglein‘ zitiert und aufgrund verschiedener Merkmale als relativ frühen Vertreter der Erzähltradition angenommen, vgl. Filgueira Valverde 1982 [1935], S. 87. Da dies jedoch spekulativ bleiben muss, wird diese Fassung hier bis auf wenige Verweise nicht berücksichtigt. In der Edition des Chronicon Affligemense (terminus post quem 1122) von Georg Heinrich Pertz (1851) taucht diese Erzählung nicht auf. Für einen Abdruck des Textes vgl. Dunlop 1851, S. 543. Der Text dieses Abdrucks entspricht der Fassung von Regaus 2002 (Hafflighemium illustratum I, 61). 1036 Vgl. Regaus 2002 [Nachdruck], Bd. 1. 1037 Vgl. Wagner 1999, Sp. 789, Röhrich 1962, S. 277. Für eine deutsche Übersetzung des altfranzösischen Exempels vgl. die Teilübersetzung von Roessler 2018, aus der im Folgenden, wo passend, zitiert werden wird. Gegen eine unmittelbare Abhängigkeit spräche beispielsweise die Komplexitätsreduktion der Fassungen des dreizehnten Jahrhunderts im Verhältnis zu der des Maurice de Sully. 1038 Vgl. Odo von Cheriton, Parabolae, 780 (ediert von Hervieux 1970/4, S. 295). 1039 Vgl. Jakob von Vitry, Exempla, 19 (ediert von Frenken 1914, S. 108–109). 1040 Vgl. Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, Promptuarium 16 (de gloria eterna), zitiert nach der Inkunabel Straßburg, [Drucker des Jordanus (=Georg Husner)] 1484, auch abgedruckt bei Röhrich 1962, S. 131.
4.1 Die Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘
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lung wird schließlich aufgenommen in die Acta martyrum et sanctorum sowie die Kalendergeschichten1041 und es folgen eine Vielzahl weiterer Fassungen auch in den Volkssprachen.1042 Darunter seien beispielsweise das mittelhochdeutsche Gedicht vom Mönch Felix erwähnt,1043 das gegen Anfang des dreizehnten Jahrhunderts verfasst worden ist,1044 oder die galizisch-portugiesische Fassung in den Cantigas de Santa Maria,1045 ebenfalls aus dem dreizehnten Jahrhundert.1046 Die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Fassungen sind nicht geklärt,1047 alle frühen Fassungen jedoch erzählen die Entrückungserfahrung 1041 AASS Sept. 3, 644–664, vgl. Wagner 1999, Sp. 789 und Anm. 5. Zur Verbreitung der Erzählung vgl. beispielsweise den Kommentar bei Röhrich 1962, S. 275–280. 1042 Im späteren Verlauf der Überlieferung teilen sich die Fassungen in zwei Gruppen: eine, in der Gott einen zweifelnden Mönch die Ewigkeit erfahren lässt, und eine zweite, in der der Wundervogel als Probe dessen, was kommt, geschickt wird (vgl. Wagner 1999, Sp. 789, wiederholt bei Wagner 2006, S. 241). Diese Unterscheidung ist jedoch ein Merkmal der späteren Entwicklung des Erzähltyps und für die ersten Fassungen der Erzählung nicht haltbar, da diese alle zum Typus der ‚positiven Affirmation‘ zu zählen sind und einem positiven Impuls folgen, vgl. Tabelle auf S. 264. Für einen Überblick vgl. das der Monographie beigefügte Schema bei Müller 1912: Die Darstellung verfügt zwar über keine Legende, die ihr chronologisches Verhältnis entsprechend klären würde, jedoch bietet sie einen hilfreichen ersten Überblick über die vorhandenen Fassungen. 1043 Vgl. Palmer 1987, ediert bei Mai 1912, S. 433–448. 1044 Vgl. Palmer 1987, Sp. 647. 1045 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, zitiert nach Montoya 2008 [1988]. Vgl. außerdem Poole 2007, hier auch eine Übersetzung (S. 124–125). 1046 Neben diesen Fassungen gibt es außerdem bereits seit dem zwölften Jahrhundert mit dem „Entrückten Bräutigam“ des Engelhard von Langheim eine verwandte Erzählung aus dem nicht-monastischen Bereich, vgl. Palmer 1978; Meisen 1955. Eine erste Edition dieses Textes von Engelhard von Langheim bei Schwarzer 1882, vgl. außerdem Oppel 1976, S. 110–135. Die letztere Edition ist allerdings nur als Mikrofiche veröffentlicht und nicht Teil der gedruckten Monographie. Es folgen im vierzehnten Jahrhundert Erzählungen wie die der Tochter des Kommandanten von Großwardein (vgl. Reissenberger 1901) oder der Sultanstochter im Paradiesgarten (vgl. Palmer 1995). 1047 Auffällig aber sind die Parallelen zwischen Martin von Troppau und Maurice de Sully, die in dieser Art bei Jakob von Vitry und Odo von Cheriton nicht auftauchen. Dem bons hom de religion [„frommer Mann“, Roessler 2018, S. 122] von Maurice de Sully steht bei Martin von Troppau quidam religiosus [ein gottesfürchtiger Mann] gegenüber. In beiden Fassungen wird geschildert, wie der Protagonist dem Vogel folgt, beide sprechen explizit von einem Baum, auf den sich der Vogel schließlich setzt, beide betonen das von der erzählten Realität differente Zeitempfinden des Mönches, und bei beiden gibt es Momente der legitimierenden Wertung der Jenseitserfahrung: Der Pförtner erkennt den Protagonisten nicht, Abt und Prior ebenso wenig. All das sind Motive bei Maurice de Sully und Martin von Troppau, die bei Jakob von Vitry und Odo von Cheriton nicht auftauchen. Diese wiederum verweisen beide auf den Psalm 89,4 [90,4], dem in einzelnen Fassungen eine impulsgebende Funktion zukommt: Quoniam mille anni ante oculos tuos tamquam dies hesterna quæ præteriit. [Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist […].] Die Überlieferungslage verhindert weitere Schlussfolgerungen, die Parallelen zwischen Martin von Troppau und Maurice de Sully, mit zeitgleicher Differenz gerade des spezifischen Entrückungsraumes
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ihres Protagonisten in einem spezifischen Entrückungsraum1048 und formieren eine räumliche Doppelstruktur von Kloster als Referenzraum und Wald bzw. Garten als Entrückungsraum.1049 Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich bei der Verwendung des Gartens als Entrückungsraum keinesfalls einzig um ein Eingeständnis an die „logic of the story“.1050 Wald und Garten sind in den Fassungen nahezu austauschbar und werden erst in späteren Fassungen wie der Cantiga 103 der Cantigas de Santa Maria weiter ausdifferenziert.1051 Das Kloster, wo der Weg des Protagonisten in den immanenten Jenseitsraum beginnt und in das er ihn zurückführt, fungiert hingegen in allen Fassungen als Wiedereintrittspunkt der paradiesischen Transzendenzerfahrung in die immanente Welt.1052 Das konkrete Kloster wird dabei, zumindest zu Beginn des Diskurses, nicht bezeichnet. Das ändert sich in den späteren Fassungen. Es lassen sich in diesem Zusammenhang Tendenzen der ‚Umlokalisierung‘1053 feststellen, die für die Interpretation der Erzählung als Zwischenraumerzählung wichtige Anhaltspunkte auf die wirksamen Imaginäre geben werden. Klöster am Mittel- und Niederrhein beispielsweise versuchen explizit, mit eigenen ‚Mönch und Vöglein‘-Erzählungen, die Wundergeschichte zum Teil ihrer eigenen Geschichte zu machen und diese so zugleich wirksam rückzudatieren.1054 So sollen der Benediktinerabt des Klosters Siegburg Erpho1055 im Jahre 1167 und ein Abt aus dem Zisterzienserkloster Armentaria in Spanien namens Ero1056 im Jahre 1067 verschwunden sein. Beide seien im selben Jahr, 1367, wieder in ihre Abteien zurückgekehrt.1057 Ähnlich muss man wohl auch die Chronik aus Affligem bewerten, deren
(Garten bzw. Wald), weisen jedoch darauf hin, dass der Entrückungsraum in der Logik der Erzählung zwar klar begrenzt und bezeichnet werden muss, in der Ausgestaltung jedoch ‚Wald‘ und ‚Garten‘ Räume ähnlicher semantischer Funktionalität sind. 1048 Selbstverständlich konnten nicht alle überlieferten Fassungen überprüft werden, die Überlieferung ist schlichtweg zu breit. Alle konsultierten Fassungen jedoch, auch die späteren, weisen dieses Merkmal auf. 1049 In der Fassung von Maurice de Sully findet etwa die Entrückungserfahrung in einem Wald (bois) statt, bei Odo von Cheriton in einem Hain (nemus), und bei Jakob von Vitry und Martin von Troppau jeweils in einem Garten (ortus), vgl. die Tabelle auf S. 261. 1050 Mencej 2012, S. 43. 1051 Die historische Semantik beider Räume ist gleichermaßen tauglich für die Darstellung immanenter Jenseitsräumlichkeit. Diese topische Ambivalenz lässt entscheidende Rückschlüsse auf die Diskurszusammenhänge zu, vor denen sich ‚Mönch und Vöglein‘ narratologisch konfiguriert. 1052 Vgl. die Tabelle auf S. 261. 1053 Vgl. Röhrich 1962, S. 279; Wagner 1991, S. 86. 1054 Vgl. Röhrich 1962, S. 279. 1055 Vgl. Röhrich 1962, S. 143–144. 1056 Vgl. Chrysostomus Henriquez, Fasciculus, VI (De beato Erone abbate), ediert von Henriquez 1623, S. 216–217, vgl. auch Mai 1912, S. 147. 1057 Vgl. Wagner 1991, S. 85.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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wohlweislich erster Abt Fulgentius laut der Erzählung einen Mönch trifft, der 300 Jahre entrückt war.1058 Die Verknüpfung von Entrückungsraum und Klosterraum erlaubt so die Einschreibung der Wundererfahrung in die Geschichte einzelner, historischer Klöster. Für die folgende raumdynamische Untersuchung eröffnen diese einführenden Beobachtungen zu ‚Mönch und Vöglein‘ die Frage einer historischen Semantik von Wald und Garten, welche die Darstellung paradiesischer Erfahrung im immanenten Jenseitsraum erlaubt und informiert: Wie sind Wald und Garten zueinander zu bewerten? Wie sind Wald und Garten als immanente Jenseitsraum innerhalb der spezifischen Diskurse des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts zu bewerten? Welche Konsequenzen hat die narrative Verankerung im Kloster, sowohl strukturell für den Zwischenraum als auch für das Imaginäre des Klosters, das sich so in die unmittelbare Gegenwart eines Zwischenraums erzählt?
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum In der Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ erfährt ein Mönch paradiesische Freuden, je nach Fassung in einem klosternahen Garten oder Wald. Die narrative Ausgestaltung dieses Raumes ist über spezifische Erzählungen von ‚Paradies‘ dimensioniert. Der Wald, der Garten, auch der Hain: die Möglichkeit transzendenter Erfahrung ist hier topisch vorstrukturiert und etwa in Erzählungen des Phoenix auch in der resultierenden Spannung am Raum problematisiert. Antiker Topos und biblische Paradiesvorstellungen legen damit die Grundlage für eine transzendente Verweisungsstruktur des Raumes, wie sie schließlich auch in ‚Mönch und Vöglein‘ transzendente Erfahrung erzählbar macht.1059
1058 Vgl. Dunlop 1851. Die zuweilen spöttische Kritik an diesem Text, der Mönch dieser Erzählung könne zum Zeitpunkt des Textes (Ende elftes Jahrhundert) keine dreihundert Jahre entrückt sein, da das Kloster Affligem seinerseits erst im Jahre 1083 gestiftet worden sei (vgl. etwa Röhrich 1962, S. 279), geht allerdings zu weit: An keiner Stelle des Textes behauptet dieser nämlich, der verschwundene Mönch sei dezidiert aus der Abtei Affligem verschwunden, sondern einzig, dass seine eigentliche Lebenszeit (determiniert über den Namen seines Abts und regierende Fürsten) dreihundert Jahre vor der Handlungszeit der Erzählung anzusetzen sei. 1059 Anders als für Insel und Höhle sind dabei zumindest für das räumliche Narrativ Erzähltraditionen aus dem irischen Bereich von geringerer Bedeutung: Wie bereits erwähnt, greifen hier andere (Heils-)Räume.
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4.2.1 Die Topologie des irdischen Paradieses Spätestens seit Ernst Robert Curtius ist der locus amoenus als feststehender, eigenständiger Topos der antiken und mittelalterlichen Literatur bekannt.1060 Es handelt sich um einen spezifisch gestalteten Naturausschnitt, eine künstliche Überformung von Landschaft, die als solche von der Antike bis ins hohe Mittelalter bekannt ist1061 und in verschiedenen Kontexten funktionalisiert wird. Seine Anfänge nimmt der Topos in der bukolischen Hirtenidylle Theokrits und Vergils als ausschmückendes Beiwerk. Wie etwa Vergil die Elysischen Felder nach den Prinzipien des locus amoenus zeichnet, wird im christlichen Kontext das irdische Paradies erzählt, bis der Topos als festes rhetorisch-poetisches Darstellungsmittel schließlich auch in den Poetiken des zwölften Jahrhunderts seinen festen Platz findet.1062 Ein locus amoenus weist üblicherweise mindestens drei Merkmale auf: einen Baum, eine Wiese und Wasser in Form einer Quelle oder eines Baches. In der weiteren Ausgestaltung können Vögel und Vogelgesang, Blumen und ein Windhauch hinzutreten,1063 der locus amoenus kann in einem Garten1064 auftauchen, sich bei einer Grotte1065 oder auch innerhalb eines Waldes befinden. Motivisch bedienen sich die loci amoeni utopischer Motivik1066 etwa eines gemäßigten Klimas1067 oder des ‚ewigen Frühlings‘.1068 Die Bäume tragen ganzjährig Früchte,1069 der locus amoenus ist frei von verschiedenen menschlichen Übel wie Alter und Krankheit,1070 und duftende Blumen1071 und Kräu-
1060 Vgl. Curtius 112010, S. 202–206. Für die Rolle des locus amoenus in der deutschen Literatur des Mittelalters mit Schwerpunkt auf seine narratologische Funktionalität vgl. Classen 2018, S. 266–268. Für eine Auseinandersetzung mit Ernst Robert Curtius in der neuesten Toposforschung vgl. Jablonski 2019, hier besonders S. 45–49. 1061 So taucht der locus amoenus auch in den Etymologien des Isidor von Sevilla auf (XIV, 8, 33), vgl. in Abwandlung Isidors außerdem Hrabanus Maurus, De universo, XIII, 12. Beide Enzyklopädien weisen ausdrücklich darauf hin, dass eine Landschaft, die einen locus amoenus darstellt, nicht wirtschaftlich genutzt wird. 1062 Überliefert sind Behandlungen des locus amoenus in den Texten des Matthäus von Vendôme, Galfredus de Vino Salvo, Gervasius von Melkley und eines anonymen Verfassers, vgl. dazu Thoss 1972, S. 34–52. 1063 Vgl. Curtius 112010, S. 202. 1064 Vgl. den Garten des Alkinoos, Homer, Odyssea, VII, 112–131, oder den Garten der Flora bei Ovid, Fasti V, besonders 207–214. 1065 Vgl. Kalypsos Grotte auf Ogygia, Homer, Odyssea, V, 55–72, vgl. auch Thoss 1972, S. 3. 1066 Zum Begriff des ‚utopischen Motives‘ vgl. Anm. 64. 1067 Vgl. Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 409–410, Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 52–55 (nach der Edition von Hall 1985, hier S. 86–100). 1068 Vgl. beispielsweise Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 55. 1069 Vgl. beispielsweise Homer, Odyssea, VII, 114–121. 1070 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 15–16, Claudian, Carmina, 27, 8–9. 1071 Vgl. Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 412–416.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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ter,1072 ein nur leichter Windhauch,1073 Vogelgesang1074 und (bunte) Wiesen1075 sprechen die Sinne an.1076 Narratologisch-strukturell jedoch sind diese loci amoeni aus der Erzählung der einzelnen Texte herausgenommen, sie stehen still.1077 Mithilfe von beispielsweise standardisierten Einleitungsformeln wie est locus1078 zu Beginn der Ortsbeschreibung ist der Raum aus der Erzählung ausgeklammert,1079 er ist zwar integraler Bestandteil der erzählten Welt, tritt aber nicht in einen Austausch mit der umgebenden Normwelt. Die als loci amoeni beschriebenen Räume sind nicht in ihrer Zugänglichkeit narrativiert, ganz im Gegenteil: Der Topos des locus amoenus tritt in seiner konkreten Räumlichkeit hinter das allgemeine Ideal zurück. Über die Allusion einer standardisierten Landschaft wird ein Ideal inszeniert, das als solches primär statisch bleibt. Diese Statik wird etwa über implizite und explizite Zugangsregulationen in Richtung des nicht-idyllischen Raums realisiert, so dass der locus amoenus etwa auch nicht explizit betreten und niemand in Interaktion mit diesem nahezu hermetischen Raum tritt. Beispiele dafür liefern die Darstellungen ‚göttlicher‘ Wohnsitze inmitten der loci amoeni: Im Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae des Claudian befindet sich der Palast der Venus inmitten eines Haines,1080 das Haus der Aurora steht in einer blühenden und duftenden Landschaft,1081 das Schloss der Natura steht nach Alanus ab Insulis auf einem Berg, der hoch über einem Hain ragt.1082 In allen drei Darstellungen befindet sich der Palast in1072 Vgl. Dracontius, De laudibus Dei, I, 182 zitiert nach der Edition Moussy und Colette 1985; Sidonius Apollinaris, Carmina, 412–415. 1073 Vgl. Dracontius, De laudibus Dei, I, 199. 1074 Vgl. Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 62–64; Laktanz, De ave Phoenice, 45–59. 1075 Vgl. Dracontius, De laudibus Dei, I, 181; Prudentius, Cathemerinon III, 101, 104; Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 61; Laktanz, De ave Phoenice, 11. Ähnliche Motive tauchten bereits bei den Darstellungen verschiedener Inseln in der NSB auf und erlaubten über die Negierung bzw. Modifikation normweltlicher Kategorien die Konfiguration des spezifisch anderen Raumes, vgl. unter dem Begriff des ‚Wunderbaren‘ S. 81–84. 1076 In der Nachfolge der Poetiken werden diese Sinneseindrücke ausdrücklich als solche beschrieben, Dagmar Thoss (1972, S. 56–59) spricht in diesem Zusammenhang von einem „sensus-deliciae-Schema“ (S. 56). 1077 Vgl. Thoss 1972, S. 55. 1078 Vgl. beispielsweise Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 407; Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 193, zitiert nach Hecquet-Noti 1999; Alanus ab Insulis, Anticlaudianus, I, 55, zitiert nach der Edition Wetherbee 2013. 1079 Vgl. Thoss 1972, S. 53–56. 1080 Vgl. Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 49–71. 1081 Vgl. Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 407–417. 1082 Vgl. Alanus ab Insulis, Anticlaudianus I, 107–114. Zur personifizierten Natura als Bildnerin des locus amoenus vgl. Thoss 1972, S. 55–56. Ähnlich ist auch die Darstellung des Hauses der Venus bei Sidonius Apollinaris, vgl. Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 407–417.
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4 Der Wald
mitten topischer loci amoeni, die wiederum entweder über eine Insel,1083 eine Hecke1084 oder einen Wald1085 räumlich eingegrenzt werden. In keiner dieser drei Darstellungen wird jedoch der Übertritt eines Menschen über diese Schwellen erzählt, geschweige denn der Eintritt in die in sich geschlossene Beschreibung des locus amoenus oder gar des Palastes in ihrer Mitte. Der locus amoenus und damit auch der durch ihn topisch beschriebene Garten oder Wald ist primär ein Sonderraum. Er ist die poetische Markierung des Besonderen über die Allusion des Allgemeinen, jedoch tritt er in der eigentlichen Erzählung in den Hintergrund. Er interagiert nicht mit der umgebenden Landschaft und problematisiert seinen Zugang auch nicht auf der Folie etwaiger kategorialer Differenzen. Irdische Paradiese der Bibelepik Die Gestaltungsprinzipien, die E. R. Curtius in der locus amoenus-Topik nachzeichnet, finden sich – explizit auch zusammen mit den skizzierten narrativen und narratologischen Momenten der Begrenzung – in den jüdischchristlichen Darstellungen des irdischen Paradieses: [P]lantaverat autem Dominus Deus paradisum voluptatis a principio in quo posuit hominem quem formaverat produxitque Dominus Deus de humo omne lignum pulchrum visu et ad vescendum suave lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali et fluvius egrediebatur de loco voluptatis ad inrigandum paradisum qui inde dividitur in quattuor capita […]1086 [Dann pflanzte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen.]
1083 Vgl. Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae 49–50: Der locus amoenus befindet sich auf Zypern und ist wegen eines Berges für den Menschen unzugänglich (invius humano gressu), vgl. außerdem Homer, Odyssea V, 55–72. Zweifellos kann auch der Hain um die Grotte der Kalypso auf Ogygia (Homer, Odyssea, V, 55–72) zu diesen Darstellungen gezählt werden. 1084 Vgl. Claudian, Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae, 56–57. 1085 Vgl. Alanus ab Insulis, Anticlaudianus, I, 84. Curtius fasst diese Darstellungsform eines Haines inmitten eines Waldes als sogenanntes „Tempe-Motiv“ zusammen und führt es auf u. a. Theokrit (Eidyllia XXII) zurück, vgl. Curtius 112010, S. 206. 1086 Gen 2,8–2,10.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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Das irdische Paradies (paradisus voluptatis)1087 der Genesis1088 weist zentrale Merkmale eines locus amoenus auf, Bäume (omne lignum pulchrum) und eine Wasserquelle (fluvius) in Form der vier Flüsse. Die Bezeichnung ‚Paradies‘ taucht das erste Mal in der Genesis-Übersetzung der Septuaginta1089 auf, die hebräische Fassung des zweiten Kapitels der Genesis spricht an dieser Stelle ‚nur‘ von einem „Garten in Eden“ (gan-beEden).1090 Der „Garten“ der hebräischen Fassung wurde daraufhin von den Übersetzern der Septuaginta mit dem altgriechischen Begriff des παράδεισος gleichgesetzt und somit im eigentlichen Sinne auf seine absolute Grundbedeutung reduziert: der Garten in Eden als ein umfriedeter Park.1091 Als zusätzliches Merkmal der Paradiesbeschreibung tritt neben der idyllischen Topik somit ein Begrenzungsmoment. In der spätantiken Bibelepik wird diese Figuration motivisch und strukturell beibehalten. So beschreibt Sedulius (erste Hälfte 5. Jahrhundert)1092 im Carmen Paschale grüne Wiesen, blühende Haine und Quellen,1093 nach dem Cathemerinon des Prudentius (348/9–nach 405)1094 herrscht im Paradies ewiger Frühling1095 und auch in den ausführlicheren Schilderungen des Avitus von Vienne (gest. 518)1096 und des Dracontius (spätes 5. Jahrhundert)1097 wird
1087 Zum Begriff des paradisus voluptatum vgl. Scafi 2006, S. 35. Paradisus voluptatum meint dabei ganz allgemein eine eingehegte Landschaft, unter der man sich auch eine Wiesenfläche vorstellen kann. 1088 Vgl. Gen 2,8–3,24. 1089 Vgl. Καὶ ἐφύτευσεν κύριος ὁ θεὸς παράδεισον ἐν Εδεμ κατὰ ἀνατολὰς καὶ ἔθετο ἐκεῖ τὸν ἄνθρωπον, ὃν ἔπλασεν. (Septuaginta, Gen 2,8) 1090 Vgl. Scafi 2006, S. 34. Bei der bezeichneten Stelle handelt es sich um Gen 2,8. 1091 Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Altiranischen (vgl. Stolz 1995, Sp. 705) und ist in der westlichen Literatur als erstes bei Xenophon nachweisbar (vgl. Xenophon, Oeconomicus, IV, 13–14; 20). Diese Betonung der Begrenztheit hält sich im Übrigen auch bei hortus, denn auch hier ist die Grundbedeutung einzig ein eingefriedeter Raum, vgl. Ott 1989, Sp. 1121. 1092 Vgl. Schwind 2001, Sp. 319. 1093 Vgl. Sedulius, Carmen Paschale, I, 53–56: […] amoena virecta / Florentum semper nemorum sedesque beatas / Per latices intrate pios, ubi semina vitae / Divinis animantur aquis [betretet durch das vertraute Nass die lieblichen Wiesen der immer blühenden Haine und die selige Heimat, wo die Samen des Lebens mit göttlichen Wassern beseelt werden.] Für eine englische Übersetzung des Carmen Paschale vgl. Springer 2013. 1094 Vgl. Pollmann 2001, Sp. 488. 1095 Vgl. Prudentius, Cathemerinon, III, 101–105: tunc per amoena virecta iubet / frondicomis habitare locis, / ver ubi perpetuum redolet / prataque multicolora latex / quadrifluo celer amne rigat. [„Heißt dann auf lieblicher Flur sein Geschöpf / wohnen an Orten mit schattendem Laub, / wo Duft ein ewiger Frühling verströmt/und bunte Wiesen ein eilendes Naß / mit einem Strom aus vier Armen benetzt.“ Fels 2011, S. 11–12]. 1096 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 211–257. Zu Avitus von Vienne vgl. Smolak 1997a. 1097 Vgl. Dracontius, De laudibus Dei, I, 180–249; I, 348–349; III, 752–753. Zu Dracontius vgl. Smolak 1997b.
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4 Der Wald
das irdische Paradies als ein locus amoenus konfiguriert.1098 Auffällig ist zudem, dass alle genannten Texte das irdische Paradies in der Folge der Genesis als räumlich abgegrenzt beschreiben, wie das der Begriff des ‚Paradieses‘ und die Vorstellung eines der Menschheit postlapsarisch verschlossenen Raumes erwarten lässt. Am deutlichsten wird Avitus von Vienne: Lucus inaccessa cunctis mortalibus arce / Permanet, aeterno conclusus limite, postquam / Decidit expulsus primaevi criminis auctor, / Atque reis digne felici ab sede revulsis, / Caelestes haec sancta capit nunc terra ministros.1099 [Auf einem Berggipfel gibt es weiterhin einen Wald, allen Sterblichen unzugänglich und abgegrenzt durch eine ewige Grenze, nachdem der Verursacher der Erbsünde vertrieben worden und in Ungnade gefallen ist. Und da die Schuldigen verdientermaßen aus ihrem glücklichen Heim verbannt worden sind, empfängt dieses heilige Land nun himmlische Diener.]
Mit dem Sündenfall Adams (primaevi criminis auctor) ist das Paradies vorerst nur himmlischen Geschöpfen (caelestes ministri) vorbehalten und die sterblichen Menschen können es nicht mehr betreten. Mit dieser entscheidenden Definition des irdischen Paradieses als Raum, der nur himmlischen Wesen vorbehalten und dem menschlichen Zugang verschlossen ist, offenbart sich eine Differenz, an der sich schon früh eine theologische Debatte entzünden sollte: Nach der Vertreibung Adams aus dem Paradies existiert dieses weiter. Heißt das allerdings, dass es sich um einen realen Ort innerhalb der weltlichen Geographie handelt? Eine solche Verortung eines transzendenten, paradiesischen Raumes in der historischen und geographischen ‚Realität‘ bringt einige Probleme mit sich.1100 Innerhalb dieser Debatte gibt es hauptsächlich zwei Parteien, mit grundsätzlich gegenläufigen Positionen. Auf der einen Seite steht u. a. Origenes1101 mit der Position, Eden sei spirituell zu begreifen, der Garten in übertragener Weise ein Garten der Tugenden und so erzählt, um tiefere Zusammenhänge in der Übertragung verständlich zu machen. Das Paradies sei so kein historisch-geographischer Ort, es ist nur in der Allegorie beschreib-
1098 Die Überlieferung dieser spätantiken Bibelepen ist weitläufig, vgl. für einen Überblick P utter 2016, für den schulischen Zusammenhang vgl. Taylor 2013, S. 33–51, hier besonders Anm. 150. Für eine übergreifende Untersuchung bibelepischen Schreibens im Mittelalter vgl. zuletzt den Sammelband von Quast und Spreckelmeier 2017. 1099 Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 213–217. Eine englische Gesamtübersetzung findet sich bei Shea 1997. 1100 Zur frühen Debatte vgl. Scafi 2006, S. 36–41. Vgl. außerdem zum Paradies der Genesis als ‚immanenter Jenseitsraum‘ S. 13–17. 1101 Vgl. Origines, De principiis, IV, 3, 1.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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bar.1102 Auf der anderen Seite wird von etwa Laktanz1103 (250–325)1104 und Johannes Chrysostomos1105 die Meinung vertreten, der Garten Eden sei als ein physischer Ort (locus corporeus) zu begreifen – mit allen logischen Konsequenzen.1106 Dieses Spannungsfeld, das die Konzeption des irdischen Paradieses, wie es die Genesis vorsieht, eröffnet, steht im Hintergrund der spätantiken Paradieseserzählungen von Prudentius, Sedulius, Avitus und Dracontius. Sie erzählen von einem irdischen Paradies, gestalten es topisch aus, präzisieren teils sogar die vage geographische Angabe der Genesis, es läge im Osten,1107 die Differenz zwischen Paradies und Welt behalten sie jedoch insofern bei, als sie keinen konkreten, gelungenen Übergang vom historisch-geographischen in den paradiesischen Raum erzählen. Der beschriebene Paradiesesraum steht, wie es schon andere Schilderungen von loci amoeni gezeigt haben, in gewisser Weise still und nimmt nicht Teil an einer erzählten Dynamik, die außerhalb seiner selbst läge. Zwar muss man allein über die Beschreibung als ‚irdisches Paradies‘ ein Bewusstsein des Spannungsfeldes annehmen, letztendlich gibt es jedoch auch hier keine Narrativierung eines ambivalenten Übergangs.1108 Immanente Zugänglichkeit, wie sie der Zwischenraum in den hochmittelalterlichen Erzählungen narratologisch problematisiert, wird nicht verhandelt.
1102 Vgl. Scafi 2006, S. 36–39. 1103 Vgl. Laktanz, Divinae institutiones II, 13 (= De origine erroris 13). 1104 Zum Leben und Werk des Laktanz vgl. einführend Heck 1999. 1105 Vgl. Johannes Chrysostomos, Homiliae in Genesim, 13,3. 1106 Vgl. auch Louth 1995, Sp. 714–717. Die ‚Lösung‘ des Augustinus führt zu einem sowohl literalen als auch spirituellen Verständnis: Als körperliches Wesen muss Adam in einem körperlichen Paradies gewesen sein, zugleich habe der Garten aber auch spirituelle Bedeutung, vgl. Augustinus, De Genesi ad litteram, VIII, 1, 1 (zitiert nach Zycha 1970 [1894]) und Augustinus, De civitate dei, XIII, 21 (zitiert nach Dombart und Kalb 1955). Zum Zusammenhang der Debatte vgl. Scafi 2006, S. 44–47. In der speziellen Lösung der dogmatischen Frage des Paradiesgartens sieht Alessandro Scafi die Grundlage der kartographischen Darstellung des irdischen Paradieses: Erst die ‚Klärung‘ eines tatsächlichen historischen Paradiesgarten macht seine Darstellung zu einer logischen Notwendigkeit, vgl. besonders Scafi 2006, S. 46. 1107 Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 211–212, vgl. Gen 2,8. 1108 Die biblische Erzählung von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3,23–24) erzählt zwar einen Übergang, mit dieser irreversiblen (und diskursbestimmenden) Vertreibung entsteht in der Erzähllogik allerdings erst die Differenz, vgl. S. 1–5.
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4 Der Wald
Das Feld im Wald Die weite Geläufigkeit dieser Paradiesdarstellung(en)1109 dimensioniert auch spätere topische Landschaftsbeschreibungen auf das irdische Paradies hin. Bis in die Volkssprache wird so besonders der locus amoenus in einem Wald paradiesisch interpretiert und umgekehrt paradiesische Orte auf diese Weise abgebildet:1110 Die ästhetische Dimension der Ideallandschaft übernimmt die semantische Funktion einer nuancierten Jenseitsmotivik; das ‚Paradies‘ wird in den Raum des Waldes projiziert und der Wald zentraler Schritt einer komplexen Transgressionsdynamik. Einzelne Motive des irdischen Paradieses tauchen ihrem strukturellen Zusammenhang entkoppelt auf und behalten trotzdem ihre funktionale Rolle als Markierung des irdischen Paradieses bei, wie das eine Darstellung im Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach (1180–nach 1240)1111 eindrücklich zeigt: Visum est ei, quia staret ante ostium portae, de qua duas hinc inde consideravit vias exire. Una ex illis vergebat ad dexteram, altera ad sinistram; utraque tamen ducebat in silvam oppositam. Stante novicio in bivio, cum dubitaret quam illarum eligeret, senem quendam cominus stare conspexit. Cui sic ait: ‚Bone vir, si nosti, ostende mihi quae ex his duabus viis sit rectior, ad ambulandum commodior.‘ Ad quod ille respondit: ‚Ego plene et bene te expediam. Via haec, quae est a dextris, in nemore per breve spatium spinosa est, inaequalis, lutosa et aspera. Postea sequitur campus amoenissimus, longus, planus, variisque floribus decoratus. Via vero quae est a sinistris, in silva quidem commoda est, plana, sicca, lata, et bene trita, satisque deliciosa, sed non longa. Cui campus mox continuatur longus, scrupulosus, lutosus et asperrimus, etiam ipso visu horrendus. Ecce totum praedixi tibi; quodcunque volueris elige.‘ 1112 [Es schien ihm, als ob er vor einem Portal stand, von dem er zwei Wege ausgehen sah. Der eine führte nach rechts, der andere nach links. Jeder aber führte in einen gegenüberliegenden Wald. Als er am Scheideweg stand und überlegte, welchen Weg er wählen sollte, erblickte er in der Nähe einen alten Mann. Er sprach zu ihm: ‚Guter Mann, wenn Ihr es wißt, dann zeigt mir, welcher von diesen beiden Wegen der richtige und am bequemsten zu gehen ist.‘ Darauf entgegnete jener: ‚Ich werde Dir gut und gerne zu Diensten sein. Der Weg, der nach rechts führt, ist im Wald auf einer kurzen Strecke hin voller Dornen, uneben, schlammig und mühsam, doch dann folgt ein sehr anmutiges Feld; es ist lang, eben und mit den verschiedensten Blumen geschmückt. Der Weg zur Linken aber 1109 Vgl. Anm. 1098. 1110 Vgl. die Beschreibung des ander paradîse (687) im Iwein des Hartmann von Aue, 600–685, zitiert nach Mertens 32014: Der locus amoenus hier gerät in dem Moment aus den Fugen, d. h. er verliert seine utopischen Merkmale, als ein manipulativer Eingriff von außen stattfindet. 1111 Wagner 1983, Sp. 1363–1366. 1112 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, zitiert nach Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 15–S. 802, Z. 4.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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ist innerhalb des Waldes bequem, trocken, breit, gut ausgetreten, sehr lustvoll, aber nicht lang. Darauf folgt ein langes Feld; es ist felsig, schlammig, sehr mühsam und schon durch den Anblick abstoßend. Dies alles habe ich Dir vorhergesagt; wähle nun, was du willst.‘]1113
Einem Novizen, der mit dem Gedanken spielt, das Kloster zu verlassen und in die Welt zurückzukehren (ad saeculum redire),1114 erscheinen im Traum zwei Wege in einen nahegelegenen Wald. Das Tor liegt hinter ihm, die Wege vor ihm; dass einer von beiden zu gehen ist, steht außer Frage. Ihr genauer Verlauf jedoch ist ihm verborgen. So wendet der Novize sich an einen senex, den er an diesem Scheideweg sieht: Er bittet um einen Hinweis, welcher Weg der „richtige und am bequemsten zu gehen“1115 (rectior, ad ambulandum commodior)1116 sei. Mit der Frage nach dem ‚richtigen‘ Weg suggeriert der Novize ein spezifisches – wiewohl unausgesprochenes – Ziel, die Deckungsgleichheit des ‚richtigen‘ Weges mit dem ‚bequemsten‘ ist mindestens implizit. Die moralische Dimension, welche rectus ebenfalls bedeuten kann,1117 formuliert die Erwartungshaltung des Novizen, dass der bequemste auch der moralisch richtige Weg sein wird, wenn seine Identität ihm auch nicht als solcher erkennbar ist. Der alte Mann deutet dem Novizen die Wege: Am Ende des einen – rechten – Weges, struppig und unwegsam, gebe es ein weites Feld voller Blumen: campus amoenissimus1118 [„ein sehr anmutiges Feld“].1119 Auf den anderen Weg, der in jeder Hinsicht angenehm zu begehen ist, folge ein schrecklich anzusehendes Feld (visu horrendus)1120, das schlammig und in jedem Sinne mühsam sei. Die Wege sind mit Blick auf ihr Ziel also durchaus ‚richtig‘ bzw. ‚falsch‘, ihre Bequemlichkeit jedoch ist chiastisch mit der ihrer Ziele verschränkt.
1113 Nösges und Schneider 2009, S. 799–801. 1114 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 14. 1115 Nösges und Schneider 2009/2, S. 801. 1116 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 21–22. 1117 Vgl. MLLM, s. v. rectus. 1118 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 25. 1119 Nösges und Schneider 2009/2, S. 801. 1120 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 802, Z. 2–3.
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4 Der Wald
Sie stehen für den irdischen Weg zum Jenseits: Via ad dexteram, vitam significat monasticam et spiritualem; via ad sinistram, vitam saecularem atque carnalem. Silva praesens vita est, in qua more arborum homines crescunt per aetatem, et succiduntur per mortem. Utraque vita brevis est, sive monastica sit, sive saecularis. […] Campus vero longus et amoenus, paradisus est, quam per multas tribulationes oportet nos introire.1121 [Der Weg zur Rechten bedeutet das klösterliche und geistliche Leben. Der Weg zur Linken das weltliche und fleischliche Leben. Der Wald ist das gegenwärtige Leben, in welchem ähnlich den Bäumen die Menschen mit den Jahren wachsen und im Tod fallen. Jedes der beiden Leben ist kurz, sei es das monastische, sei es das weltliche. […] Das lange und liebliche Feld bedeutet das Paradies, in das wir durch vielerlei Mühsal gelangen sollen.]1122
Während der Novize vor einer Pforte (ostium portae)1123 steht, eröffnen sich dem Novizen somit die beiden Wege in den Wald metaphorisch für die beiden Lebenswege, welche dem zweifelnden Novizen offenstehen. Sie stehen (significare) jeweils für den monastischen Lebensweg – als solcher mühsam, jedoch mit dem Aufenthalt im Paradies belohnt – und für den zeitweilig angenehmen Weg der Versuchung, an dessen Ende mit dem struppigen Feld ein grauenerregendes Ziel steht. Die Deutung des alten Mannes konkretisiert, wofür die gezielte Nutzung des locus amoenus-Motives, das blumenübersäte Feld (locus amoenissimus), umgeben und abgegrenzt von einem Wald, die topologische Grundlage schafft: Das Feld im Wald ist dimensioniert über das irdische Paradies. Die paradoxale Spannung eines Weges durch den Wald, von der diesseitigen Pforte in das jenseitige Paradies, erfährt hier allerdings keinerlei narratologische Ausarbeitung oder Problematisierung. Sie ist im Motiv der Traumvision1124 und in der allegorischen Ausdeutung durch den greisen Mönch aufgehoben, die Spannung wird nicht erzählt. Die Erzähltradition des irdischen Paradieses bestimmt auch entkoppelte Einzelmotive – das des ‚einfachen‘ Feldes im Wald oder, in einem weiteren Schritt, das des Vogels auf einem Baum. Vor dem Hintergrund breiter Erzähltraditionen entwickeln sich damit räumliche und motivische Formeln, die über das irdische Paradies ihre diskursive Dimensionierung erhalten und somit potentiell in ihrem Verweis auf das ‚Paradiesische‘ gelesen werden können. 1121 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 802, Z. 8–18. 1122 Nösges und Schneider 2009/2, S. 803. 1123 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 15. 1124 Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, IV, 53, Nösges und Schneider 2009/2, S. 800, Z. 14: tale somnium vidit [der Novize „hatte […] folgenden Traum“ Nösges und Schneider 2009/2, S. 801].
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
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4.2.2 Die Transgressionsdynamik des Phoenix In den Epen der Spätantike wird das irdische Paradies vor dem Hintergrund der entsprechenden Diskurse in seiner spezifischen Sonderräumlichkeit erzählt. Das Paradies wird einzig beschrieben – wenn auch gewiss immer in Relation zum nicht-paradiesischen, nicht-idealen Raum, sobald sich die Motive der Negierung (kein Alter, kein Unwetter, kein Tod) bzw. einer idealisierenden Hyperbolie (Duft, Gesang) bedienen; die Möglichkeit von Transgression wird nicht problematisiert. Dies ändert sich in der Erzähltradition des Phoenix.1125 Erst über die Figur des Phoenix werden zwei kategorial unterschiedliche Räume miteinander verbunden und dieser Übergang narrativiert. Beim Phoenix handelt es sich um einen mythischen Vogel, der in einer Vielzahl klassischer und frühchristlicher Texte beschrieben ist.1126 Verschiedene Teile der Erzähltradition stammen vermutlich aus dem Einflussbereich Mesopotamiens,1127 die Entwicklung des Mythos, wie er über die frühchristlichen Texte bis ins Mittelalter bekannt ist, könnte aber in Griechenland stattgefunden haben.1128 In allen Fassungen des Mythos ist der Phoenix ein Vogel mit ausgesprochen langem Leben – seine konkrete Dauer variiert –, der in dem Moment ein neues Leben beginnt, in dem er verbrennt und stirbt, um wieder zu leben.1129 Was die einzelnen Details der Erzählung betrifft, unterscheiden sich die verschiedenen Berichte. Als der Ort, an dem der Phoenix sich verbrennt, werden in den Erzählungen etwa Indien oder Äthiopien erwähnt – beides ein „wonderland par excellence“1130 – teils ist es auch Syrien, später der Libanon.1131 Entsprechend der Struktur des Mythos – ein Vogel, der nahezu ewig lebt, um zu sterben, um wieder nahezu ewig zu leben – sind zwei Räume in den Erzählungen relevant; neben dem Aufenthaltsort seines Todes ist das der, an dem er sein langes Leben verbringt.1132 Dieser Lebensraum des 1125 Ein weiteres Beispiel wäre auch die Erzähltradition der Kreuzesholzlegende, die seit der Spätantike im Zusammenhang mit Adamslegenden bzw. Kreuzauffindungslegenden überliefert ist und im zwölften Jahrhundert beispielsweise in der Bibeldichtung des Gottfried von Viterbo erzählt wird (kritisch ediert bei Isépy 2016, S. 204–208). Der Schwellenübergang dieser Erzähltradition ist zwar ambivalent, jedoch nicht weiter räumlich figuriert, weshalb er hier keine besondere Berücksichtigung erfahren wird. 1126 Zum Phoenix allgemein vgl. Käppel 2000, Gruber 1993, Broek 1971, S. 3–13. 1127 Vgl. Broek 1971, S. 10. Vgl. hier die vergleichende Analyse des ägyptischen Sonnenvogels benu, S. 14–32. 1128 Vgl. Broek 1971, S. 10. 1129 Vgl. Broek 1971, S. 10. 1130 Vgl. Broek 1971, S. 20. 1131 Vgl. Broek 1971, S. 305–309. 1132 Vgl. hierzu Broek 1971, S. 305–334.
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4 Der Wald
Phoenix wird schon bald ‚paradiesisch‘ überformt. Ovid ist der erste, der den Phoenix im Elysium auftauchen lässt,1133 bis die christlichen Texte der Spätantike ihn schließlich dezidiert zu einem Teil des irdischen Paradieses machen. Das zeigt sich bei den drei frühesten poetischen Bearbeitungen des Phoenixmythos in lateinischer Sprache, im De ave Phoenice des Laktanz,1134 in einem Carmen des Claudian,1135 sowie in Avitus’ von Vienne De spiritalis historiae gestis,1136 welches explizit das christliche Paradies beschreibt. Claudian erzählt von einem Hain im Osten – lucus trans Indos Eurumque1137 [ein Wald jenseits der Inder und des Ostens]: Er ist von Meer umgeben und in ihm lebt der Vogel eintausend Jahre lang.1138 Als der Phoenix sein Alter zu spüren beginnt,1139 baut er sich aus Kräutern1140 ein Nest bzw. einen Scheiterhaufen und wird von Phoebus dort verbrannt, um ein neues Leben zu erhalten.1141 Der Phoenix stirbt, wo er immer gelebt hat, und erhält im selben ‚paradiesischen‘ Hain sein neues Leben: geminae confinia vitae exiguo medius discrimine separat ignis1142 [Das Feuer steht in der Mitte im kleinen Zwischenraum und zieht die Grenze zwischen Leben und Leben.] Leben und Tod 1133 Vgl. Ovid, Amores, II, 6, 49–54: Colle sub Elysio nigra nemus ilice frondet / udaque perpetuo gramine terra viret. / siqua fides dubiis, volucrum locus ille piarum / dicitur, obscenae quo prohibentur aves. / illic innocui / late pascuntur olores / vivax phoenix, unica semper avis. [„Einen Hain gibt’s am Fuß des elysischen Hügels mit schwarzen Steineichen; feucht ist das Land, fortwährend grünt dort das Gras. Darf man den Mythen vertraun, wird der Ort „der Wohnsitz der frommen Vögel“ genannt; er bleibt garstigen Vögeln verwehrt. Schuldlose Schwäne grasen in Scharen dort und der Phönix, der so lange lebt, einzig ja auch in der Art.“ Holzberg 1999, S. 65]. 1134 Vgl. einführend Wlosok 1989, S. 398–401. Gerade die nur implizite Christlichkeit des De ave Phoenice hat in seiner Rezeption als ein Gedicht des Christen Laktanz zu Unschlüssigkeit geführt vgl. Walla 1969, S. 119–131. Zur Autorschaft des Laktanz vgl. Fitzpatrick 1933, S. 33–35, Blake 1964, S. 17–24. Beide Studien akzeptieren Laktanz als Autor, weshalb diese Zuschreibung auch in vorliegender Untersuchung beibehalten wird. Für eine deutsche Übersetzung vgl. Kraft 1966, S. 462–467. 1135 Vgl. Claudian, Carmina minora, 27. Wie Laktanz wird auch Claudian in seiner Christlichkeit diskutiert (vgl. Shorrock 2011, S. 21, Anm. 29.) Für die Zwecke einer räumlichen Untersuchung der Texte scheint diese Frage jedoch müßig zu sein. Der relevante Aspekt ist vielmehr, dass der Phoenixhain hier in einer Art und Weise ausgestaltet wird, die sowohl der Topik eines nichtchristlichen, ‚paradiesischen‘, d. h. idealisierten Jenseitsraumes, als auch der eines genuin christlichen irdischen Paradieses entspricht. Eine ältere deutsche Gesamtübersetzung findet sich bei Wedekind 1868, die folgenden Übersetzungen jedoch stammen von der Verfasserin. 1136 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, zentral hier 211–257. 1137 Claudian, Carmina minora, 27, 1–2. 1138 Vgl. Claudian, Carmina minora, 27, 27–28. 1139 Vgl. Claudian, Carmina minora, 27, 30–31: tum multis gravior tandem subiungitur annis lustrorum numero victus [dann schließlich beugt er sich wegen der Last des hohen Alters, geschlagen durch die Zahl der Jahre]. 1140 Zur Rolle der Gewürzkräuter für die Todesvorbereitung des Phoenix vgl. Broek 1971, S. 163–172. 1141 Vgl. Claudian, Carmina minora, 27, 40–64. 1142 Claudian, Carmina minora, 27, 70–71.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
253
werden über die Figur von Feuer und Nest respektive Scheiterhaufen verschränkt. Sie sind nicht in einer räumlichen Differenz kategorial voneinander geschieden, Lebensraum und Wiedergeburtsraum fallen zusammen. Anders bei Avitus von Vienne: In erster Linie ist hier das irdische Paradies beschrieben. Als solches ist der beschriebene Raum hermetisch und sein Betreten muss nach dem Verstoß Adams (primaevi criminis autor)1143 den Sterblichen verwehrt bleiben.1144 Beschrieben wird ein locus amoenus mit ewigem Frühling,1145 Blumen, Bäumen, Früchten1146 und gemäßigtem Klima.1147 Der topische Raum, den auch hier wieder ein aus der Zeit genommenen locus amoenus figuriert, der sich jedem Zugriff entzieht und ‚still‘ steht,1148 wird jedoch mit dem Auftauchen des Phoenix dynamisiert: Hic, quae donari mentitur fama Sabaeis, / Cinnama nascuntur, vivax quae colligit ales, / Natali cum fine perit nidoque perusta / Succedens sibimet quaesita morte resurgit: / Nec contenta suo tantum semel ordine nasci, / Longa veternosi renovatur corporis aetas / Incensamque levant exordia crebra senectam.1149 [Hier wächst der Zimt, der fälschlicher Weise den Sabäern zugeordnet wird, und den der lebensempfangende Vogel sammelt, immer wenn er am Ende, das seine Geburt ist, stirbt. Verbrannt im Nest tritt er dann an seine eigene Stelle und, nachdem er den Tod gesucht hat, ersteht wieder auf: Er ist nicht zufrieden damit, der natürlichen Ordnung nach nur einmal geboren zu werden, das lange Leben seines geschwächten Körpers wird erneuert und immer wieder machen die Neuanfänge das Greisenalter nach seiner Verbrennung erträglicher.]
Auf die allgemeine, außerhalb der Zeit stehende Beschreibung des Paradieses – est locus1150 – folgt das unmittelbare hic, das den Phoenix mit dem Paradies in eine dynamische Beziehung setzt und das Paradies zum Handlungsort macht. Hier, im Paradies, sammelt der Phoenix den Zimt, den er für seine Wiedergeburt benötigt.1151 Der Text lässt dabei die Fragen offen, ob das irdische Paradies auch selbst zum Ort der Wiedergeburt wird, ob es der Lebensraum des Phoenix ist, und ob über den Phoenix eine räumliche Differenz zwischen paradiesischem und nicht-paradiesischem Raum überschritten und damit verhandelt 1143 Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 212–216. 1144 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 212–217. 1145 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 222. 1146 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 227–235. 1147 Vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 236–237. 1148 Vgl. Thoss 1972, S. 55, vgl. auch S. 242–244 . 1149 Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 238–244. 1150 Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 193. 1151 Vgl. zur Rolle des Zimts Broek 1971, S. 166–172, hier auch eine Vielzahl weiterer Intertexte, die Zimt mit dem Phoenix in Verbindung setzen.
254
4 Der Wald
wird.1152 Die Aussage, der Phoenix sammele den Zimt, immer wenn er seinen lebensspendenden Tod stirbt (natale cum fine perit), bedeutet nur ein iteriertes Bedingungsverhältnis und keine raumzeitliche Differenzierung. Die einzige der frühen poetischen Bearbeitungen des Phoenixstoffes, welche explizit zwei voneinander kategorial differente Räume beschreibt und diesen jeweils eine funktionelle Rolle als Lebensraum bzw. Ort der Wiedergeburt zuschreibt, ist De ave Phoenice von Laktanz.1153 Umso interessanter ist hier die Konzeption der Räume, ihrer differenzierenden Grenze und Transgression als Diskursdimension des immanenten Jenseitsraumes ‚Wald‘. Auch im Gedicht des Laktanz verbringt der Phoenix sein Leben in einem Hain: Est locus in primo felix oriente remotus, / qua patet aeterni maxima porta poli, / nec tamen aestivos hiemisve propinquus ad ortus, / sed qua Sol verno fundit ab axe diem. / illic planities tractus diffundit apertos, / nec tumulus crescit nec cava vallis hiat, / sed nostros montes, quorum iuga celsa putantur, / per bis sex ulnas imminet ille locus. / hic Solis nemus est et consitus arbore multa / lucus perpetuae frondis honore virens.1154 [Im fernen Osten liegt versteckt ein glücklicher Ort, an dem das große Tor des ewigen Himmels offen steht. Doch liegt es nicht nahe beim Ursprung des Sommers und Winters, sondern dort, von wo die Sonne im Frühling ihr Licht verströmt. Dort breitet die Ebene offenes Gelände aus, kein Hügel erhebt sich, noch klafft eine Talhöhlung. Aber über unsre Berge, deren Rücken für hoch gelten, ragt dieser Ort um zweimal sechs Ellen hinaus. Hier ist der Hain des Sol, ein mit hohen Bäumen bepflanzter Wald, der in der Schönheit ewigen Laubes grünt.]1155
Dieser Hain (nemus) befindet sich auf einer Hochebene (planities), die ihrerseits höher liegt als die Gipfel aller ‚unserer‘ Berge hoch sind.1156 Mit der Bezeichnung nostri montes wird schon zu Beginn der Ort in Abgrenzung zu 1152 Für ein explizites Eintreten des Phoenix in den Paradiesesraum zum Zweck der Zimtsammlung spricht die Existenz einer entsprechenden Erzähltradition, die Roelof van den Broek an einer Koptischen Marienpredigt nachweisen kann, vgl. seine Einleitung, Edition und Übersetzung des Textes (1971, S. 33–47). Vgl. dazu außerdem das spätere Gedicht des Sidonius Apollinaris, wo der Phoenix den ‚paradiesischen‘ Hain um den Palast der Aurora aufsucht, um Zimt zu sammeln, Sidonius Apollinaris, Carmina, 2, 416–417: nec non pulsante senecta / hinc rediviva petit vicinus cinnama Phoenix [Wenn das Alter anklopft, dann sucht der benachbarte Phoenix die Zimthölzer, die ein neues Leben spenden.] Für eine englische Gesamtübersetzung der Carmina vgl. Anderson und Anderson 1963/1. 1153 Vgl. dazu Broek 1971, S. 182. 1154 Laktanz, De ave Phoenice, 1–13. 1155 Kraft 1966, S. 462. 1156 Dieses Erzählmotiv, welches einen paradiesischen Raum auf einem alle Berge an Höhe übertreffenden Berg bzw. einer dazugehörigen Ebene lokalisiert, ist eng mit einer bestimmten Erzähltradition des irdischen Paradieses verbunden. Vgl. dazu Ephraem, Hymni de paradiso, I, 4, zitiert nach der Übersetzung von Beck 1957/2, vgl. auch die entsprechende Edition bei Beck 1957/1 und eine ähnliche Erwähnung in Syrische Schatzhöhle, 3, 15, in der Übersetzung von Bezold 1883, S. 5: „Das Paradies aber war hoch oben und überragte alle hohen Berge um drei Spannen nach dem Masse des Geistes und umgab die ganze Erde.“ Für eine Edi-
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
255
der erzählten ‚Normwelt‘ beschrieben: Er ist eben ‚höher als‘. Der ‚paradiesische‘ Raum wird in klare Opposition zur Erfahrungswelt der Rezeptionsgemeinschaft gesetzt. Er übersteigt den Raum der eigentlichen Welt, sowohl vertikal-räumlich, durch die inszenierte Höhe des geographischen Raumes, als auch, wie im Folgenden klar wird, qualitativ, denn hier gibt es weder Krankheiten, noch Alter, noch Tod, noch körperliche Bedürfnisse wie Hunger, oder andere Übel (des Menschen).1157 Auch das Klima ist, wie schon bei anderen ähnlichen Beschreibungen, in jeder Hinsicht gemäßigt und damit das idealisierte Gegenbild zum wechselhaften Zeitenlauf.1158 Dieses Paradies, seinen Lebensraum, verlässt der Phoenix nur nach dem Ablauf von eintausend Jahren, um die Welt der Sterblichen aufzusuchen: tunc petit hunc orbem, Mors ubi regna tenet. / derigit in Syriam celeres longaeva volatus, / Phoenicen nomen cui dedit ipsa vetus, / securosque petit deserta per avia lucos, / hic ubi per saltus silva remota latet. / tum legit aerio sublimem vertice palmam […].1159 [dann sucht er diese Welt auf, wo der Tod die Herrschaft hat. Der Langlebige lenkt nach Syrien den schnellen Flug, dem er selbst den alten Namen Phönicien gab, strebt durch entlegene Einöden nach verborgenen Hainen, wo ein geheimer Wald in Bergen verborgen ist. Dann wählt er nach ihrem luftigen Wipfel eine hohe Palme aus […].]1160
Der Phoenix fliegt durch Wüsten (deserta) und abgelegene Haine (luci) in eine waldige Gebirgsgegend und lässt sich schließlich auf einer Palme1161 nieder. Der Ort seines Todes und seiner Wiedergeburt also, den er hier in Syrien findet, ist zwar kategorial ‚in der Welt‘, jedoch in jeder Hinsicht räumlich dieser Welt entsagt: deserta per avia und die Verborgenheit des Waldes (silva remota latet) lassen keinen Zweifel an der Entlegenheit des Phoenixhains. Interessanter Weise, so scheint es, wird hier im Text sodann auch in dem entlegenen Wald in Syrien ein ähnlich exzeptioneller Sonderraum inszeniert, wie das im Paradies der Fall war: Als der Vogel sich für eine Palme entscheidet und auf ihr niederlässt, wird in der Folge der unmittelbare Raum der Palme tion des syrischen Textes vgl. Ri 1987. Eine ähnlich hohe Position weist auch Avitus dem Paradies zu, vgl. Avitus von Vienne, De spiritalis historiae gestis, I, 212. 1157 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 15–21. 1158 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 22–24. Auffällig ist hier auch die Reihung non […] nec […] nec […] nulla […] nec: Der Raum wird beschrieben in der Negierung all dessen, das das weltliche – ‚unser‘ – Leben bestimmt. 1159 Laktanz, De ave Phoenice, 64–69. 1160 Kraft 1966, S. 464. 1161 Die häufige Verbindung von Phoenix und Palme in literarischen wie ikonographischen Quellen ist vor allem in der semantischen Mehrdeutigkeit des griechischen Begriffs begründet, vgl. dazu Broek 1971, S. 51–66, vgl. auch Laktanz, De ave Phoenice, 69 f: palmam, / quae Graium phoenix ex aue nomen habet [„eine […] Palme […], welche vom Vogel den griechischen Namen Phoenix hat.“, Kraft 1966, S. 464].
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4 Der Wald
etwa ganz analog gestaltet. Es wird windstill, und die Wolken verschwinden, um den Vogel zu schützen.1162 Der Phoenix sucht somit für seinen Tod und seine Wiedergeburt einen Raum auf, der zwar einerseits explizit im Bereich der immanenten Welt der Sterblichen, ja des Todes selbst, liegt: mors ubi regna tenet [wo der Tod die Herrschaft innehält.] Mit seiner Reise auf die Erde jedoch wird der (ebenfalls zugangsregulierte) Ort seines Todes und seiner Wiedergeburt zu einem Nachhall des paradiesischen Raumes. Dieser Nachhall wiederum wird allein durch die Präsenz des Phoenix in der immanenten Welt und an einem ganz konkreten und begrenzten Raum wirksam. Der Phoenix baut auf der ausgewählten Palme ein Nest, verbrennt und wird wiedergeboren.1163 Über Ägypten fliegt er zurück ins Paradies, eine Schar Vögel begleitet ihn – die Gegenwart des Phoenix führt zu einem Moment des topischen Tierfriedens unter ihnen – und der Phoenix ist wieder in seiner eigentlichen Heimat.1164 Die Sphäre des Paradiesischen ist klar von der des Weltlichen getrennt und doch finden beide kategorialen Ebenen im Phoenix ein einendes Moment. Im Paradies ist der Tod ausgesetzt,1165 ‚unsere‘ Welt dagegen das Reich des Todes.1166 Entsprechend muss in der Erzähllogik der Phoenix das Para dies verlassen, um zu sterben und wiedergeboren zu werden. Wieso jedoch muss sich der Phoenix überhaupt erst im Tod erneuern? Im Paradies gibt es kein drückendes Alter (senectus),1167 jedoch scheint der Vogel das Alter als solches wahrnehmen zu können, auch im Paradies: quae postquam vitae iam mille peregerit annos / ac sibi reddiderint tempora longa gravem, / ut reparet lapsum spatiis vergentibus aevum, / adsuetum nemoris dulce cubile fugit; / cumque renascendi studio loca sancta reliquit, / tunc petit hunc orbem, Mors ubi regna tenet.1168 [Wenn jemand nun tausend Jahre sein Leben geführt hat, und wenn die langen Zeiten wiederkehren, dann flieht er, um das bei sich neigenden Zeiten beschwerlich gealterte Leben wiederherzustellen, seine gewohnte süße Schlafstatt im Hain. Wenn er nach der Wiedergeburt strebend die heiligen Orte verließ, dann sucht er diese Welt auf, wo der Tod die Herrschaft hat.]1169
Die tausend Lebensjahre, die er dort verbringt, scheinen auch im Paradiesesraum messbar zu sein und machen dadurch das Leben des Phoenix schwer
1162 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 73–76: ne […] obsit [um nicht zu behindern]. 1163 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 77–116. 1164 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 155–161. 1165 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 16. 1166 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 65. 1167 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 15. 1168 Laktanz, De ave Phoenice, 60–65. 1169 Kraft 1966, S. 463.
4.2 Diskursdimensionen des Waldes als immanenter Jenseitsraum
257
erträglich (gravis).1170 Die zeremonielle Wiedergeburt, so scheint es, muss innerhalb eines bestimmten Zeitfensters vollzogen werden und gehorcht damit irdischen Kategorien von Zeitlichkeit.1171 Im Paradiesesraum ist es der ewig lebende Vogel, der seine Lebensdauer spürt, und gerade er markiert den Fortgang der Zeit im Paradies über seinen stündlichen Gesang.1172 Andererseits jedoch, im Bereich der Welt, ist es wiederum der Phoenix, der über seine schlichte Gegenwart einen ‚paradiesischen‘ Raum im immanenten Syrien entstehen lässt. Über bzw. für den Phoenix gelangt die Himmelsspeise auf die Erde,1173 und nicht zuletzt vollzieht sich natürlich an seiner Figur das Wunder der Wiedergeburt.1174 In gewisser Weise ist der Phoenix also eine Zwittergestalt, die sich in beiden Sphären aufhalten kann und in deren Gegenwart die Prinzipien des jeweils anderen Raumes wirksam werden. Nur der Phoenix kann so die beiden, eigentlich unvereinbaren, Räume in sich verbinden, einander zugänglich und in der widerstreitenden Dynamik erzählbar machen. Der Konnex liegt dabei in seiner doppelläufigen Figur. Die Überlagerung von Diesseitsraum und Jenseitsraum figuriert sich nicht räumlich, die Bedingung der Möglichkeit eines Übergangs von einem in den anderen Raum wird nicht verhandelt. Erst recht wird der Übergang nicht für Figuren aus dem immanenten Raum nachvollziehbar: Die Grenzen bleiben streng gezogen, die Räume reguliert. Manifest wird dies in den eigentlichen Transgressionsmomenten, in denen der Phoenix vom Paradies (loca sancta) in die Welt (hic orbis)1175 und umgekehrt von der Welt zurück in das Paradies fliegt. In beiden Fällen ist der eigentliche Übergang nicht ausgestaltet: Der Phoenix verlässt das Para dies – und ist in Syrien. Ägypten verlässt der Phoenix in der Begleitung einer Vogelschar, die jedoch umkehrt, sobald sie die aetheris aurae erreichen: turbaque prosequitur munere laeta pio. / sed postquam puri pervenit ad aetheris auras, / mox redit; illa suis conditur inde locis.1176
1170 Das Bezugswort zu gravem ist hier vita. 1171 Ähnlich zeigt sich auch bei Claudian das Alter des Phoenix und die Unbedingtheit der zeremoniellen Wiedergeburt zu einer bestimmten Zeit, vgl. Claudian, Carmina minora, 27, 36–41. 1172 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 55–56. 1173 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 110–113: non illi cibus est nostro consuetus in orbe / nec cuiquam implumem pascere cura subest; / ambrosios libat caelesti nectare rores, / stellifero tenues qui cecidere polo. [„In unserer Welt ist keine Speise für ihn bestimmt, und keiner hat die Aufgabe, ihn zu füttern, solange er keine Federn hat. Er schöpft ambrosischen Tau von dem himmlischen Nektar, der zart vom gestirnten Himmel herniedersinkt.“ Kraft 1966, S. 465]. 1174 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 162–163. 1175 Laktanz, De ave Phoenice, 64–66. 1176 Laktanz, De ave Phoenice, 159–161.
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4 Der Wald [die Schar folgt ihm, froh über das fromme Amt. Aber nachdem er in den Hauch des reinen Äthers gekommen war, kehrt sie bald zurück; er aber begibt sich von da an seinen Ort.]1177
Der Phoenix ist ohne weitere Ausgestaltung seines Fluges oder des konkreten Weges zurück in ‚seinem‘ Raum (sua loca), dem Paradies. Mag auch der offene Himmel für die Vögel und den Phoenix gleichermaßen offen und ihr Weg frei erscheinen, ändert sich doch seine Qualität, denn einzig der Phoenix vermag es, diese qualitative Grenze zu überschreiten. Die Art und Weise dieses Übergangs wird nicht beschrieben, wie im Übrigen auch eine konkrete Lokalisierung des eigentlichen Paradieses nicht erfolgt. Es sei entlegen, im Osten, in unmittelbarer der Nähe des Himmelstors sehr hoch gelegen.1178 Der Vagheit dieser Beschreibung entspricht die Vagheit des Übergangs: Wie die Höhe des Paradieses in Relation zu ‚unseren Bergen‘ (nostri montes) beschrieben wird – nämlich ‚höher als‘ – wird die Bewegung der Vogelschar und des Phoenix als eine Bewegung in die Höhe erzählt, die die weltlichen Vögel nur bis zum Äther nachverfolgen können. Es erfolgt aber sodann der Moment, an dem diese Kategorien der vertikalen Relationalität nicht mehr greifen: Der Paradiesberg ist sowohl höher als die weltlichen Berge, mit sechs Ellen noch dazu nur minimal höher, und doch zur gleichen Zeit nicht ‚unser‘ Berg. Es wird der Versuch gemacht, den transzendenten Jenseitsraum mit immanenten Kategorien messbar und referenzierbar zu machen, nur um diese Relationalität in dem Moment ad absurdum zu führen, an dem der Berg als nicht zu der ‚unseren‘ Welt zugehörig ausgestellt wird. Ähnlich auch bei dem Flug des Phoenix: Paradies und Welt sind insofern zueinander in ein relationales Verhältnis gestellt, als der Phoenix von und aus der Welt zum Paradies fliegt. Der Übergang jedoch von der einen in die andere Kategorie ist nicht kategorial greifbar: Die Vögel fliegen mit in die Höhe – und abrupt wird der Phoenix im Paradies aufgenommen (passivisch: conditur). Die Sprache von Flug und Richtung wird im Moment des Paradieseintritts wieder gebrochen. Der Flug hinab bleibt gleichermaßen bis zu dem Moment, wo der Phoenix bereits in ‚dieser Welt‘ (hic orbis) ist, narrativ leer. In Laktanz’ Erzählung des Phoenix wird damit zwar ein Spannungsverhältnis von Immanenz und Transzendenz im jenseitigen bzw. diesseitigen Raum beschrieben und in der Figur des Wundervogels und seiner Rolle in den räumlichen Implikationen auserzählt. Wie bei den anderen Darstellungen des irdischen Paradieses werden auch die Begrenzung sowie utopische 1177 Kraft 1966, S. 466. 1178 Vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 1–9.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
259
Motivik und locus amoenus-Topik aufrechterhalten. Mit der perspektivischen Differenzierung von immanentem und transzendentem Raum aber bleibt der Übergang in der Narrativierung problematisch. Der Phoenix, der allein sowohl die immanente Welt als auch das irdische Paradies zu betreten vermag, bricht zwar die Differenz in gewisser Weise auf. Er bewegt sich durch beide Räume, und kann so die Ewigkeit des paradiesischen Lebens in der immanenten Welt erleben – und umgekehrt. In letzter Konsequenz kann jedoch auch mit einer Zwitterfigur wie dem Phoenix kein wirklicher Übergang im Sinne einer immanent perspektivierten Erfahrung von Jenseitsräumlichkeit oder Transzendenz ohne narratologische Problematisierung erzählt werden. Die Räume bleiben getrennt, abgeschlossen, kategorial unterschieden und nicht aus dem Immanenten zugänglich. Diese Figurierung einer Grenzgängerfigur im Vogel, die spatiale Verhandlung von Diesseits und Jenseits sowie die Auferstehungsmetaphorik dimensioniert die Zwischenraumdynamik des ‚Waldes‘ in ‚Mönch und Vöglein‘ entscheidend
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte Über den irischen Heiligen Kevin ist eine kurze Erzählung mit einer Amsel überliefert: Sanctus igitur Keivinus, quadragesimali quodam tempore hominum frequentiam ex consuetudine fugiens, solitudine quadam, tugurio modico, quo sole tantum et pluvia defenderetur, soli contemplationi vacans, lectioni et orationi insistebat. Qui cum manum, more solito, per fenestram ad coelum eleuaret, ei forte merula insedit, et quasi nido fungens oua posuit. Cui sanctus tanta patientia et mansuetudine compassus est, ut nec manum clauderet nec retraheret; sed usque ad plenam pullorum exclusionem eam infatiganter extenderet et aptaret.1179 [Der heilige Kevin also, der sich in der vierzigtägigen Fastenzeit gewöhnlich vom Andrang der Menschen fern hielt, widmete sich in Zurückgezogenheit, in einer bescheidenen Hütte, die ihn nur von Sonne und Regen abschirmte, allein der Kontemplation und wandte sich Lektüre und Gebet zu. Als er seine Hand in gewohnter Weise durch das Fenster gen Himmel erhob, setzte sich zufällig eine Amsel darauf, nutzte sie scheinbar als Nest und legte Eier. Der Heilige hatte Mitleid mit ihr, er war so geduldig und sanftmütig, dass er weder seine Hand schloss noch zurückzog. Bis die Küken vollständig ausgeschlüpft waren, streckte er sie unermüdlich aus und hielt sie in einer passenden Position.]
Das Wunder, das Gerald von Wales (1146–1223)1180 hier beschreibt, ist keine Jenseitserfahrung wie bei ‚Mönch und Vöglein‘. Die Erzähllogik fußt nicht 1179 Gerald of Wales, Topographia Hibernica, II, 28, nach der Edition von Dimock 1867. Für eine englische Übersetzung vgl. O’Meara 21982 [1951], S. 77–79. 1180 Vgl. Richter 1989, Sp. 1459–1460.
260
4 Der Wald
auf der historischen Semantik eines Entrückungsraumes, und die wundersame Geduld und die wunderbare Bedürfnislosigkeit des Heiligen bis zum Schlüpfen der Küken ist keine Jenseitserfahrung, wiewohl sie immanente Begrenzungen und Erwartungen qualitativ transzendiert. Allerdings teilt diese Erzählung ein signifikantes Merkmal, das bei ‚Mönch und Vöglein‘ zum treibenden Prinzip der narrativen Logik wird: Die Rückkoppelung des Wunders an eine ganz bestimmte, im Fall Kevins eremitische, Lebensführung sowie den Gestus von Lektüre (lectio) und Gebet (oratio). Auch bei ‚Mönch und Vöglein‘ spielt sich die Jenseitserfahrung, markiert unter anderem durch den Vogel und seinen wundersamen Gesang, außerhalb des (Kloster-)Gebäudes ab. An die funktionale Stelle eines eremitischen Gestus und einer bloßen Hütte tritt das Kloster, das im Zusammenspiel mit dem Entrückungsraum ‚Wald‘ und dem Vogel als himmlischem Bote die transzendente Erfahrung möglich macht.
4.3.1 Zwischen Kloster und Paradies Ein Mönch verlässt sein Kloster und erfährt paradiesische Freuden: Die Struktur der Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ ist von der kategorialen Spannung eines immanent-diesseitigen Poles einerseits und eines transzendent-jenseitigen Poles andererseits geprägt. Wie bei der NSB und dem TPSP wird dieser Spannung durch eine Reihe räumlicher Begrenzungs- und Relationsmechanismen Rechnung getragen, diese spezifische räumliche Relationalität wird hier jedoch um die Figur des Vogels signifikant ergänzt. Räumliche Relationen Alle Fassungen von ‚Mönch und Vöglein‘ beschreiben zwei distinkte Räume, deren Grenze entlang der Klosterschwelle gezogen werden muss: das Kloster, das als Referenzraum fungiert, und Wald bzw. Garten als Räume der Entrückung. Der Übertritt der Grenze ermöglicht das Erleben, die Darstellung und nicht zuletzt die Reintegration der immanenten Jenseitserfahrung in den immanent diesseitigen (Kloster-)Raum. In allen Fassungen stehen sich so Entrückungs- und Referenzraum gegenüber,1181 wie eine Übersicht exemplarischer Fassungen tentativ zu zeigen vermag:
1181 Zur Begrifflichkeit der ‚Entrückung‘ vgl. S. 236–237.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
261
Fassung
Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18
Odo von Cheriton, Parabolae, 780
Jakob von Vitry, Exempla, 19
Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, 16
Protagonist
uns bons hom de religion [„fromme[r] Mann“]1182
frater quidam [ein Mönch]
religiosus abbas [ein gottesfürchtiger Abt]
quidam religiosus [ein gottes fürchtiger Mensch]
Referenzraum
Kloster en l’encloistre de l’abbaïe [„im Klausurbereich der Abtei“]1183
Kloster (Mönch geht aus dem Kloster: extra abbatiam)
Kloster implizit prope abbaciam [bei dem Kloster]
Kloster implizit
Rückkehr: Lors vint a la porte. [„Er kam an die Pforte“]1184
Rückkehr: uix receptus est [er ist fast nicht wieder aufgenommen worden]
Rückkehr: ad portam abbacie [bei dem Tor des Klosters]
Rückkehr: ad portam vix permissus est intrare [am Tor ist fast nicht erlaubt worden, einzutreten]
extra abbatiam […] in nemore1186 [außerhalb des Klosters in einem Hain]
in orto prope abbaciam [in einem Garten nahe dem Kloster]
secutus est eam usque in ortum abbatie [er folgte ihm in den Garten des Klosters]
per ducentos annos [200 Jahre lang]
trecentos annos preteritos [nach 300 Jahren]
unbestimmt tot annos [so viele Jahre]
Entrückungs- el bois hors de raum l’abaïe [„außerhalb der Abtei in einem Kloster“]1185 Dauer
iij. cenz anz [„dreihundert Jahre“]1187
1182 Roessler 2018, S. 122. 1183 Roessler 2018, S. 122. 1184 Roessler 2018, S. 123. 1185 Roessler 2018, S. 122. 1186 Léopold Hervieux konjiziert in seiner Edition die Handschrift der Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 16506 hier ohne ersichtlichen Grund von in nemore zu in memore (1970/4, Anm. 4). Angesichts der im Kreis der anderen Fassungen offensichtlichen Präva lenz eines konkreten Handlungsraumes (Wald/Garten), die das Auftauchen eines nemus zweifelsohne erklären würde und angesichts des durch die Konjektur deutlich erschwerten Textverständnisses wird hier der Lesart der Handschrift vor der Edition der Vorzug ge geben. 1187 Roessler 2018, S. 123.
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4 Der Wald
Die Dauer der Entrückung variiert, mal sind es zweihundert, mal dreihundert Jahre, bei Martin von Troppau ist der Zeitraum sogar ganz unbestimmt. Auch die eigentliche Bezeichnung der handelnden Figur bleibt nicht konstant: Es fallen die Bezeichnungen abbas, frater, quidam religiosus, in der Fassung von Maurice de Sully handelt es sich nur um einen bons hom de religion. Alle Fassungen jedoch weisen, selbstverständlich neben der Gemeinsamkeit des Entrückungsmotives und dem Vogelgesang – beides überhaupt erst die Voraussetzung, eine Erzählung zu diesem Erzähltyp zu zählen – eine analoge Gestaltung der Handlungsräume auf.1188 Die Entrückung geschieht einzig im Wald bzw. im Garten, und die Handlung verläuft immer bei einem Kloster, das so zum Referenzraum wird. Alle vier Protagonisten beginnen hier ihre Reise, ein Umstand, den die Fassungen, wenn auch nicht ausnahmslos explizit, so doch über die Charakterisierung der handelnden Figur als religiosus markieren. Hinzu kommt die Referenzialisierung des Entrückungsraumes über sein Verhältnis zum Kloster und die deutlich bezeichnete Rückkehr in das Kloster nach der Entrückungserfahrung. Alle Fassungen verorten die Entrückungserfahrung so über die Referenz im monastischen Raum, grenzen diese Entrückungserfahrung aber zugleich über die Inszenierung eines distinkten Entrückungsraumes ab. Mit Ausnahme der Fassung Odos von Cheriton sprechen alle Fassungen bei der Rückkehr explizit von einer Pforte, an der die Reintegration des Mönchs in das Kloster stattfindet. Bei Odo von Cheriton lässt die Formulierung vix receptus est [er ist fast nicht wieder aufgenommen worden] auf eine Form der Wiedereintrittsregulierung schließen. Erst durch die Klosterpforte wird auf diese Weise der Weg vom Inneren des Klosters nach außen in den Wald und zur Jenseitserfahrung eröffnet. Die bedeutende funktionale Rolle der Pforte wird im Übrigen durch die Klosterarchitektur weiter unterstrichen.1189 Dem einzigen offiziellen Klostertor im Norden steht hier ein kleines Tor im Süden der Anlage gegenüber, der „einzige Zugang aus dem gepflegten Bereich innerhalb der Mauern zum wilden Wald ringsum“.1190
1188 Dieses Merkmal teilt auch die spätere Fassung aus der Chronik der Abtei Affligem (Hafflighemium illustratum I, 61): Ein Mönch (monachus) bleibt nach der Matutine im Presbyterium (mansit in choro), ihm erscheint ein Vogel. Er folgt ihm in den Wald (intraveritque silvam). Als er ins Kloster zurückkehrt (reversus sit domum) erkennt er das Kloster nicht mehr. Auch diese Fassung weist somit die zentrale räumliche Doppelstruktur aus Entrückungsraum (silva) und Kloster als Referenzraum auf. 1189 Vgl. dazu Kurt Roesslers Überlegungen zum Kloster Heisterbach, Roessler 2003, S. 17. 1190 Vgl. etwa Duby 21991a, S. 52–55 zum schematischen Aufbau der Benediktinerklöster im neunten Jahrhundert.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
263
Entrückungsraum und Referenzraum sind klar voneinander unterschieden und verweisen zugleich aufeinander. Wie bei der Erzählung von Kevin und der Amsel wird die Erfahrung so in einem immanent-diesseitigen Referenzraum verankert: sowohl als das immanente Gegenüber der transzendenten Erfahrung, der in dieser Weise in der Immanenz ihr Wirkungsraum zugewiesen wird, als auch im Sinne eines strengen Bedingungsgefüges. Bedingung der Möglichkeit der transzendenten Erfahrung im Wald ist die monastische Lebensführung, und Bedingung der Möglichkeit der Reintegration der transzendenten Erfahrung in den immanenten Raum ist die Reintegration über das Kloster. Erst die klösterlichen Chroniken und die Deutungshoheit von Abt und Prior semantisieren die immanente Transzendenzerfahrung als eine solche. Das, was die immanenten Darstellungsmöglichkeiten übersteigt, wird erst sekundär, im Kloster und über die mittelbaren Konsequenzen der Jenseitserfahrung deutbar und erzählbar. Nicht zuletzt ist der Zugang vom Kloster in den immanenten Jenseitsraum ‚Wald‘ dabei exklusiv, da schließlich die Erfahrung in allen Fassungen nur einem einzigen Mönch zuteilwird; reguliert ist er insofern, als der Zugang und die Reintegration wie skizziert nur über das Kloster erleb- und beschreibbar wird. Die Schlüsselposition des Vogels Der Mönch von ‚Mönch und Vöglein‘ muss keine lange Seereise durchleben und es gibt auch keine zusätzliche Auserzählung des Übergangs, wie das etwa die Ritualisierung bei den Augustinerchorherren und auch der physische Verschluss der Höhle im TPSP leistet. Trotzdem jedoch ist auch hier der immanente Jenseitsraum ‚Wald‘ insofern in seiner Zugänglichkeit reguliert (Strukturmerkmal I), als er erst durch ein Moment der göttlichen Gnade, nämlich das Erscheinen des Vögleins, zu einem solchen wird:
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4 Der Wald
Fassung
Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18
Odo von Cheriton, Parabolae, 780
Jakob von Vitry, Exempla, 19
Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, 16
Impuls
Bitte an Gott, das Jenseits zu sehen1191
sich wundernde Beschäftigung mit dem Jenseits1192
fragende Beschäftigung mit dem Jenseits1193
Bitte an Gott, ihm paradiesische Freuden zu offenbaren1194
Auftreten des Vogels
Gott erhört ihn, und sendet ihm im Kloster den Vogel1195
dem Mönch wird im Kloster ein Vogel geschickt1196
der Vogel erder Raum bleibt scheint plötzlich unbestimmt, der im Garten1197 Vogel beginnt plötzlich zu singen1198
Der Vogel erscheint als Reaktion auf eine bestimmte Haltung des Mönches bzw. seine Bitte an Gott, jenseitige Freuden schauen zu dürfen. Gemäß der Fassung von Maurice de Sully wird der Vogel explizit von Gott geschickt, bei Odo von Cheriton impliziert die Passivkonstruktion Gott als Urheber des folgenden Wunders. Mit Ausnahme der Fassung von Jakob von Vitry geschieht dieser erste Kontakt in allen frühen Fassungen dezidiert im Raum des Klosters.
1191 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: preia Deu sovent en ses oreisons qu’il li donast voier et demonstrast […] [„[der] in seinen Gebeten Gott oft bat, dass er ihn etwas von der süßen Freude sehen und erfahren ließe […]“, Roessler 2018, S. 122]. 1192 Vgl. Odo von Cheriton, Parabolae, 780: fratri cuidam miranti quomodo posset esse [einem Mönch, der sich verwundert fragte, wie es sein könne]. 1193 Vgl. Jakob von Vitry, Exempla, 19: cogitaret et quid ei post hanc vitam futurum esset […] [er dachte darüber nach, was ihm nach diesem Leben geschehen würde]. 1194 Vgl. Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, 16: rogavit deum, ut ostenderet ei minimum gaudium paradisi [er bat Gott, im die kleinste Freude des Paradieses zu zeigen]. 1195 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: Et Dex nostre sire l’en oï, car si cum il fu assis une foiz a une amonée, tut suls en l’encloistre de l’abbaïe si li envea Damledex un angle en semblance d’un oisel qui s’asist devant lui. [„Und Gott, unser Herr, erhörte ihn. Als er eines Morgens [allein] im Klausurbereich der Abtei saß, schickte ihm Gott, unser Herr, einen Engel in Gestalt eines Vogels, der sich vor ihn hinsetzte.“, Roessler 2018, S. 122]. 1196 Vgl. Odo von Cheriton, Parabolae, 780: destinata est ei auis [ihm ist ein Vogel geschickt worden]. Diese Begegnung muss innerhalb des Klosters stattgefunden haben, nur so kann der Mönch dem Vogel aus dem Kloster heraus folgen. 1197 Vgl. Jakob von Vitry, Exempla, 19: dum esset in orto […] apparuit illi pulcerrima avis [als er im Garten war […] erschien ihm ein sehr schöner Vogel]. 1198 Der Ort der Erscheinung ist hier nicht genauer spezifiziert. Die Bewegung des Protagonisten in den Garten des Klosters (usque in ortum abbatie) sowie die Rückkehr in das Kloster suggeriert allerdings wie bei Odo von Cheriton, dass auch hier der Vogel im Kloster erschienen ist.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
265
Der Mönch folgt dem Vogel in den Wald, überschreitet also zusammen mit ihm die Grenze zwischen immanentem Diesseits und immanentem Jenseitsraum, wie sie die Klosterschwelle hier abbildet. Die eigentliche Entrückung, die Ekstase, wie es Odo von Cheriton nennt,1199 findet im Wald statt. Erst das Erscheinen des Vogels, als Zeichen einer göttlichen Gnade, ermöglicht das Betreten des Waldes als das eines Zwischenraumes, da erst der Vogel die Überlagerung von Transzendenz und Immanenz in diesem Raum erschließt. Der Vogel als Bedingung der Möglichkeit der Jenseitserfahrung gewährleistet die Zugangsregulierung, die für die Erzählung des Zwischenraumes notwendig ist. Der Vogel als Begleiter in den Jenseitsraum bzw. Marker der jenseitigen Erfahrung bedient sich dabei einer breiten Erzähltradition.1200 Im irischen Raum sind ähnliche Motive auch vor der Fassung des Maurice de Sully greifbar, so dass bereits die Überlegung geäußert wurde, ob ‚Mönch und Vöglein‘ nicht aus dem irischen Bereich auf den Kontinent gelangt sein könnte.1201 In der keltischen Erzähltradition gibt es immer wieder übernatürliche Vögel. Sie können Seelen Verstorbener abbilden,1202 sie können himmlisches Zeichen
1199 Vgl. Odo von Cheriton, Parabolae, 780: quasi in extasi [scheinbar in Ekstase]. 1200 Zur allgemeinen Bedeutung des Vogels vgl. Zerling 2012, S. 316–319. Das Motiv des ‚Seelenvogels‘ ist bereits in der Antike greifbar. Sowohl der Darstellungstypus „Psyche“ als auch „Eidolon“ stellen die Seele mit Flügeln dar, der eigentliche ‚Seelenvogel‘ entstammt der Vorstellung der Seele als eines Lufthauches, vgl. Kemp 1972. Für Darstellungen von Seelenvögeln vgl. beispielsweise Gregor der Große, Dialogi, II, 34, zitiert nach der kritischen Edition von Vogüé 2013 [1979]. Die Seele von Benedikts Schwester Scholastika gelangt hier als Vogel – in columbae specie (in Gestalt einer Taube) – in den Himmel. Vgl. außerdem S. Bonifatii et Lulli epistolae 10, zitiert nach der Edition von Tangl 1916, hier S. 11, Z. 6: miserorum hominum spiritus in similitudine nigrarum avium [„die Geister unseliger Menschen in der Gestalt von schwarzen Vögeln“, Rau 1968, S. 35, Z. 36–37]. Ähnlich auch die Vita S. Patricii des Jocelin von Furness, 150: pariter conglobati contra eum in specie namque nigerrimarum auium forma & magnitudine horribilium ac multitudine [auch ballten sie [die Dämonen] sich gleichsam um ihn zusammen, in Form und Gestalt nämlich der schwärzesten Vögel, furchterregend in Größe und Zahl]. Vgl. auch Anm. 1213. Ein weiterer relevanter Intertext wäre Beda Venerabilis’ Exegese von Mk 4,30–32: Im Markusevangelium wird das Reich Gottes mit einem Senfkorn verglichen, das in der Erde sprießt, und zu einem Baum heranwächst, in dessen Schatten die Vögel leben können. Beda Venerabilis deutet diese Vögel als die Seelen der Gläubigen, die das Irdische zurücklassen und zu Gott fliegen (In Marci evangelium expositio, I, 4, zitiert nach Hurst 2001 [1960]). Auch im TPSP werden die Dämonen bei Oweins Rückkehr aus dem irdischen Paradies mit Vögeln verglichen, vgl. H. von Sawtry, TPSP, 1049. 1201 Vgl. die Quellenanalyse der umfassenden Studie Hammerich 1933. 1202 Vgl. Immram Curaig Máele Dúin, 18: Die Reisenden treffen hier auf eine Insel voller Vögel, die scheinbar Psalmen singen, betreten diese Insel jedoch nicht. Erst ein Eremit auf einer nahegelegenen Insel deutet ihnen die Vögel als Seelen, die auf das letzte Gericht warten (vgl. Immram Curaig Máele Dúin, 19). Vgl. auch Iomramh churraig Hua gCorra annso, 52 (ediert und übersetzt bei Stokes 1893) und Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla, 17–18 (ediert von Stokes 1888).
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4 Der Wald
besonderer Wertschätzung Gottes im Diesseits1203 oder die Verkörperung eines jenseitigen Wesens sein.1204 In der NSB treffen Brendan und seine Begleiter auf eine Insel mit Vögeln, die zu den kanonischen Horen singen und sich als neutrale Engel vorstellen.1205 Im Zusammenhang mit einem Abt namens Mochoe ist zudem eine legendarische Erzählung (797–900)1206 überliefert, laut der der Abt einem Vogel begegnet, und bei seinem Gesang 150 Jahre auf wundersame Weise ‚schläft‘: A sleep without fading Mochoe of Oindruim slept: the folk of the congregation in which the sage abode he found none save their grandsons. To Mochoe the beautiful sang the little bird from the skies, three strains from the tree-top, fifty years in each strain.1207
Hier wird mit dem Vogel das Motiv der Zeitanomalie verbunden, wie es auch später im ‚Mönch und Vöglein‘ verhandelt wird: Drei Melodien des Vogels entsprechen je 50 Jahren in der Zeit der ‚Normwelt‘, so dass Mochoe bei seiner Rückkehr von der Begegnung nur noch die Enkelkinder seiner Zeitgenossen auffinden kann.1208 Der paradoxalen Zeitempfindung nähert sich der Text dabei mit dem Begriff des ‚Schlafes‘ (a sleep without fading) an. Der Vogel als Verbindung des himmlischen und des weltlichen Raumes ist allerdings nicht nur im irischen Raum nachweisbar. Die besondere Stel1203 Vgl. Martyrology of Oengus , 31. Januar; 4. August, in der Edition und Übersetzung von Stokes 1905 S. 56–57 bzw. 182–183. Vögel betrauern hier den Tod von Molua mac Ocha. Das Martyrologium stammt aus der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts, vgl. Ó Riain 2006, S. 873. 1204 Für weitere Texte, die Seelen von Verstorbenen in der Gestalt von Vögeln abbilden, vgl. Selmer 1959, S. 87, Anm. 32. 1205 Vgl. NSB, 11, vgl. S. 85–92. Vgl. dazu auch Vita sancti Cainnici abbatis, 25, ediert und übersetzt bei Plummer 1910, sowie Phoenix-Gesang als Markierung eines zeitlichen Verlaufes bei Laktanz, De ave Phoenice, 55–56. Die in diesem Moment eingeschriebene Doppe lung von Vogel und Engel gerade im Moment des Gesanges als Gotteslob ist weit verbreitet, vgl. auch Guillaume de Lorris, Roman de la Rose, 661–664 (zitiert nach Ott 1976) oder Lai de l’oiselet, 74–76. In der Nachfolge der NSB findet sich ein ähnliches Motiv auch in der Vita S. Elgari, 3 (zitiert nach Jankulak und Wooding 2010): Das Motiv des Vogels als himmlischer Helfer des Eremiten wird hier mit der Engelsidentität der Vögel erklärt. 1206 Zur Datierung vgl. den extensiven Forschungsbericht von David Dumville (2002). 1207 Félire Oengusso/Martyrology of Oengus, Juni 23, zitiert nach Stokes 1905. 1208 Im deutlich späteren Martyrology of Donegal (Anfang 17. Jahrhundert) wird diese Erzählung detailliert ausgearbeitet: Der Vogel gibt sich hier als ein Engel in Vogelgestalt zu erkennen, vgl. Martyrology of Donegal, 23. Juni (ediert bei Todd et al. 1864, hier auch die Übersetzung von John O’Donovan). Vgl. außerdem eine ähnliche Erzählung von Brendan, wo sich der Vogel als Erzengel Michael herausstellt, Martyrology of Donegal, 16. Mai. Die Erzählung von Mochoe (hier Mochaoi) findet in einem Wald statt und trägt auch sonst dem ‚Mönch und Vöglein‘ ähnliche Züge. Die späte Kompilation dieses Martyrologiums jedoch erlaubt es nicht, diese Erzähltradition von Mochoe als unbedingten Vorläufer der späteren kontinentalen Erzählung anzunehmen.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
267
lung des Vogels als Verweis auf das Jenseitige gibt es auch auf dem Kontinent: In der Tradition des Matthäus-Evangeliums (Mt 3,16) erscheint der Heilige Geist immer wieder als eine Taube,1209 und auch die christlichen Engel, in der Frühzeit noch ikonographisch praktisch flügellos, werden ab dem fünften Jahrhundert überwiegend geflügelt dargestellt.1210 Hinzu kommt in der Hagiographie das Motiv des Vogels als himmlischer Helfer, wie das etwa in der Vita S. Pauli beschrieben wird,1211 sie können aber auch in der der entgegengesetzten Rolle des (teuflischen) Versuchers auftreten.1212 All diese Belegstellen weisen immer wieder auf die Schlüsselstelle des Vogels zwischen einem (räumlich gedachten) Immanentem und Transzendentem hin, wie sie auch der Vogel von ‚Mönch und Vöglein‘ einnehmen wird. Sei es die positive Konnotation als himmlischer Helfer oder die negative als ‚Versucher‘, die Erscheinung des Vogels ist dabei immer an eine exzeptionelle Figur gebunden. Es bedarf eines Eremiten, eines besonderen Reisenden, um diesen Vögeln zu begegnen, und die besondere (himmlische) Funktionalität des Vogels erschließt sich erst durch die wissende Deutung – sei es von Seiten des Vogels, durch eine weitere transzendent legitimierte Figur oder durch den Text selbst.1213 Der Vogel als immanente Tiergestalt macht den transzendenten Rückbezug notwendig, damit er diese Schlüsselposition einzunehmen vermag. Im Text wird so über den Vogel eine Verbindung zwischen Immanenz und Transzendenz, Diesseits und Jenseits geschaffen. Er übernimmt eine Aufgabe, die eigentlich der Figur des Engels zusteht und wird zum Medium per se.1214 Erst durch ihn und seinen Gesang entsteht ein (abgegrenzter) Ent-
1209 Vgl. Nitz 1995. 1210 Vgl. Koch 1995. 1211 Vgl. exemplarisch Hieronymus, Vita S. Pauli, 10 oder auch NSB, 11; 15; 18–19. Für weitere Textstellen von u. a. Vögeln als himmlischen Gehilfen vgl. Tilley 1993. 1212 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, II, 2, 1. Vgl. dazu auch die Vision in der Vita Sancti Eutropie episcopi, zitiert nach der Edition Varin 1849, S. 55: Videbat namque se super terram prostratum et in columna a locis gen[i]talibus nigrarum avium multitudinem conglobatam, usque ad nubes extendi. [Er sah nämlich sich selbst auf der Erde ausgestreckt und er sah eine zusammengeballte Menge schwarzer Vögel, die sich in Form einer Säule von seinem Bauch bis zu den Wolken erstreckte.] Der schwarze Vogelschwarm, den Eutropius von Orange hier zwischen seinem Bauch und dem Himmel sieht, wird im weiteren Verlauf der Lebensbeschreibung als Abbildung seiner persönlichen Schuld und Verfehlungen gedeutet. 1213 Vgl. dazu die explizite Doppelstruktur in der Fassung des Maurice de Sully. Der Vogel ist eigentlich ein Engel, der Mönch erkennt das nur nicht: un angle en semblance d’un oisel; angle, de qui il ne savoit pas que cest fust angle [„[ein] Engel in Gestalt eines Vogels [, ein] Engel, von dem er aber nicht wusste, dass er ein Engel war“, Roessler 2018, S. 122]. 1214 Vgl. das Botenmodell von Sybille Krämer und seine Anwendung auf die Figur des Engels, Krämer 2008, S. 110–119; 122–138, vgl. hier auch weitere Hinweise auf moderne Medientheorien zum Engel.
268
4 Der Wald
rückungsraum, an dem Immanentes und Transzendentes in einer Weise räumlich changieren, dass für den Mönch der Zugang zu paradiesischen Freuden eröffnet werden kann.
4.3.2 Erzählen vom Paradies Der Mönch ist eine immanente Figur, der ihm zu vermittelnde Gegenstand währenddessen gerade dadurch gekennzeichnet, dass er die immanenten Möglichkeiten (von Protagonist und Literarizität) übersteigt. Mit dem formulierten Ziel, dem Protagonisten ‚paradiesische Freuden‘ zu vermitteln,1215 eröffnet sich das narratologische Spannungsfeld von ‚Mönch und Vöglein‘. Wie schon die NSB und der TPSP löst auch ‚Mönch und Vöglein‘ das Kommensurabilitätsproblem durch die narratologische Konfiguration eines Zwischenraumes. Wie angesichts der räumlichen Struktur der Erzählung und der Sonderrolle des Vogels manifest werden konnte, inszeniert der Text im Wald einen klar (vom Kloster) abgegrenzten Raum, der wiederum durch die gnadengebundene Erscheinung des Vogels eine weitere Zugangsbeschränkung erfährt. Was der Mönch im Wald erlebt, ist vor allem eine exzeptionelle Erfahrung, die nur innerhalb der besonderen Rahmenbedingungen wirksam und diesem einen Mönch zuteilwerden konnte. Der leere Raum Narratologisch wird dies über ganz spezifische räumliche Struktur realisiert. Im Wald müssen zunächst Sprachlichkeit, Literarizität, ja in gewisser Weise alle immanenten Kategorien am Gegenstand scheitern. Der Referenzraum jedoch, in den der Protagonist in ausnahmslos allen Fassungen zurückgeführt und reintegriert wird, weiß in einem zweiten Schritt die Erfahrung zu deuten und entsprechend innerhalb eines immanenten Gefüges einzuordnen. Der erzählte Entrückungsraum ist in seiner Modalität ein Raum des nur näherungsweisen Erzählens und streng relational. Die Erzählung arbeitet mit Momenten des ‚nicht mehr‘, ‚mehr als‘, oder ‚noch nicht‘, die eigentliche Erfahrung ist nicht zu beschreiben und bleibt inkommensurabel. Das zeigt sich auch daran, dass weder Raum noch Zeit hier im eigentlichen Sinne narrativiert werden, sondern in der Relation zum Referenzraum zu erschließen sind. Mit Betreten des ‚Waldes‘, bzw. sogar mit dem ‚Verlassen des Klosters‘ wird der Wald als Entrückungsraum eingeführt, dieser wird aber im Ver1215 Vgl. die entsprechende Tabelle auf S. 264.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
269
lauf der Erzählung nicht weiter narrativ gefüllt. Er ist ‚nicht mehr‘ Kloster und zugleich ‚noch nicht‘ himmlisches Paradies, weil einerseits die Klosterschwelle und andererseits keine Himmelspforte übertreten worden ist.1216 Der Raum selbst jedoch wird außerhalb dieser begrifflichen sowie relationalen Einordnung nicht weiter ausgearbeitet. Er bleibt einzig Markierung. Die Fassungen von Maurice de Sully sowie Martin von Troppau, wo der Raum noch zusätzlich durch einen einzelnen Baum strukturiert wird,1217 fokussieren mit diesem Baum einzig den Blick des Mönchs1218 und setzen Vogel und Mönch zueinander in Verbindung. Baum, Vogel und Mönch lassen den restlichen Raum im Moment des Gesangs verblassen. Mit der narrativen Schwerpunktsetzung weg von einem ausgestalteten Raum und hin zu einer bloßen Referenzialisierung der gegensätzlichen Spannungspole ist so auch der zentrale Unterschied zu Beschreibungen eines locus amoenus offenbar: Der Fokus liegt in diesem Zwischenraum eben nicht auf der unilateralen Alterität zu etwa dem Kloster. Der Wald hier ist nicht, wie das an einer Reihe von mittelhochdeutschen Texten nachgewiesen wurde,1219 ein Gegenentwurf, den die Modifikation eines einzigen Referenzraumes (wie des Hofes) zu tragen vermag. Stattdessen wird ein heilsgeschichtliches Raum- und Zeitverständnis in die Erzählung projiziert, das eine Abgrenzung des Zwischenraums ‚Wald‘ in immanent-diesseitiger wie transzendent-jenseitiger Richtung notwendig macht. Vor dieser doppelten Referenzialisierung, Negierung und Affirmation verschwindet der konkrete Waldesraum in der changierenden Ambivalenz. Der Raum wird doppelläufig: über die historische Semantisierung des Waldes, durch Darstellungsmuster des irdischen Paradieses, bei der Fokussierung
1216 In der NSB, dem TPSP sowie anderen Texten, die im weitesten Sinne zur Gattung des ‚Jenseitsreisen‘ gehören, wird die Grenze zum himmlischen Paradies explizit formuliert. Das irdische Paradies wird betreten, das himmlische nicht. Die Überformung der Entrückungserfahrung durch Musik, Bäume und Vogel sprechen für die Darstellung einer irdischen Paradieserfahrung im ‚Mönch und Vöglein‘. Das himmlische Paradies bleibt in der Logik ähnlicher Texte bis zur endzeitlichen Wiederkunft vollständig verschlossen. 1217 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: et lores s’en vola li oisels en un arbre [„Der Vogel aber flog auf einen Baum“, Roessler 2018, S. 122] bzw. Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, 16: et auscultando eam stetit sub arbore [er stand unter einem Baum und lauschte dabei [dem Vogel]]. 1218 Bei Maurice de Sully ist der Baum der Schlusspunkt der Folgebewegung: Der Vogel führt den Mönch aus dem Kloster, hin zum Baum, um dort zu singen. Obwohl bei Martin von Troppau nicht beschrieben wird, wie sich der Vogel auf dem Baum niederlässt, muss die analoge Folgebewegung zu dem Baum und die folgende Beschreibung des Gesangs auch hier eine Positionierung des Vogels auf dem Baum bedeuten. 1219 Zur höfischen Literatur und ihrem Verhältnis zum Garten vgl. Duby 21991b, S. 481: „Zwar hegt sie eine Vorliebe für waldreiche Orte, doch sind diese Gegenbild und Gegenentwurf zur wirklichen Welt.“ Vgl. auch Schnyder 2008; Classen 2015.
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4 Der Wald
auf Baum und Vogel ganz explizit zusammen mit der Allusion einer weit überlieferten Abbildungstradition des Phoenix.1220 Das Geschehen im Wald ist in ‚Mönch und Vöglein‘ verhältnismäßig unbestimmt, und in dieser Unbestimmtheit liegt seine spezifische narratologische Funktionalität. Erzählt ist hier kein Heteromorphieeffekt und es tauchen auch keine Deuterfiguren innerhalb des Entrückungsraumes auf, die ihm eine etwa jenseitsfunktionale Rolle zuweisen könnten. Der Wald bleibt semantisch offen und entsprechend ambivalent. Hinweise gibt der Text sowohl für eine Figuration des irdischen Paradieses als auch für seine Identifikation mit einem einfachen Wald neben einem beliebigen Kloster. Je nachdem, auf welchen der beiden Pole der Deutungsschwerpunkt gesetzt wird – die Zugänglichkeit aus dem Kloster oder die scheinbare Erreichbarkeit einer transzendenten Erfahrung – changiert der Raum für den, der ihn betritt sowie für den, der von ihm hört oder liest, zwischen Immanenz und Transzendenz: Er könnte einfaches Diesseits sein oder aber eine jenseitstopographische Funktion einnehmen; als immanenter Jenseitsraum ist er narratologisch in seiner paradoxen Doppelläufigkeit notwendigerweise unbestimmt. Die überblendete Zeit In ähnlicher Weise geschieht dies auch bei der immanenten Kategorie der Zeitlichkeit. In der Fassung des Maurice de Sully beginnt die Rahmenhandlung, d. h. die Erzählung im Kloster, zur Morgenstunde.1221 Der Mönch folgt dem Vöglein in den Wald, er singt, und als er wegfliegt, meint der Mönch – wohlweislich noch im Wald – es sei die Mittagsstunde desselben Tages: et li 1220 Baum und Vogel allein können schon auf den Phoenix verweisen, der in der Ikonographie hauptsächlich der Traditio legis-Tradition oft nur zusammen mit einem Baum abgebildet wird. Das Zusammenspiel des Baumes, besonders einer Palme, mit dem Phoenix symbolisiert dabei den Triumph über die eigentlich unüberbrückbare Differenz aus Leben und Tod (vgl. Broek 1971, S. 183) und verweist so als pars pro toto auf das Paradies als Ganzes, vgl. hierzu auch die Abbildungen in Broek 1971: XX; XXIV–XXX; XXXV sowie XXXVI,4. Dieser Phoenix kann im Mittelalter auch auftauchen, ohne explizit als ‚Phoenix‘ bezeichnet zu sein, vgl. Ekkehard von Aura, Chronicon universale, nach der Edition von Waitz 1844, S. 71, 37–38: Exinde venerunt in locum quendam, in quo erat arbor neque fructum habens neque folia, et sedebat super eam avis, habens super caput suum radios lucentes sicut sol [Daraufhin kamen sie an einen Ort, an dem ein Baum stand, der weder Frucht noch Blätter trug. Auf ihm saß ein Vogel, über seinem Kopf leuchtende Strahlen wie die Sonne.] Dass es sich hier um den Phoenix handelt, suggeriert die detailliertere Ausarbeitung dieser Stelle bei der Vorlage Ekkehards, dem Text Leos von Neapel (Vita Alexandri Magni, 10 [versio Ps. Callisthenis], zitiert nach der Edition Pfister 1913). 1221 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: a une amonée [„eines Morgens“, Roessler 2018, S. 122].
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
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bons hom comença a repairer a sois meïsme celli jor a hore de midi1222 [„Da hörte der Mann plötzlich an seinem Ort die Mittagsglocke“].1223 Bezeichnend ist hier, dass diese Bemerkung eben nicht dem Mönch in den Mund gelegt wird, wie das in weiteren Fassungen durchaus vorkommt. Im Wald als Entrückungsraum, aus der Perspektive innerhalb des Entrückungsraums, gilt ein anderer zeitlicher Verlauf, es sind hier tatsächlich nur wenige Stunden bei dem Gesang des Vogels vergangen. An der Schwelle des Klosters jedoch sieht die Situation vollkommen anders aus: Das Kloster hat sich so verändert, dass der Mönch es nicht mehr erkennt, und im Gespräch mit dem Pförtner und anderen erweist sich seine Abwesenheit als eine Entrückung über 300 Jahre. Trotz dieser vergangenen Jahrhunderte allerdings ist der Mönch weder gealtert, noch ist seine Kleidung verschmutzt oder abgenutzt.1224 Innerhalb des Raumes wird eine Zeit genannt, die sich nach dem Übergang ins Kloster als falsch erweist – der formulierte Widerspruch der Fassung des Maurice de Sully ist in dieser Art und Weise in den frühen Fassungen einzigartig. Ein divergierendes Zeitverständnis innerhalb des Entrückungsraums wird jedoch in den meisten Fassungen in irgendeiner Weise problematisiert, so dass die Zeitanomalie schließlich auch zum prägenden Merkmal der Erzählung wird.1225 Mindestens der Gesang des Vogels, der den zeitlichen Rahmen der jenseitigen Erfahrung bildet, lässt den Eindruck einer kurzen Weile entstehen und bewirkt einen diametralen Gegensatz zwischen der immanenten Zeitlichkeit des Klosters – mehrere Jahrhunderte – und der Erfahrung im Wald. Die faktisch vergangenen Jahrhunderte werden ausnahmslos im und am Referenzraum des Klosters offenbar gemacht, wie das in ähnlicher Weise auch bei der Erzählung der sieben Schläfer erzählt wird: The asynchrony of the sleepers – their temporal displacement in relation to the clocked series of now moments on a line – results from their not having experienced all those moments sequentially. Supernatural sleep, ordinary sleep, absorption in deep thought, intense longing, inebriation – a wide range of conditions in fact brings out life’s essential asynchrony.1226
1222 Vgl. auch die abschließende Bemerkung des Exempels, Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: dès le matin, enjusqu’a midi. 1223 Roessler 2018, S. 122–123. 1224 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: n’est mie enveilliz ne sa vesteüre usée, ne lui soullier perciés. 1225 Vgl. auch Martin von Troppaus Fassung, in der die subjektive Einschätzung des Mönchs – quod non putabat ultra unam horam fuisse in orto (weil er nicht glaubte, dass er länger als eine Stunde in dem Garten gewesen ist) – der ‚faktischen‘ Zeitlichkeit gegenübergestellt wird. 1226 Dinshaw 2012, S. 10. Vgl. dazu auch Aristoteles’ Beschreibung der Sardischen Schläfer, Aristoteles, Physica 218b21–219a1.
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4 Der Wald
Die subjektive Zeiterfahrung des Mönches, die nur als Erfahrung einer kurzen Weile beschrieben wird, steht der Zeitlichkeit im Kloster diametral gegenüber, weil der Mönch im Zwischenraum effektiv aus der diesseitigen temporalen Linearität herausgenommen worden ist. An der architektonischen Veränderung des Klosters1227 und in der dialogischen Auseinandersetzung mit der (im normalen Zeitverlauf) begründeten Realität von Pförtner oder Abt wird die differente historische Zeit und damit das Wunder manifest (und gedeutet).1228 Erst die Reintegration des Mönchs und seiner Erfahrung in das kategoriale Gefüge des Klosters, und damit auch in eine Zeitlichkeit, die immanent und vom Kloster gesetzt wird,1229 offenbart den Bruch. Diesem Phänomen liegt ein ganz bestimmtes christliches Zeitverständnis zugrunde. Bei dem christlichen Konzept von Zeit können zwei Begriffe als prägend identifiziert werden. Auf der einen Seite findet sich ein Begriff von Ewigkeit. Sie ist kategorial nicht messbar, Gott zugeschrieben, und weist weder Anfang noch Ende auf.1230 Auf der anderen Seite steht ein Begriff von historischer Zeit, die durch die Geburt Christi sowohl rückwirkend als auch prospektiv eine Strukturierung erfährt. Sie ist linear und irreversibel:1231 The interpretation of earthly history as the history of the salvation of mankind gave it a new dimension. The life of man unfolds on two temporal planes at once: on the empirical and transient plane of earthly existence, and on the plane of the realisation of God’s predestined plan.1232
1227 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18: Et cum il regarda s’abbaïe, si ne se recunuit puint. [„Und als er sich zu der Abtei wandte, erkannte er sie nicht mehr“, Roessler 2018, S. 123]. Dieses Phänomen wird besonders deutlich an den Miniaturen der Handschriften der Cantigas de Santa Maria, vgl. dazu die Reproduktion bei Keller und Cash 1998, Bildtafel 7. Die linke Bildhälfte zeigt hier jeweils das Kloster, die rechte den Garten. Während der Mönch im Garten unter einem Baum mit dem Vogel sitzt, verändert sich in der linken Bildhälfte auf Seiten des Klosters die Architektur. Nur so wird die (aus der immanenten Perspektive) rasant vergehende Zeitlichkeit mittelbar ersichtlich. Was in der Erzählung zumeist nur elliptisch beschrieben wird, kann erst im gespaltenen Blickwinkel auf sowohl Entrückungs- als auch Referenzraum abgelesen werden. 1228 Das Motiv der relativen Zeit in Gott bzw. der Zeitanomalie als Zeichen einer transzendenten Wirksamkeit taucht in einer Reihe von Erzählungen auf, vgl. dazu Kaasik 2013, der die relevanten Erzählungen entsprechend der Kategorisierung von ATU auflistet, hier besonders S. 34. Vgl. außerdem Ps 89,4 [=EÜ (2016) Ps 90,4] und 2. Petr 3,8–13. 1229 Vgl. Gurevich 1985, S. 105–106: Ohne adäquate und verbreitete Mittel der Zeitmessung wurden die kanonischen Stunden und damit der Zeitverlauf durch das Ertönen der Kirchglocke markiert. 1230 Vgl. Gurevich 1985, S. 110. Vgl. dazu Augustinus, Confessiones, XI, 11, 13: non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens [„daß aber im Ewigen nicht irgend etwas dahingeht, vielmehr das Ganze gegenwärtig ist“, Bernhart 31966, S. 623]. 1231 Vgl. Gurevich 1985, S. 111. 1232 Gurevich 1985, S. 112.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
273
In dem Moment nun, in dem historische Zeit von göttlicher Ewigkeit entkoppelt gedacht und zugleich heilsgeschichtlich ausgedeutet wird, ist es nur folgerichtig, dass eine Überblendung beider Ebenen gedacht und beschrieben wird – „at certain crucial moments human history ‚breaks through‘ into eternity.“1233 Göttliche Ewigkeit und menschliche Zeitlichkeit sind eigentlich exklusiv gedacht, aus heilsgeschichtlicher Perspektive aber eben auch nicht. Für eine Erzählung wie die von ‚Mönch und Vöglein‘ entsteht so ein Spannungsverhältnis zwischen der Zeit in Gott und der immanenten Zeitlichkeit, welches über die Figur des Zwischenraums narratologisch aufgelöst wird. Augustinus beschreibt Gottes Ewigkeit als ausgesetzte Zeitlichkeit, die nur als ein gegenwärtiger Moment gefasst werden kann,1234 da alle einzelnen Momente und alle zeitliche Sukzession in ihr vollkommen aufgelöst gedacht werden müssen: Anni tui omnes simul stant, quoniam stant, nec euntes a venientibus excluduntur, quia non transeunt: isti autem nostri omnes erunt, cum omnes non erunt.1235 [Deine Jahre stehen ein für allemal zugleich, eben weil sie stehen, und da werden gehende nicht von andern, die nun kommen, verstoßen, weil ja keine vorübergehn: aber unsere Jahre hier werden dann erst sie alle samt und sonders sein, wenn sie allesamt nicht mehr sein werden.]1236
Gottes Ewigkeit subsumiert die Zeitlichkeit, diese Ewigkeitserfahrung jedoch muss dem Menschen, zumindest zu seinen Lebzeiten, verschlossen bleiben. Die Asynchronieerfahrung, wie sie dem Mönch zuteilwird, ist eine relative Annäherung an eine göttliche, gegenwärtige Ewigkeitserfahrung, ohne die eigentliche Differenz letztgültig aufzulösen. Diese Relativität der Zeit – relativ nämlich angesichts des Raums, in dem sie funktional wird – wird so zum Gradmesser einer Transzendenzerfahrung, und die immanente zeitliche Kategorie erst im Referenzraum des Klosters an die Erfahrung angelegt.1237
1233 Gurevich 1985, S. 110. 1234 Augustinus, Confessiones, XI, 11, 13: Quis tenebit cor hominis, ut stet et videat, quomodo stans dictet futura et praeterita tempora nec futura nec praeterita aeternitas? [„Wer hält das Herz des Menschen auf, daß es Stand habe und sehe, wie die stehende Ewigkeit, in der es kein Künftig, kein Gewesen gibt, das Künftig und Gewesen der Zeiten verfügt?“, Bernhart 31966, S. 623]. Vgl. zu Augustinus’ Zeitbegriff zudem Ricœurs 22007, S. 15–53. 1235 Augustinus, Confessiones XI, 13, 16. 1236 Bernhart 31966, S. 626. 1237 Vgl. dazu auch das Motiv des ‚nachgeholten Todes‘, wie es die Fassung aus Affligem (Hafflighemium illustratum I, 61) beschreibt: Der Mönch kehrt hier aus dem Wald zurück, berichtet von seiner Erfahrung und stirbt.
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Wie bei der Kategorie der Räumlichkeit arbeitet auch die Zeitlichkeit dementsprechend mit Momenten des ‚nicht mehr‘ und des ‚noch nicht‘. Immanente Zeit gilt nicht mehr, göttliche Ewigkeit im Sinne einer im gegenwärtigen Moment aufgehenden Ewigkeit allerdings noch nicht. Die Frage der Körperlichkeit Dies führt aus der Perspektive des Diesseits, beim Blick aus dem Kloster auf die Erfahrung im Wald, zu einer doppelläufigen Struktur der Jenseitserfahrung, die in letzter Konsequenz zur zentralen Frage von Leben und Tod und der Körperlichkeit des Mönchs führt: Zeit und Raum sind ausgesetzt bzw. paradoxal angelegt – inmitten dieser Spannung befindet sich der Mönch. An ihm und durch ihn wird das Wunder wirksam, denn nur er erlebt das Transzendente in dieser paradoxen immanenten Weise. Der Körper des Mönchs wird zum Gegenstand der eigentlichen Paradoxie: Während er im Entrückungsraum ist, lebt er nicht in ‚normaler‘ diesseitiger Weise weiter, sonst könnte er weder die Jenseitserfahrung machen noch mehrere hundert Jahre alterslos weiterleben. Er kann nicht gestorben sein, sonst könnte er nicht in einem Wald neben seinem Kloster einem Vogel zuhören und erst recht könnte er nicht einfach zurückkehren.1238 Wie schon bei den sieben Schläfern geschieht in dieser Weise eine Überlagerung, die den eigentlichen Zustand des Mönches im Entrückungsraum, wie er aus der immanenten Perspektive zu definieren wäre, bewusst offenlässt.1239 Wie bei der Höhle in Ephesos bleibt mit dem Eintreten der Hauptfigur in den Zwischenraum völlig unklar, ob sie weiterhin lebt oder gestorben ist, der Text kommentiert einzig in seiner doppelläufigen Ausgestaltung eine Art des ‚paradiesischen‘ Erlebens. Die Parallele zum Auferstehungswunder, wie sie bei den sieben Schläfern durch den Höhlenraum erzählt ist, ist in ‚Mönch und Vöglein‘ mit der Schlüsselfigur des Vogels eingeschrieben, denn schon früh wird über den 1238 Die Fassungen beschreiben alle nur einen kurzen Moment des Zuhörens. Die Dauer, der Raum oder gar die Lebendigkeit des Mönches werden zu diesem Zeitpunkt der Erzählung in keiner Weise problematisiert, denn hier gibt es schließlich auch kein Problem. Im Entrückungsraum gelten die Kategorien und damit die Erzähllogiken desselben. 1239 An dieser Stelle ist es noch einmal wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Erfahrung des Protagonisten in ‚Mönch und Vöglein‘ explizit als immanente Erfahrung beschrieben wird. Eine ‚visionäre‘ Jenseitsreise brächte dieses narratologische Problem nicht in derselben Weise mit sich, auch wenn in Texten wie etwa der Visio Tnugdali, wo der Protagonist drei Tage in einem Zustand der Katalepsie drei Tage scheinbar tot ist und eine visionäre Erfahrung macht (vgl. Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali, 1, 13), zumindest die Frage von Leben und Tod durchaus verhandelt wird.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
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Phoenix ein Vogel mit dem christlichen Wunder der Auferstehung verknüpft. Verschiedene Texte sprechen davon, dass er genau drei Tage benötigt, um nach seinem Verbrennungstod wieder zu einem vollständigen erwachsenen Vogel zu werden;1240 Tertullian1241 und Gregor von Tours1242 sehen in der Auferstehung des Phoenix dezidiert einen Beweis für die Auferstehung der Menschen, der Vogel wird zum Konnektor von immanenter und transzendenter Welt. An dieselbe Stelle schreibt ‚Mönch und Vöglein‘ den Mönch innerhalb der Erzählung ein. Im Wirkungsbereich des singenden Vogels steht er weder deutlich im diesseitigen noch dezidiert im jenseitigen Raum. Sein Aufenthalt in diesem Zwischenraum muss also neben den Kategorien von Zeit und Raum auch die Frage seiner (immanenten oder transzendenten) Körperlichkeit stellen – aus der Perspektive der Immanenz bedeutet diese Doppelläufigkeit in Bezug auf den Körper des Mönchs die Frage von Leben und Tod. Der Gesang des Jenseits An die Stelle dieser kategorialen Beschreibungen, die der Text bewusst unbeschrieben lässt, da die Entrückung in einem Vakuum geschieht, tritt in der Ausformung der Jenseitserfahrung die Musik, wie sie im Übrigen auch Gregor von Tours in verschränkter Analogie zum Phoenix für den Auferstehungsmoment des Menschen beschreibt: Quod miraculum resurrectionem humanam valde figurat et ostendit, qualiter homo luteus redactus in pulvere, sit iterum de ipsis favillis tuba canente resuscitandus.1243 [Dieses Wunder gibt der menschlichen Auferstehung deutliche Gestalt und zeigt, wie der Mensch, aus Lehm geschaffen und zu Staub zerfallen, von denselben Flammen beim Ertönen der Tuba ein zweites Mal auferstehen wird.]
Im Moment der menschlichen Auferstehung, sobald also das Transzendente am immanenten Körper des Menschen wirksam wird, ertönt eine Tuba. Das 1240 Dieses Merkmal teilen vor allem Texte, die vom Physiologus abhängig sind, vgl. Broek 1971, S. 214. 1241 Vgl. Tertullian, De carnis resurrectione, 13, zitiert nach der Edition von Evans 1960: Sed homines semel interibunt, avibus Arabiae de resurrectione securis? [Aber die Menschen werden ein für alle Mal sterben, obwohl die Vögel Arabiens ihrer Auferstehung sicher sind?] 1242 Vgl. Gregor von Tours, De cursu stellarum, 12 (nach der Edition Krusch 1885, S. 404–422). Gregor von Tours nimmt interessanterweise klar Bezug auf De ave Phoenice von Laktanz und gibt einige seiner Gedanken wieder. (Zum Vergleich der beiden Texte vgl. etwa Broek 1971, S. 184–185.) Seine abschließende Verknüpfung von Auferstehung und Phoenix stammt jedoch nicht von Laktanz. 1243 Vgl. Gregor von Tours, De cursu stellarum, 12.
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ist kein Zufall, denn die Vorstellung einer himmlischen Musik greift auf eine lange Erzähl- und Darstellungstradition zurück.1244 Nach Paulus wird das Jüngste Gericht mit dem Ertönen einer Tuba eingeläutet,1245 der Himmel ist nach der Johannesapokalypse vom Gesang von Heiligen, Märtyrern und Engeln erfüllt,1246 und auch explizit Vögel und ihr Gesang werden immer wieder als Teil des irdischen Paradieses beschrieben1247 – nicht selten zusammen mit dem Phoenix.1248 Die liturgische Praxis greift dieses Verständnis von Musik als Lobpreisung Gottes auf.1249 Im ‚Mönch und Vöglein‘ markiert der Gesang des Vogels in affirmativer Weise das, was in der Kategorie des Raumes und der Zeit nur negativ und annäherungsweise ausgedrückt werden konnte: die himmlische Erfahrung. Der Gesang ist der einzige Referenzpunkt innerhalb einer Entrückungserfahrung, die sich zwischen dem Mönch und dem Vogel abspielt. Mit dem Wegfliegen des Vogels bzw. dem Ende seines Liedes ist auch der Aufenthalt des Mönchs im Wald als immanentem Jenseitsraum vorbei. Im Moment des Gesangs überblendet die Erzählung alles andere: […] s’en vola li oisels en un arbre. Si comença a chanter issint trés ducement que onques rien nen fu oï si duce. Si estut li bons hom devant l’oisel et esgarda la beauté de lyi, et escota la duceur del chant issint trés etentivement que il en oblia tutes choses terrienes. Et cum li oisels out chantié tant cum a Deu plout, si bati ses eles, se s’en vola; et li bons hom comença a repairer a soi meïsme celli jor a hore de midi […].1250 [Der Vogel aber flog auf einen Baum und begann mit einer solch großen Süße zu singen, wie er sie noch nie gehört hatte. Der Mann blieb stehen und starrte auf die Schönheit des Engels und hörte so intensiv auf seinen süßen Gesang, dass er alle irdischen Dinge vergaß. Und als der Vogel gesungen hatte, faltete er seine Flügel auseinander und flog davon. Da hörte der Mann plötzlich an seinem Ort die Mittagsglocke […].]1251
1244 Vgl. im Zusammenhang mit Engelsdarstellungen Braun 1972, hier besonders Sp. 606–608. 1245 Vgl. 1. Kor 15, 51–52: Ecce mysterium vobis dico: omnes quidem resurgemus, sed non omnes immutabimur. In momento, in ictu oculi, in novissima tuba: canet enim tuba, et mortui resurgent incorrupti: et nos immutabimur. [Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden als Unverwesliche auferweckt, wir aber werden verwandelt werden.] 1246 Vgl. Offb 14, 3. 1247 Vgl. beispielsweise Dracontius, De laudibus Dei, I, 244. 1248 Vgl. Arnaud de Bonneval, Hexaemeron, zitiert nach PL 189, hier Sp. 1537D: superne in ramis cedrorum vel aliarum arborum phoenix vivax psallebat, et psittacus, et multiplici concinentium avium sono una erat consonantia [von oben in den Zweigen der Zedern und anderer Bäume sang der langlebige Phoenix Psalmen, auch der Papagei, und durch den mehrstimmigen Ton der Vögel, wie sie zusammen sangen, gab es einen harmonischen Klang]. 1249 Vgl. Powell und Henderson 2009, S. 30. 1250 Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18. 1251 Roessler 2018, S. 122–123.
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Als der Vogel auf dem Baum Platz nimmt, beginnt er in außergewöhnlich süßer Weise zu singen, und der Mönch hat nur Augen für den Vogel, sodass er alles Irdische (tutes choses terrienes) völlig vergisst. Der Vogel fliegt schließlich flügelschlagend davon und der Mönch kommt wieder zu sich. Während des Gesangs – der über seine Dauer die Dauer der Jenseitserfahrung bestimmt – gehen die irdischen Kategorien im Gegenüber von ‚Mönch und Vöglein‘ vollkommen auf und die Dauer des Gesangs wird bezeichnender Weise zum strukturierenden Merkmal der transzendenten Erfahrung.1252 Der Gesang als Gesang ist die Markierung eines Erfahrungsmomentes, der die immanente Sprachlichkeit und Semantik übersteigt. Der Vogel singt nicht, wie das in den Darstellungen des paradisus avium bisweilen geschieht,1253 Psalmen, die als solche ein versprachlichtes Gotteslob darstellen würden. Er wendet sich, mit der Ausnahme nur einiger weniger späterer Fassungen,1254 auch nicht in anderweitig verbalisierter Weise an den Mönch, obwohl zumindest bei Maurice de Sully kein Zweifel aufkommt, dass der Vogel eigentlich ein Engel ist. Der Gesang markiert indessen die Überschreitung immanenter Kategorien, und das geschieht eben auch über die Negierung von Sprachlichkeit.1255 Die Musik ist selbstreferentiell und überrational, übersteigt das Irdisch-Immanente, und doch bleibt sie Gesang aus dem Schnabel eines Vogels, in einem einfachen Wald. Es ist Vogelgesang und zugleich auch nicht, mehr als der Gesang eines normalen Vogels und 1252 Vgl. hierzu auch die paradoxale Zeitstruktur der Phoenixerzählung: Er lebt im irdischen Paradies ein ewiges Leben und doch ist seine Existenz auf eine zyklische Neugeburt hin ausgelegt und der Vogel sich seiner eigenen Vergänglichkeit gewahr. Er markiert über seine Gesänge sogar die Zeitlichkeit im irdischen Paradies, vgl. Laktanz, De ave Phoenice, 55–56. 1253 Vgl. beispielsweise NSB, 11. 1254 Vgl. eine Fassung der Predigten des Maurice de Sully, S. Herbert 1909, S. 428, hier auch die Edition einer weiteren Fassung aus einer Sammlung von Marienlegenden aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts (London, British Library, Egerton 1117, f. 186v). Eine Beschreibung der Handschrift, die neben dem exemplum auch unter anderem eine verkürzte Fassung des TPSP beinhaltet, findet sich bei Ward und Herbert 1893, S. 464–465; 669. Die hier abgebildete Verbalisierung des Vogelgesangs verschiebt den Fokus der Erzählung von einem inkommensurablen Entrückungsmoment, in dem nur Musik auszudrücken vermag, wo Worte scheitern, hin zu einer verstärkten Ambivalenz zwischen Vogel und Engel. Vgl. zudem die spätere Fassung des Martyrology of Donegal, 23. Juni (17. Jahrhundert): Dieser Text geht noch einen Schritt weiter insofern, als sich der Vogel im Dialog mit Mochaoi explizit als Engel ausweist, und die Ambivalenz von Vogel und Engel so, bis auf die Vogelgestalt selbstverständlich, aufgehoben wird. 1255 Dass die Überschreitung irdischer Kategorien, dass die paradiesische Erfahrung gerade in der akustischen Erfahrung erzählt wird, entspricht im Übrigen dem verhältnismäßig hohen Wahrheitsanspruch des akustischen Sinnes, so schreibt Bernhard von Clairvaux in seinen Sermones super Cantica Canticorum, 28, I, 5, zitiert nach der Edition Leclercq et al. 1957: Oculum species fefellit, auri veritas se infudit. [„Der äußere Schein täuscht das Auge, in das Ohr aber strömt die Wahrheit ein.“, Winkler 1994, S. 438]. Gerade das Hören hat eine besondere Wahrheitsvalenz.
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doch noch nicht der paradiesische Chor, den die Johannesapokalypse verspricht. Diese Relation wird auch im Moment der Entrückung weiter aufrechterhalten, wiewohl das Irdisch-Immanente augenscheinlich negiert wird: Einige Fassungen, wie etwa die von Odo von Cheriton, sprechen von gaudium sine tedio.1256 Gaudium ist biblisch als himmlisch-transzendente Freude belegt, taedium analog als Kategorie irdischen Leids.1257 Der wichtigste Intertext für die Erschließung dieser Formel gaudium sine tedio jedoch scheint das zweite Buch der Weisheit zu sein: dixerunt enim apud se cogitantes non recte exiguum et cum taedio est tempus vitae nostrae et non est refrigerium in fine hominis et non est qui agnitus sit reversus ab inferis. [Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen: Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Heilung und man kennt keinen, der aus der Unterwelt befreit.]1258
Die ‚Gottlosen‘ setzen sich hier mit der christlichen Jenseitsverheißung auseinander. Ihrer Argumentation nach, die die Verheißung leugnet, sei das Diesseits ein taedium, und der irreversible Tod der logische Endpunkt eines leidvollen Lebens. Aus dieser Logik heraus begründen die ‚Gottlosen‘ eine unmoralische Lebensführung. Die sacramenta Dei [Gottes Geheimnisse]1259 bleiben ihnen in ihrer Bosheit verschlossen, sie erkennen die Gründung des menschlichen Lebens in Gott und eine jenseitige Gerechtigkeit nicht. Das Motiv des Zweifels, wie es hier im Buch der Weisheit ungebrochen negativ für die Gottlosen erzählt wird, erfährt in ‚Mönch und Vöglein‘ eine positive Umwertung. An die Stelle ihrer irreversiblen Verblendung1260 tritt bei ‚Mönch und Vöglein‘ eine aktive Beziehung zu Gott – im Gebet, selbst im Zweifel. Mit der Formel gaudium sine tedio wird so in den entsprechenden Fassungen die systematische Spaltung von Dies- und Jenseits im christlichen Auferstehungsgedanken modal aufgerufen: taedium, das irdische Leid, das eben nicht aus sich alleine, sondern im Gegenüber mit der verheißenen, himmlischen Freude (gaudium) offenbar wird. Gaudium, das als systematischer und sinnstiftender Endpunkt eines irdischen, gläubigen Lebens im Jenseits verheißen ist.
1256 Vgl. Odo von Cheriton, Parabolae, 780. 1257 Vgl. Jes 51,11: et nunc qui redempti sunt a Domino revertentur et venient in Sion laudantes et laetitia sempiterna super capita eorum gaudium et laetitiam tenebunt fugiet dolor et gemitus. [Die vom Herrn Befreiten kehren zurück und kommen voll Jubel nach Zion. Ewige Freude ruht auf ihren Häuptern. Jubel und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen.] Für taedium vgl. Weish 11,13 [=EÜ (2016) 11,12]. 1258 Weish 2,1. 1259 Weish 2,22. 1260 Vgl. Weish 2,21.
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Diese uneingeschränkte Freude jedoch hat ein Ende, sobald der Mönch aus dem Wald zurückkehrt. Die strukturelle Dopplung von Immanenz und Transzendenz ist im Raum des Waldes eingeschrieben, denn mit dem Zugang in den Wald ist der Zugang in einen Raum verhandelt, der weder das eine noch das andere ist. Dieses ‚sowohl … als auch‘ und zugleich ‚weder … noch‘, das näherungsweise Erzählen, das immer das eine negiert, um das andere denken zu können, erlaubt erst, das Paradiesische im immanenten Raum, dem Wald neben dem Kloster, erzählen zu können.
4.3.3 Der Zwischenraum als Lektüreerfahrung Über die narratologische Modalität des Zwischenraums wird die inhärente Spannung einer immanenten Transzendenz durch verschiedene Momente der Ambivalenz im immanenten Jenseitsraum narrativiert und im Gegenüber von Mönch und Vöglein greifbar. Immanente Kategorien werden transzendiert, transzendente Erfahrung im immanenten Raum abgebildet. Der zugrundeliegenden Inkommensurabilität wird durch das anfängliche Unverständnis des Mönchs Rechnung getragen, die Erfahrung offenbart sich erst in der Auseinandersetzung mit Figuren des Klosters, im Kloster: Erst anhand sekundärer Folgen der Jenseitserfahrung wie der Zeitanomalie wird das Ereignis rückwirkend erklärlich. Damit leistet die Erzählung eine signifikante Rückkopplung des transzendenten Geschehens in den Raum des Klosters, der ja bereits in der räumlichen Strukturierung des Entrückungsraums als notwendiger Ausgangspunkt gesetzt ist. Die Deutungshoheit der Transzendenzerfahrung liegt im Kloster. Diese strukturelle Formierung des Zwischenraums aus dem Kloster und zurück wird in den Fassungen nach Maurice de Sully logisch fortgeführt. Es zeigt sich eine Tendenz der weiteren (Re-)Integration der Entrückungserfahrung in den Klosterraum, und zwar nicht mehr nur strukturell als notwendiger Ausgangs- und Rückkehrpunkt, sondern als ein komplexes Bedingungsgefüge. Der Zwischenraum wird in Relation zum Kloster historisch dynamisiert, und für die Geltungsproduktion einer bestimmten, monastischen, Lektürepraxis funktionalisiert. Bei Maurice de Sully wendet sich der Mönch im Gebet an Gott und bittet darum, jenseitige Freuden zu sehen – sie werden ihm über den Vogel offenbar. Die Fassungen von Odo von Cheriton und Jakob von Vitry führen die Erfahrung des Mönchs beide auf den Ausspruch des Psalms 89,4 [=EÜ (2016) Ps 90,4] zurück: Quoniam mille anni ante oculos tuos tamquam dies hesterna quae paeteriit, et custodia in nocte. [Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.] Spätere Fassungen wie die Chronik des Klosters Affligem gehen einen Schritt weiter.
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Die vorausgehende Beschäftigung mit dem Psalm wird hier zur notwendigen Bedingung der Jenseitserfahrung: […] cum recitasset hunc versum psalmi LXXXIX: ‚Mille anni ante oculos tuos tamquam dies hesterna quae praeteriit‘ mansit in choro, meditans super mysterio verborum illorum, quando avicula quaedam apparuit sibi;1261 [[…] als er diesen Vers des 89. Psalms vorgelesen hatte: ‚Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist‘ blieb er im Chor, dachte über das Geheimnis der Worte nach, als ihm ein Vöglein erschien.]
Der belgische Mönch erzählt, er sei im Chor der Kirche gesessen, als der Vogel erschienen ist. Er habe sich in Lektüre (recitasset) und der Meditation (meditans) mit den Worten des Psalms auseinandergesetzt. Die Spannung, die der Psalm zwischen der Ewigkeit Gottes und der irdischen Zeitlichkeit beschreibt, findet daraufhin ihre Realisation im Vogel, dessen Gesang ebendiese Spannung für den Mönch zu einer erlebten Wirklichkeit macht. Der Mönch kehrt zurück, erzählt von seiner Erfahrung und reaktualisiert durch seine (erzählte) Erfahrung die Wahrheit des Psalms. Dem Wunder von ‚Mönch und Vöglein‘ wird so ein fester Platz im Bedingungsgefüge einer speziellen Lektüre- und Gebetspraxis zugewiesen. Die lectio divina Die narratologische Konfiguration des Zwischenraums, wie das bereits bei NSB und TPSP gezeigt werden konnte, birgt für die weitere Diskursivierung der Zwischenraumerzählungen das Potential historischer Dynamisierung. Die spezifisch dimensionierten Raumdynamiken werden retextualisiert und gegebenenfalls in neue Diskurszusammenhänge gebracht. Der Verhandlungsgegenstand des Inkommensurablen bedingt dabei ganz grundsätzlich ein besonderes Potential für Selbstreferenzialität im Zusammenhang mit Lesen, Lektüre und den epistemologischen Grenzen und Möglichkeiten von Literarizität.1262 Deutlich macht das im Diskurszusammenhang von ‚Mönch und Vöglein‘ sowohl allgemein seine Verbindung mit einem selbstgesteuerten Lektüreimpulses oder dem Psalm 89,4 [=EÜ (2016) Ps 90,4]. Noch deutlicher wird dieses Potential aber besonders bei dem Blick auf den Zusammenhang von ‚Mönch und Vöglein‘ mit einem spezifischen Diskurs des zwölften bzw. dreizehnten Jahrhunderts: der lectio divina. Bei der lectio divina handelt es sich um eine formalisierte Form der Bibel lektüre, wie sie schon bei den Kirchenvätern geübt wurde. Ab dem fünf1261 Hafflighemium illustratum, I, 61. 1262 Vgl. Kapitel 4.3.3.
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ten Jahrhundert hatte sie einen institutionellen Rahmen im Kloster und im zwölften Jahrhundert wird sie als ein Weg zu kontemplativem Wissen systematisiert.1263 Die Befähigung zu Lesen und Schreiben galt als eine Zugangsbedingung des Klosters, und in monastischen Regeln wie der Benedicti regula wurden der lectio divina ausdrücklich im Leben und Tagesablauf der Mönche feste Zeitfenster zugewiesen.1264 Lesen als explizit lautes Lesen – Duncan Robertson sieht hier einen Zusammenhang mit der Etablierung der scriptura continua im zweiten Jahrhundert1265 – schafft die Grundlage einer Lektürepraxis, in der die Grenzen zwischen eigentlicher Lektüre, Meditation und Gebet zunehmend verschwimmen. Bedeutsam ist der dezidierte Schwerpunkt auf der Lektürepraxis, weg vom intellektuellen Verständnis des Gelesenen. Dieses intellektuelle Verständnis steht, wenn überhaupt, ganz am Ende der Lektürepraxis, es ist gnadenabhängig und ein Geschenk des Heiligen Geistes.1266 Im irdischen Leben muss das Verständnis der Bibellektüre hingegen begrenzt bleiben: Understanding (intellectus spiritualis) would result less fom any synthesis of ideas than from a patient frequentation, a familiarity grown from long acquaintanceship, as though the Bible were a language which could only be learned by living in the country where it is spoken.1267
Im zwölften Jahrhundert erfolgt eine Reihe von Theoretisierungsbemühungen dieses Prozesses. Neben Hugo von St. Viktor (Didascalicon) beschäftigen sich Guigo I (Meditationes) und Wilhelm von St. Thierry (Meditativae orationes) mit der Praxis.1268 Mit seiner Scala claustralium verfasst der Kartäuser Guigo II (gest. 1193)1269 schließlich eine umfassende Systematik,1270 wie die Bibellektüre über vier notwendige Schritte zur Kontemplation führen soll:
1263 Vgl. zur lectio divina im Allgemeinen Robertson 2011, insbesondere S. XI–XXII. 1264 Nach der Benedicti regula wird im Chor (vgl. Benedicti regula, 9–14) und nach der Komplet (Benedicti regula, 42) gelesen. Je nach Jahreszeit sind weitere Zeiten der Lektüre gewidmet (vgl. Benedicti regula, 48). Gelesen wird dabei das Johannesevangelium, das Hohelied, Johannes oder auch Augustinus. Insgesamt ergibt das dreieinhalb bis fünf Stunden Lektürezeit, vgl. Rüffer 1999, S. 61. 1265 Vgl. Robertson 2011, S. XIV. 1266 Vgl. Johannes Cassian, Collationes, XIV, 10,4. 1267 Robertson 2011, S. XV. 1268 Vgl. Robertson 2011, S. XVII–XVIII. 1269 Einführend zu Guigo II vgl. Hogg 2002. 1270 Zur Scala claustralium vgl. Colledge und Walsh 1970, S. 29–79. Die Verbreitung des Textes mag überschaubar sein – es sind nur sieben Handschriften überliefert, davon die meisten unter dem Namen Bernhards von Clairvaux (vgl. Colledge und Walsh 1970, S. 14). Dem gegenüber steht jedoch die nachweislich weite Verbreitung der Praxis des lectio divina, wie sie in Texten von Hugo von St. Viktor, Wilhelm von St. Thierry oder auch Guigo I verhandelt wird.
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4 Der Wald Est autem lectio sedula scripturarum cum animi intentione inspectio. Meditatio est studiosa mentis actio, occultae veritatis notitiam ductu propriae rationis investigans. Oratio est devota cordis in Deum intentio pro malis removendis / vel bonis adipiscendis. Contemplatio est mentis in Deum suspensae quaedam supra se elevatio, eternae dulcedinis gaudia degustans.1271 [Die Lesung ist das eifrige Lesen der Bibel mit aufmerksamem Geist. Die Meditation ist die eifrige Tätigkeit des Verstandes, verborgene Wahrheiten durch die eigene Vernunft aufzudecken. Gebet heißt, sich ergebenen Herzens Gott zuzuwenden, um Böses zu beseitigen und Gutes zu erlangen. Kontemplation heißt, den auf Gott gerichteten Geist zu erheben und die Freude der ewigen Glückseligkeit zu verkosten.]1272
Auf die Lektüre folgt die Meditation, daraufhin das Gebet und schließlich die Kontemplation. Die Meditation definiert Guigo II dabei als eine vernunftgesteuerte Suche (ductu propriae rationis). Sobald diese an ihre Grenzen stößt,1273 wendet sich das Gebet an Gott, um zuletzt in der Kontemplation erhört zu werden und einen Vorgeschmack auf das Transzendente zu ermöglichen.1274 Auf diese Weise wird den Mönchen der Weg zum Himmel (coelorum secreta) erschlossen, da diese Schritte wie die Sprossen einer Leiter das Irdische mit dem Himmlischen verbinden und es zugänglich machen.1275 Diese Kontemplation jedoch, daran lässt der Text keinen Zweifel, ist defizitär. Zwar erwartet die Seele des Mönchs nach der Himmelsleiter die affektive Vereinigung mit ihrem Bräutigam,1276 er ist gelöst von allem Irdischen1277 und einzig 1271 Guigo II, Scala claustralium, 2, 32–38, hier und im Folgenden nach der Zählung der Edition Colledge und Walsh 1970. 1272 Zitiert nach der Übersetzung von Daniel Tibi 32010, S. 5. 1273 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 6, 135–136: Videns ergo anima quod ad desideratam congnitionis et experientiae dulcedinem per se non possit attingere […] [„Die Seele sieht also, dass sie die ersehnte Süßigkeit der Erkenntnis und Erfahrung nicht aus sich heraus erreichen kann“, Tibi 32010, S. 8]. 1274 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 3, 42–43: Beatae vitae dulcedinem lectio inquirit, meditatio invenit, oratio postulat, contemplatio degustat [„Die Lesung sucht nach der Freude des ewigen Lebens, die Meditation entdeckt sie, das Gebet erfleht sie und die Kontemplation verkostet sie.“, Tibi 3 2010, S. 6]. 1275 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 2, 20–25: Haec est scala claustralium qua de terra in coelum sublevantur, gradibus quidem distincta paucis, immensae tamen et incredibilis magnitudinis, cujus extreme pars terrae innixa est, superior vero nubes penetrat et coelorum secreta rimatur [„Dies ist die Leiter der Mönche, durch die sie von der Erde in den Himmel hinaufgeführt werden. Stufen hat sie nur wenige, unermesslich aber und unglaublich ist ihre Größe. Ihr unteres Ende steht auf der Erde, ihr oberes aber durchdringt die Wolken und versucht, den Himmel zu erspähen.“, Tibi 32010, S. 5]. Vgl. Gen 28,12. 1276 Zu der Beschreibung der Kontemplation in der Metaphorik einer affektiven Vereinigung vgl. die Überlegungen von Niklaus Largier, Largier 2014, besonders S. 58–61. Mit Blick auf die affektive Metaphorik visionärer Texte von u. a. Hadewijch von Brabant argumentiert er hier für den Zusammenfall von innerem und äußerem Menschen im Moment kontemplativer Erkenntnis. 1277 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 7, 166: facit eam terrenorum oblivisci [„lässt sie die irdischen Dinge vergessen“, Tibi 32010, S. 8].
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Geist: et fit homo quasi totus spiritualis1278 [„So wird der Mensch gleichsam ganz vergeistigt.“]1279 Diese Kontemplation allerdings ist nur vorübergehend, denn der Bräutigam entfernt sich.1280 Die kontemplative Erfahrung kann nur ein Schatten dessen sein, was der Seele im wahren Jenseits bevorsteht, damit der Mönch nicht dem Irrglauben anheimfällt, bei ihr handele es sich um die wahre Vollkommenheit: […] si nunquam deesset haec consolatio, quae respectu futurae floriae quae revelabitur in nobis aenigmativa est et ex parte, forte putaremus nos hic habere civitatem manentem, et minus inquireremus futuram.1281 [Wenn außerdem dieser Trost niemals fehlen würde, (der, bedenkt man die künftige Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll, nur wie ein rätselhafter Umriss und unvollkommen ist,) könnten wir glauben, wir hätten hier auf Erden eine bleibende Stätte, und es könnte sein, dass wir uns nicht mehr genug anstrengen, die künftige zu suchen.]1282
Gemessen an dem, was kommen wird, nämlich der Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht,1283 ist diese Art der Kontemplation nur ein Vorgeschmack auf den wahren endzeitlichen Lohn, ein Spiegelbild statt des wirklichen Gesichts.1284 Die lectio divina, wie sie Guigo II hier zeichnet, reaktualisiert in letzter Konsequenz wieder die Differenz zwischen absoluter Transzendenz und Immanenz. Nur ein Abglanz der jenseitigen Transzendenz ist im Diesseits erfahrbar, selbst auserwählten Mönchen, selbst auf der Leiter der lectio divina. Die Scala claustralium theoretisiert so das, was die Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ narrativ zu verhandeln sucht, nämlich das immanente Erleben des Transzendenten. Der Moment der Kontemplation, wie ihn die Scala claustralium beschreibt, ist wie die Entrückungserfahrung des Mönchs in ‚Mönch und Vöglein‘ nur zeitlich begrenzt. Der Mönch der Scala wird in der Metaphorik der Scala vom Bräutigam, der von ‚Mönch und Vöglein‘ von dem Vogel verlassen. Beide Mönche beenden ihren Weg wieder in ihrem 1278 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 7, 173–174. 1279 Tibi 32010, S. 8. 1280 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 9, 210–224. 1281 Guigo II, Scala claustralium, 10, 241–245, vgl. 1. Kor 18, 12. 1282 Tibi 32010, S. 10. 1283 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 10, 255–258: Ibi videbitis me non per speculum in aenigmate sed facie ad faciem et plene gaudebit cor vestrum, et gaudium vestrum nemo tollet [„Dort werdet ihr mich schauen, nicht nur rätselhafte Umrisse wie durch einen Spiegel, sondern von Angesicht zu Angesicht. Euer Herz wird voll Freude sein und eure Freude wird euch niemand nehmen können.“, Tibi 32010, S. 10]. 1284 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 10, 245–246: Ne ergo exsilium reputemus pro patria, arrham pro pretii summa […] [„Auch sollen wir nicht die Verbannung für Heimat halten oder eine Glasperle für einen Edelstein“, Tibi 32010, S. 10], bzw. Guigo II, Scala claustralium, 10, 255–257.
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immanenten Kloster. Gleichermaßen erreichen sie einen Zustand der ‚quasiTranszendenz‘, der eine wird als homo quasi totus spiritualis1285 [ein gleichsam völlig vergeistigter Mensch] beschrieben, der andere stellt durch seine Alterslosigkeit, ja sein Überleben von hunderten von Jahren, die Immanenz seines Körpers in Frage. Das Prinzip, der Mönch hätte ‚irdische Dinge vergessen‘ taucht im Wortlaut sowohl bei Guigo II als auch in der ‚Mönch und Vöglein‘Fassung von Maurice de Sully auf.1286 In der lectio divina, wie sie bei Guigo II verhandelt wird, zeigt sich eine Tendenz zur epistemologischen Vorsicht. Immanentes und Transzendenz sind letztlich im Sinne einer ‚absoluten‘ Transzendenz getrennt,1287 und doch wird die Lektürepraxis in der Mitte dieses Spannungsverhältnisses verortet: als näherungsweise Annäherung an das, was eigentlich als unverfügbar gedacht wird. Der Wald, wie ihn ‚Mönch und Vöglein‘ im Zwischenraum zu erzählen versucht, ist die narratologische Antwort auf das epistemologische Problem, das Guigo II hier über die systematisierte lectio divina im theoretischen Diskurs zu lösen versucht. Auch gerade die Erzählung eines Waldes ermöglicht dabei die Dimensionierung von ‚Mönch und Vöglein‘ durch diesen zeitgenössischen Diskurs: Bei Gregor dem Großen etwa steht der Wald immer wieder metaphorisch für das hermeneutische Dickicht der Bibel, die Rede ist von einer Ähnlichkeit mit einem weitläufigen Wald (siluae uastioris similitudo).1288 Der Weg des Exegeten wiederum wird als Betreten dieses Waldes beschrieben. Wie ein Wald von oben einem Betrachter auch bei schärfstem Blick nicht die Tiefen seiner Täler und die Ausmaße seiner Plateaus offenbart, bleibt das Verständnis der Heiligen Schrift ohne die Bemühungen der Exegese nur oberflächlicher Natur.1289 Die Schrift ist ein dunkler Wald (opacior silva),1290 der aber auch einen Rückzugsort vor der Welt schafft und zu einer bestimmten Lektürepraxis anregt: 1285 Guigo II, Scala claustralium, 7, 173–174. 1286 Vgl. Guigo II, Scala claustralium, 7, 166, sowie Maurice de Sully, Sermones in tempore 16: il en oblia tutes choses terrienes [„[dass] er alle irdischen Dinge vergaß“, Roessler 2018, S. 122]. 1287 Vgl. S. 5–8. 1288 Gregor der Große (?), In librum primum regum, prol. 2, 5, 56–57. Die Autorschaft Gregors des Großen ist zweifelhaft, Adalbert de Vogüé (1996) führt überzeugende Argumente an, den Kommentar stattdessen Peter von Divinacello (gestorben 1156) zuzuschreiben, vgl. dazu Clark 1998. 1289 Vgl. Gregor der Große (?), In librum primum regum, prol. 2, 5, 57–71. 1290 Gregor der Große (?), In librum primum regum, prol. 2, 5, 70, vgl. auch Gregor der Große, Homiliae in Hiezechielem prophetam, I, 5, 1, 3–4: siluarum opacitas und Gregor der Große, Homiliae in Hiezechielem prophetam, I, 9, 1, 6: opaca siluarum. Bei den beiden Stellen des EzechielKommentars kann opacus/opacitas neben der epistemologischen Implikation ebenfalls in seiner positiven Konnotation als ‚schattenspendend‘ verstanden werden, vgl. NGML s. v. opacitas bzw. opacus.
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Hanc [sc. profunditas eloquiorum dei] quoties intelligendo discutimus, quid aliud quam siluarum opacitatem ingredimur ut in eius refrigerio ab huius saeculi aestibus abscondamur? Ibique uiridissimas sententiarum herbas legendo carpimus, tractando ruminamus.1291 [Wie oft untersuchen wir diese Tiefe [der Aussprüche Gottes] in der verständigen Auseinandersetzung: Was betreten wir Anderes als die schattige Dunkelheit der Wälder, um uns in ihrer kühlen Verschattung von der Hitze dieser Welt zu verbergen? Dort pflücken wir beim Lesen die grünsten Kräuter der Lehrmeinungen, in Auseinandersetzung mit ihnen kauen wir sie wieder.]
Der Wald, so zeigen es die Vorworte der Kommentare Gregors des Großen, wird durchaus auch als räumliche Metapher gerade im Rahmen der lectio divina verstanden. Lektüre des Mönch Felix Besonders deutlich ist der Diskurs der lectio divina als zeitgenössische Dimension bei der mittelhochdeutschen Reimfassung von ‚Mönch und Vöglein‘, Mönch Felix.1292 Der Text stammt wohl aus Südthüringen,1293 möglicherweise aus zisterziensischem Kontext.1294 Er wird in das dreizehnte Jahrhundert datiert, eine genauere Einordnung ist allerdings nicht möglich.1295 Es gibt einen Ich-Erzähler – ebenfalls eine Neuerung der Fassung –, der zu dem beschriebenen Mönch different ist.1296 Für die Interpretation dieser ‚Mönch und Vöglein‘-Fassung vor dem Hintergrund einer ganz spezifischen Lektürepraxis ist hauptsächlich die Darstellung der Entrückung und ihre Verankerung im Kloster von Interesse. Durch eine Widmung zu Gedichtbeginn bringt Mönch Felix als eine der ersten Fassungen das Wunder des Mönchs in Zusammenhang mit der Gottesmutter.1297 Es folgt eine Einführung des Protagonisten Felix,1298 interessanter Weise als ein heiliger munich […] / der gerne von gote las.1299 Er ist demütig wie Hiob, vor allem aber ist sein Leben von einer unbändigen Sorge um sein
1291 Gregor der Große, Homiliae in Hiezechielem prophetam, I, 9, 1, 2–6. 1292 Zum Mönch Felix einführend vgl. Palmer 1987. 1293 Vgl. Mai 1913, S. 53. 1294 Vgl. Mai 1913, S. 103–113. 1295 Vgl. Mai 1913, S. 61–62. 1296 Vgl. Mönch Felix, 1–6: Aller meide gimme, / sûze wort und stimme / gerûche mir, vrowe, geben / daz ich eines munches leben / mûze alsô beschrîbe, / daz ich âne sunde belîbe. 1297 Vgl. Mönch Felix, 1–17, zitiert nach der Edition von Erich Mai (1913, S. 433–448). Zur Überlieferungssituation vgl. zudem Palmer 1987, Sp. 646. 1298 Vgl. Mönch Felix, 18–49. 1299 Mönch Felix, 19–20.
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jenseitiges Schicksal geprägt: an den grimmigen tôt / gedachte er vil dicke. / wie’r des tûvels stricke / mit êren mochte engên, / des begunde er gote vlên.1300 Anders als in den lateinischsprachigen Fassungen der frühen Predigtsammlungen von Odo von Cheriton, Jakob von Vitry, Martin von Troppau oder auch Maurice de Sully folgt auf diese Charakterisierung des Protagonisten nicht das Erscheinen des Vogels. Die Bitte des Felix – des begunde er gote vlên1301 – wird nicht ohne weiteres erhört, wie das in den anderen Fassungen geschehen ist. Stattdessen ist ein weiterer Schritt in die Erzählung eingeschoben: Felix geht aus dem Kloster – betritt also den Entrückungsraum – und liest. Er liest vom Himmel und denkt darüber nach, dass es dort vroude âne swêre1302 gäbe;1303 er wendet sich lobend an Gott1304 und kommt zu dem Schluss, dass diese himmlische Freude für den Menschen unergründlich sei: die heilige schrift daz selber jach: / ‚nie kein ouge sî gesach / noch kein munt vol gesprach / noch keines menschen ôren / mochten sî vol hôren / noch herze vollen denken.‘ / dar an begunde er wenken / und dûchte in sîn unmugelîch.1305
An den himmlischen Freuden, so Felix, müssen menschliche Mittel letzten Endes scheitern. Sie sind für den Menschen weder akustisch noch optisch zugänglich, ja sie können noch nicht einmal in ihrem vollen Ausmaß gedacht werden. Nachdem Felix so in die Aporie gelangt ist, wird ihm von Gott der Vogel geschickt und Felix schließt sein Buch.1306 Als Engelsbote kündet der Vogel ihm von der jenseitigen Freude und fliegt schließlich davon.1307 Der Mönch reflektiert die Begegnung – er hette gesworen, / daz daz himelisch paradîs / wêre dâ in allen wîs1308 – und kehrt, vom Klang einer Glocke in die immanente Realität zurückgeholt, in sein Kloster zurück. Dass gerade der Klang einer Glocke den entrückten Mönch in die Zeit zurückholt, ist nicht nur eine spielerische Variation vorausgehender Fassungen. Gerade die Kirchenglocke ist im zwölften bzw. dreizehnten Jahrhundert Sinnbild für 1300 Vgl. Mönch Felix, 32–36. 1301 Mönch Felix, 36. 1302 Mönch Felix, 58. Vgl. dazu auch die Formulierung gaudium sine tedio (vgl. S. 278) bei Odo von Cheriton (Parabolae, 780): Hier muss zumindest ein mittelbares Abhängigkeitsverhältnis bestehen. 1303 Vgl. Mönch Felix, 50–59: Eines morgens nâch prîme zît / ûz dem munster er ginc: / ein bûch er zu im gevinc. / dar inne begunde er lesen, / wie er mochte genesen. / dise rede im vor quam, / sô ichz wêrlich vernam, / daz in dem himel wêre / vroude âne swêre / und immer âne ende. 1304 Vgl. Mönch Felix, 60–65: beide ougen unde hende/zu unserm hêren er hûb ûf, / der sulche vroude geschûf, / unde lobte in inneclîche, / daz in dem himelrîche / wêre vroude âne zal. 1305 Mönch Felix, 72–79. 1306 Vgl. Mönch Felix, 87. 1307 Vgl. Mönch Felix, 80–105. 1308 Mönch Felix, 110–112.
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die strukturbildende Kontrolle des Klosters auf die umgebende Landschaft: Ohne andere verlässliche Mittel der Zeitmessung wird die Zeit über das Läuten der kanonischen Stunden bestimmt.1309 Wenn der entrückte Mönch so beim Glockenklang, oder wie in anderen Fassungen zu einer bestimmten Uhrzeit1310 in das Kloster zurückkehrt, wird seine außerzeitliche Jenseitserfahrung in eine irdische Zeitlichkeit zurückgeführt, die wiederum gerade monastisch reguliert und bestimmt wird. Der Pförtner erkennt den Mönch nicht mehr, der Abt genauso wenig, lässt ihn aber ein.1311 Ein sehr alter Mönch wird hinzugezogen, der sich aus seinem Noviziat an einen Mönch Felix erinnert, der verschwunden sei.1312 Zuletzt wird ein Buch mit den Namen der Verstorbener wird zu Rate gezogen, und es stellt sich heraus, dass Felix vor einhundert Jahren verschwunden sei.1313 Das Gedicht mündet in ein Lob Christi.1314 Die zentrale Abweichung des Mönch Felix von seinen Vorgängern in der ‚Mönch und Vöglein‘-Tradition ist die Betonung der Lektürepraxis. Felix wird an erster Stelle in der Rolle des Lesenden präsentiert, eine Charakterisierung, die sich zum Schluss in einem zyklischen Moment wiederholt. Der Vogel ist zwar eine Gnadenbekundung Gottes, jedoch geschieht sie nicht ohne ein Bedingungsgefüge, das fest in der Lektürepraxis des Felix verankert ist. Die zwischen Charakteristik und Vogelerscheinung eingeschobene Lektüreepisode ist insofern unerlässlich, als sie alle vier der Schritte der lectio divina beschreibt und damit den diskursiven Rahmen manifest machen: Felix liest (lectio), denkt über die gelesenen Worte nach (meditatio), stößt an die Grenzen seiner rationalen Möglichkeiten und wendet sich an Gott (oratio). Die Erscheinung des Vogels ist damit die Narrativierung einer contemplatio, wie sie nur nach Absolvierung der vorherigen drei Schritte erfolgen kann. Wie Guigo II sie beschreibt, ist diese contemplatio im Sinne einer transzen-
1309 Vgl. Gurevich 1985, S. 105–106. So führt Johannes de Garlandia im dreizehnten Jahrhundert die Etymologie der Glocke (campana) darauf zurück, dass in den Feldern (in campis) die Zeit nur über den Glockenschlag bestimmt werden kann, Johannes de Garlandia, Dictionarius: Campanae dicuntur a rusticis qui habitant in campo, qui nesciant judicare horas nisi per campanas [Sie werden von den Bauern, die im freien Feld (campus) wohnen, Glocken (campanae) genannt, weil sie die Tageszeit nur durch die Glocken (campanae) zu beurteilen wissen.] 1310 Vgl. Maurice de Sully, Sermones de tempore, 18; Cantigas de Santa Maria, 103, 7, 3–8, 1. 1311 Vgl. Mönch Felix, 146–309. 1312 Vgl. Mönch Felix, 310–348. Auffällig ist die wörtliche Wiederholung der Charakteristik des Mönches Felix: Der alte Mönch spricht, wie schon die Einleitung des Ich-Erzählers, von einem Mönch, der gerne von gote las, / swaz er geschriben vant. (326–327, vgl. 20–21) Das gesamte Gedicht präsentiert sich so als Teil einer mündlichen Tradition, die in letzter Konsequenz auf Augenzeugenschaft beruht. 1313 Vgl. Mönch Felix, 349–357. 1314 Vgl. Mönch Felix, 364–380.
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denten Schau zeitlich begrenzt und sie übersteigt die immanenten Mittel des Mönches,1315 weshalb sie nur näherungsweise vermittelt werden kann.1316 Das Wunder der immanenten Jenseitserfahrung wird dadurch fest im Rahmen einer monastischen Lektürepraxis verortet und das Kloster als nicht mehr nur struktureller, sondern ideeller Ausgangspunkt eine conditio sine qua non. Die Jenseitserfahrung, wie sie ein Text wie Mönch Felix, wie sie sein IchErzähler beschreibt, kann die Erfahrung einer immanenten Transzendenz zwar mit Einschränkungen erzählen, aber die Jenseitserfahrung selbst nicht ersetzen oder gar in der Lektüre nachvollziehbar machen. Nachdem er die Freuden der Kontemplation beschrieben hat, macht dies auch Guigo II noch einmal deutlich, und markiert so die erkenntnistheoretischen Grenzen von ‚Sprache‘ gegenüber ihrem transzendenten Gegenstand: Sed quid hujiusmodi secreta colloquia proferimus in publicum? Cur inenarrabiles affectus verbis communibus conamur exprimere? Inexperti talia non intelligent, quia ea expressius legerent in libro experientiae, ubi ipsa docet unctio. Aliter autem littera exterior non prodest quidquam legenti: modicum sapida est lectio exterioris litterae, nisi glossa interiorem sensum sumat ex corde.1317 [Aber warum machen wir auf diese Weise diese innersten Geheimnisse öffentlich? Warum versuchen wir, diese unsagbaren und unaussprechlichen Dinge mit gewöhnlichen Worten auszudrücken? Jene, die solches nicht aus eigener Erfahrung kennen, können es nicht verstehen, wenn sie es nicht im Buche der Erfahrung lesen, belehrt durch die göttliche Salbung. Sonst nämlich wird das geschriebene Wort dem, der es liest, nichts nützen. Denn wenig Einsicht bringt das bloße Lesen dieser Worte, wenn die Erklärung fehlt, die das Herz aus eigener Erfahrung geben muss.]1318
In der Kontemplation fallen Inneres und Äußeres zusammen, die geschriebenen Worte (littera exterior) fallen mit dem inneren Sinn (interior sensus) aus dem Herzen des Mönchs zusammen, in einer Art und Weise, die nicht mit gewöhnlichen Worten (verba communia) zu fassen ist. Um diese transzendente Erfahrung verstehen zu können, bedarf es der Erfahrung ebendieser Kontemplation. Wenn also der Ich-Erzähler von Mönch Felix in einer noch weiter distanzierten Position, nämlich über jemanden, der diese Erfahrung gemacht hat, ohne selbst das Vöglein gesehen zu haben, erzählt, liegt der Fokus der Erzählung auf dem Modus der Jenseitserfahrung, und nicht auf ihrem Inhalt. Für inhaltliche Beschreibungen ist Sprache inadäquat. Sie kann den inkommensurablen Gegenstand nur in defizitärer, sich annähernder Weise, wie es 1315 Vgl. Mönch Felix, 66–79. 1316 Vgl. Kapitel 4.3.2 Auch beim Mönch Felix wird selbstverständlich die Darstellung der Para dieserfahrung durch die narratologische Konfiguration eines Zwischenraumes möglich. 1317 Guigo II, Scala claustralium, 8, 202–209. 1318 Tibi 32010, S. 9.
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das das Modell des ‚Zwischenraums‘ zu beschreiben versucht, verhandeln, bei der Praxis der lectio divina ist aber ja die intellektuelle Erkenntnis zunächst ohnehin sekundär. Wenn also ein Text wie Mönch Felix von einer Jenseitserfahrung erzählt und diese über zusätzliche Brechungen explizit nicht als eigene Erfahrung präsentiert, handelt es sich um eine implizite Handlungsanweisung, eine Verhandlung von Modus, nicht Inhalt. Die Konsequenz, die Mönch Felix aus der Inkommensurabilität des Transzendenten zieht, ist der notwendige Weg über das Kloster und die monastische Praxis. Diesen Schluss soll auch der Leser für sich ziehen.
4.3.4 Exkurs: Die Semantik des Gartens als Zwischenraum Ein Thema, das bislang ausgeklammert worden ist, ist die Rolle des Gartens in ‚Mönch und Vöglein‘. Wie bereits erwähnt, ist in allen Fassungen der Entrückungsraum in Relation zum Kloster beschrieben, der eigentliche Raum allerdings kann ein Wald oder ein Garten sein. Sowohl Wald als auch Garten sind dabei semantisch primär über den Diskurs des irdischen Paradieses dimensioniert. Beim Garten handelt es sich jedoch anders als bei ‚Insel‘, ‚Höhle‘ oder ‚Wald‘ nicht um einen natürlichen, sondern um einen künstlichen Raum, der begrifflich immer bereits seine eigene Begrenzung mitbedeutet1319 und zudem durch eine spezifische Funktionalität und nicht das Moment der Weltabkehr bestimmt ist. Räumliche Relationen Vor einer semantischen Untersuchung des Gartens bei ‚Mönch und Vöglein‘ ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass die räumlichen Relationen auch bei diesem Entrückungsraum beibehalten werden. Bei Jakob von Vitry findet die 1319 Die Begriffe für Garten, hortus bzw. χόρτος, sowie gotisch garda/gards haben die Grundbedeutung eines ‚Umzäunten‘, ‚Eingefriedeten‘, vgl. Ott 1989, Sp. 1221. In Begrenzung wie Artifizialität des Gartenraumes liegt sein utopisches Potential. Die Abgrenzung eines künstlichen Sonderraumes erlauben dem Garten ein gewisses Moment der außernatürlichen Funktionalität, so schreibt Rupert von Deutz in den Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 4, 73–74, zitiert nach Haacke 1974: Nam inde nominatur hortus, quod semper ibi aliquid oriatur [Deshalb nämlich heißt es ‚Garten‘ (hortus), weil dort immer irgendetwas entsteht (oriri).] Eine gewisse Aussetzung des jahreszeitlichen Ablaufes und die Inszenierung eines fortwährend synchronen Wachstums, Blühens, Frucht-Tragens als zentrale utopische Merkmale sind damit dem Gartenraum bereits eingeschrieben.
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eigentliche Entrückung in orto prope abbaciam1320 [in einem Garten nahe dem Kloster] statt, bei Martin von Troppau folgt der Mönch dem Vogel usque in ortum abbatie1321 [bis in den Garten des Klosters]. In beiden Fassungen überschreitet der Mönch bei seiner Rückkehr die Klosterpforte.1322 Dasselbe gilt mit Abstrichen für die Fassung der Cantigas de Santa Maria aus dem dreizehnten Jahrhundert.1323 Der Garten ist vor der Klosterpforte lokalisiert oder durch eine Schwellensituation klar getrennt: Die strukturelle Alterität des Entrückungsraumes, für die Konfiguration des Zwischenraums als immanenten Jenseitsraumes eine conditio sine qua non, bleibt manifest. Der eigentliche historische ‚Klostergarten‘, soweit er über die wenigen überlieferten Quellen und Zeugnisse rekonstruiert werden kann, liegt innerhalb des Klosters.1324 Gerade, weil er im Inneren liegt, wird er neben der materiellen mit der spirituellen Autonomie der Mönche in Verbindung gebracht. So schreibt die Benedicti regula, wohlweislich im Kapitel über die Pförtner: Monasterium autem, si possit fieri, ita debet constitui, ut omnia necessaria, id est aqua, molendinum, hortum vel artes diversas intra monasterium exerceantur, ut non sit necessitas monachis vagandi foris, quia omnino non expedit animabus eorum.1325 [Das Kloster soll, wenn möglich, so angelegt werden, dass sich alles Notwendige, nämlich Wasser, Mühle und Garten, innerhalb des Klosters befindet und die verschiedenen Arten des Handwerks dort ausgeübt werden können.]1326
Beim Verlassen des Klosters (vagari foris), so die Benedicti regula, ist das Seelenheil der Mönche in Gefahr. Die bloße Notwendigkeit, das Kloster zu verlassen, soll auf diese Weise soweit möglich verhindert werden. Die Integration des Gartens in das Innere des Klosters legt die Grundlage der homöosta1320 Jakob von Vitry, exempla, 19. 1321 Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis, 16. 1322 Gärten um das eigentliche Kloster außerhalb der Mauern sind historisch gesichert, denn auch Baumgärten sind nachweislich rund um die Klostermauer angelegt worden, vgl. dazu Hennebo 1967, S. 36. 1323 Cantigas de Santa Maria, 103. Die räumlichen Relationen der Cantiga 103 sind etwas schwieriger zu klären, sowohl ein Garten außerhalb als auch einer innerhalb der eigentlichen Klostermauern wäre denkbar, da die liminale Übergangssituation an der Pforte zur Kirche und nicht zum Kloster selbst gezeichnet wird (Cantiga 103, 9, 1). Trotzdem wird die systematische Alterität der beiden Räume aufrechterhalten, sowohl innerhalb der Narration als auch nicht zuletzt bei den Miniaturen des Codex San Lorenzo de El Escorial, Monasterio, Real Biblioteca B.1.2, vgl. zur handschriftlichen Überlieferung der Cantigas Anm. 1342. 1324 Zur Rolle des Gartens im zönobitischen Mönchstum vgl. den ideengeschichtlichen Überblick bei Meyvaert 1986. Auch wenn der Garten kein Raum ist, der primär dem Eremitentum zugewiesen werden könnte, ist er doch auch bei den Wüstenvätern nachweisbar, vgl. Talbot 2002, S. 46–54. Zur Quellenlage zum mittelalterlichen Garten vgl. Hennebo 1962, S. 11–15. 1325 Benedicti regula, 66, 6–7. 1326 Faust 2009, S. 159.
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tischen Selbstversorgung mit dem Lebensnotwendigen und ermöglicht die bedingungslose Grenzziehung – manifestiert durch den Pförtner an der Schwelle, der nach innen und außen die Liminalität zu markieren vermag und zugleich über die soziale Praxis des Ein- und Austritts die Exzeptionalität des monastischen Raumes realisiert. Der Mönch aus ‚Mönch und Vöglein‘ hätte also, folgt man dieser Quelle, ganz problemlos auch einen Garten innerhalb des Klosters besuchen können. Vielleicht wurde er im Narrativ zugunsten der strukturellen Abgrenzung des Entrückungsraums, zugunsten einer deutlicheren Alterität und dem damit dynamischen Gegenüber von Garten und Kloster außerhalb der Mauern versetzt. Die Lage des Entrückungsraums vor der Klosterpforte spricht jedenfalls eher für einen Wald als einen Garten. Die Ersetzung des Waldes durch einen Garten ist indes semantisch durchaus plausibel: In der historischen Semantik ist der Wald der Raum des Eremiten, der Ort des Klosters, ohne selbst monastischer Raum zu sein. Nicht zuletzt steht er in seiner ungezähmten Natürlichkeit in direkter Opposition zum Kloster selbst. Der Schritt vom Kloster in den Wald ist bei einem Kloster wie beispielsweise Heisterbach buchstäblich1327 ein Schritt „aus dem gepflegten Bereich innerhalb der Mauern zum wilden Wald ringsum“.1328 Texte, die wie die ‚Mönch und Vöglein‘-Fassung von Maurice de Sully mit dem Gegenüber von Wald und Kloster arbeiten, erzählen in dieser Hinsicht immer auch die asymmetrische Opposition von Natur und Kultur. Findet die Entrückung im Garten statt, dann verschiebt sich hier der Schwerpunkt: Das Zusammenspiel von Vogel, Baum und himmlischer Erfahrung alludiert zwar immer noch einen paradiesischen Raum, als Garten wird dieser Raum allerdings artifiziell und die Opposition Natur/Kultur greift nicht mehr. An ihre Stelle tritt eine semantische Verdeutlichung des Entrückungsraumes als Paradies.1329 Der Garten als Jenseitsraum Neben der naheliegenden Folie des Garten Edens wird das auch durch die historische Funktionalisierung des (Kloster-)Gartens bedingt: Im Klosterplan von St. Gallen (Anfang 9. Jahrhundert),1330 einem der wenigen Zeug1327 So beschreibt Kurt Roessler für das Kloster Heisterbach eindrücklich, wie es von drei Seiten von Wald umgeben war (2003, S. 17). 1328 Roessler 2003, S. 17. 1329 Vgl. auch Kapitel 4.2.1. 1330 Zum Klosterplan von St. Gallen gibt es eine Vielzahl an Sekundärliteratur. Für einen Einblick in die Forschungslage vgl. Schedl 2014, S. 21–25.
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nisse zum mittelalterlichen Garten, finden sich eine Reihe verschiedener Gärten, unter anderen ein Arznei-, ein Gemüse und ein Baumgarten.1331 Sie alle sind am östlichen Klosterende lokalisiert. Zu großen Teilen ist dieser Klosterplan ein Idealbild und als solches nicht realisiert,1332 als ein Dokument der Ideengeschichte jedoch bleibt er vor allem als Zeugnis der funktionalen Ausrichtung seiner Einzelräume interessant. So handelt es sich hier beispielsweise um das früheste Zeugnis1333 einer funktionellen Doppelung von Baumgarten und Friedhof. Im Plan sind im Baumgarten mittig ein Kreuz, eine Reihe stilisierter Bäume und vierzehn Rechtecke abgebildet, die Särge darstellen sollen. Ergänzt, und gedeutet, wird diese Skizze mit folgenden Worten: Inter ligna soli haec semp[er] s[an]c[t]issima crux, in qua p[er]petuae poma salutis olent; hanc circum iaceant defuncta cadavera fr[atru]m, qua radiente iterum regna polj accipiant.1334 [Der heiligste unter den Bäumen des Feldes ist das Kreuz An welchem die Früchte des ewigen Heils duften. Rings um dies Kreuz sollen die Leiber der verstorbenen Brüder liegen, und durch seine Strahlkraft das Königreich des Himmels erlangen.]1335
Die verstorbenen Brüder (defuncta cadavera) sollen in diesem Obstgarten bestattet werden. Hier steht ihnen durch das Kreuz, durch Christus, der Weg zum himmlischen Heil offen. Der Garten wird also nicht nur als Friedhof funktionalisiert, sondern zugleich zu einem immanenten Jenseitsraum. Der Klostergarten ist der Scheidepunkt, der immanentes Kloster und jenseitige Verheißung verbindet, gedacht im Motiv des Kreuzes, das wiederum gleichermaßen doppelläufig sowohl Baum als auch Heilsträger darstellt.1336 1331 Vgl. Auffarth 2002, S. 59–62. 1332 Zur Deutung des St. Galler Klosterplans und besonders dem Garten ist viel geschrieben worden. Am überzeugendsten ist dabei die Interpretation des Planes als eines virtuellen Raumkonzeptes, wie dies u. a. Christoph Auffarth (2002, besonders S. 62–63) und Alfons Zettler (2005) argumentieren. Alfons Zettler entwickelt anhand des materiellen Befundes die These, dass, wie der Plan Stück für Stück über sich hinauswuchs, spirituelle und jenseitige Räume den Plan überlagert haben müssen. Auch Phänomene wie der immergrüne Wacholderstrauch im Klostergarten des St. Galler Plans können so erklärt werden (Meyvaert 1986, S. 52). Im Klostergrundriss werden so zwei verschiedene Raumkonzepte funktional: das immanente, das der monastischen Lebensrealität entspricht, und das jenseitige, das über einen ‚einfachen‘ Garten hinausgeht. 1333 Vgl. Meyvaert 1986, S. 38. 1334 Zitiert nach Auffarth 2002, S. 104. Vgl. außerdem Horn und Born 1979, Bd. 3, S. 85. Hier im Appendix I finden sich auch Facsimilia und eine Transkription der entsprechenden Handschriftenabschnitte. Für einen intertextuellen Kommentar dieser Inschrift vgl. Stückrath 2012, S. 285–287. 1335 Braunfels 51985, S. 53, die Typographie folgt der hier abgedruckten Übersetzung. 1336 Wie Christoph Auffarth (2002, S. 47–51; 62) überzeugend darstellen kann, wird so im Baumgarten die semantische Folie Golgothas als Kreuzigungs- und Grabesort Jesu wirksam.
4.3 Der Zwischenraum vor der Klosterpforte
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Der Baumgarten bzw. Friedhof wird in der Abbildung des Klosterplans der ‚jenseitigste Punkt des Klosters‘. Er befindet sich kartographisch am östlichen Ende und damit dem Haupteingang genau entgegengesetzt, vom Einfluss der äußeren Welt neben der separierenden Mauer auch durch die Gesamtheit des Klosters isoliert.1337 Der außerklösterlichere, immanentdiesseitige Raum und der Garten/Friedhof als Realisationsraum des transzendenten Heilsgeschehens stehen in größtmöglicher Distanz zueinander. Diese wesentliche Distanz zum genuin irdischen Raum ist im Garten von ‚Mönch und Vöglein‘ nicht räumlich figuriert, allerdings im Begriff des Gartens implizit. Die Doppelung von Garten und Friedhof taucht nämlich nicht allein in St. Gallen auf, und ist auch sonst diskursiv durchaus verbreitet,1338 wie eine Predigt des Zisterziensermönchs Guerric d’Igny (1087–1157)1339 zeigt: Quid enim si aliquando sepulcra videntur in hortis? Nam et Dominus in horto sepultus fuit. Et si enim sepulcra in hortis, num quid tamen horti in sepulcris? Ita fortassis, sed in sepulcris iustorum. Ibi plane vernabit gratissima quaedam amoenitas hortorum, verno scilicet illo tempore resurrectionis eorum, cum reflorebit caro eorum; et non solum ossa iusti germinabunt, sed et totus iustus germinabit sicut lilium et florebit in aeternum ante Dominum.1340 [Was nämlich bedeutet es, wenn man manchmal Gräber in Gärten sieht? Auch der Herr ist ja in einem Garten begraben worden. Gleichwohl, wenn man etwa Gräber in Gärten sieht: Was bedeuten denn Gärten in Gräbern? Das mag es vielleicht geben, aber [nur] in den Gräbern der Gerechten. Dort wird weithin die lieblichste Idylle der Gärten erstrahlen, natürlich im Frühling zur Zeit ihrer Auferstehung, wenn ihr Fleisch wieder aufblühen wird. Nicht nur die Gebeine des Gerechten werden sprießen, sondern der ganze gerechte Mensch wird sprießen wie die Lilie und er wird erblühen in Ewigkeit vor dem Herrn.]
Guerric beschäftigt sich hier mit der Frage, weshalb Grabstätten in Gärten zu finden seien, und findet die Antwort in einer allegorischen Deutung des 1337 Vgl. die Deutung des Klosterplans von Duby 21991a, S. 52–55. 1338 Diese Textstelle wird gerne als realitätsreferentieller Beleg herangezogen, es hätte realiter Grabstätten in Gärten gegeben, vgl. beispielsweise Stückrath 2012, S. 291. Eine solche Interpretation verkennt den Zusammenhang im Verlauf der Predigt: Guerric verwebt hier ausgehend von Hld 8,13 die Räume ‚Garten‘ und ‚Grab‘, um eine Gegenüberstellung von iusti und impii in ihrer jeweiligen Jenseitserwartung bildlich darzustellen. Das Grab der Gerechten wird bei der Auferstehung zu einem Garten, das Grab der Unseligen bleibt ein Grab. Wenn auch die realhistorische Referentialität dieser Predigt zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden muss, so belegt sie nichtsdestotrotz eine ideengeschichtliche Doppelung beider Räume. Der Garten kann ideengeschichtlich im Zusammenhang mit dem Auferstehungsgedanken gelesen werden, wie das auch im Klosterplan von St. Gallen angelegt ist. 1339 Einführend zu Guerric d’Igny vgl. Morson und Castello 1970, S. 7–29. 1340 Guerric d’Igny, Sermo ad excitandam devotionem in psalmodia, 1, 17–26, zitiert nach Morson und Costello 1973.
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Gartens: In Analogie zu den Pflanzen des Gartens würden, so Guerric, die Gerechten nach ihrem Tod vor Gott wiederaufblühen.1341 Der Garten als Raum der (monastischen) Grabstätte ist ideengeschichtlich eng verknüpft mit dem Wunder der Auferstehung und dem Jenseitigen. Wie im St. Galler Klosterplan überlagern hier monastische Realität und jenseitige Verheißung – eine Diskursdimension, die hier anders als beim immanenten Jenseitsraum ‚Wald‘ eine weitere und verdeutlichte Verschränkung von Diesseits und Jenseits in der Erzählung des Gartens anlegt. Sei es eine realhistorische Praxis oder ein allgemeiner Diskurs auf Grundlage etwa des Paradieses der Genesis: ‚Garten‘ im speziellen narratologischen Gefüge von ‚Mönch und Vöglein‘ ist immer auch dimensioniert über eine gewisse funktionale Ambivalenz, von Garten und Friedhof, Leben und Tod, Tod und Wiederauferstehung. Zur Relevanz des Hohelieds Zu dieser relativen Verstärkung des jenseitigen Impulses kommt im Entrückungsraum ‚Garten‘ in einzelnen Fällen mit dem Hohelied eine weitere signifikante Diskursdimension. Die früheste Fassung, die ‚Mönch und Vöglein‘ in einem Garten erzählt und diesen Garten entsprechend ausgestaltet, ist eine galizisch-portugiesische Fassung von ‚Mönch und Vöglein‘, die Cantiga 103 der Cantigas de Santa Maria. Hierbei handelt es sich um eine Liedersammlung, die vermutlich im Auftrag des spanischen Königs Alfons X (el Sabio) im dreizehnten Jahrhundert zusammengestellt worden ist.1342 Im Gedicht selbst, das der Gattung des kastilischen Zadschal zuzuordnen ist,1343 wechseln sich dreizehn dreizeilige Strophen mit einem kurzen Kehrreim ab, der von Beginn an den Ton und die Interpretationsgrundlage vorgibt: Quena Virgen ben servirá / a Parayso
1341 Vgl. dazu auch Gregor der Große, Homiliae in Hiezechielem, II, 8, 7, 220–236. In ganz ähnlicher Weise verbindet Bernhard von Clairvaux den Garten mit der Heilsgeschichte, vgl. Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, 23, hier besonders II, 4, zitiert nach der kritischen Edition von Leclercq et al.1957. 1342 Die Cantigas de Santa Maria sind in vier Codices überliefert. Der älteste sogenannte ToledoCodex (San Lorenzo de El Escorial, Monasterio, Real Biblioteca B.1.2), enthält nur die ersten 100 Cantigas und wurde vermutlich zwischen 1270 und 1280 abgeschrieben. Die nächsten 200 Cantigas stammen vermutlich aus der Zeit zwischen 1274 und 1277, die Gesamtedition, wie sie im Codex Escorial B.1.2 abgebildet ist, entstand wohl nach 1282, vgl. O’Callaghan 1998, S. 12. Zur Überlieferungssituation vgl. außerdem Ferreira 1994. Für eine allgemeine Einführung zu den Cantigas de Santa Maria vgl. Parkinson 2015, S. 1–18. 1343 Vgl. Girón-Negrón 2003, S. 38. Das Reimschema der Cantiga 103 lautet AA bba AA cca AA dda usw.
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irá.1344 Wie bei allen bisher besprochenen Fassungen handelt die Erzählung von einem Mönch, der darum bittet, vor seinem Tod die Freuden des Paradieses1345 zu sehen, wird ihm die Bitte erfüllt.1346 Er betritt einen Garten und ihm erscheint schließlich ein Vogel,1347 bei dessen Gesang er dreihundert Jahre verharrt – im Glauben es handele sich nur um die kurze Zeit eines Spaziergangs.1348 Als er zum Kloster zurückkehrt, erkennt er die Pforte nicht mehr, der (mittlerweile neue) Abt weiß ihn nicht zu identifizieren, das Wunder wird offenbar.1349 In den Grundzügen ist die immanente Jenseitserfahrung hier narratologisch wie in den anderen frühen Fassungen figuriert. Die räumlichen Relationen sind ähnlich, die Handlung spielt sich diesseits und jenseits der Schwelle ab. Als weiteres bedeutendes Moment jedoch kommt die Einbettung der Wundererfahrung in einen Gestus der Marienverehrung hinzu. Nicht mehr Gott wird um einen Blick ins Jenseits gebeten, sondern Maria, und die Wiederholung des Kehrreims lässt keinen Zweifel am Zusammenhang der Marienverehrung und dem Weg ins Paradies: Das Wunder wird mariologisch umgedeutet und in diesem Rahmen umfunktionalisiert. Vor dieser Umfunktionalisierung ist auch, zumindest in dieser Fassung, die Verwendung des Gartens als Entrückungsraum zu verstehen. Im zwölften Jahrhundert fanden die Theoretisierungsbemühungen von Guigo I, Guigo II, Wilhelm von St. Thierry oder auch Hugo von St. Viktor zur lectio divina ihre praktische Realisierung in einer Reihe von Hoheliedkommentaren.1350 Dabei hat sich im zwölften Jahrhundert bei verschiedenen Exegeten der interpretatorische Fokus auf Maria hin verschoben.1351 Dezidiert der hortus conclusus des Hoheliedes wird als ein Raum gelesen, den es für den Leser zu transzendieren gilt und der dazu explizit in einen Zusammenhang mit der Mutter Gottes gebracht wird. Rupert von Deutz beispielsweise, einer der ersten Vertreter dieser marianischen Lesart,1352 findet so im hortus conclusus des Hoheliedes das verlorene
1344 Cantigas de Santa Maria, 103, R 1–2, zitiert nach der kritischen Edition von Montoya 2008 [1988]. Die Zitation erfolgt mit Strophennennung und Zeile. Kevin R. Poole (2007, S. 124) übersetzt ihn wie folgt ins Englische: „He who serves the Virgin well / will go to Paradise.“ 1345 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 1, 2–3.: […] un monge, que rogar- / ll’ia sempre que lle monstrasse / qual ben en Parais’ [„a monk who prayed constantly that she shows him/the good things of Paradise“, Übersetzung Poole 2007, S. 124]. 1346 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 4, 1–7, 1. 1347 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 5, 2. 1348 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 6, 3–7, 1. 1349 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 8, 1–13, 3. 1350 Vgl. Robertson 2011, S. XVIII; 175–202. 1351 Vgl. Astell 1990, S. 42–45. 1352 Vgl. Astell 1990, S. 43.
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Paradies1353 der Genesis wieder. Ausgehend von Hld 4,12–15 entwirft er in seiner Kommentierung eine antithetische Interpretation von dem Paradiesgarten der Genesis auf der einen und dem Paradiesgarten des Hoheliedes auf der anderen Seite: Ecce nouus paradisus, nouae plantationes, quas plantauit unus idemque antiqui paradisi plantator Deus. Plantauerat autem Dominus Deus, ait Scriptura, […].1354 [Siehe das neue Paradies, die neuen Pflanzungen, die ein und derselbe Pflanzer des alten Paradieses, Gott, gepflanzt hat. Dann pflanzte aber Gott der Herr – so sagt die Heilige Schrift – […].] Ille1355 est paradisus antiquus, paradisus terrenus; iste est paradisus novus, paradisus caelestis. Vtriusque plantator est unus idemque Dominus Deus.1356 [Jenes ist das alte Paradies, das irdische Paradies. Dieses ist das neue Paradies, das himmlische Paradies. Pflanzer von beiden ist ein und derselbe, Gott der Herr.]
Der Garten des Hoheliedes sei ein paradisus novus, dessen Ursprung wie der des ‚alten‘ Genesis-Paradieses bei Gott läge. Als himmlisches Paradies fände es seine Entsprechung im alten irdischen Paradies der Genesis. Dieser Analogiegedanke wird im Folgenden konsequent weitergedacht: In den Garten Eden sei der Mensch nach seiner Schöpfung versetzt worden, im Paradies des Hoheliedes habe Gott in Christus den Gottmenschen geformt,1357 und auch die Paradiesflüsse und die Bäume werden entsprechend auf beide Paradiese hin doppeldeutig umgedeutet: De illa1358 humo produxit omne lignum pulchrum uisu, et ad uescendum suaue. Lignum etiam vitae in medio paradisi. Istam humum, istam terram suam benedixit, et ex
1353 Eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit dieser Parallelsetzung ist selbstverständlich die etymologische Doppeldeutigkeit des Begriffes paradisus, der immer auch Garten bedeutet, vgl. S. 245. 1354 Gen 2,8–10. 1355 Zu den Demonstrativpronomina und ihrer Übersetzung vgl. Anm. 1358. 1356 Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 32–42, zitiert nach der Edition von Haacke 1974. Die typographische Herausstellung über die Kursivsetzung folgt der Edition, die damit Zitate gemäß der Vulgata kennzeichnet. 1357 Vgl. Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 42–44. 1358 Die Edition von Hrabanus Haacke (1974) schreibt hier unter Berufung auf die Patrologia Latina (PL 168, Sp. 895D) „ista“, obwohl vier der frühesten Textzeugen aus dem zwölften Jahrhundert „illa“ überliefern. Die Kommentierung Ruperts von Deutz ist an dieser Stelle systematisch streng organisiert: Das Demonstrativpronomen ille meint in allen Stellen das Paradies der Genesis, iste das des Hoheliedes. In der hier zitierten Textstelle wird zweifellos auf die Genesis Bezug genommen, wie das verwobene Zitat aus Gen 2,9 beweist. Beleg wäre zudem die logische Parallelsetzung Christi als Lebensbaum im weiteren Argumentationsverlauf, die mit der Lesart ista bei demselben Referenzpunkt ins Leere verliefe (vgl. Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 48–50). Entsprechend muss hier ein „illa“ gesetzt werden.
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ea cunctarum germina gratiarum, et cunctarum exemplaria uirtutum produxit. Ipsum quoque lignum uitae Christum, Deum et hominem Dominum paradisi caelestis.1359 [Aus jenem Boden hat er jede Art von Baum hervorgebracht, schön anzusehen und angenehm im Geschmack; auch einen Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses. Diesen Boden, dieses Land hat er als das seine gesegnet und aus ihm hat er die Knospen aller Freuden und die Vorbilder aller Tugenden hervorgebracht: auch den eigentlichen Baum des Lebens, Christus, Gott und Mensch, den Herren des himmlischen Paradieses.]
Die verschiedenen Aspekte des Gartens Eden finden schließlich ihre Entsprechung in Christus, als Baum des Lebens und Herr über das himmlische Paradies.1360 In der Figur Christi läuft die Argumentation Ruperts von Deutz so auf einen Scheitelpunkt hin zusammen: Quoniam ergo non profuit illis parentibus primis, nec nobis in illis introductio illa in illum talem paradisum, terrenum paradisum, non obseruato praecepto quod acceperunt, iterum plantatur alius paradisus, quem ingredientes lignum uitae aeternae comedamus et non moriamur […]1361 [Da es ja den Stammeseltern nicht nutzte, und uns in ihrer Nachfolge ihre Aufnahme in jenes so beschaffene Paradies, das irdische Paradies, auch nicht, weil sie es empfingen und trotzdem das Gebot nicht befolgt hatten, pflanzt er ein zweites Mal ein anderes Paradies. Wenn wir dort eintreten, lasst uns vom Baum des ewigen Lebens essen und nicht sterben […].]
Dem (verschlossenen) Paradies Adams und Evas (parentes primi) steht das neue, himmlische gegenüber, in dem der Baum des Lebens und die Unsterblichkeit erschlossen werden können.1362 Den Schlüssel zu diesem himmlischen Paradies, zu Christus, sieht Rupert von Deutz wiederum in Maria: […] illud fuit principium, quod sicut ei nuntiauit angelus, concepit et peperit filium. Quid igitur uerbis istis, nisi et concipientis uirginitas et parientis praedicatur integritas? Proinde dicamus et nos feliciter cum dilecto, dicamus omnes corde credulo et ore consono: Hortus conclusus es, o Dei Genitrix, hortus conclusus, fons signatus.1363 [[…] jenes war der Anfang, weil sie empfing und gebar, sowie es der Engel ihr verkündet hat, einen Sohn. Was also soll mit diesen Worten verkündigt werden, 1359 Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 44–50. 1360 Vgl. auch Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 51–54: „De isto paradiso ille fluuius siue illud flumen egressum est, de quo psalmista dicit: Fluminis impetus laetificat ciuitatem Dei, qui inde diuiditur in quattuor capita, id est quattuor euangelia.“ [Aus diesem Paradies ist jener Fluss oder Strom hervorgekommen, von dem der Psalmist sagt: Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt (Ps 45,5 [=EÜ (2016) Ps 46,5]). Von dort teilt er sich in vier Arme, das heißt vier Evangelien.] 1361 Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 56–60. 1362 Eine entsprechende Analogisierung von altem und neuem Paradies bzw. Maria erfolgt nicht nur bei Rupert von Deutz, sondern taucht ebenfalls außerhalb der Hoheliedinterpretation auf, vgl. Aelred von Rievaulx, Sermones, 39, ediert bei Raciti 1989. 1363 Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 67–72.
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4 Der Wald wenn nicht die Jungfräulichkeit Empfangenden, und die Unversehrtheit der Gebärenden? Lasst also auch uns glücklich mit dem Geliebten sprechen, lasst uns alle sprechen mit arglosem Herzen und einstimmigen Worten: Ein verschlossener Garten bist du, oh Mutter Gottes, ein verschlossener Born, ein versiegelter Quell.]
Braut des Hohelieds wird hier mit Maria, Dei Genitrix, gleichgesetzt, der Ausspruch des Hohelieds – hortus conclusus, soror mea, sponsa, hortus conclusus, fons signatus1364 [Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Born, ein versiegelter Quell.] – auf Maria übertragen. Sie ist der verschlossene Garten, der versiegelte Quell. Indem Maria als der hortus conclusus selbst gedeutet wird, wie das der Kommentar Ruperts von Deutz immer wieder und auch an dieser Stelle tut, ist die Verbindung über Maria zu einem neuen paradiesischen Status vorstrukturiert. Über und durch Maria ist das neue Paradies zugänglich, es eröffnet sich der Zutritt zum ‚neuen‘ Baum des ewigen Lebens, Christus. Der Hoheliedkommentar Ruperts von Deutz ist nur der Beginn einer neuen marianischen Auslegungstradition des Hohelieds. Für die Interpretation des Gartens bei ‚Mönch und Vöglein‘ zeigt er, welche Konnotationen für die räumliche Semantik funktional werden können, wie etwa in der Cantiga 103: Hier wird für den Handlungsraum von ‚Mönch und Vöglein‘ bewusst der Garten statt eines, offenbar in den Fassungen ebenfalls dominanten, Waldes gewählt, und im gleichen Zug die Handlung explizit als Marienwunder gedeutet. Hinzu kommt, darauf weist Luis Girón-Negrón berechtigter Weise hin, dass es sich hier um die einzige Fassung handelt, die eine Quelle erwähnt.1365 Als ein weiterer ideengeschichtlicher Hintergrund, der die Verknüpfung des Gartens mit dem Jenseitigen möglich macht, präzisiert so eine bestimmte Art der Hoheliedrezeption die Jenseitserfahrung des Mönchs der Cantiga 103: Maria wird zum Schlüssel, der die immanente Jenseitserfahrung erst möglich macht. Über sie wird der Zugang zur paradiesischen Erfahrung reguliert. Die Marienverehrung ist sowohl allgemein-normativ – man denke an den Refrain – als auch am nachzuahmenden Einzelfall des Mönchs die Zugangsbedingung des Paradiesischen. Für den Mönch ist es eine Gewohnheit zu Maria zu beten,1366 er unterzieht sich einer rituellen Waschung an der Quelle Marias,1367 aber erst, als er im Garten noch einmal betet,1368 erscheint 1364 Hld 4,12. 1365 Vgl. Girón-Negrón 2003, S. 41. Nachdem der Mönch den Garten betritt, trifft er auf eine Quelle (vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 3, 1–2), die Maria aufsprudeln lässt. 1366 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 1, 2–3. 1367 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 3, 1–3. 1368 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 3, 3–4, 3
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der Vogel. Neben der allgemein notwendigen Marienverehrung bedarf es so zusätzlich des Eingreifens Marias als Mittlerfigur1369 für das Wunder der immanenten Jenseitserfahrung. In ihrer Person ist also auf verschiedenen Ebenen der Zugang ins Jenseits figuriert. Maria wird, etwa als fons signata, sowohl zur Bedingung der immanenten Jenseitserfahrung als auch, als hortus conclusus, zum jenseitigen Raum selbst. Der exklusive Charakter des eigentlichen irdischen Paradieses nach Adam und Eva wird durch die Figur Marias aufgehoben. In Maria, durch Maria, wird ein neues Paradies betretbar: ingredientes lignum uitae aeternae comedamus et non moriamur 1370 [lasst uns vom Baum des ewigen Lebens essen und nicht sterben.] Im Fall der Cantigas de Santa Maria wird dementsprechend die Inszenierung gerade eines Gartens zum verbindenden Element der immanenten Jenseitserfahrung und Maria zur Mittlerfigur dieses Jenseitszuganges. Die narratologische Zwischenraumkonfiguration erlaubt die Darstellung der immanenten Jenseitserfahrung selbst, der Garten in seiner spezifischen historischen Semantik ihre Ein- bzw. Umbettung in eine ganz spezifische Praxis der Marienverehrung. Auf die anderen, früheren Gartenfassungen von ‚Mönch und Vöglein‘ jedoch kann diese Aussage nicht ohne weiteres übertragen werden. Martin von Troppau, Jakob von Vitry: Deren Fassungen setzen nur den Begriff hortus an die Stelle des Waldes – ohne Quelle, ohne mariologische Einbettung. Außer dem Begriff findet sich hier keine Referenz zum Hohelied, es wird für die Konfiguration einer immanenten Jenseitserfahrung selbst nicht weiter funktionalisiert. Unter anderem die vermehrte Rezeption des Hoheliedes führt jedoch, wie im Übrigen auch die Tradition des locus amoenus, zur Verwendung des Gartens als symbolischer Raum (höfischer) Liebe, wie das in der volkssprachlichen Literatur ab dem dreizehnten Jahrhundert vermehrt festzustellen ist.1371 Der Garten ist hier ein abgegrenzter Sonderraum, jedoch nicht weiter innerhalb der Pole Immanenz und Transzendenz, Diesseits und Jenseits funktionalisiert. Im Roman de la Rose1372 etwa folgt die Gartenbeschreibung utopischer Motivik und trägt alle Merkmale des locus amoenus. Der Garten ist aber nicht selbst als christliches (irdisches oder himmlisches) Paradies konfiguriert, das sich als Teil einer heilsgeschichtlichen Systematik begreifen würde.1373 Es wird hier zwar „die Wahrnehmung der Zeit vergessen“,1374 aber ausgesetzt wird die Zeit keineswegs. Diese wesentliche Unterscheidung 1369 Vgl. das Botenmodell von Sybille Krämer (2008), S. 110–119. 1370 Rupert von Deutz, Commentaria in Canticum Canticorum, IV, 59–60. 1371 Vgl. Ott 1989. 1372 Vgl. Roman de la Rose, 1317–1416. 1373 Für weitere Textbeispiele vgl. Régnier-Bohler 21991, S. 308–310. 1374 Régnier-Bohler 21991, S. 310.
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wird auch beim Blick auf den Lai de l’oiselet besonders deutlich.1375 Hier beschrieben ist ein abgeschlossener Garten1376 mit der üblichen Motivik, und innerhalb dieser Szenerie tritt ein Vöglein auf. Sein Gesang ist so wunderbar, dass er den Garten in einen idyllischen Sonderraum transformiert. Der Garten ist kein Paradies, sein Betreten keine eigentliche Paradieserfahrung, der Raum kein heilgeschichtlicher: Der Gesang im Lai de l’oiselet, anders als der im ‚Mönch und Vöglein‘, lässt reales Leid und Zeitlichkeit nur vergessen, überblendet, setzt beides aber nicht aus: Por que l’oisel chanter oïst, / Que maintenant ne s’esjoïst / Et oublïast sa grant dolor1377 Der einfache Mann glaubt sich Kaiser oder König,1378 der Zuhörer bleibt jedoch, wer er bei Betreten des Gartens war. Wenn der Vögel 100 Jahre singen würde, so würde er bei dem Gesang zwar verweilen; die reale Zeitlichkeit aber liefe in diesem Zeitraum, 100 Jahre, weiter, auch innerhalb des Gartenraumes: Et s’il eüst cent anz passez, / Et du siecle ne fust finez, / S’il oïst de l’oisel le chant / Qui ne semblast de maintenant / Qu’il fust meschins et damoisiaus, / Et si cuidast estre si biaus, / Qu’il fust amez de damoiseles / De meschines et de puceles.1379
Der Gesang affiziert den Zuhörer zwar, lässt ihn sein Leid vergessen, jedoch ist der Garten nicht als irdisches Paradies im Sinne einer konsequenten kategorialen Brüchigkeit auf Grundlage des Transzendenzbegriffes überformt. Die Kategorie der Zeit wird nicht wesentlich ausgesetzt, und die wunderbare Erfahrung schon gar nicht als Vorgeschmack auf das Paradies in eine heilsgeschichtliche Teleologie eingebettet. Für die Ausarbeitung des Zwischenraums ist die relative, auch räumliche, Beziehung zum Kloster und bestimmter monastischer Praxen wichtiger. Sobald der Garten zum Handlungsraum wird, ist die paradiesische Konnotation deutlicher als etwa beim Wald. In weiteren Fassungen wie bei den Cantigas de Santa Maria können das Hohelied und seine auch zeitgenössischen Kommentare Verbindungspunkte zwischen Garten und Paradies schaffen, allerdings wird diese zusätzliche Semantik primär für die monastische Rückkopplung in Dienst genommen und transformiert den Entrückungsraum semantisch nicht. Immanente Jenseitserfahrung kann im Wald oder im Garten geschehen, solange nur das Kloster Ausgangs- und Endpunkt dieser Erfahrung bleibt.
1375 Zitiert nach der Edition von Wolfgang 1990, eine englische Übersetzung findet sich bei Mason 2001. 1376 Vgl. Lai de l’oiselet, 51–123. 1377 Lai de l’oiselet, 97–99. 1378 Vgl. Lai de l’oiselet, 100–104. 1379 Lai de l’oiselet, 105–112.
4.4 Die Verortung des Zwischenraums im Kloster
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4.4 Die Verortung des Zwischenraums im Kloster In Wald und Garten wird die narratologische Konfiguration eines Zwischenraums manifest, die die Erzählung des inkommensurablen Gegenstandes und seine historische Funktionalisierung, beispielsweise für die Legitimation einer Lektürepraxis, möglich macht. In der weiteren Rezeption der Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘ erfährt diese Raumdynamik eine modifizierende Diskursivierung über die zunehmende Integration des Zwischenraums in den monastischen Rahmen. In der Forschungsliteratur wird, wie eingangs erwähnt, die Erzähltradition von ‚Mönch und Vöglein‘ immer wieder unter dem Aspekt der ‚Umlokalisierung‘ behandelt.1380 Die Erzählung, so die zugrundeliegende These, würde in Selbstbeschreibungen einzelner Klöster integriert, um so über eine aktive Rückdatierung entsprechende Geltung für das Kloster zu erzeugen. Als Beispiele dieser These werden die chronikale Erzählung aus dem Hafflighemium illustratum (Benediktinerabtei Affligem, Belgien), oder auch die Erzählungen von Ero (Zisterzienserabtei Armentaria, Spanien) und Erpho (Benediktinerkloster Siegburg) herangezogen.1381 Alle drei Erzählfassungen jedoch sind erst aus der (frühen) Neuzeit überliefert.1382 In den frühen Fassungen des zwölften bzw. dreizehnten Jahrhunderts erfolgt keine konkrete Lokalisierung der Wundererzählung in den Rahmen spezifischer Einzelklöster. Es handelt sich um überwiegend Predigten und Exempelsammlungen, bei denen einzig, wie im Falle des Mönch Felix, vorsichtige Schätzungen zur Ordenszugehörigkeit des Protagonisten vorgenommen werden können, textimmanent finden keine Zuordnungen statt.1383 Trotzdem ist natürlich die Verortung in den allgemeinen monastischen Rahmen für alle Fassungen ein prägendes Moment, die immanente Jenseitserfahrung des Mönchs wird immer wieder in das Kloster zurückgeführt. Strukturell ist der Entrückungsraum eng an das Kloster gebunden – als Ausgangsort, als Ort der Reintegration, ex alio als Vergleichsfolie der Erfahrungen im Entrückungsraum: Der Mönch geht aus dem Kloster in den Wald, der wesentlich relational in Differenz zum Kloster bestimmt wird. Nach seiner Jenseitserfahrung kommt er zurück in den Klosterraum, wo das Wunder seiner Erfahrung wiederum in der Differenz offenbar und gedeutet wird. Hinzu kommt die Verankerung dieser immanenten Jenseitserfahrung 1380 Vgl. S. 240. 1381 Vgl. Röhrich 1962, S. 279; Wagner 1991, S. 85. 1382 Die Erzählung des Klosters Affligem ist in dieser Form aus dem achtzehnten Jahrhundert, die des Abts Ero aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, und die des Siegburger Abts erst aus dem neunzehnten Jahrhundert überliefert, vgl. Röhrich 1962, S. 279 bzw. Wagner 1991, S. 85, sowie Anm. 71–72. 1383 Vgl. Mai 1913, S. 103–113.
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4 Der Wald
in bestimmte monastische Strukturen und Praktiken, nicht zuletzt schließlich wird die gesamte Erzählung als Predigtexemplum in ein liturgisches Ordnungssystem rückgeführt und eingegliedert.1384 In den frühen Fassungen sind dabei Protagonist wie Kloster unbestimmt. Allein die Zugehörigkeit des Protagonisten zur monastischen Gemeinschaft wird beschrieben, er ist einzig der exemplarische Vertreter einer bestimmten Praxis. Diese Leerstellen, sowohl bezüglich des konkreten Klosters als auch der Identität des einzelnen Mönchs, sind dem Gattungszusammenhang der frühen Fassungen geschuldet. Die Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ ist, wie bereits erwähnt, zunächst wesentlich als ein Predigtexemplum1385 überliefert – in den Predigten des Maurice de Sully, bei Jakob von Vitry, Odo von Cheriton oder Martin von Troppau. Dieser Exempelcharakter ändert sich auch bei Mönch Felix oder in der Cantiga 103 des Alfonso X nicht. ‚Mönch und Vöglein‘ ist nämlich, ganz exemplum, „vor allem eine argumentative Methode, ein Persuasionsverfahren, das einen Beleg für ein Argument (oder eine „Wahrheit“) beibringt.“1386 Diese Wahrheit wiederum, die es ‚Mönch und Vöglein‘ zu vermitteln gilt, ist intradiegetisch gesehen zum einen die Wahrheit einer bestimmten Jenseitsverheißung. Es gibt ein christliches paradiesisches Jenseits, wie der immanente Vorgeschmack des entrückten Mönches beweisen konnte. Intertexte wie Weish 2 präsentieren so die Erfahrung des Mönches als himmlische Affirmation der christlichen Jenseitshoffnung. Die narrative Darstellung dieser Jenseitserfahrung gerade im immanenten Wald- oder Gartenraum variiert die absolute Exklusivität des irdischen Paradieses, einzelne Modalitäten des Paradieses werden in den immanenten Raum projiziert und so, wenn auch wiederum in eingeschränkter Weise, zugänglich gemacht. Die zweite entsprechende ‚Wahrheit‘ des exemplum ist die Möglichkeit einer immanenten Transzendenzerfahrung – im Sonderraum, aus dem Kloster, als Teil einer ganz spezifischen monastischen Tradition. Das Kloster bekommt damit letzten Endes eine zentrale Doppelfunktion – für die Erzählung von ‚Mönch und Vöglein‘ im Besonderen und die Zugänglichkeit immanenter Transzendenzerfahrung im Allgemeinen. Auf der Ebene der Geschichte (histoire)1387 ist es räumliche und strukturelle Ausgangsbedingung der immanenten Jenseitserfahrung, ihrer intradiegetischen Erkenntnis und weiteren Vermittlung. Der Abt der Cantigas de Santa Maria, 1384 So schreibt Carolyn Dinshaw (2012, S. 45) analog über den Northern Homily Cycle: „It is part of a textual sequence that gains its meaning in relation to the liturgical year, which is itself a temporally heterogeneous structure wherein week-by-week progress is experienced simultaneously with the repeated recognition of the events of Christ’s life.“ 1385 Zur Erzählform des Predigtexemplums vgl. Moos 2006, S. 107–126. 1386 Moos 2006, S. 111. 1387 Vgl. Genette 32010.
4.4 Die Verortung des Zwischenraums im Kloster
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um nur ein Beispiel zu nennen, kann so, affirmiert durch die Einzelerfahrung, ein erneutes Lob Marias anstimmen.1388 Wie der Abt die durch den entrückten Mönch affirmierte Wahrheit wiederholt, übernimmt auch die Erzählung (discours) als solches die Funktion der Wiederholung und Vermittlung. Der Prediger, der von dieser immanenten Transzendenzerfahrung berichtet, reaktualisiert die in der Geschichte (histoire) affirmierte Wahrheit,1389 der monastische Rahmen wird so zur signifikanten Schnittstelle von Geschichte und Erzählung. Dem Kloster der Geschichte, Ausgangspunkt und Ort der interpretatorischen Reintegration, steht der monastische Rahmen des Predigers analog gegenüber. Diese Verknüpfung wird gerade durch die Unbestimmtheit eines konkreten Einzelklosters realisiert. Durch die Erzählung eines Predigtexemplums wie des ‚Mönch und Vöglein‘, mit dem Zweck der Affirmation einer Glaubenswahrheit, wird der monastische Rahmen des Predigers in eine direkte Reihe mit dem Kloster des entrückten Mönches gesetzt. Das Kloster als notwendiger Ausgangspunkt einer immanenten Jenseitserfahrung, unbestimmt wie es die meisten Fassungen lassen, kann vom Kloster des Rezipienten aus wie aus dem Kloster des entrückten Mönches gefunden werden. Die Unbestimmtheit des Klosters, aber auch die immanente Verankerung der Jenseitserfahrung in einem übertragbaren Zwischenraum lebensweltlicher Gestalt wie Wald oder Garten, suggerieren dabei die generelle Repetierbarkeit. Das exemplum berichtet nicht etwa von einem Mönch und seiner exklusiven Jenseitsvision. (Die als solches rein gnadenabhängig wäre.) Eine monastische Lebensführung kann, wie es das exemplum zu affirmieren vermag, im Rahmen des Klosters bereits im Diesseits eine Jenseitserfahrung bedeuten. Dies ändert selbstverständlich nichts an der Wahrheit der Jenseitsverheißung, die die Erfahrung des entrückten Mönches als exemplum belegen soll. Die potentielle Repetierbarkeit, die in der Konfiguration einer immanenten Jenseitserfahrung immer in gewisser Weise eingeschrieben ist, ist notwendigerweise an die Zugehörigkeit einer monastischen Gemeinschaft geknüpft. Für die Erfahrung eines immanenten Jenseits‘ bedarf es der Zugehörigkeit: ohne Kloster keine immanente Jenseitserfahrung.
1388 Vgl. Cantigas de Santa Maria, 103, 11, 1–13, 3. 1389 Vgl. Moos 2006, S. 111.
5 Ein Epilog: das Kloster
Paradisus corporalis est quies claustralis. Et quidem pulchrior, ut michi videtur, illo paradiso, in quo positus est Adam, non inferior 1390 (Aelred von Rievaulx, Sermones, 59)
Wie das vierte Buch der Dialogi Gregors des Großen zeigen konnte,1391 ist es die Dynamik des verschlossenen Paradieses, in der die Frage nach dem Jenseitigen begründet ist. Mit dem Ausschluss des Menschen wird gerade der Ort in quo nullis, nisi crimine mundis, patet introitus1392 [zu dem keinem, es sei denn er sei frei von Schuld, der Zutritt offensteht] zum Gegenstand des Erzählens. Die Frage nach dem Jenseits So eint auch die untersuchten immanenten Jenseitserzählungen immer wieder dieser anfängliche Impuls. Die Erzählungen, die körperlichen Jenseitserfahrungen selbst, präsentieren sich als narrative Antwort auf einen bittenden Fragegestus, der als bestimmendes Diskursmerkmal den immanenten Jenseitserzählungen des zwölften Jahrhunderts gemein ist: Der Brendan der Reise (M) begunde wunder suchen,1393 der der Vita secunda sancti Brendani bittet Gott um einen Einblick in das Paradies und quoddam precipuum cotidianis orationibus a Domino impetrabat1394 [erreichte durch seine täglichen Gebete vom Herrn wahrhaft Besonderes]. H. von Sawtry präsentiert seinen TPSP als Folge eines allgemein menschlichen Fragegestus nach dem Jenseitigen1395 1390 [Die Ruhe im Kloster ist ein körperliches Paradies. Und zwar ist es schöner, wie mir scheint, als jenes Paradies, in das Adam gesetzt worden ist (Gen 2,8), und ihm nicht unterlegen.] Der lateinische Text ist zitiert nach der Edition Raciti 2001. 1391 Vgl. S. 1–5. 1392 Vita secunda sancti Brendani, 2. 1393 Reise (M), 21. 1394 Vita secunda sancti Brendani, 2. 1395 Vgl. H. von Sawtry, TPSP, 34–36: Notum est autem multos multociens quesisse qualiter anime a corporibus exeant, quo pergant, quid inueniant, quid percipiant quidue sustineant. Que, quia a nobis sunt abscondita, magis nobis sunt timenda quam querenda. [Es ist aber bekannt, dass viele Leute überaus oft danach gefragt haben, auf welche Weise die Seelen sich von den Körpern lösen, wohin
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5 Ein Epilog: das Kloster
und alle frühen Fassungen von ‚Mönch und Vöglein‘ erzählen von den beständigen Gebeten des Mönchs zu Gott und Fragen, die er im Zusammenhang mit dem Jenseitigen formuliert.1396 Die Protagonisten suchen nach bzw. bitten Gott um einen Einblick in das Jenseits, das ihnen verschlossen ist, und werden von Gott mit der immanenten Jenseitserfahrung belohnt. In den Jenseitserzählungen, die auf diesen anfänglichen Impuls folgen, ist das bestimmende Moment die Inkommensurabilität, welche die Erzählungen teilweise explizit mit dem Narrativ des Sündenfalls und der Exklusionsdynamik des Paradieses begründen. Um erzählen zu können, wie ihre Protagonisten aus dem Diesseits ihre Reise beginnen und in einem jenseitigen Raum landen, erzählen alle untersuchten Texte dafür die ‚immanenten Jenseitsräume‘ im narratologischen Modus des Zwischenraums. Statt einer kategorialen Schwelle, die immanentes Diesseits und transzendentes Jenseits explizit voneinander trennen würde und die es zu überschreiten gilt, werden in den immanenten Jenseitserzählungen Räume konfiguriert, die gerade die Inkommensurabilität verhandeln sollen. Die Grenze wird nicht überbrückt, sondern im Modus des Zwischenraums ausformuliert. In den untersuchten Erzählungen ist dieser Zwischenraum diskursiv über den Gestus der Weltabkehr dimensioniert. Insel, Höhle und Wald werden einzel- und systemreferentiell als Variationen des Gestus der Weltabkehr erzählt, wobei das desertum strukturell übertragbar ist und die Erzählung des Raumes entsprechend den konkreten kulturellen und topographischen Bedingungen ermöglicht. Während so also die ägyptischen Mönche in den Höhlen der Wüste ihren spezifischen Raum finden, ist es in Irland die Insel und auf dem europäischen Kontinent der Wald. Der anachoretische Heilsraum ist abhängig von den geographischen Gegebenheiten seiner Umgebung, als solches aber funktionell austauschbar.1397 Selbstverständlich rufen Insel, Höhle und Garten auch jeweils eigene Diskursdimensionen auf, bemerkenswertes Muster der immanenten Jenseitserzählungen jedoch ist gerade die narrative wie narratologische Umwertung dieses anachoretischen Diskurses. Sowohl in NSB als auch im TPSP und ‚Mönch und Vöglein‘ manifestiert sich hier eine ganz spezifische Dynamik:
sie gehen, auf was sie stoßen, was sie genussvoll empfinden oder auch was sie über sich ergehen lassen. Wir müssen dies, weil es vor uns verborgen ist, eher fürchten als dass wir es suchen sollten.] 1396 Vgl. Tabelle, S. 264. 1397 So kann Gregorius bei Hartmann von Aue etwa nach einer Höhle suchen und auf einer Insel landen: wizzet ir iender hie bî / ein stat diu mir gevellic sî, / einen wilden stein oder ein hol (Gregorius, 2971–2973, Hervorhebung nach der zitierten Edition Mertens 32014); […] ich weiz hie bî uns einen stein, / ein lützel über disen sê: / da mac dir wol werden wê (Hartmann von Aue, Gregorius, 2978–2980).
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Räume, die diskursdimensional vor allem im Zusammenhang mit anachoretischen Lebensformen stehen, werden in den immanenten Jenseitserzählungen spätestens ab dem zwölften Jahrhundert1398 in Zusammenhang mit einer ganz spezifischen monastischen Sozialität gebracht und erfahren in diesem neuen Diskurs eine signifikante Umwertung. So leben etwa die Mönche der Klosterinsel Ailbes1399 und auch die Chöre der drei Altersklassen1400 auf einer Insel, innerhalb der Höhle trifft Owein auf fünfzehn Mönche.1401 Alle diese Gruppen weisen sich, wie im Übrigen auch die Engelsvögel, in ihrer relativen Nähe zu einer ‚paradiesischen‘ Transzendenz aus, neben der weißen Farbe nicht zuletzt natürlich auch über den (liturgischen) Gesang. Brendan reist als Abt zusammen mit seinen Mönchen, Owein wird von Augustinerchorherren zur immanent jenseitigen Höhle geleitet und entsprechend vorbereitet, der Mönch von ‚Mönch und Vöglein‘ beginnt seinen Weg in den immanent jenseitigen Wald notwendigerweise im Raum des Klosters. Alle drei untersuchten immanenten Jenseitserzählungen teilen dementsprechend die unbedingte Rückkoppelung der immanenten Jenseitserfahrung an das Kloster, wiewohl der einzelne Raum anachoretisch dimensioniert ist. Die immanenten Jenseitserzählungen präsentieren sich zudem als Teil einer monastischen Erzähltradition, sei es nun, dass das Wissen um eine terra repromissionis mündlich von Abt zu Abt (NSB) oder über eine Schrifttradition (Reise/Vita secunda) zu vermitteln ist. Im TPSP ist speziell der Zisterzienserorden als notwendige Instanz der Jenseitsvermittlung inszeniert. Räumlichinstitutionell reguliert das Kloster den Zugang in die immanenten Jenseitsräume – über einen notwendigen monastischen Gestus wie die peregrinatio (NSB ) oder eine spezifisch monastische Lektürepraxis (‚Mönch und Vöglein‘); über eine explizite Zugangsregulierung durch die notwendige rituelle Assoziation mit den Augustinerchorherren und den Verschluss durch eine Pforte (TPSP ), oder aber durch den allgemein vorstrukturierten Weg aus dem Kloster in den Jenseitsraum (NSB / TPSP / ‚Mönch und Vöglein‘). Die immanente Jenseitserfahrung, wie sie die untersuchten Texte erzählen, ist immer letztgültig an einen monastischen Rahmen rückgebunden, strukturell, räumlich, über die Partizipation an einem bestimmten Gestus. Alle Protagonisten kehren zuletzt (wieder) in das Kloster zurück, entweder in ihren ursprünglichen Rollen
1398 Die NSB ist natürlich älter als das zwölfte Jahrhundert, hat aber hier einen deutlichen Überlieferungsschwerpunkt. Es entstehen Übersetzungen und Retextualisierungen, vgl. Kapitel 2.4. Auch die Häufung der immanenten Jenseitserzählungen im zwölften Jahrhundert rechtfertigt es, den Diskurs und seine Dynamiken mit dieser zeitlichen Fokussierung zu betrachten. 1399 Vgl. S. 92–96. 1400 Vgl. S. 96–98. 1401 Vgl. S. 224.
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oder wie im Fall Oweins als Übersetzer für ein Zisterzienserkloster. Keiner der untersuchten Texte ist so letztlich ein Plädoyer etwa für das Verlassen des monastischen Rahmens. Überhaupt führt die exponierte Verhandlung gerade der Inkommensurabilität, wie sie die Untersuchung der immanenten Jenseitsräume unter dem Aspekt ihrer narratologischen Dynamik zeigen konnte, zur beständigen Negierung der immanenten Räumlichkeit zugunsten der Erzählung des Jenseitsraumes. Damit auf der Insel im Atlantik, in einer spezifischen Höhle oder im Wald neben dem Kloster ein immanenter Jenseitsraum erzählt werden kann, werden Aspekte des primär immanenten Raumes wie die geographische Lokalisierbarkeit oder andere spezifisch-referentielle Markierungen in den Erzählungen unterlaufen, ja explizit negiert. Im größeren Zusammenhang dieser Erzählungen leistet das auch die konsequente Ablehnung einer generellen Repetierbarkeit: keine dieser Erzählungen versteht sich zunächst als Kartierung eines spezifischen Jenseitseinganges, auch wenn nicht nur dem TPSP in der Rezeption dieser Anspruch immer wieder unterstellt worden ist. Die Räume sind nur insofern immanente Räume, als in ihrem Medium die immanente Zugänglichkeit ausformuliert werden kann. Sie sind immer zugunsten einer jenseitigen Doppelläufigkeit aufgebrochen und nie als absolute Immanentisierung des (dann nicht mehr) Jenseitigen gedacht. Der Zwischenraum ist ein Erzählmodus von Inkommensurabilität und behauptet nie eine tatsächliche – körperlich-weltliche – Zugänglichkeit des christlichen Jenseits im Sinne eines repetierbaren und reversiblen Eintritts in eine andere Welt. Im selben Maße, wie in den Erzählungen zugunsten der Inkommensurabilität so die konkret lokalisierbare, repetierbare Räumlichkeit aufgegeben wird, verliert sich der Appell anachoretischer Weltabkehr, der in den Wüstenväterleben oder auch in der Vita Columbani durchaus noch eingeschrieben war. Die Verhandlung der Inkommensurabilität immanenter Transzendenzerfahrung, die sich als paradoxes Moment anachoretischer Heilsräumlichkeit bereits in spätantiken Diskursen zeigt – Räume der Weltabkehr, in der Welt, mit allen epistemologischen Implikationen – dimensioniert spätere immanente Jenseitserzählungen entscheidend. Es ist gerade diese paradoxe Inkommensurabilität, welche die Dynamisierung dieser Diskursdimension im zönobitischen Rahmen ermöglicht. Die anachoretischen Heilsräume werden im Rahmen des zönobitischen Mönchtums rekonfiguriert, mit einer narratologischen Fokussierung der Inkommensurabilität, hin zu einer Lektüre des Raumes statt der körperlichen Reise. NSB, TPSP und ‚Mönch und Vöglein‘ sind so kein Appell für die Fahrt auf die Insel oder den Gang in Höhle und Wald und ebenso wenig postulieren sie eine tatsächliche anachoretische Weltabkehr mit dem Ziel immanenter Jenseitsschau. Die Räume, wiewohl durch anachoretische Diskurse dimensioniert, werden im neuen Diskurszusam-
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menhang innerhalb der neuen Spannungsverhältnisse und Darstellungsziele umgewertet und zusammen mit der (notwendigen) Zugangsbeschränkung über den zönobitischen Rahmen reformuliert. Vom Jenseits zum (Zisterzienser-)Kloster An den immanenten Jenseitserzählungen des Hochmittelalters und der spezifischen narratologischen Konfiguration ihrer Räume wird so ein diskursiver Wandel manifest. Zentrale narratologische und narrative Momente des anachoretischen Raumes als entscheidende Diskursdimension der immanenten Jenseitserzählung, werden an den institutionellen Rahmen des zönobitischen Klosterlebens rückgebunden. Dabei soll selbstverständlich nicht behauptet werden, Insel, Höhle und Wald seien erst im zwölften Jahrhundert mit dem zönobitischen Leben in Verbindung gebracht worden. Der Aspekt der Weltabkehr führt schon deutlich früher zu ihrer Referenzialisierung mit dem Kloster. Der Sonderraum und damit das dortige monastische Leben werden zum ‚Paradies‘.1402 Auch über den Diskurs der immanenten Jenseitserzählungen werden diese Räume im Zusammenhang mit einem neuen zönobitischen Monastizismus reformuliert. Die Heilsräumlichkeit bleibt erhalten, wird allerdings nun explizit für die Geltungsproduktion zönobitischer Klöster genutzt. Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders eindrücklich etwa auch bei der Namensgebung der frühen Zisterzienserklöster: Mons salutis (Kloster Monsalud), Floridus campus (Kloster Bloomkamp), Iugum Dei (Grey Abbey), Mons angelorum (Kloster Engelberg) und weitere bezeichnen zugleich immanente
1402 Vgl. Eucherius von Lyons, Epistola de laude eremi über die Insel Lérins, zitiert nach PL 50, Sp. 701C–712C, hier Sp. 710D–711A: Equidem cunctis eremi locis quae piorum illuminantur secessu, reverentiam debeo, praecipuo tamen Lirinum [Vulg. Lerinam] […;] ab illo saeculi flagrantes aestu, blande introducit sub umbras suas, ut illic spiritum sub illa interiore Domini umbra anheli resumant. Aquis scatens, herbis virens, vitibus renitens, visibus odoribusque jucunda, paradisum possidentibus se exhibet. [In der Tat schulde ich allen Orten der Zurückgezogenheit, die durch die Abkehr der Seligen erleuchtet werden, ehrfürchtigen Respekt, besonders jedoch Lérins […]; es nimmt diejenigen, die von jener Hitze der Welt geplagt werden, liebkosend in seinen Schatten auf, damit sie ausgebrannt dort im Inneren in jenem Schatten Gottes den Hl. Geist wiedererlangen. Voll sprudelndem Wasser, grün an Kräutern, durch Weinranken glänzend, durch seinen Anblick und Duft ansprechend, zeigt sich [Lérins] denen, die es innehaben, als ein Paradies.] Vgl. auch beispielsweise Wilhelm von Malmesbury, De gestis pontificum Anglorum, IV, zitiert nach PL 179, Sp. 1441A–1680D, hier Sp. 1612D–1613. In dem Moment, in dem sich so der Raum des Waldes, im zitierten Fall verschränkt mit dem Raum der Insel, mit dem Kloster verbindet, findet eine Umwertung im Sinne eines paradisi simulacrum [Abbild des Paradieses, Sp. 1612D] statt. Die Klostergründung innerhalb des Waldes ist eine Umformung des Urzustandes, – „a state of original sin“ (Leclercq 31982, S. 130) hin zu einem neuen Paradies.
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Topographie und verweisen auf transzendente Jenseitsräumlichkeit.1403 Der geographische Raum, an dem sich das Kloster ansiedelt, ist nicht mehr nur immanent, sondern Teil einer Heilstopographie in eschatologischem Verweisungszusammenhang. Das Kloster erzählt sich damit in dem Spannungsverhältnis, das auch immanente Jenseitserzählungen verhandeln, und wird selbst zu einem immanenten Jenseitsraum. Der Klostergarten von Clairvaux etwa wird in der Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis nach allen Kriterien als ‚paradiesisch‘ beschrieben: Intra hujus [abbatiae] septa multae et variae arbores variis fecundae fructibus instar nemoris pomarium faciunt: […] Pascit oculos herbarum et arborum amoena viriditas, et pendentes ante se, atque crescentes immensae ejus deliciae, ut non immerito dicat: Sub umbra arbori illius, quam desideraveram, sedi, et fructus ejus dulcis gutturi meo (Hld. 2,3). Aures suavi modulamine demulcet pictarum concentus avium.1404 [Innerhalb der Begrenzungen dieses Klosters bilden viele verschiedene Bäume, reich an verschiedenen Früchten, einen Obstgarten groß wie einen Hain: […] Am idyllischen Grün der Kräuter und Bäume weiden sich die Augen, sie sind unersättlich und werden groß wegen dieses unermesslichen Liebreizes, so dass man mit Recht sagt: In seinem Schatten begehre ich zu sitzen. Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen! (Hld. 2,3) Die Ohren liebkost der harmonische Gesang der bunten Vögel mit einer süßen Melodie.]
Im Obstgarten findet sich hier ein idyllischer Raum mit Kräuterwiesen und Vogelgesang. Der kühle Schatten der Obstbäume lässt einen locus amoenus aufscheinen, der durch das Hoheliedzitat eine entsprechend paradiesische Umwertung erhält.1405 Die Betonung der akustischen, optischen wie olfaktorischen Sinneseindrücke – mit dem kühlenden Schatten ließe sich berechtigter Weise auch von einem weiteren haptischen sprechen – erzeugt eine interaktive Dynamik zwischen Besucher1406 und Idyll, die ansonsten bei der Darstellung des locus amoenus doch eher die Seltenheit zu sein scheint1407 und damit die besondere Zugänglichkeit des konkreten Klostergartens weiter auszustellen vermag. Ausgehend von dem Obstgarten führt die Beschreibung über verschiedene Wasseranlagen und die Mühle hin zu den weiteren Einrichtungen des Klosters (locus ille amoenitatis).1408
1403 Vgl. Leclercq 31982, S. 131, mit Verweis auf Dimier 1944. 1404 Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis, zitiert nach PL 185, Sp. 569A–574B, hier 569B-570A. 1405 Vgl. S. 294–300. 1406 Es tritt ein erkrankter Mönch (aegrotus) auf, vgl. Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis, Sp. 569B–570A. 1407 Vgl. S. 242–244. 1408 Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis, hier 571D.
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Übergreifend prägt die Beschreibung dabei eine heilsgeschichtliche Interpretation des Klosterraumes, die mit der Metapher des Grabes endet: statim ad mille passus intra claustrum monasterii, quasi de corde terrae resuscitatus progreditur, et quodammodo redivivus apparet, visui tantum et usui fratrum se offerens, ne cum aliis quam cum sanctis sors illius amodo sit futura.1409 [Sofort, nach tausend Schritten innerhalb der Klostermauer, schreitet er weiter, als wäre er aus dem Inneren der Erde wiederauferstanden. Er erscheint gewissermaßen neu geboren, tritt nur vor die Augen seiner Brüder und zeigt sich nur im Umgang mit ihnen, um von nun an sein Schicksal nur mit den Heiligen zu teilen.]
Der Eintritt in das Kloster ist immer in gewisser Weise ein Tod für die Welt und eine Wiederauferstehung im Kreis der Brüder. Das Kloster ist nicht nur räumlich-topographisch1410 von seiner Umgebung abgetrennt, sondern ein in sich geschlossenes System, dessen Eintritt nur mit den Kategorien einer Wiederauferstehung gefasst werden kann.1411 Innen gilt eine andere Realität, die sich gerade an der Begrenzung formiert und analog etwa zu Diesseits und Jenseits ein unendliches Gegenüber denkt.1412 Mit Eintritt in den Klosterraum gilt das Schicksal, das auch die Heiligen erwartet: amodo. Von nun an gelten die Kategorien einer immanenten Jenseitsräumlichkeit, wie sie auch im Begriff einer vita angelica1413 gefasst werden können: das Kloster ist eine Art irdisches Paradies.1414 Diesseits und Jenseits sind im Kloster verschränkt, wie sie das im irdischen Paradies bereits waren, und wie dies auch die Konfiguration des immanenten Jenseitsraums in den untersuchten Jenseitserzählungen zeigen konnte. In der eigenen Darstellung als immanenter Jenseitsraum und in Referenz auf den heilsräumlich semantisierten natürlichen Raum als Grün-
1409 Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis, hier Sp. 574B. 1410 Vgl. Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis, Sp. 569A bzw. 574A. 1411 Vgl. entsprechend Aelred von Rievaulx, De institutione inclusarum, 439, lateinisch zitiert nach der Edition Talbot 1971: quasi mortua saeculo in spelunca Christo consepeliri [für die Welt scheinbar gestorben mit Christus in der Höhle begraben werden]. 1412 Zur Figur des Übertrittes in der Form von Gästen und den damit einhergehenden konzeptuellen Komplikationen vgl. Sonntag 2009. 1413 Vgl. zu dem Begriff, mit einem frühen Schwerpunkt, Frank 1964, für das hochmittelalterliche Mönchtum vgl. Leclercq 1948. 1414 Das Motiv des concentus avium [harmonischer Gesang der Vögel], das in der Descriptio […] eine gewisse Prominenz in der Darstellungsweise des Obstgartens von Clairvaux innehält, tritt sowohl, zusammen mit einem sehr ähnlichen Wortschatz (umbraculum, gramen, rivulus, patulus) in der Liebesdichtung Walter von Châtillons auf (Carmina, 17, hier besonders 15–1, zitiert nach der Edition von Strecker 1925), als auch bei der Beschreibung des irdischen Paradieses in der Chronik Ottos von Freising, VIII, 33 (nach der Edition von Buchner 1961, S. 672, Z. 21–24, die Hofmeister 21912 folgt). Die Doppelung von idyllischem Raum und irdischem Paradies ist topisch und motivisch angelegt.
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dungsort entwickelt das Kloster für sich und den eigenen Diskurs so neue Geltungspotentiale, es schreibt sich in ein heilsräumliches Spannungsfeld ein. Diese Form der räumlichen Konfigurierung ist nicht spezifisch zisterziensisch, aber wie die Descriptio situationis seu positionis zeigt, figuriert auch der Zisterzienserorden seinen unmittelbaren Wirkungsraum entsprechend. Die Konfiguration des monastischen Raumes über eine immanente Jenseitigkeit – d. h. als ein Raum, welcher einen besonderen Anspruch auf jenseitiges Heil für sich behauptet und sich selbst in Relation zur Normwelt als ‚jenseitig‘ markiert – überrascht nicht und ist entsprechend ja beispielsweise schon in der Vita S. Pauli des Hieronymus valent.1415 Das Paradiesische der Mönchsgemeinschaften war in der NSB bei der Klosterinsel des Ailbe und weiteren präsent.1416 Interessant ist so weniger die Darstellung des Klosters als immanenter Jenseitsraum, als vielmehr die Integration gerade der anachoretisch semantisierten (Heils-)Räume in den Rahmen zönobitischer Diskurse. Für den Zisterzienserorden, der in engen Zusammenhang mit den Entstehungs- und Produktionsbedingungen der Jenseitserzählungen im Allgemeinen, sowie einzelner immanenter Jenseitserzählungen im Besonderen, gebracht werden muss,1417 lässt sich diese Integration im Sinne einer ‚Metaphorik der Innerlichkeit‘ nachweisen. Die Heilsräumlichkeit, insofern, als sie im Zuge der immanenten Jenseitserzählungen mit Inkommensurabilitätsmarkierung in klarer Differenz zur einfachen Immanenz erzählt worden ist, nimmt hier Einzug in einer Metaphorik der „inner solitude“, wie sie Giles Constable im Zusammenhang mit der monastischen Spiritualität des zwölften Jahrhunderts formuliert:1418 the tendency in twelfth-century spirituality to transform ascetic practices from external manifestations of privation, suffering, and endurance into internal attitudes known only to the individual monk.1419
Als reformierter Benediktinerorden orientieren sich die Zisterzienser mit erneuerter Strenge an der Benedicti regula und greifen in ihr und durch sie zur Legitimierung ihrer Reformbemühungen auf die Ideale der Wüstenväter zurück.1420 Diese Orientierung in Richtung eines ‚primitiveren‘ Mönchtums teilen die Zisterzienser auch mit weiteren Reformorden.1421 Interessanter-
1415 Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 13. 1416 Vgl. S. 92–96. 1417 Vgl. besonders Kapitel 3.3.4. 1418 Vgl. Constable 1987. 1419 Constable 1987, S. 27. 1420 Vgl. Ward 1976, S. 185–188. 1421 Vgl. Ward 1976, S. 192–193.
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weise ist diese Orientierung auf so etwas wie ein „desert ideal“1422 dabei zutiefst eklektisch und der dezidierte Fokus der Zisterzienser liegt auf dem gemeinsamen Feiern der Liturgie. Chor und Stundengebet, wie sie ja auch im Zusammenhang mit einzelnen Inseln Brendans, bei den Engelsvögeln, im TPSP und bei ‚Mönch und Vöglein‘ verhandelt wurden und bei den Wüstenvätern nicht gedacht waren, erfahren eine signifikante Aufwertung.1423 Der Monastizismus der Wüstenväter wird primär in der Form einer literarischen Ideologie übernommen, auf Grundlage derer in der zweiten Generation der Zisterziensermönche bestimmte Reformentscheidungen begründet werden konnten.1424 Ein entsprechender Diskurszusammenhang zeigt sich auch in der Raumdynamik. Gerade das anachoretische Moment der Weltabkehr eines Einzelnen, fernab von klösterlichen Strukturen, liegt den Zisterziensern fern. Das desertum, wie es auch über das Narrativ immanenter Jenseitsräume formiert ist, ist diskursiv nicht als primär anachoretischer Raum der Wüstenväterspiritualität formiert, sondern vielmehr ein immanenter Heilsraum mit transzendentem Heilsanspruch, der innerhalb einer monastischen Sozialität funktional werden kann. Im Rahmen der Zisterzienser wird aus dem desertum der Anachorese so eine innere Weltabkehr: Secede ergo, sed mente, non corpore; sed intentione, sed devotione, sed spiritu.1425 [Zieh dich also zurück, aber im Geist, nicht im Körper: gespannt, andächtig, geistig.] Aus der äußeren, körperlichen Abkehr wird die innerliche. An den Platz eines externen Sonderraumes tritt das Kloster: Artificioso prorsus et altissimo quodam inventa consilio est solitudo claustralis. Numquid non solitudo, ubi nulla sollicitudo cuiuslibet necessitatis humanae? Aut quis olim anachoreta tam alienus a seculo et ab omni negotio tam immunis, quam verus hodie coenobita videtur?1426 [Mit geradezu meisterhafter und äußerst tiefgreifender Überlegung hat man die klösterliche Einsamkeit geschaffen. Ist es denn nicht ‚Einsamkeit‘, wo es keine Kümmernis des menschlichen Schicksals gibt? Oder welchen Anachoreten gab es einst, der so abgekehrt von der Welt und so unberührt von jeder Tätigkeit gewesen wäre, wie es ein wahrer Zönobit heute zu sein scheint?]
1422 Ward 1976, S. 183. 1423 Vgl. Ward 1976, S. 196. 1424 Vgl. Ward 1976, S. 188. 1425 Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, 40, 4, ediert bei Leclercq et al. 1958. 1426 Gottfried von Auxerre, Expositio in Cantica canticorum, ediert im zweiten Band von Gastaldelli 1974, S. 460 (fortlaufende Seitenzählung), Z. 21–25. Vgl. dazu die explizite Parallelisierung von Wald und Kloster durch Bernhard von Clairvaux (Sermones super psalmum ‚Qui habitat‘, 4, 3, ediert bei Leclercq et al. 1966): Propter quod etiam corporaliter in claustris et in silvis abscondimur. [Deshalb verbergen wir uns auch hinter Klostermauern und in Wäldern.]
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5 Ein Epilog: das Kloster
Entsprechend werden auch die anachoretischen Räume, wie sie innerhalb der immanenten Jenseitserzählungen dynamisiert worden sind, in diesem Diskurszusammenhang als Räume der Innerlichkeit umgewertet.1427 An die Stelle einer radikal anachoretischen Weltabkehr tritt eine Aufwertung des Klosters in seiner Sonderstellung als Raum des Heilserwerbs, wie er dies erst auf der Grundlage jener Diskurse werden kann, die die Möglichkeit immanenter Jenseitigkeit in seiner Spatialität aushandeln. Mit diesem Ausblick auf die Rolle der Heilsräume im Rahmen einer zisterziensischen Spiritualität kann und soll nur angedeutet werden, welche Potentiale die untersuchten kulturellen Raumdynamiken im Zusammenhang anderer Diskurse entwickeln können. Die Räume werden hier in ihrem heilsräumlichen Anspruch rezipiert und innerhalb monastischer Diskurse, innerhalb derer zu Beginn ja auch die immanenten Jenseitserzählungen verortet werden müssen, in ihrer Heilsvalenz für die zönobitische Lebensführung verhandelt. Eine Exklusionsdynamik, wie sie für die immanenten Jenseitsräume nachgewiesen werden konnte, wird auf diese Weise im monastischen Diskurs des zwölften Jahrhunderts auf den Raum des Klosters übertragen. Immanente Heilstopographie und der exponierte Anspruch auf den Zugang zu einem jenseitigen Heil werden für die Darstellung des Klosters gangbar und für die Geltungsproduktion wirksam gemacht. Die Weltabkehr jedoch, das Motiv des Heilsraumes fern einer monastischen Sozialität, wird innerhalb eines zönobitischen Rahmens reinterpretiert. Das immanente Jenseits, wie es innerhalb der Wüstenväterliteratur nur Eremiten wie Paulus vorbehalten war, wird über die Erzählmodalität des Zwischenraums für einen neuen Monastizismus funktionalisiert und ermöglicht dadurch eine Neuinterpretation des Klosters – als immanenter Jenseitsraum.
1427 Vgl. exemplarisch zum Raum der Höhle Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, 62, 1. Für das Motiv eines Jenseitsübergangs mittels himmlischen Vogelgesangs, wenn auch ohne spatiale Ausgestaltung, vgl. Aelred von Rievaulx, Sermones, 168, 15 (zitiert nach der Edition Raciti 2012): Non auditur in plateis uox turturis neque foris clamorem suum profert. Intro resonat, intrinsecus canit, et non possunt audire turturem nisi qui intus sunt, qui manent in solitudine, qui secretum inhabitant, qui in silentio requiescunt. [Man wird in den Gassen die Stimme der Turteltaube nicht hören, ihr Tönen wird sie draußen nicht zeigen (Mt 12,19). Innen hallt es wider, sie singt nach innen und nur diejenigen, die innen sind, können die Turteltaube hören; diejenigen, die in Einsamkeit verharren, die in Abgeschiedenheit wohnen, die stillschweigend in Ruhe sind.]
Bibliographie Fortlaufend nummerierte Reihen werden nur für die Primärliteratur angegeben, Zeitschriften wie auch die Namen der antiken und mittelalterlichen Autoren werden nicht abgekürzt. Neben dem deutschen Namen wird der eingedeutschte Beiname aufgeführt, übliche lateinische Namensgebungen beibehalten. Bei irischen und syrischen Texten erfolgt die Bezeichnung des Werkes wie seine Zitation nach der zitierten Edition. Die Bibel wird nach der Vulgata zitiert, ihre Bücher sind nach der deutschen Einheitsübersetzung abgekürzt. Bei Abweichungen der Vulgata-Zählung von der der Einheitsübersetzung ist die Zählung der Einheitsübersetzung in eckigen Klammern beigefügt.
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Verzeichnisse und Register
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Oxford, Bodleian Library, Lincoln College, lat. 27 E 136 Anm. 557 Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 16506 261 Anm. 1186 Paris, Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631 10 Anm. 40 Reims, Bibliothèque d’Étude et du Patrimoine, 1393 (K. 798) 13 Anm. 45 San Lorenzo de El Escorial, Monasterio, Real Biblioteca B.1.2 290 Anm. 1323, 294 Anm. 1342 Straßburg, [Drucker des Jordanus (=Georg Husner)] 1484 Martin von Troppau, Sermones de tempore et de sanctis cum Promptuario exemplorum 238 Anm. 1040 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et phil. 2° 22 143 Anm. 587 Subiaco, Biblioteca del Monumento Nazionale del Monastero di Santa Scolastica, 292 (CCLXXXVI) 13 Anm. 45 Troyes, Médiathèque du Grand Troyes, Fonds ancien 1876 13 Anm. 45 Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1203 Helmst., Heinemann-Nr. 1311 143 Anm. 590
Sachregister
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Sachregister Die Referenzen des Registers beziehen sich auch auf die Fußnoten der entsprechenden Seiten. Bei grundlegenden Interpretamenten der Argumentation wird im Sachregister nur auf die zentrale(n) Definition(en) verwiesen. Alfons X (el Sabio) 294, 302 Allegorie 47, 56, 69, 71, 118, 128, 142, 178, 201, 246, 250, 293 Alterität 37, 46–50, 53, 56–58, 71, 123, 174, 269, 290–291 Anderwelt 19, 27, 29, 34, 42–58, 71, 83, 102, 110, 128, 151, 165–168 Apfelzweig 47, 50 Apophase Siehe Unaussprechlichkeit Auferstehung 22, 89, 113–114, 132, 141, 165, 168, 170–172, 177–180, 186, 198, 217, 259, 274–276, 278, 293–294, 311 Augustiner 152, 205, 224, 227–228, 263, 307 Ausnahmeraum 22–23 Ausnahmeraum 20 Avalon 47 Barinth 47, 73, 75–76, 79, 111–113, 120–121, 124, 139–140 Baum, Bäume 54, 64, 79, 93, 112, 115, 239, 242, 244, 265, 291–292 Baum des Lebens 1, 116, 296–299 Palme 181, 255–256 Pappel 53 Zeder 276 Baum, Bäume 85–87, 89–91, 269–270, 276–277 Berg 9, 95, 98, 100, 159, 163–164, 169–170, 173, 180, 214, 221, 243–244, 246, 254–255, 258 Bewegungsraum [De Certeau] 24 Brot 79–80, 92–93, 181–184 Bruch der Räumlichkeit Siehe Heteromorphie des Raumes Bruch der Zeitlichkeit Siehe Heterochronie Buchverbrennung 143–148 Burg 46–50 Christianisierung 45, 52, 58 Chronotopos [Bachtin] 24
Dämonen 79, 98–101, 103, 131, 136, 153, 156–157, 180, 184, 204, 210–213, 217–219, 224, 265 Delphin 129–130 desertum 37, 59, 131, 134, 154, 181, 184, 235, 306, 313 Dimensionierung 30–31 discours [Genette] 6, 29, 303 Diskurs 26–30 Diskursivierung 32 Dunkelheit 46, 96, 100, 111, 141, 154, 209–210, 285 Dynamisierung 20 echtra, echtrai 44–46, 52 Edelsteine 79, 115, 283 Ekstase 91, 265 Elija 17, 108, 117, 133–134 Elternhaus 59, 61, 66, 68, 74 Entrückung 65, 117, 189–190, 193, 196, 236–237, 239–241, 260–263, 265, 268–272, 274–276, 278–279, 283, 285–286, 289–291 294–295, 300–301 Eremit, eremitisch 34, 59–60, 79, 88, 103–110, 122, 125–127, 131, 152, 235, 260, 267, 291, 314 Erfahrungswissen 148 Ewigkeit 53, 63, 114, 239, 245–246, 251–254, 257, 259, 272–274, 280, 282, 292–293, 297–299 exemplum 42, 67, 108, 142, 196–198, 200, 237–238, 302–303 Feld 250 Fleisch, Fleischlichkeit Siehe Körperlichkeit Fluss 79–83, 85, 92, 111, 115–119, 160–161, 212–213 Freude 2, 9, 46, 53, 130–131, 139, 141–142, 148, 154–156, 159, 162, 189, 195, 201, 207, 241, 260, 264, 268, 278–279, 282–283, 286, 288, 295, 297
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Verzeichnisse und Register
Friedhof 22, 205–206, 216, 291–294 Frucht, Früchte 20, 79, 90, 97, 112, 116, 167, 183, 242, 253, 292, 310 Funktionalisierungspotentiale 22, 28, 31–32, 119, 124, 128, 187 Garten 1, 32, 240–241, 302 Baumgarten 291–294 Klostergarten 310–311 Obstgarten 292, 310–311 Paradiesgarten 239, 241–247, 296 Garten 260–262, 289–300 Gewandfarbe 96, 224–227 Glocke 271–272, 276, 286–287 Grab 27, 104–109, 117, 130–133, 151, 165, 168–173, 175–176, 179–180, 182, 184–185, 209, 216–217, 292–294, 311 Gulinus 231–234 Hain 201, 241, 243, 245, 261, 310 Phoenixhain 251–259 Halle 181, 210–211, 214, 218–219, 224, 231–232 Helligkeit 9, 96, 112, 115, 213, 307 candidus 86, 88, 103, 171, 200, 225–226 Licht 9, 93–95, 101, 111–112, 115, 157, 209–210, 219, 254 weiße Farbe 88, 107 weißes Gewand 96, 224–228 Henoch 17, 64–65, 70, 117, 133–134 Heterochronie 15, 22–23, 25, 33, 57–58, 97, 112, 167, 236, 266, 270–271, 272 Heteromorphie des Raumes 15, 22, 25, 209–214, 270 Heterotopie [Foucault] 21–23, 25 histoire [Genette] 6, 302 Hitze 193, 213, 218, 232, 285, 309 Hl. Antonius 93, 104, 106–109, 180–183 Hl. Columba 40 Hl. Kevin 185–186, 259–260, 263 Hl. Patrick 105–109, 113, 117, 152–155, 160–161, 206–207, 211 Hohelied 32, 281, 294–300, 310 Höhle antrum 173, 209 cavea 209 caverna 173, 180
concavitas 209 fossa 105, 133, 154, 206, 209, 216 Grotte 53, 242, 244 Höhleneingang 173, 182, 203–209, 214–218, 224, 228 spelunca 173–174, 181, 183, 209, 311 Idyll, idyllisch Siehe locus amoenus immanenter Jenseitsraum 13–17 immram, immrama 44–46, 52 Inkommensurabilität 4–5, 8–27, 36, 43, 55–58 Insel Felsinsel des Judas 98–102 Insel der drei Altersgruppen 96–98 Insel des Paulus 103–110 Klosterinsel des Ailbe 92–96 Vogelinsel 80, 82, 85–92, 95, 97, 102–103, 109 Intertextualität 29, 40–41, 48–49, 68–69, 89, 91, 102, 106, 109, 116, 125, 177, 179, 190, 278, 302 Iroschotten 38–39, 42, 59, 125, 127 Jerusalem 15, 68–69, 110, 115–119, 134, 222 Kälte 213, 218, 232 Kalypso 53, 242, 244 Kartäuser 235, 281 Karte, Karten 12, 16, 36, 135, 137, 155, 165, 230, 233, 247, 293, 308 Klima 93, 242, 253, 255 Kloster Clairvaux 310–311 Heisterbach 291 Körperlichkeit 10, 62, 103, 109, 130, 132–133, 140, 196 Körperliches Erzählen 187–203 Körperlichkeit 2–4, 61–65, 93–96, 176–178, 228–234, 274–275 Kulturalität 27–28, 71–76 lectio divina 280–285 Lektüre 141, 145–149, 229, 259–260, 279–289, 301, 307–308 locus amoenus 19–20, 33–34, 54, 56, 130, 166, 242–250, 253, 259, 269, 299, 310 Logbuch 148
Sachregister
Lokalisierung 101, 135, 153, 159–164, 197, 203, 206, 224, 229–231, 240, 258, 301 Lügner-Paradox 212, 232 Manannán 47, 51, 54, 56–57, 95 Märtyrer 16–17, 113, 116, 129, 132, 175, 179, 276 Mauer 9, 68, 205–206, 213, 262, 290–291, 293, 311, 313 Musik 54 Gesang 47, 50, 89, 136, 266 Himmlische Musik 276 Psalmengesang 87, 96, 145, 183, 265, 276–277 Vogelgesang 26, 54, 87, 236, 242–243, 262, 266, 270, 275–279, 300, 310, 314 Nacktheit 99, 103–104, 106, 110, 122, 136, 211 Narratologie Narratologie, historische 27–28 Narratologie, kulturwissenschaftliche 30 narratologische Konfiguration 31–32 Nebel 46, 52, 79, 81, 83, 111, 114–115, 141 neutrale Engel 79–81, 85–92, 101, 109, 112, 145, 147, 266 Normwelt 19 Ostern 80, 82, 85, 183 Palast 79, 98, 210, 243, 254 Paradies Paradies, himmlisches 9, 15–17, 141, 214–215, 219, 221–222, 269, 295–298 Paradies, irdisches 15–17, 27, 33, 60, 212–215, 218–225, 259, 289–300, 311 paradisus avium 88, 139, 277 paradisus 15–17, 109–110, 139, 245, 250 Vogelparadies Siehe paradisus avium Parodie 12, 137, 145–146, 228–234 Paulus, Apostel 8–11, 118, 178, 276 Paulus [NSB ] 79–82, 85, 88, 103–110, 112, 122–125, 127, 132, 139 Paulus von Theben 106–109, 151, 180–186, 314
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peregrinatio 27, 29, 32, 34, 41–43, 52, 58–61, 65–66, 68, 70–75, 77–79, 81, 83–84, 116, 125–126, 128, 165, 186, 307 Pforte 1, 10, 153, 182, 205–206, 213–214, 220, 224, 249, 254, 262 Anderweltpforte 165–168 Himmelspforte 1, 214–215, 221–222, 269 Höllenpforte 159 Kirchpforte 290 Klosterpforte 250, 260–262, 290–291, 295 Phoenix 251–259, 266, 270, 275–277 Qualen 87, 99, 101, 153, 155–157, 162–163, 184, 188–189, 192–193, 195, 197, 199, 201, 205, 207–208, 210–213, 216–220, 232–233 raptus 10, 64, 190, 196 refrigerium 87, 278 Repetierbarkeit 12, 140, 148, 206, 303, 308 Schlaf 46–48, 79, 82, 96, 172–180, 232, 256, 266 Schmerzen 48, 187, 193, 212, 218, 220 Schweigen 92–94 Seele 3, 9–10, 16, 62, 87, 89, 99, 101, 108, 114–115, 117, 131–133, 146, 187–203, 207, 216, 226–227, 265, 282–283, 290, 305 Seelenvogel Siehe Vogel sieben Schläfer 168, 172–180, 209, 214, 217, 274–275 Sinneseindrücke 9, 64, 243, 277, 286, 310 Sonderraum 18–19 Strukturmerkmale 17–20 Sündenfall 1–5, 11, 13, 170, 246, 306 terra repromissionis 14, 38, 42, 67–81, 80–85, 108, 110–122, 124, 126, 132, 135, 139, 179, 214, 307 Tor Siehe Pforte Transzendenz Transzendenz, absolute 5–8 Transzendenz, graduell-relative 5–8 Transzendenz, immanente 5–8, 15 Transzendierung 6, 18, 61–68 Unaussprechlichkeit 25–26, 157, 162, 171, 288
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Verzeichnisse und Register
Utopie 19, 21–22, 52–54, 57–58, 83, 130–131 Vogel, Vögel Amsel 259, 263 Rabe 106, 181–182 Seelenvogel 89, 102, 265 Taube 265, 267 Turteltaube 314 Vogelgesang Siehe Musik Vogelinsel Siehe Insel Vorgeschmack 119, 124, 282–283, 300, 302 Wahrheitsvalenz 147–148, 277 Weltabkehr 58–71, 74, 110, 131, 180–186, 289, 306–310, 313–314
Wiedergeburt 219, 252–258 Zeitlichkeit 20, 22–23, 33, 57–58, 64, 93, 96–97, 101, 112, 174–175, 179, 257, 270–274, 277, 280, 287, 300 Zisterzienser 35, 154, 222–230, 235, 240, 293, 301, 307–308, 314 Zugangsregulation 19, 22, 43, 50–52, 56, 77, 81–84, 100, 116, 120, 169, 181–182, 186, 205–206, 209, 243, 256, 265, 307 Zwölftes Jahrhundert 34–36 Zyklop 33, 53, 82 Zypern 244
Autoren- und Werkregister Wie beim Sachregister beziehen sich die Referenzen auch auf die Fußnoten der entsprechenden Seiten. Adomnán von Iona Vita Columbae 40 Aelred von Rievaulx De institutione inclusarum 311 Sermones 297, 305, 314 Vita S. Edwardi regis 173 Alanus ab Insulis Anticlaudianus 243–244 Aristoteles Physica 173, 271 Arnaud de Bonneval Hexaemeron 276 Athanasius Vita Antonii 180, 182, 184–185 Augustinus 15–17, 156, 187, 199, 216, 281 Confessiones 272–273 De civitate dei 247 De Genesi ad litteram 247 De octo Dulcitii quaestionibus 187 Enchiridion de fide, spe et caritate 187 Avitus von Vienne 245, 247 De spiritalis historiae gestis 246–247, 252–253, 255
Beda Venerabilis De temporum ratione liber 70 Historia ecclesiastica gentis Anglorum 9–10, 16, 59 In Marci evangelium expositio 265 Benedeit Le Voyage de Saint Brendan 138 Benedicti regula 60, 125–127, 281, 290, 312 Bernhard von Clairvaux Ad milites templi 228 Sermones super Cantica Canticorum 277, 294, 313–314 Sermones super psalmum ‚Qui habitat‘ 313 Betha Brenainn Clúana Ferta 39, 186 Betha Coemgin I 185–186 Biblia Sacra Vulgata Apg 66–68, 176, 226 Dan 69, 89–91, 175 Ex 93, 95, 181, 184 Gen 3, 17, 37, 60, 62, 66–68, 70, 78, 151, 170, 177 Hebr 65, 68, 78, 86, 110, 117 Hld 294–300
Autoren- und Werkregister
Jes 114, 151, 172, 176, 278 Joh 171 Jos 172, 177 Kön 17, 134, 151, 172, 177 Kor 8, 16, 63, 276, 283 Lk 66, 114, 117, 168, 177 Mk 72, 151, 170–171, 226, 265 Mt 66, 114, 142, 168, 226 Offb 37, 113, 115, 117, 132, 146, 226, 276 Petr 272 Phil 63 Ps 87, 172, 176, 272, 279–280, 297 PsEsr 177 Ri 172 Sam 172 Bonifatius Epistolae 9–10, 265 Buile Shuibhne 91 Caesarius von Heisterbach 226 Dialogus miraculorum 226–227, 248–250 Cantigas de Santa Maria 239, 272, 287, 290, 294–295, 298–300, 302 Cantigas de Santa Maria239–241 Chronicon Affligemense 238 Claudian 252 Carmina minora 252, 257 Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae 242–244 Columbanus von Luxeuil 37, 41, 58, 60–61, 66, 151, 235 Epistulae 42 David von Würzburg De purgatorio Patricii 158 De beato Erone abbate 240 De sancto Brendano versus satirici 136–137, 139, 143, 145–146, 149 Descriptio positionis seu situationis monasterii Clarae-Vallensis 309–312 Diogenes Laertios De clarorum philosophorum vitis 173 Dracontius 245, 247 De laudibus Dei 243, 245, 276 Echtra Chonnlai 46, 49, 52 Echtra Cormaic i Tír Tairngiri 44–54 Echtra Cormaic i Tír Tairngiri I 44, 48–54, 57, 110
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Echtra Cormaic i Tír Tairngiri II 44, 49, 51–52, 57 Echtrae Chonnlai 44, 46, 49–53, 55, 57 Echtra Nerai 165–167 Ekkehard von Aura Chronicon universale 270 Engelhard von Langheim 239 Ephraem Hymni de paradiso 254 Eucherius von Lyons Epistola de laude eremi 309 Evagrius Vita beati Antonii abbatis 180, 185 Galfredus de Vino Salvo 242 Gerald von Wales 153, 259 Topographia Hibernie 156–158, 160– 163, 259–260 Gervasius von Melkley 242 Gottfried von Auxerre Expositio in Cantica canticorum 313 Gottfried von Viterbo Pantheon 133 Pantheon, De Enoch et Helia 133–134 Pantheon, De Enoch et Helia [Prosavorwort] 133 Pantheon, Quod lignum sanctae crucis 251 Pantheon, Quod triginta denarii 169–170 Gregor der Große 187, 190, 192, 199, 216, 228 Dialogi 1–4, 9, 14, 183–185, 187– 189, 192–193, 201, 213, 265, 267, 305 Homiliae in Hiezechielem prophetam 284–285, 294 Gregor der Große (?) In librum primum regum 284–285 Gregor von Tours De cursu stellarum 275 Liber in Gloria martyrum 172–179 Libri historiarum 10 Libri octo Miraculorum 172 Passio sanctorum septem dormientium 173 Guerric d’Igny 293 Sermones 293
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Verzeichnisse und Register
Guigo I 281, 295 Meditationes 281 Guigo II 281, 295 Scala claustralium 281–284, 287–288 Guillaume de Lorris, Jean de Meung Roman de la Rose 266, 299 Hartmann von Aue Gregorius 306 Iwein 248 Hesiod Theogonia 53 Hieronymus 176 Vita S. Pauli 41, 93, 104, 106–109 151, 180–183, 267, 312 Homer Ilias 53 Odyssea 33, 53, 82, 242, 244 Hrabanus Maurus De universo 242 Hugo von St. Viktor 192, 295 De sacramentis Christiane fidei 156, 189, 191–192, 198, 201–202 Didascalicon 281 H. von Sawtry TPSP 5, 11–13, 27, 32, 35, 128, 135, 260, 263, 265, 268, 269, 277, 280, 305–307, 308, 313 Immram Brain 43, 46–51, 53, 56–57, 73 Immram Brain 43–51, 73 Immram Curaig Máele Dúin 40, 44, 46, 73, 89, 265 Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla 46, 265 Imrum Snedhghusa ocus Mic Ríagla 89 Iomramh churraig Hua gCorra annso 46, 89, 265 Irish Litany of Pilgrim Saints 40 Isidor von Sevilla Etymologiae 20, 235, 242 Liber differentiarum 16 Jacobus de Voragine Legenda aurea 169, 172–175, 178–180 Jacob von Sarug Homiliae selectae 172 Jakob von Vitry
Exempla 238–240, 261, 264, 279, 286, 289–290, 299, 302 Jocelin von Furness Vita S. Patricii 158–160, 162, 211, 265 Johannes Cassian 43 Collationes 60–71, 84, 281 Johannes Chrysostomos Homiliae in Genesim 247 Johannes de Garlandia Dictionarius 287 Jonas von Bobbio 235 Vita Columbani 41, 58, 60–61, 66, 74, 186 Justinus der Märtyrer Dialogus cum Tryphone Judaeo 168 Koptische Marienpredigt 254 Lai de l’oiselet 266, 300 Laktanz 247, 252 De ave Phoenice 242–243, 252, 254–259 Divinae institutiones 247 Leo von Neapel Vita Alexandri Magni 270 Litany of Irish Saints 40 Marcus von Regensburg Visio Tnugdali 9–10, 274 Martin von Troppau Sermones de tempore et de sanctis 238–240, 261–262, 264, 269, 271, 286, 290, 299, 302 Martyrology of Donegal 266, 277 Martyrology of Oengus 266 Martyrology of Tallaght 40 Matthäus von Vendôme 242 Maurice de Sully 237–238 Sermones de tempore 238–240, 261–262, 264–265, 267, 269–272, 277, 279, 284, 286–287, 291, 302 Mönch Felix 239, 285–289, 301–302 Muirchú Vita Patricii 106, 108 NSB 11, 13, 27, 32, 34–35, 209, 214, 224, 229, 235, 243, 260, 266–269, 277, 280, 306–308, 312 Odo von Cheriton Parabolae 238–240, 261–262, 264–265, 278–279, 286, 302
Autoren- und Werkregister
Old-Irish Table of Penitential Commutations 186 Orendel 170 Origenes 15, 246 De principiis 246 Otto von Freising Chronica 311 Ovid Amores 210, 252 Fasti 242 Palladius von Helenopolis Historia Lausiaca 182 Paulus-Apokalypse 2, 9–10, 41, 87, 114–118, 134 Paulus Diaconus Historia Langobardorum 173, 175 Peter von Cornwall 152, 158 Liber revelationum 152–154, 156, 159–161, 185, 227–234 Petrus-Apokalypse 2 Physiologus 275 Protoevangelium des Jakob 168–169 Prudentius 245, 247 Cathemerinon 243, 245 Pseudo-Matthäus-Evangelium 169 Reise 39, 41, 43, 143–149, 305, 307 Rufinus von Aquileia Historia monachorum 41, 183 Rupert von Deutz Commentaria in Canticum Canticorum 289, 295–297, 299 Super quaedam capitula Regulae Divi Benedicti Abbatis 226 Salvian von Marseille De gubernatione Dei 70 Sedulius 245, 247 Carmen Paschale 134, 245 Septuaginta 245
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Sidonius Apollinaris Carmina 242–243, 254 Syrische Schatzhöhle 169–170 Tale Lists A/B 44, 165 Tale List A 44 Tertullian 16, 275 Apologeticum 20 De carnis resurrectione 275 Theokrit Eidyllia 244 The rule of Ailbe of Emly 126 Uath Angeda Siehe Echtra Nerai Visio Baronti monachi Longoretensis 10 Visio Pauli Siehe Paulus-Apokalypse Visio Thurkilli 4, 9, 12 Vita Adae et Evae 41 Vita Macarii Romani 41 Vita Onuphrii 41 Vita prima sancti Brendani 74 Vita sancti Cainnici abbatis 266 Vita sancti Coemgeni 185 Vita Sancti Eutropie episcopi 267 Vita Sancti Ruadani 186 Vita sanctissimi Laurencii 186 Vita secunda sancti Brendani 4, 43, 138–145, 149, 305, 307 Vita S. Elgari 129–133, 209 Walter Map De nugis curialium 210 Walter von Châtillon Carmina 311 Wilhelm von Malmesbury De gestis pontificum Anglorum 309 Wilhelm von St. Thierry 281, 295 Meditativae orationes 281 Xenophon Oeconomicus 245